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Und dann war da Thor

+++Eins+++

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Der Regen klatscht gegen die Scheiben des Zuges, als ich mich auf den Sitzplatz fallen lasse. Es ist ein ziemlich altmodisches Abteil, natürlich zweite Klasse. In Regional-Expressen, wie sie bei uns fahren, gibt es gar keine erste. Wir wohnen halt am Stadtrand. Überhaupt sollte ich froh sein, dass ich es überhaupt noch hierher geschafft habe. In meiner Dusseligkeit habe ich meine Noten glatt auf dem Klavier vergessen und musste noch mal zurück.

Ich sehe mich um, was soll ich auch sonst tun. Relativ wenig Leute für einen Freitagnachmittag. Ich hatte eigentlich erwartet, dass ich keinen Platz mehr bekomme, allerhöchstens einen Notsitz vorne im Radabteil.

„Sehr geehrte Fahrgäste, unsere Abfahrtszeit wird sich aufgrund Wartens auf Anschlussreisende um etwa 10 Minuten verzögern!“, krächzt eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher über mir. „Wir bitten Sie dies zu entschuldigen.“

Wunderbar. Jetzt komme ich todsicher zu spät zu der Vogelsang. Die petzt dann bestimmt wieder meiner Mutter, und ich darf die Stunde von meinem eigenen Geld zahlen, obwohl ich nie Klavierunterricht haben wollte.

Als ich acht war, hat die Tragödie angefangen.

„In unseren Kreisen gehört es sich nun mal, dass man ein Instrument spielt!“, hatte sein Vater argumentiert. „Was eignet sich da besser, hm? Du wirst schon sehen, dass es ganz einfach ist!“

„Aber du kannst doch nicht einmal Noten lesen!“, hatte ich dagegen gehalten.

„Es gehört sich so. Deine Mutter hat dich bereits angemeldet, Ende der Diskussion!“

Mittlerweile bin ich siebzehn und quäle mich jede Woche eine Stunde lang durch den Unterricht von der Vogelsang. Mein Vater jettet weiter munter um die Welt, um hier und da einen Vertrag unter Dach und Fach zu bringen. Heute London, morgen Sydney. Vor zwei Wochen habe ich ihn das letzte Mal gesehen, zum Glück. Er ist momentan ziemlich gereizt, weil sein Vermögen nicht wächst.

Daran ist meine Mutter schuld, die ständig die besten Anti-Aging-Produkte ins Haus schleppt und Unmengen Geld für Klamotten verpulvert. Seit mein Vater von ihrem Kaufzwang weiß, schickt er sie zur Therapie beim teuersten Psychiater der Stadt, was zusätzlich Mäuse frisst.

Wenn man mich fragt, sollte er einfach ihre Kreditkarte sperren lassen.

Ein ganzer Pulk Menschen schiebt sich durchs Abteil, die Herrschaften vom anderen Zug sind angekommen. Wow, nur fünf Minuten später dran!

Dumm nur, dass ich sonst schon immer hecheln muss, um rechtzeitig bei meiner Klavierlehrerin zu sein. Die Bahn setzt sich gemächlich in Bewegung, jetzt dauert es noch eine Viertelstunde bis zum Hauptbahnhof. Genau da muss ich nämlich hin. Die Vogelsang war nämlich mal berühmt oder so, zumindest erzählt sie das immer meinen Eltern, deshalb kann sie viel Lohn verlangen und sich eine Wohnung mitten in der Stadt leisten.

Ich muss eigentlich still sein, mein Vater scheffelt ja auch ziemlich viel Kohle. Dass wir außerhalb der Stadt wohnen, liegt daran, dass meine Mutter immer von einem großen Garten geträumt hat und Kinder sowieso im Grünen aufwachsen sollen. Hat meinen Erzeuger nicht daran gehindert, ein Ungetüm aus viel Glas und Metall bauen zu lassen, dass in der Gegend total hervor sticht. Um den Garten kümmert Mama sich natürlich auch nicht, wofür hätten wir sonst den Gärtner?

Die klare Rollenverteilung muss eingehalten werden:

Der Herr verdient, die Frau schmeißt das Geld zum Fenster raus.

Und Erde an den sündhaft teuren Designerklamotten geht sowieso ganz schlecht, wurde in Mailand ja noch nie auf dem Laufsteg gezeigt.

Meine Mutter nimmt sich auch das Kaufen von Klamotten für mich heraus. Bis vor kurzem waren das total kindliche Sachen, die angeblich total angesagt waren. Die hingen immer im hinterletzten Eck meines begehbaren Kleiderschrankes, der sowieso aus allen Nähten platzt. Ich habe ihr vor ein paar Monaten einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, dass ich eher in Richtung Grunge beziehungsweise Gothik gehe. Sie hat mir daraufhin geraten – oder eher mir befohlen, mir den schwarzen Nagellack für Wochenenden und Ferien aufzuheben und ihn so zu tragen, dass ihn ja keiner von Papas Kollegen oder Kunden zu Gesicht bekommt. Verlogenes Pack! Aber seit diesem Tag bringt sie mir dunkle Klamotten mit, die ganz annehmbar aussehen. Man stelle sich meine top gestylte Frau Mama vor, wie sie sich durch die düstersten Läden der Stadt kämpft, bewaffnet mit ihrer omnipotenten Kreditkarte. Das ist schon eine Leistung! Okay, etwas Mitleid mit den Verkäufern habe ich schon. Da ist man so schön in Gedanken und dann betritt ein wandelnder Farbklecks eine Welt aus rot und schwarz. Das kann ja nicht gut laufen. Aber sie zahlt und manchmal, wenn sie gute Laune hat, gibt es was extra.

Aber ich denke viel zu viel nach, schließlich taucht schon die Silhouette der Stadt im Regen auf. Grau sieht sie im Novemberwetter aus. Aber das ist ja im Sommer bei dem ganzen Smog genauso. Stelle ich mir halt vor, dass August ist und dass das da draußen mindestens zwanzig Grad hat. Kann ja mal vorkommen, dass ein Monat verregnet ist.

