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Ordinary Life

Kapitel 1 und 2

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Inhaltsverzeichnis

---Eins---

„Wasti, beeilst dich amal?“, ruft meine Mutter im schlimmsten Bayerisch die Treppe hinauf.

Ich seufze und fahre mir durch das Kraut, das sich Haare schimpft. In meinem Fall folgt es brav der Schwerkraft, obwohl es relativ kurz ist. Zupfe die frisch gewaschene grüne Schürze zurecht und ignoriere das Wettern der werten Frau Mama. Ich nehme mir übrigens mal heraus den Slang hier im Dorf von nun an in reines Hochdeutsch zu übersetzten. Am Gymnasium sollte man schließlich frei von Dialekt reden können, nicht?

„Wasti, wenn du nicht gleich kommst, wird dein Lohn gestrichen!“, krakeelt Mama.

Toll, will sie den Euro pro Stunde auch noch in nichts verwandeln. Ich erledige für sie Schwerstarbeit und der Dank ist, dass ich das Haus putzen darf. Meine Eltern haben nämlich eine Gärtnerei, mit Garten anlegen und allem drum und dran. Seit ich denken kann, muss ich ihnen helfen, und seit meinem sechzehnten Geburtstag kriege ich Geld dafür. Nicht die Welt, aber woanders hier im Dorf wäre es noch weniger.

Ich will meine Mutter jetzt wirklich nicht länger warten lassen, sonst macht sie ihre Drohung noch wahr. In der Hinsicht ist sie immer sehr konsequent. Also renne ich die knarzenden Stufen nach unten und hinüber in den Verkaufsraum. Hier sind nur Topfpflanzen zu finden und auch nur das gängigste. Wer mehr will, guckt draußen.

„Bin doch schon da, Mama! Was darf's denn heute sein?“, murmle ich und greife nach der Gartenschere, die in meiner Hosentasche steckt. „Irgendwas zum Zurechtschneiden?“

Meine Mutter schüttelt ihren Kopf. Nein, das habe ich ja auch schon gestern gemacht.

„Heute wär's mir recht, wenn du die Kasse übernehmen könntest. Der Papa ist draußen bei 'nem Kunden, da soll ich mal vorbeischauen. Und die Erika will mit mir Kaffee trinken. Da musst das mal machen. Ja?“

Ich nicke und stelle mich schon mal hinter den Tresen. Viel Kundschaft kommt sowieso nicht vorbei, die rufen eher an. Aber vielleicht braucht ja mal wieder jemand Deko fürs Grab. Stiefmütterchen beispielsweise, die sieht man hier nur auf Friedhöfen. Weiß der Geier warum.

„Mach dir einen schönen Tag, Wasti. Aber nicht, dass du nebenbei Fernseh schaust, das macht einen ganz schlechten Eindruck bei den Kunden. Wir sehen uns heute Abend!“, ermahnt sie mich.

Ja, schön. Darf ich mir also die Beine in den Bauch stehen und immer freundlich lächeln, um der Kundschaft Willen. Mama drückt mir einen rosa Lippenstift-Kuss auf die Wange und marschiert raus. Puh, endlich alleine! Ich krame meine Zigarettenschachtel aus der Hosentasche und stecke mir eine Kippe an. Muss meine Mutter ja nicht wissen.

In unserem Dorf haben die meisten Jugendlichen so mit zehn angefangen zu rauchen. Zumindest die, die früher mit mir in die Grundschule gegangen sind. Ich habe mir Zeit gelassen, bis ich – ähm – vierzehn war. Der Gruppenzwang hat mich darniedergerafft. Es gilt eben oft als cool, wenn man eine Fluppe im Mund hat. Und unsereins raucht laut Statistiken sowieso eher. Weil man sich an irgendetwas festhalten muss, hat mal jemand gesagt.