„Sehr geehrte Fahrgäste. In Kürze erreichen wir Regensburg Hauptbahnhof. Dieser Zug endet dort, bitte alle aussteigen!“, krächzt es da auch schon aus dem Lautsprecher.

Was habe ich gesagt? Ich kann hellsehen! Okay, es könnte daran liegen, dass ich jede Woche mit dem Zug fahre. Muss es aber nicht, oder?

Ich erhebe meinen Hintern von dem eher unbequemen Sitz, erlöse den oberen Teil meines Körpers von der viel zu harten Kopfstütze, klemme mir meine Umhängetasche unter den Arm und mache mich auf den Weg zur nächsten Tür. Die ist ein ganzes Stück weit weg, ich muss erst noch am Klo vorbei, wo es wie immer besonders nett riecht. Da geht man doch extra noch einen Tick schneller! Geschafft. Ich stehe vor einem roten Ungetüm namens Doppeltür, während der Zug sich schon verlangsamt. An mir ziehen die Häuser vorbei, jegliches Grün ist von der Bildfläche verschwunden. Die Bremsen quietschen, als die Bahn endlich hält. Ich drehe den komisch geformten Griff um, kicke die Tür auf und klettere hinaus.

Ein paar Sekunden auf Gleis 103 und schon bin ich wieder pitschnass. Zum Glück ist es nicht weit bis zum überdachten Teil des Bahnhofes. Da hier nur Züge aus der Umgebung halten, hat man sich gar nicht erst die Mühe gemacht, etwas zum Schutz vor den Wetterverhältnissen zu errichten. Pech, aber ich bin ja nicht aus Zucker!

Ich schlage den Kragen meiner schwarzen Cordjacke hoch und hänge mir meine Tasche um. Wird schon gehen. Der Regen läuft meine Haare hinab am Kragen vorbei in meinen Ausschnitt. Muss damit rechnen, bis auf die Knochen nass zu sein, sollte ich mich nicht beeilen. Aktuelle Verspätung: Zwölf Minuten zwanzig. Wunderbar, nur noch etwas mehr als eine halbe Stunde bei der Vogelsang.

Bewege mich raschen Schrittes auf den überdachten Teil zu.

Meine Mutter fährt mich nicht mit dem Auto, weil sie nie Zeit hat, mag es aber auch nicht, dass ich hier langgehen muss. Warum? Tja, das könnte an den ganzen Strichern liegen, die sich hier ganz offen anbieten. Manche sehen sogar ganz annehmbar aus, sodass ich immer wieder über die Frage stolpere: Warum arbeiten die nicht im Puff, wo sie viel besser bezahlt werden?

Heute sind nicht viele von ihnen da, die Kunden können also nicht allzu wählerisch sein. Ich werde von hinten in die Seite geknufft und stolpere. Gerade noch gefangen! Der graue Stein sieht nicht gerade bequem aus. Der Übeltäter ist gefunden: Ein bulliger Kleiderschrank-Mann in schlecht geschnittenem Anzug und leicht strengem Geruch. Der werte Herr achtet aber gar nicht auf mich, geschweige denn entschuldigt sich. Stattdessen glotzt er die Stricher wie Vieh an. So abschätzend.

Ich gehe einen Schritt schneller. Obwohl, wollte ich nicht ein wenig trödeln? Frau Vogelsang wartet gerne. Hoffe ich. Überhole Mr. Ekelpaket und mäßige mein Tempo wieder. Soll der doch seine Fleischbeschau durchführen, mich soll es nicht stören. Obwohl er sich entschuldigen sollte. Mein Gang ist inzwischen ein lässiges Schlendern, die Hände habe ich in der Hosentasche vergraben. Der Regen wird zwar ein bisschen hereingeweht, ist aber viel erträglicher.

Huch, der ist aber jung! Der abgerissen aussehende Kerl, der da so nonchalant an der Wand lehnt, ist noch jünger als ich, glaube ich. Seine dunkelbraunen Haare sind verfilzt. Ob er den Effekt bezweckt oder nicht, keine Ahnung. Allerdings frage ich mich ernsthaft, ob die Polizei hier niemals Streife geht. Hier geht es immerhin um Minderjährige!

Der Knilch, der mir den Bodycheck verpasst hat, ist jetzt ziemlich nah hinter mir, ich kann den alten Schweiß riechen. Habe ich schon erwähnt, dass ich ihn von der ersten Sekunde an nicht leiden konnte? Kein Wunder, schließlich hat er mich da beinahe zu Fall gebracht.

Habe gar nicht gemerkt, dass ich bei dem Jungen stehen geblieben bin. Der Schrank übrigens auch.

„Reicht das?“, fragt er den Stricher jetzt und hält ihm einen Zwanziger vor die Nase.

Bäh, fauligen Atem hat er auch noch! Ich gestehe es ganz offen: Ich ekle mich vor dem Kerl. Der Junge schüttelt den Kopf. Brav gemacht! Wenn schon so einer, dann soll er richtig blechen!

„Tut mir Leid, ich bin momentan belegt – siehst du ja!“, erklärt er dickfrech und – deutet auf mich!

Ich glaube, ich kipp aus den Latschen!

Schon hat sich der Stricher bei mir untergehakt und grinst den Schrank an. Der sieht gerade aus, als stünde er kurz vor einer Explosion.

„Vielleicht ein andermal, ich kann ja meinen Kunden nicht warten lassen, verstehst du doch, oder?“, erklärt der Junge zuckersüß und zieht mich Richtung Rolltreppe.

Schrecklich, er hat mehr Kraft als ich. Also muss ich wohl oder übel auf die Rolltreppe steigen. Kaum sind wir dort angekommen, sprinten wir auch schon hinauf. Oder eher: Ich werde hochgezogen. Warum hat der es denn so eilig? Oh, muss ich wohl laut gesagt haben. Wenn mir das öfter passiert, ohne dass ich es mitbekomme, bin ich dran.

„Das Schlachtross ist doch jetzt total am Durchdrehen, da will ich nicht da sein! Außerdem müssen wir unsere Rollen spielen“, erklärt mir der Junge nämlich.