Ich blättere in dem Frauenmagazin, das ich soeben unter dem Tresen gefunden habe, und stoße mal wieder auf höchst abstruse Behauptungen. Wer sagt denn, dass 98% der Deutschen ihrem Schatz Spitznamen geben, hm? Ich gehöre definitiv zu den restlichen 2%, auch, wenn ich gerade nicht vergeben bin. Wäre ja noch schöner, wenn ich einem Kerl »Schnucki, du hast deine Aktentasche vergessen!« nachrufen würde! Einfach nur peinlich. Zerlesen wir die bemerkenswert geistreich gestaltete Ausgabe also weiter. Uhm... Fünfundzwanzig heiße Männer. Ein paar von ihnen sind wirklich nicht verachtenswert. Ich meine... wer kann denn bitteschön Orlando Bloom widerstehen!

Räuspern.

Ich zucke zusammen und schlage schnell die Zeitschrift zu, nebenbei verbrenne ich mir die Finger an meiner Kippe. Sehr schön, das habe ich wieder toll arrangiert. Ich ziehe das Pech heute ja wieder förmlich an. Und das auch noch vor Kundschaft! Wenn das jetzt jemand konservatives aus dem Dorf ist, dann kann ich mich einsargen.

Die werten Bürger würden nämlich wer-weiß-was mit mir anstellen. Dafür müssten sie aber erstmal meine Leiche finden, Papa hätte mich garantiert beim kleinsten Anzeichen von »Perversität« irgendwo in einem unserer Felder verscharrt. Würde ich wenigstens noch guten Pflanzendünger abgeben, wenn ich schon als Sohn nichts taugte.

Dem Himmel sei Dank ist es niemand aus unserem Kuhkaff. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den jungen Mann noch nie hier gesehen habe, der wird nichts weitersagen. Alles in allem sieht mein Gegenüber nicht schlecht aus, wie ich nach einer raschen Musterung feststelle: Tiefblaue Augen, charmantes Lächeln und zart gebräunte Haut. Gut, die gebleichten Haare lassen ihn etwas metro wirken, aber man(n) kann ja nicht alles haben.

Reiß dich am Riemen, Sebastian!

Das ist schließlich deine Kundschaft und nicht dein Betthäschen.

„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, frage ich höflich, inklusive Verkäufer-Lächeln.

Meine Kippe werfe ich möglichst unauffällig auf den Boden und trete sie aus. Kann der ja bei dem Tresen nicht sehen, hehe! Der Kerl fährt sich lässig durchs Haar und holt ein ledernes Notizbuch aus seiner Hosentasche.

„Ich bräuchte einen Blumenstrauß – für meine Mutter, wenn Sie verstehen?“, erklärt er in dem Teil blätternd. „Sie mag – ähm – die Farbe Lila sehr gerne.“

Ich nicke und gehe rüber zu den Schnittblumen. Jetzt kommt meine Gartenschere also doch noch zum Einsatz! Die Stiele sollen ja schön aus einer Länge sein, damit alle Wasser bekommen.

„Haben Sie an etwas Bestimmtes gedacht?“, frage ich betont neutral.

Dem soll ja nicht gleich auffallen, dass ich beinahe zu Sabbern anfange. Das wirft nämlich gar kein gutes Licht auf unsere ehrwürdige Gärtnerei, muss man wissen. Hier auf dem Dorf kann das kleinste Gerücht einen richten.

„Ich weiß nicht so recht... vielleicht die da?“, murmelt mein Kunde zögernd und deutet auf eine der Plastikvasen.

„Ah ja, Astern. Sehr gute Wahl. Soll ich noch etwas Grünes verwenden? Das lässt den Strauß nicht allzu – äh – überladen erscheinen“, frage ich vorsichtig. „Ein paar Gräser vielleicht?“

„Nein, nein. Das reicht vollkommen.“

Hm. So gerne scheint der Herr auch nicht zu reden. Ich binde ungefähr fünfundzwanzig Astern zusammen, in fünf verschiedenen Lilatönen versteht sich.