Oh, dann sollten wir uns wirklich beeilen. Schwarzes Make-up verträgt sich einfach nicht mit einem blauen Auge, oder? So, den Steg, der die Bahngleise mit dem Hauptgebäude verbindet, haben wir schon mal erreicht. Jetzt muss ich den Kerl nur noch loswerden. Kann ihn ja schlecht mit zur Vogelsang nehmen, die regt sich bei meinem Auftritt ja schon auf. Besagter Bursche hat aber offensichtlich andere Pläne und zieht mich in den Schutz eines Metallpfostens. Was wollen wir denn bitteschön hier? Der Schrank hat sich unten doch längst einen anderen Stricher gesucht, der seiner -ähm- Aufgabe gewachsen ist. Und volljährig, hoffe ich. Ich kann den Atem des Jungen an meiner Wange spüren. Huch, der rückt aber ganz schön nahe an mich ran!

Seine Hände halten mich fest, drücken mich gegen den Pfeiler. He, was soll denn das werden?

„Wa-“, will ich protestieren.

Aber seine Rechte hat sich blitzschnell auf meinen Mund gelegt. Er dreht seinen Kopf leicht nach links, aha. Wollen wir mal sehen, was da ist. Oh. Mein. Gott! Der Schrank und ein aufgetakelter, sehr femininer Kerl sind ungefähr zwei Meter von uns entfernt. Der Junge nimmt die Hand wieder von meinem Mund. Innerhalb der letzten Minute haben seine grünen Augen nicht einmal gezwinkert, seltsam. Aber ich sollte mir mehr um andere Sachen Sorgen machen; zum Beispiel um Mr. Ekelpaket. Hände auf meinem Körper, die sich bewegen. Schock. Was macht der da? Warum bewegt er den Kopf so seltsam? Ich greife nach seiner Rechten, will sie wegschieben. Der Junge lässt sich nicht beirren, er hält mich fest und zwinkert mir zu. Nachdenken, Alexander! Mr. Ekelpaket ist fast auf gleicher Höhe mit uns. Muss ja irgendwas mit ihm zu tun haben, nicht? Will er am Ende... Natürlich, aus der Sicht des Schranks müssen wir wie ein küssendes Paar aussehen, heterosexuell wohlgemerkt. Meine langen Haare sind doch zu etwas gut! Zwinkere zurück.

Bitte geh vorbei! Komm, du bist absolut notgeil! Andere Leute dürfen dir gar nicht auffallen, nur der Typ, der sich gerade an dich ran wirft, ist für dich wichtig! Klar!

Uff, vorbei. Ich löse mich von dem jugendlichen Stricher.

„Noch mal gut gegangen“, murmelt dieser. „Hast du was vor?“

„Ich hätte eigentlich Unterricht. Aber warum interessiert dich das?“, frage ich kühl.

Okay, der Kerl hat mich gerade gerettet. Aber er war es ja auch, der mich in die missliche Lage gebracht hat!

„Ich dachte, dass du mich vielleicht auf einen Kaffee einladen könntest. Oder Tee. Und Kuchen“, sagt er so charmant wie möglich.

Vergiss es, Junge. Einschleimen geht bei mir nicht! Hier wird sich jede Sympathie tapfer erkämpft!

„Nein. Ich weiß noch nicht mal deinen Namen“, schiebe ich nach.

„Ich bin der Thor“, sagt er grinsend und reicht mir seine Hand. „Nur einen Tee, bitte! Ich... ich kann das auch abarbeiten!“

Jetzt sieht der Gute ziemlich verzweifelt aus. Moment, abarbeiten? Meint er etwa Sex? Der muss ziemlich am Ende sein. Einmal in die Kiste für eine Tasse Tee.

„Meinetwegen, gehen wir halt etwas trinken. Für Unterricht ist es sowieso zu spät. Ich schenk dir den Tee, okay?“

Ich habe schließlich Niveau und mit unmoralischen Angeboten braucht man mir gar nicht kommen. Das hat auch meine Klassenkameradin gemerkt, Lisa. Wollte doch tatsächlich mit mir ins Bett, weil es ja noch keine von ihren Freundinnen geschafft hat! Danach war mein Ego allerdings etwas angekratzt. Wurde ich etwa mit den besserwisserischen Strebern meines Jahrgangs gleichgesetzt, die bis dato trotz ihres Alters noch meilenweit von der Pubertät weg waren und von den Mädels erst drauf gebracht werden mussten? Nun, mich hätten sie eher bekehren müssen. Aber für weitere Überlegungen hab ich gerade sowieso keine Zeit. Muss ja Thor einen Tee ausgeben, den er bitter nötig hat.

„Kennst du das »Antiquus«?“, frage ich meinen Begleiter.

Wahrscheinlich nicht. So, wie er aussieht, war er seit Monaten nicht mehr in einem Café. Aber in dem, das ich vorgeschlagen habe, wird er nicht auffallen. Da ist Individualität nämlich ein Muss. Studenten, Künstler, Gothics und Punks sind die Stammkunden und auch das Personal kleidet sich nicht anders.

„Nee. Teuer?“, fragt er vorsichtig.

Ich schüttle den Kopf und steige auf die Rolltreppe abwärts. Thor trottet brav hinter mir her, was natürlich klar ist, weil ja etwas für ihn herausspringt. Kurze Zeit später verlassen wir die Bahnhofshalle durch eine der großen Flügeltüren und treten auf die viel befahrene Straße hinaus, die wir zügig überqueren. Es kommt mir so vor, als hätte ich keinen Menschen, sondern einen Hund im Schlepptau, denn der Kerl sagt kein Wort, weicht nicht von meiner Seite und seine Haare weisen den Regen ab wie Fell.

„Ist nicht mehr weit“, sage ich in die Stille und deute auf eine eng gewundene Gasse. „Da ist es!“

Das »Antiquus« ist im Erdgeschoss und im zweiten Stock eines circa hundertfünfzig Jahre alten Gemäuers untergebracht und ist, wie andere Leute sagen würden, trotz seines Klientels picobello. Durch die hohen Fenster kann ich zahlreiche Menschen sehen, die sich auf Grund des anhaltenden Regens an einen der kleinen Tische gesetzt haben und jetzt ein warmes Getränk ihrer Wahl genießen. Thor drückt sich indes beinahe die Nase platt. Ich glaube, wir haben es eilig.