„So recht?“

„Ja, wunderbar. Können Sie mir noch ein Papier drum machen? Ich – ich kenne mich nicht allzu gut mit Blumen aus, müssen Sie wissen.“

Ich nicke und wickle den Strauß schön ein. Noch ein wenig Tesa, und das Kunstwerk ist verhüllt und bereit für größere Strapazen – eine Autofahrt beispielsweise. Ich stecke die Gartenschere wieder zurück in die Hosentasche. Nein, nicht zu den Kippen. Meine Jeans hat – oh Wunder! – stolze zwei Exemplare. Dann trage ich das Arrangement zur Theke und tippe schon mal den Preis in die altmodische Kasse ein.

„Sonst noch einen Wunsch?“

Der Kerl lächelt breit. Will vielleicht noch was für seinen Schnuckiputz, seine supertolle Frau-Schrägstrich-Freundin. Vielleicht einen herzförmigen Blumenstecker oder eine rote Rose.

„Deine Handynummer?“, fragt der Kerl äußerst selbstbewusst.

Shit, damit habe ich nicht gerechnet! Und mit du redet er mich auch noch an. Ich lege den Kopf schief und überlege ein bisschen. Was soll schon passieren? Der wohnt doch eh nicht im Dorf! Ich ziehe sein Notizbuch zu mir, schnappe mir einen Werbe-Kuli und kritzle meine Nummer in ein Feld.

„Dein Name?“

Ich hebe eine Augenbraue und sehe ihn abschätzend an. Dann schreibe ich doch »Sebastian« drunter. Der Kerl nickt zufrieden.

„Macht sieben Euro fünfzig“, murmle ich und deute auf die Kasse.

„Wucherpreise habt ihr ja“, erwidert der Blonde und zückt sein Portemonnaie.

„Wir können es uns erlauben – sind ja auch die einzige Gärtnerei im Umkreis.“

Der Kerl gibt mir das Geld, verstaut sein Notizbuch und nimmt den Strauß von der Theke.

„Man sieht sich – hoffe ich doch“, verabschiedet er sich.

Dann dreht er sich um und verlässt mit einem bemerkenswerten Hüftschwung das Gebäude. Meine Fresse! Wische mir den Sabber aus dem Mundwinkel. Bei dem Hintern kann man sich wirklich alles erlauben. Zum Beispiel in einem kleinen bayerischen Dorf mit dem Hintern zu wackeln. Vielleicht.

Himmel, was denkt der sich eigentlich dabei mich so kirre zu machen? Das ist ja nicht mehr schön.

Ich blättere das Frauenmagazin wieder auf, natürlich völlig willkürlich. »So kriegen Sie IHN rum« steht da in großen Buchstaben. Huch, wo bin ich denn jetzt wieder drüber gestolpert? Nun. Kann ja nicht schaden, oder? Verführerisches Outfit, soso. Und wie bekomme ich das als männliches Wesen auf die Reihe? In die Strapse, die in der Zeitschrift abgebildet sind, bekommt mich garantiert keiner!

Ich will nämlich keine Frau sein. Ist eigentlich ganz schön, dem männlichen Geschlecht anzugehören. Ich bin ja keine Tucke. Nur ein winziges bisschen schwul.

Genau jetzt muss natürlich das Telefon klingeln, das passt ja wieder! Ich sprinte zur Ladestation und hebe ab.

„Gärtnerei Bauer, Sebastian Bauer am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“, frage ich außer Atem.

„Hallo Wasti! Du, ich wollt dich mal fragen, ob du heute Abend mitkommst!“, antwortet mein bester Freund durch die Leitung.

Ich könnte ihm gerade spontan den Hals umdrehen. Was fällt dieser netten Person ein, dass er einen unsportlichen Menschen durch den halben Verkaufsraum rennen lässt anstatt die 50 Meter auf sich zu nehmen?

„Thomas. Wo willst du denn hin?“, frage ich – obwohl ich die Antwort eigentlich schon weiß.

Hier in der Umgebung gibt es so gesehen nichts, was wirklich zum abendlichen Weggehen animiert. Außer dem Jugendtreff direkt neben der Kirche – natürlich auch von selbiger organisiert. In letzter Zeit sitzen da viele Halbstarke in Schlabberhosen und Nachthemden rum, sie nennen sich Hopper. Sind nicht die angenehmsten Leute, wenn man nicht dazugehört. Und die Musik ist wirklich zum Davonlaufen, deshalb gibt es öfter Konflikte.