„Komm, wir gehen rein!“, sage ich und packe meinen Begleiter am Ärmel.

Dann öffne ich die verschnörkelte Tür, und von einem leisen Bimmeln begleitet treten wir ein. Der Schirmständer, der in nächster Nähe steht, ist übervoll, und in seiner Umgebung hat sich eine Wasserlache gebildet. Heute also nicht die übliche Kundschaft. Während meiner ausgiebigen Beobachtungen ist ein schwarzhaariger Mann zu uns geeilt.

„Hallo, Dear! Ein Platz für zwei?“, begrüßt er mich.

Zack, hat er mich umarmt, der gute Adrian. Ich nicke.

„Du bist ein Glückskind, Dear! Ohne deine guten Beziehungen würdest du heute nie ein lauschiges Plätzchen ergattern – und auch noch in einer Nische!“

Oh. Stopp, Adrian, du verstehst da was falsch!

Er beugt sich ziemlich nah zu meinem Ohr und wispert: „Dein Neuer?“

Ich schüttle energisch den Kopf. Der kriegt aber auch alles in den falschen Hals! Seine Augen funkeln schon wieder so wissend, widerlich. Nach einem letzten interessierten Röntgenblick auf Thor führt er uns die Wendeltreppe hinauf zu einem mit einem schlichten Windlicht dekorierten Tisch direkt neben einer der Vitrinen. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass das »Antiquus« keineswegs nur ein Café ist, nein. Hier kann man Sammeltassen an- und verkaufen, inklusive Untertassen und Kuchenteller. Heutzutage eine Rarität, die perfekt zum Ambiente passt. Oder schafft das erst das Ambiente? Wir setzen uns und ich ziehe meine Jacke aus. Samt Tasche landet sie an meiner Stuhllehne, ist ja warm im Café.

„Weißt du schon, was du trinken willst?“, frage ich mein Gegenüber freundlich.

Zu Leuten, die ich einlade, bin ich immer nett. Hat mir mein Vater angewöhnt und ist eigentlich auf potentielle Vertragspartner spezialisiert.

„Hagebutten-Tee. Und dazu ein Stück Bienenstich, wenn ich darf“, antwortet Thor mir mit einem flehenden Blick.

Ich nicke gnädig. Der sieht irgendwie ziemlich dünn aus – nicht, dass ich ihn näher betrachtet hätte! Ich mag auch gerne Kuchen und kann seine Bestellung durchaus nachvollziehen. Adrian wuselt wieder zu uns herüber. Man, der sieht heute aber auch besonders nett aus!

„Und, Dear, schon gewählt?“. fragt er mit einem charmanten Lächeln.

Macht er das bei allen Gästen so, oder will er am Ende die alten Zeiten aufleben lassen?

„Einen Hagebutten-Tee, eine heiße Schokolade, ein Stück Bienenstich und ein Stück Multi-Kuchen!“, erwidere ich betont kühl.

Der soll sich gar keine Hoffnungen machen – auch, wenn er sehr nett anzuschauen ist. Adrian wackelt beim Gehen ziemlich mit seinem Hinterteil durch die Gegend. Wusste ich es doch! Aber der kriegt mich nicht noch mal rum, er wechselt seine Typen öfter als seine Bettlaken. Habe ich zumindest gehört, und meine Quelle war ziemlich gut.

„Dein Lover?“, fragt Thor unvermittelt.

Sieht man mir das an? Steht da irgendwo auf meiner Stirn »Ich habe mich von Adrian besteigen lassen und fand es toll«? Sollten meine Eltern das auch lesen können, bin ich mit hoher Wahrscheinlichkeit enterbt, und zwar in Sekundenschnelle.

„Nein“, knurre ich.

„Also dein Ex“, sagt Thor grinsend.

Braver Junge! Hast wohl früher deine Schularbeiten gemacht. Bevor du zu diesem netten Job gekommen bist. Ich nicke. Ja, wir hatten mal eine Beziehung. Hat zwar nur anderthalb Monate gehalten, aber wir waren zusammen. War wirklich eine schöne Zeit, obwohl wir uns immer verstecken mussten. Damals hatte Adrian sich vor seinen Eltern noch nicht geoutet, und ich bin heute noch meilenweit davon entfernt, die drei magischen Worte zu sagen. Übrigens lauten die weder »Ich liebe dich« noch »Ich liebe euch«.

„Wusste ich doch, dass du schwul bist!“, sagt Thor ziemlich laut.

Ich sehe mich beunruhigt um, ob einer von den nur-wegen-des-Regens-hier-Gästen etwas von unserer Unterhaltung aufgeschnappt hat. Okay, keiner. Adrenalin-Pegel langsam senken, Schockzustand einstellen und wieder zurücklehnen.

„Sei ein bisschen leiser, muss ja nicht jeder wissen“, antworte ich ausweichend.

„Wusstest du, dass er einen »Begleitservice« anbietet?“, fragt Thor ohne Rücksicht auf die anderen Kunden. „Hat ein Apartment in der Schneidergasse, ganz schäbiges Eck. Geht erst hübsch Essen mit den Weibern und dann-“

„Hör auf!“, schreie ich schon fast.

Ich will gar nicht wissen, was mein Ex so treibt. Dass er jeden Abend einen anderen Kerl aufreißt, wusste ich ja. Aber dass er sich für Geld von Frauen... Nein. Das ist nicht der Adrian, den ich kenne. Er verdient doch im »Antiquus« nicht schlecht!

„Hängst wohl immer noch an ihm, hm? Mit wie vielen hast du es getrieben, nachdem mit ihm Schluss war?“, fragt Thor seelenruhig.

Ich atme geräuschvoll ein. Wie bin ich nur in diese Lage geraten? Ausgerechnet jetzt bringt Adrian unsere Bestellung. Lächelt mir noch einmal zu und zeigt mir seine strahlend weißen Zähne, bevor er sich aus dem Staub macht. Ich nippe zur Beruhigung an meiner heißen Schokolade und sehe meiner Begleitung beim recht unappetitlichen Essen zu.

„Mit keinem, oder?“, bringt Thor zwischen zwei Bissen hervor.

Muss er schon wieder damit anfangen? Das geht ihn gar nichts an, meine Privatsphäre, ja! Es ist ja nicht so, dass Adrian mein erster Lover war. Vorher hatte ich schon was Längeres mit einem Zwanzigjährigen. Da war ich zarte fünfzehn Lenze jung und total geblendet. Nicht ganz legal gewesen, aber eben meine erste große Liebe. Lars hat sich dann den goldenen Schuss gegeben, in der Bahnhoftoilette. Das war zwei Tage, nachdem unsere Beziehung zerbrochen ist. Hat es nicht verkraftet. Genauso, wie ich seine Drogenprobleme nicht mehr ausgehalten habe. Irgendwie haben alle meine Liebesdinge am Bahnhof angefangen. Adrian kannte ich zwar schon davor, aber richtig gefunkt hat es erst, als wir den Zug nach einem Konzert verpasst haben.

Ich bohre die Gabel in meinen Kuchen, als ob ich das wehrlose Stück umbringen wollte.

„Weißt du, ich könnte dir ein Angebot machen. Ich steig mit dir in die Kiste und du darfst mich nehmen – und ich bekomme dafür Essen. Mehr will ich gar nicht. Abgemacht?“, schlägt Thor mir da vor.

Oh. Mein Gott! Was antwortet man denn da? Kann mir der Herr im beigefarbenen Anzug mal eben den Ratgeber für unterversorgte Jugendliche rüberreichen? Nein? Schade.

„Ich denke nicht, dass ich es so nötig habe“, presse ich hervor.

Er lächelt nur wissend und antwortet: „Du willst es, jeder will es!“

Ganz schön eingebildet. Ich möchte aber jemanden, der keine Gegenleistungen will.

„Ich bin aber nicht der ausführende Part“, rutscht es mir raus.

Warum muss ich des öfteren laut überlegen? Ich mache mich hier zum Affen, und rot werde ich auch noch. Jetzt grinst der Kerl auch noch. Schön, wenn man sich über andere Leute lustig machen kann.

„Wer sagt denn, dass ich es nicht bin?“, fragt er herausfordernd.

Nein, das meint der nicht ernst. Man bietet mir solche Geschäfte einfach nicht an, das gehört sich nicht!

„Aber dein Job-“, murmle ich.

„Basiert genau darauf. Nur, dass die meisten Säcke halt meinen Arsch wollen“, antwortet Thor gelangweilt. „Heißt aber nicht, dass du eine Ausnahme wärst. Also, was hindert dich?“

„Du bist minderjährig.“

„Du doch auch, oder?“

Okay, das war ein Schuss in den Ofen. Aber ich bin ja bald erwachsen, das zählt auch.

„Ich nehme dich mit nach Hause und gebe dir Essen. Meinetwegen kannst du auch eine Nacht bei mir schlafen – bei, nicht mit mir. Dann verschwindest du, klar?“, schustere ich einen Kompromiss zusammen.

Hoffentlich geht das gut.

„Gerne“, sagt Thor grinsend.

Hat wohl doch sein Ziel erreicht, der Schuft. Ein Platz an der Heizung, sponsored by Alexander.

Ja, genau das ist mein dämlicher, viel zu gewöhnlicher Name. Da tun meine Eltern so, als wären sie wunder was, und dann das. War halt zu dem Zeitpunkt modern, und meine Mutter geht gerne mit dem Trend. Macht nichts, hier kennt man mich eh nur unter meinem Spitznamen. Der ist auch ziemlich unspektakulär, sollte man meinen. Lex. Nicht mehr und nicht weniger als drei Buchstaben. Aber hier geht es nicht um eine schnöde Abkürzung, nein. Ich wurde, weil ich immer so politically correct bin, nach dem lateinischen Wort für Gesetz benannt. Nett, oder? Ich mag es jedenfalls.

Versenke eine Gabel Multi-Kuchen in den Untiefen meines Mundes. Mmh, wieder perfekt gemacht. Der Boden ist angenehm wölkchen-weich und-

„Dein Ex ist sauer auf mich“, sagt Thor da mit vollem Mund.

„Warum?“, frage ich zwischen zwei Bissen.

Thor lehnt sich vor.

„Halt mal still“, sagt er und dann streichelt er meine Wange. „Er ist eifersüchtig, oder so. Vielleicht auch nicht, aber er will dich gerne noch mal in sein Bettchen zerren!“

Seine rauen Hände fahren über mein Gesicht, mich schüttelt es. Muss aus Entfernung toll aussehen.

„Aber er bekommt dich nicht, hat ja genug zahlende Bettbekanntschaften“, fährt er fort.

Was macht sein Fuß an meinem Bein? Hallo, ich will das nicht! Aber Adrian – ich möchte ihm schon eins auswischen... Was machen wir denn da? Holla die Waldfee! Das war aber nicht so geplant. Erst recht nicht, dass Thor an mir rumfummelt. Seine Hände sind nämlich auch unterm Tisch verschwunden und streichen meinen Oberschenkel hinauf.

„Reiß dich zusammen!“, zische ich meiner neuen Bekanntschaft aus dem Mundwinkel zu.