„Wie immer halt. Treffen wir uns um sieben bei mir, da können wir uns noch fesch machen!“

Ich grinse. Ohne es zu merken hat Thomas gerade einen Begriff seiner Mutter verwendet, einen, den er bei ihr immer abscheulich findet. Ja, ja, irgendwie ähneln wir unseren Eltern halt doch. Sei es nur in den Gesten. Aufstylen will er sich also. Läuft da was? Ich frage ihn selbiges.

„Weißt, die Lisa und die Cornelia kommen heute vorbei. Da muss man doch ein bisschen Eindruck schinden, oder?“

Tja, genau da liegt der Hase im Pfeffer. Der gute Tom steht nämlich auf besagte Lisa. Ihre Freundin und sie sehen ziemlich gleich aus, deshalb beschreibe ich sie gleich in einem Abwasch: Um die 1,70 groß, knochendünn, braune Augen und blondierte Haare. Man trifft sie immer in knappen Klamotten an, mag es auch noch so kalt sein. Die Mehrheit der Mädels im Dorf ist so.

„Vielleicht kriege ich sie ja diesmal rum!“, mutmaßt Thomas nun.

Möglich ist alles. Aber er sollte im Hinterkopf haben, dass die gute Lisa erst zarte vierzehn ist. Jugendschutzgesetz sag ich nur. Erwähnen muss ich das vor ihm nicht, das gibt nur wieder Streit. Hatten wir ja alles schon.

„Vielleicht. Du, ich muss aufhören. Da kommt gerade eine Kundin. Bis um sieben!“

Okay, das war gelogen. Bevor der mir noch eine Stunde ein Ohr abkaut, wie toll die Lisa doch ist, lege ich lieber unter irgendeinem Vorwand auf. So, was machen wir denn jetzt?

Das Frauenmagazin ist jedenfalls gestorben, mehr als lachen kann man über die Artikel nicht. Fernsehen ist tabu, hat Mama gesagt. Rauchen ist sowieso schädlich und überhaupt.

Was ziehe ich denn später an?

Da kann ich mir ja jetzt schon mal Gedanken machen. Einen schwarzen, grauen oder dunkelblauen Kapuzenpulli? Oder doch eher ein schwarzes-Schrägstrich-weißes T-Shirt? Nein, ich bin absolut nicht Klischee. Mein Kleiderschrank birgt nicht so viel Auswahl, da muss ich mich schon frühzeitig entscheiden, klar?

Kann mir ja notfalls bei Thomas noch etwas aussuchen. Der wird sich eh wieder seinen teuersten Fummel anziehen, um Lisa klar zu machen. Er ist das Modepüppchen von uns beiden, weil seine Mama, die Gudrun, immer für ihn einkauft. Da springen dann schon extravagantere Sachen raus als bei mir. Die haben nämlich richtig Geld, und das zeigen sie auch: Haus abgerissen und neu gebaut, zwei exklusive Autos, Pool im Keller und goldene Wasserhähne in den Bädern. Da darf der Sohnemann nicht wie ein Hanswurst rumrennen, das macht einen schlechten Eindruck. Besagter Spross leiht sich dann von mir immer Kapuzenpullis aus, um nicht ganz so sehr aufzufallen. Und weil er damit seine Musikrichtung verdeutlichen kann.

Frisur ist auch kein Thema, bei kurzen Haaren hat man ja nicht allzu viele Möglichkeiten. Den Pony aufstellen, Igelstacheln oder so. Ich weiß eh nicht, was da gerade so angesagt ist. Tom wird mir da helfen. Bin ja so unselbständig. Ach was, aufreißen will ich da nichts! Was mache ich mir eigentlich darüber Gedanken?