„Komm schon, machen wir ihn wütend!“

Auf eine mysteriöse Art und Weise erscheint mir das sehr verlockend. So sehr, wie er mir damals weh getan hat, ist das doch drin. Spüre Thors fordernden Blick und schließe kurz die Augen. Dann nicke ich leicht. Ich habe gerade meinem eigenen Todesurteil zugestimmt, ich bitte um Applaus! Er schiebt unser Geschirr zur Seite und lehnt sich über die Tischplatte. Seine grünen Augen funkeln mich herausfordernd an. Na dann. Konzentriere mich auf die blassroten, leicht rissigen Lippen, die meinem Gesicht immer näher kommen. Soll ich? Mein Körper hat die Frage schon für mich beantwortet. Ich drehe meinen Kopf leicht und schließe die Augen. Warte ab, was wohl geschieht. 1ooo Stunden, wahrscheinlich aber nur Millisekunden später spüre ich warme, raue Lippen auf meinen, die sanften Druck ausüben. Fühlt sich ganz gut an. Stupst der Kerl doch glatt mit der Zunge gegen meinen Mund! So war das jetzt nicht gedacht. Spüre seine Hände, die nach meinen tasten und sie leicht drücken. Vielleicht... Ich öffne meine Lippen einen winzigen Spalt breit. Der geht ziemlich ran! Schon hat er seine Zunge in meinen Mund geschlängelt und geht auf Erkundungstour. Fährt meine Zähne nach und so. Kann nicht mehr klar denken. Stupse einfach zurück. Er schmeckt süß nach Bienenstich. Könnte ewig so weitermachen. Aber dann ist da jemand, der uns ziemlich unsanft auseinander reißt. Dreimal darf man raten.

Adrian.

„Lex, wir müssen reden!“, knurrt er ziemlich aufgebracht und packt mich am Oberarm.

War wohl doch etwas zu viel des Guten. Hey, die Chose hat er bei mir doch auch abgezogen, ich bin im Recht! Wenn man sich auf der sicheren Seite befindet, wird man doch nicht in das Kämmerchen fürs Personal geschleift, oder? Die Tür fällt hinter uns beiden zu und wir stehen im Dunkeln. Damals hätte mir die Situation gut gefallen, aber jetzt lebe ich scheinbar in einer anderen Zeit.

„Lass mich raus!“, fauche ich und löse seine Hand von meinem Arm.

Suche panisch den Lichtschalter. Adrian und ich, Düsternis und ein verlassenes Kämmerchen. Das kann einfach nicht gut gehen!

„Hättest du wohl gerne!“, antwortet er höhnisch und drückt mich gegen die Wand. „Hast du nicht gesagt, mit dem Flohteppich läuft nichts?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Du hast ja munter durch die Gegend gepoppt, als wir zusammen waren!“, sage ich kühl.

Ja, Alexander, mach ihn zu Kleinholz! Der hat dir doch kein Fünkchen mehr zu sagen, das muss ihm klar werden!

„Würdest du nochmal was mit mir anfangen?“, fragt Adrian unvermittelt.

Nein. Er sieht zwar atemberaubend aus, aber sein Innenleben ist echt verkorkst. Eine Wärmflasche ist emotionaler als der.

„Auf keinen Fall. Du bist nicht traurig, weil das mit uns kaputt gegangen ist – es war schon viel früher über den Jordan, ist mir klar – nein, du bist nur sauer, weil ich derjenige war, der die ganze Misere beendet hat!“, sprudelt es aus mir raus.

Jetzt habe ich ihm meine Meinung gesagt. Nur ein kleiner Teil von dem, das mir in all den schlaflosen, verheulten Nächten eingefallen ist. Zeit zu gehen. Ich winde mich. Adrian ist stärker. Die Tür fliegt auf, gerade als mir mein Ex viel zu nahe kommt. Thor hat sich zu mir durchgeschlagen und zerrt ihn von mir weg.

„Wir gehen jetzt besser – Lex!“, knurrt meine heutige männliche Begleitung.

Gemeinsam verlassen wir das Personal-Kämmerchen und ich drücke der blonden Bedienung einen Zehner in die Hand.

„Wir saßen an dem Tisch da hinten. Stimmt so“, erkläre ich der verdutzten Angestellten knapp.

Nichts wie weg hier. Die Wendeltreppe in für mich überdurchschnittlichem Tempo runter, noch kurz dem ein oder anderen bekannten Gesicht zugenickt und dann ab auf die Straße. Kaum habe ich diesen Kerl aufgegabelt, bin ich ein Magnet für Probleme! Das ist einfach nur seltsam. Normalerweise passiert nichts in meinem Leben, außer vielleicht ein Streit mit meinen Eltern. In letzter Zeit übrigens häufiger. Sie können davon ausgehen, dass ich einen Tag nach meinem Achtzehnten ausziehe.

„Ich muss noch meinen Schlafsack holen“, sagt Thor fröhlich und hakt sich bei mir unter.

„Brauchst du nicht, wir haben genügend Decken“, antworte ich mürrisch.

Wieso soll ich jetzt noch einen Umweg machen? Ich bin eh schon viel zu spät dran für Freitag. Mein Vater kommt immer erst Samstag Nachmittag nach Hause, um den brauche ich mich nicht kümmern. Aber meine Mutter? Hoffentlich ist sie noch einkaufen.

„Ist mir auch klar. Aber dein Angebot gilt, wenn ich dich richtig verstanden habe, nur für eine Nacht. Und bis morgen hat sich wer anders meinen Schlafsack gekrallt“, antwortet Thor, als wäre ich schwer von Begriff.

„Muss das jetzt noch sein?“

„Ist ja gleich um die Ecke, vom Bahnhof aus jedenfalls.“

„Wenn du es sagst...“

Ich muss unbedingt an meiner Willensstärke arbeiten, das ist ja zum Mäuse Melken! Ständig gebe ich nach. Auflehnen ist die Devise!

Verworfen. Wie gesagt, es liegt auf dem Weg. Warum denn nicht? Gehen wir halt durch den Regen und zu einem Ort, den ich nicht kenne. Dauert ja bestimmt nicht lange. Wir laufen ja sogar. Da ist man flugs wieder am Bahnhof. Thor zieht mich in den Hinterhof eines verfallenen Mehrfamilienhauses, wo ein Lagerfeuer unter dem Vordach brennt. Um die zehn Gestalten sitzen dicht aneinander gedrängt, in Decken gehüllt, sich die Finger wärmend da und reden miteinander. Fast alle sehen noch schlimmer aus, als meine Begleitung. Meine Mutter hätte sie Schmuddelkinder genannt. Allesamt unter zwanzig, verlottert und dennoch zäh.