Ich sollte mal eher an den Kerl von vorhin denken. Sieht ja ganz süß aus, muss ich sagen. Älter als zweiundzwanzig ist er bestimmt auch nicht und er kommt nicht vom Dorf. Zumindest wohnt er in der Stadt, das konnte man ja schon an den Klamotten sehen. Dazu noch das offen feminine Verhalten – der hat bestimmt Szeneerfahrung. Ausgerechnet so einer hat mich nach meiner Handynummer gefragt. Oh mein Gott!

Das ist natürlich abgrundtief toll, dass mich so ein spitzenmäßger Kerl darum bittet. Wenn mir jetzt noch jemand sagt, wie ich am besten damit umgehe, bin ich glücklich. Ich meine... ich weiß ja nicht mal seinen Namen!

An dieser Stelle würde ich gerne lauthals fluchen. Da in diesem Kaff die katholische Kirche eine sehr hohe Stellung innehat, unterlasse ich es doch lieber und genehmige mir stattdessen eine Kippe.

Beruhigt mich immer wieder.

Ich höre das Quietschen von Reifen draußen auf dem Parkplatz. Toll, immer wenn ich mir eine Zigarette anstecke, muss irgendwer vorbeikommen. Die ist doch gerade erst angeraucht!

Drücke die Fluppe auf der Gartenschere aus, damit ich sie nachher noch weiter rauchen kann und lege sie in die Kasse. Keine Sekunde zu früh, denn schon stöckelt eine Dame um die fünfzig in den Verkaufsraum. Ich erkenne sie sofort.

„Grüß Gott, Frau Belmer. Was kann ich für Sie tun? Wollen Sie sich umschauen?“, frage ich höflich.

Bei der muss man vorsichtig sein, die ist wie ein Fähnlein im Wind. Sagt dir, dass sie X auch nicht leiden kann und wie dumm er ist und zehn Minuten später erzählt sie X, dass du ihn hasst. Und selbstverständlich auch, was du so alles für Leichen im Keller hast. Damit du bei allen im Dorf erst mal unten durch bist.

Sie lächelt gekünstelt und zeigt mir ihre gelblichen Zähne. Meiner Meinung nach haben ihre Beißerchen seit Jahrzehnten keine Bürste aus der Nähe gesehen, bei dem Belag. Oder aber sie trinkt Rotwein und raucht heimlich Kette. Da sehe ich schon, welches Schicksal mich ereilt, wenn ich meinen Lebensstil nicht ganz rasant ändere. Womöglich trage ich in zehn Wintern schlecht sitzende Pumps und kann nicht mal darauf laufen.

„Wasti, du bist aber gescheit gewachsen, seit ich das letzte Mal da war! Ich bräuchte Geranien für den Balkon, am besten in Pink!“, versucht sie mir zu schmeicheln.

„Brauchen Sie dabei meine Unterstützung?“, frage ich auf der Hut. „Bei der Auswahl der Farbtöne?“

Sie winkt ab. Dabei habe ich eine ziemlich gute Sicht auf ihre rosa lackierten Krallen, die natürlich nicht echt sind. Was finden die Frauen eigentlich daran? Muss doch voll unpraktisch sein. Und als Single hat man in einsamen Stunden bestimmt auch nicht so viel Spaß damit, kann ich mir vorstellen.

„Nein, ich komme schon zurecht. Kannst mir die dann raus ins Auto tragen? Das ist einfach zu schwer für eine Frau in meinem Alter!“, antwortet sie und hält sich den Rücken.

„Kein Problem, ich hol dann die Geranien einfach direkt ab und stell sie in einen Karton. Wenn es recht ist, Frau Belmer?“

Sie verzieht sich Gott sei Dank nach draußen. Noch eine Sekunde länger in ihrer Duftwolke und ich wäre eingegangen wie eine Primel. Fünf Euro in die Wortspielkasse!

Was tun?

Solange diese unliebsame Person hier rumgeistert, kann ich weder rauchen noch dummes Zeug in dem Schundblatt meiner Mutter lesen. Schlage ich also die Zeit tot.

Mit was nur?

Ich könnte mir die Nägel lackieren. Finden die Rechten aus unserem Dorf bestimmt so toll, dass sie mir einen schicken Winkel reichen, den ich annähen darf. Von denen gibt es hier viele, sie treffen sich immer hinter der Kirche und nur, wenn es schon dunkel ist. Dabei weiß jeder, wer sie sind.