„He, Thor, was macht’n der feine Typ hier?“, fragt ein Kerl mit roten Haaren und fünf Zentimeter langem, dunkelbraunen Ansatz.

Da wäre mal wieder Färben angesagt. Das Geld braucht er für andere Sachen, ich weiß. Möchte auch gar nicht wissen, wie viele von denen Drogen nehmen. Vielleicht bin ich in Bezug auf das Thema paranoid und mit Vorurteilen vollgestopft, aber meine Mutter hat mir immer Schauermärchen erzählt.

„Das ist Lex, ein alter Freund von mir“, sagt Thor und legt einen Arm um mich. „Wir haben uns zufällig getroffen, und er hat mir angeboten, dass ich heute Nacht bei ihm pennen kann.“

Ich nicke zur Bestätigung seiner Worte. Diese Umschreibung gefällt mir recht gut, eventuell findet sich ja nochmals Verwendung dafür.

„Habt ihr schon einen Preis ausgemacht?“, fragt der Rothaarige von eben und grinst dreckig.

„Nicht nötig. Wie er bereits sagte schläft Thor nur bei mir – sonst nichts“, zische ich kühl.

Ich will doch gar nicht mit dem in die Kiste, das mache ich nur aus Nächstenliebe! Sehe ich denn im Ernst so schlimm aus, als dass ich mir keinen für eine Nacht angeln kann? Lächerlich. Ich weiß, dass ich nicht überirdisch hübsch bin, aber für etwas Einmaliges reicht es eigentlich. Und zwar ohne dass ich dafür zahlen muss.

Thor schmeißt, nachdem er sich von mir gelöst hat, ein noch ganz verschlafenes Mädel aus seinem Schlafsack und wirft ihn sich über die Schulter. Sonderlich appetitlich sieht das Teil ja nicht aus, aber es muss mit.

„Bis morgen, Leute“, verabschiedet sich Thor von den Gestalten.

„Tschüss“, murmle ich und warte gar nicht erst Antworten ab.

Vorurteile, ich weiß. Mag sein, dass die anderen ganz nett sind, aber der Rotschopf ist es definitiv nicht. Deshalb werde ich auch nicht mehr Zeit als unbedingt nötig mit ihm zusammen verbringen und zusehen, dass ich Land gewinne. Ein Blick auf die Uhr. In einer viertel Stunde geht der Zug, der ist jetzt schon da. Nur noch die Straße runter, und wir sind wieder am Bahnhof. Das eine Mal wird ihn bestimmt keiner ohne Fahrschein erwischen und ich habe ja meine Monatskarte. Wir könnten einen Tick schneller gehen, auch, wenn der Regen inzwischen aufgehört hat. Ich bin leider nicht so bekannt, dass der Lokführer mich aus der Ferne erkennt und noch einige Minuten wartet.

„Thor, wir müssen uns wirklich beeilen!“, sage ich und beschleunige meine Schritte.

„Reg dich doch nicht so auf, bestimmt geht noch ein Zug!“

„Ja, in einer Stunde!“, antworte ich frostig. „Wenn du heute bei mir schlafen willst, bewegst du deinen Hintern etwas schneller, klar?“

„War das ein Wink mit dem Zaunpfahl?“

„Nein, verdammt!“

Jetzt bleibt er auch noch stehen. Warum habe ich mir das eigentlich angetan? Ich schleife einen Klotz an meinem Bein mit, der mir nichts als Ärger einbringt. Vor allem, wenn er mitten auf einer stark befahrenen Straße stehen bleibt und mich anstarrt.

Und auf einen Schlag zieht er mich ganz nah ran und küsst mich. Mit Zunge und Haare durcheinander bringen, mit Bienenstich-Geschmack und Wärme. Mit allem Drum und Dran und auf der Straße. Ich kann nicht anders, mein Fuß flippt und ich küsse zurück. Was um uns herum ist, nehme ich gar nicht mehr wahr, bis Thor sich wieder von mir löst.

„Das war das erste Mal, dass ich dich aus deinen eigenen Mustern ausbrechen gesehen hab“, schreit er über das Hupkonzert hinweg.

Erst jetzt fällt mir auf, dass die Autos um uns herum stehen geblieben sind und einige Passanten klatschen. Okay, einige sehen uns auch ziemlich finster an, aber es hebt meine Laune. Küssen fördert die Bildung der Endorphine, das ist völlig normal! Trotzdem erscheint es mir sinnvoll das Laufen wieder aufzunehmen. Im Augenblick möchte nicht innerhalb von Sekunden zu Hackfleisch verwandelt werden.

„So?“, frage ich planlos und schiebe meine Freitagabend-Begleitung auf den Bahnhof zu.

Mein Kopf ist wie leer gefegt. Jetzt hat der mich heute schon zum zweiten Mal geküsst! Ist es nicht normalerweise eher so, dass käufliche Herrschaften keinesfalls ein Lippenbekenntnis wollen? Vielleicht bin ich ja wieder falsch informiert, aber ich habe das schon von einigen Leuten gehört. Wir hasten in den Bahnhof, die Rolltreppe hoch und über den Steg. Noch drei Minuten bis zur Abfahrt, das wird wieder auf ausgewachsenes Seitenstechen hinauslaufen. Wenn mir jetzt noch jemand entgegen kommt, wird die bedauernswerte Person von mir gnadenlos überrannt. Ich bin in Eile und will pünktlich sein, verdammt noch mal! Auf der Rolltreppe nach unten schiebe ich einige Leute beiseite und murmle immer wieder fahrig Entschuldigungen. Die Zeit läuft mir davon! Wie sollen wir denn noch da hinter kommen? Fliegen vielleicht? Ich setze zum Sprint meines Lebens an, wobei ich den schwer atmenden Thor hinter mir her schleife. Hat der etwa eine schlechtere Kondition als ich? Das ist doch kaum möglich!

„Beeilung!“, keuche ich und deute auf die Lichter des Zuges.

Die Abfahrtstafel kommt immer näher, unsere Schuhe klappern auf dem Boden. Bloß nicht mehr hinfallen, die Tür ist doch schon so nah. Der Schaffner sieht uns belustigt zu, wie wir mit wahrscheinlich hochroten Gesichtern auf ihn zu stürmen. Dummerweise kennt er uns dadurch ja, oder? Es wird ziemlich schwer werden, nach einem solchen Auftritt ohne Ticket zu fahren. Egal, wir schaffen das irgendwie.

„Gerade noch!“, ruft uns der Schaffner zu, als wir uns durch die Tür in einen der Wagons quetschen.

Der Meinung bin ich auch. Warum ich so gehetzt war? Ich habe seit meiner frühsten Kindheit einen Tick, was Pünktlichkeit angeht. Das reicht sogar so weit, dass ich jedes öffentliche Verkehrsmittel um die Uhrzeit erreichen will und mit meiner Mutter in die Haare gerate, wenn sie meiner Meinung nach viel zu lange an ihrem Aussehen herumdoktert. Muss doch nicht unbedingt sein. Reine Oberflächlichkeit, die unsere Gesellschaft dahin gebracht hat, wo sie jetzt ist. Nicht zu vergessen die Kommerzialisierung, die auch total indiskutabel –

„Wo setzen wir uns hin?“, fragt Thor immer noch außer Atem.

Fast das ganze Abteil ist belegt, für zwei beieinander liegende Plätze sieht es nicht besonders rosig aus. Doch ganz hinten erspähe ich vier freie Sitzgelegenheiten nebeneinander, die wie für uns gemacht sind. Wunderbar!

„Da, oder?“, stelle ich die völlig sinnfreie Frage.

Ganz nebenbei: Kann bitte einer der Herrschaften das Brett vor meinem Kopf entfernen? Danke. Stört doch etwas arg beim Denken. Zumindest, wenn eine halbwegs kluge Aussage dabei entstehen soll. Ich schiebe mich durch den schmalen Gang, dessen Boden mit Dreckklumpen und zahlreichen Bröseln behaftet ist. Sollte man in einer zunehmend adipösen Gesellschaft nicht über breitere Wagons nachdenken? Egal. Ich lasse mich auf einen der nicht gerade gut gepolsterten Sitze zweiter Klasse fallen und will gerade meine Tasche neben mich werfen, aber Thor hindert mich daran.

„Lass mal! Wenn ich ohne Ticket fahren soll, ist es besser, ich bin neben dir. Kommt meine Schauspielerei glaubhafter rüber“, erklärt er und wirft unser Zeug auf die Plätze gegenüber.

Dann greift er wieder nach meiner Hand und streichelt sie. Er hält sie genauso, dass alle in unserem Umfeld es sehen können. Klick. Mal wieder die Pärchen-Nummer, ich habe verstanden. Verliebten Blick aus der Mottenkiste holen und über die blasse Alltagsvisage schieben! Aye. Hoffentlich mache ich meine Sache gut. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und streife mit den Lippen leicht seinen Hals. Reicht das aus? Er drückt meine Hand einmal, das muss wohl ja heißen. Seine Rechte fährt durch mein Haar. Wie lange ist es her, dass das jemand bei mir getan hat? Alexander, vergiss bloß nicht, dass die Szene nur gespielt ist!

Nette Leute hier im Zug, der gerade anfährt. Spontan will uns jedenfalls keiner eine Abreibung verpassen. Dann kann ich ja so bleiben, ohne ein blaues Auge oder ähnliche Schäden zu provozieren. Ich lächle und schließe die Augen. Wir sind ein verliebtes Paar, der Kerl in schwarz ist einfach nur müde und nickt auf der Schulter seines sich treu um ihn sorgenden Freundes ein. Wie herzzerreißend und weltfremd! Wie viele Dioptrien kann eine rosarote Brille denn haben?

„Wie oft halten wir?“, flüstert Thor.

„Zweimal“, nuschle ich gegen seinen Hals.

Können wir ja noch ein bisschen steigern, den Schwierigkeitsgrad des Spiels. Ich hebe meinen Kopf ein Stück und küsse ihn auf den Leberfleck knapp unterhalb des Schlüsselbeins. Noch glaubwürdig? Thor scheint es jedenfalls zu gefallen, er hat die Augen geschlossen und seufzt leise. Nur ein klitzekleines Spiel im großen Leben.

Ich verteile noch ein paar Küsse auf seinem blassen Hals. Soll ich? Prüfender Röntgenblick entscheidet: Warum nicht? Ich senke meine Lippen auf seine Haut und sauge. Nur ganz leicht, ich bin ja der nette Junge von nebenan. Ein bisschen knabbern kann doch auch nicht schaden, oder? Thor gibt frohlockende Laute von sich, alles im grünen Bereich. Noch mehr Saugen und Händchen drücken. Fast fertig. Beiße noch einmal leicht zu und lasse dann von ihm ab. Ein wundervoll roter Knutschfleck im zwei Euro-Format ziert jetzt Thors Hals. Ein erstklassiger Kontrast, der in der Kunstwelt bestimmt noch nie festgehalten wurde. Und ich bin der Meister dieses Werks.

Wir knutschen eine Zeit lang herum. Macht mir schon viel weniger aus, andere tun das ja auch ohne Gefühle. Auf einmal drückt Thor meine Hand fester. Schaffner im Anmarsch, du liebe Güte! Wie will er denn das jetzt machen? Er zieht mich hoch und wir verlassen vom Grölen der Fahrgäste begleitet das Abteil. Sekunden später befinden wir uns im miefenden Zugklo, das höchstwahrscheinlich in rosa gehalten ist, aber in dem dämmrigen Licht kann ich es nicht allzu genau erkennen. Licht haben sie auch noch nicht angeschaltet. Thor verriegelt die Tür und weil es so eng ist, stehen wir nah beieinander.

„Und der kommt hier nicht rein?“, frage ich vorsichtig.

„Nee, der doch nicht! Die denken doch alle, dass wir gerade höchst beschäftigt sind!“, antwortet er.

„Wenn du es sagst...“

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