Hm, ich könnte die Kasse prüfen. Aber das macht Papa eh immer abends, das ist nicht notwendig. Gegossen hat Mama schon, und jetzt?

Steh ich da wie geküsst.

Wenn ich es wenigstens wäre!

Dann wäre ich schon mal im siebten Himmel oder so. Aber wer will denn was mit mir? Und wer würde das Risiko eingehen, hier auf dem Land? Keiner.

Nebenbei habe ich ja immer noch meine Freundin am Hacken. Ja, man hat richtig gehört.

Viola, die Kratzbürste. Allein bei ihrer Stimme stellen sich meine Nackenhaare auf, und das nicht gerade vor Begeisterung. Wir gehen jetzt schon seit Ewigkeiten miteinander, so ungefähr drei Jahre lang. Damals, als alles begonnen hat, wusste ich nicht mal ansatzweise, dass ich schwul bin. Man hat gerade begonnen, die ersten Erfahrungen zu sammeln, die erste Knutscherei und so weiter. So richtig was dabei gefühlt hab ich nie, aber es haben ja alle gemacht.

Meine Kumpels haben ihre Mädels am laufenden Band gewechselt, zwei Monate müssen das Höchste der Gefühle gewesen sein. Immer wieder waren da neue, jüngere Gören. Wenn wir zum Schwimmen gegangen sind, haben sie sich einfach dazugesetzt und immer so komisch gekichert. Mir nichts, dir nichts sind sie dann mit irgendwem gegangen. Wenn dann Schluss gewesen ist, wurde durchgewechselt. Klingt böse, ist aber Tatsache. Wenn du länger als eine Woche ohne Beziehung bist, wirst du schief angeschaut.

Thomas und ich sind also die absoluten Ausnahmen.

„Wasti, kommst du tragen?“, ruft Frau Belmer von draußen.

Die schon wieder. Hat sie ihre Geranien also gefunden, und ich darf sie jetzt ins Auto wuchten, weil sie ja so schwach und ihr Rücken so kaputt ist. Schreckschraube. Begebe mich also raus, lächle gezwungen und packe stolze zehn Pflanzen in einen Pappkarton. Die Belmer gibt echt ein Vermögen für schöne Blumenkästen aus. Unter dem Gewicht von einem knappen Dutzend Prachtexemplaren Bauerscher Aufzucht ätzend schleppe ich mich zu ihrer Luft verpestenden Klapperkiste, genannt Auto. Die Kuh hat ihren Kofferraum selbstverständlich nicht offen und lässt sich mit dem Antraben reichlich Zeit. Als sie dann endlich da ist, braucht sie eine kleine Ewigkeit zum Aufschließen, wobei meine Arme immer länger werden. Ich hasse es!

Endlich geschafft. Jetzt muss diese überaus nette Person nur noch zahlen, dann bin ich sie los. Sie könnte auch noch Trinkgeld rüberwachsen lassen für die schwere Arbeit, die ich nur für sie geleistet habe. Kantapper, kantapper zurück in den Verkaufsraum.

Ich postiere mich hinter dem Tresen und tippe fleißig auf der Kasse rum. Wollen wir doch mal sehen, ob wir die kaputt bekommen!

„Das macht dann genau fünfundzwanzig Euro!“, berichte ich ihr strahlend.

Mit meinem Grinsen mache ich bestimmt allen Atomkraftwerken weltweit Konkurrenz. Wollen wir doch mal sehen, was für mich rausspringt! Ich habe sogar ein extra Sparschwein auf dem Tresen, das auf »Trinkgeld« wartet. Sie kramt erstmal nach ihrem Geldbeutel, toll.

Dann schiebt sie mir genau fünfundzwanzig Tacken rüber, die ich in die Kasse tue. Sehr schön, ich habe ja auch gar nichts für sie gemacht.

„Gell, Wasti, kaufst dir ein Eis!“, sagt sie da und stopft etwas Kleingeld in meine Geldsau.

Genau sechzig Cent. Ich bin achtzehn, verdammt! Das kann man mit einem zehnjährigen Jungen vielleicht noch machen, aber ich bin erwachsen!

„Vielen Dank, Frau Belmer!“, antworte ich artig, statt sie fertig zu machen.

Ich will ja nicht geschäftsschädigend sein. Den Kunden wird immer Zucker in den Allerwertesten geschoben, erste Regel meines Vaters. Ich gebe zu, dass ich manchen männlichen Kunden, siehe vorhin, auch gerne etwas anderes in ihr Gesäß schieben würde. Aber das tut hier wirklich nichts zur Sache.

„Schönen Tag noch!“, ringe ich mir ab zu sagen.

Dann ist sie Gott sei Dank weg. Riskieren wir mal einen Blick auf die Uhr. Zwanzig vor fünf, nun ja. Mein Vater dürfte nicht mehr weit sein und um fünf sperren wir den Laden sowieso zu. Wer will schon im Dunkeln Pflanzen kaufen? Richtig, kein Mensch. Das lohnt sich so gut wie gar nicht, sag ich mal. Da ist Zumachen billiger, weil wir keinen Strom brauchen.

Ich klicke mit dem Kugelschreiber rum. Da kommt jetzt keiner mehr, das habe ich im Gespür. An manchen Tagen läuft es halt gar nicht, da muss man sich drauf einstellen. Das meiste verdienen wir eh nicht durch den Laden, sondern durch die Landschaftsgärtnerei. Der Neubau boomt hier, da braucht man natürlich auch schickes Ambiente und ein paar Pflanzen. Schön angerichtet von meinem Vater. Ebendieser fährt gerade mit seinem Wagen auf den Hof, ich werde also abgelöst. Mama lässt natürlich noch auf sich warten, weil Kaffee mit Erika natürlich seine Zeit braucht. Wenn man sich so viel zu erzählen hat wie die beiden... Ich warte gar nicht erst, bis mein Papa reinkommt, sondern gehe gleich rüber in den Wohnteil unseres Hauses. Soll der sich jetzt mit Leuten wie Frau Belmer abmühen, ich habe frei!

Und ich packe mich jetzt erstmal unter die Dusche. Soll ja später nicht wie der letzte Mensch aussehen und dem guten Thomas seine Chancen gänzlich zunichte machen.

Das Wasser prasselt auf mich nieder. Ich glaube nicht, dass ich das jetzt genauer beschreiben sollte... Weil es bestimmt niemanden interessiert, wie ich mich um mein ganz spezielles Problem kümmere. Kennt ja schließlich jeder, oder? Wenn das meine Mama wüsste! Ich kann ihr ja so schon nicht in die Augen sehen, wenn ich es gerade gemacht habe. Als sie mich aufgeklärt hat, das heißt: Als sie es versucht hat, hat sie gesagt, dass ich um Himmels Willen niemals Wichsen soll. Weil man davon ja bekanntlich blind wird und der Herrgott das nicht wollte.

Meine Dioptrien haben sich in den letzten Jahren nicht wesentlich geändert und der Mann da oben hat sich auch noch nicht klar zu dem Standpunkt geäußert. Und was verboten ist, ist immer sehr verlockend; siehe Baum der Erkenntnis.

So, fertig. Mit einem galanten Sprung befördere ich mich selbst aus der Dusche und lande ungraziös auf dem Läufer. Ja, ich hab es drauf, Leute! Wickle ich meinen Körper also in ein schickes umhäkeltes Handtuch. Man zieht es vor nicht zu lachen. Bei uns ist das eben so. Nur mit selbigem bekleidet marschiere ich aus dem Badezimmer, werfe meine Klamotten in die Wäschetruhe auf dem Flur und gehe nach oben. Schon wieder spukt mir die Frage mit dem Anziehen im Kopf herum, aber bei Unterwäsche kann das doch nicht so schwierig sein. Zu Gesicht wird sie heute sowieso keiner bekommen, abgesehen von Thomas vielleicht, und der auch nur, wenn ich bei ihm schlafe. Die Betonung liegt hier auf bei. Mein bester Freund ist so hetero, dass er schon fast wieder schwul sein könnte. Aber auch wieder nur fast.

Meine ganz persönliche Wahl fällt auf rot-grün karierte Boxershorts der Marke keine Ahnung. Spielt eigentlich keine Rolle, weil ich mich mit den Mädels aus dem Dorf nicht auf eine Stufe stelle. Die präsentieren ihre Strings immer mächtig stolz. Unterwäsche kann man das ja fast nicht nennen, eher ein Fitzelchen Stoff.

Gehen wir zur Hose über. Ja, ich weiß. Irgendwie habe ich wohl doch einen Tick, was Kleidung angeht, aber nur ein ganz kleines bisschen. Außer Jeans findet man in meinem Schrank sowieso nichts, muss ich gestehen. Die sind einfach am strapazierfähigsten. Und natürlich die gute Hose für die Kirche, die brauche ich aber Sonntag noch. Ich ziehe die Erstbeste an und widme mich der Auswahl des Oberteils. Das will geplant sein, wie gesagt.

Vielleicht – hm ja, ich nehme ein schwarzes T-Shirt. Aber es sollte wohl nicht zu eng sein. Nicht, dass meine Leute noch die richtigen Schlüsse ziehen. Das mag nach ziemlich viel Aufhebens erscheinen, aber Vorsicht ist schließlich die Mutter der Porzellankiste.

Ich schlüpfe schnell in meine Klamotten und fahre mir durchs Haar. Zehn nach fünf.

„Wasti, kommst du runter? Das Essen steht schon auf dem Tisch!“, ruft meine Mutter hoch.

Inzwischen ist sie also auch wieder da und kommt ihren ehelichen Pflichten nach. Nein, kein Sex. Vielmehr Mahlzeiten herrichten und eine gehorsame Frau sein, wie damals in den 50ern. Immerhin ist es nicht mehr so, dass das Familienoberhaupt das beste Stück Fleisch bekommt und als erstes essen darf. Bei uns würde nichts mehr für Mama übrig bleiben, hehe!

Ich stürze mich also hastig die Treppe hinunter. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass das Verb voll und ganz zutrifft: Die letzten 5–6 Stufen passiere ich auf meinem Rücken. Aua! In der Küche nimmt man nicht Notiz davon, dass der einzige Erbe gerade nahe dran war sein Leben zu lassen, wunderbar.

„Junge, komm endlich! Wir wollen anfangen“, ruft mein Vater stattdessen auf den Flur raus.

Alles bestens, er ist immer so. Normalerweise gibt es schon um fünf Essen, deshalb ist er wohl eine Idee gereizter als sonst. Ich rapple mich also auf, fahre über meinen frisch geschundenen Rücken und tapse zu meinen Eltern rüber. Es gibt Pfandkuchensuppe, wie – interessant. Um ehrlich zu sein, ich finde das Gericht einfach nur ekelig. Wie jemand auf die Idee gekommen ist, dass er das kombiniert, ist mir schleierhaft. Deshalb schiebe ich den Suppenteller von meinem Platz weg und nehme mir urgesundes Vollkornbrot aus dem Korb. Natürlich verfolgt mich der tadelnde Blick meiner Mutter. Der Sohnemann übt Kritik an der Kochkunst der Hausdame, das gibt Krieg. Ich räuspere mich. Auf einen Konflikt dieses Ausmaßes sollte man sich vorbereiten, ganz ehrlich. Da setzt der Herr Vater auch schon zum Sprechen an.

„Magst das Essen von der Mama nicht?“, fragt er mit unterschwelliger Wut.

Kennen wir alles schon, er rastet ziemlich oft aus. Ich habe mich daran gewöhnt in Deckung zu gehen. Verhindern kann ich es meist nicht, da müsste ich jedes einzelne Wort genau abwiegen. Ich nicke nur.

„Kannst du nicht mehr reden, Junge? Schlimm ist das, in Afrika verhungern die Leute, und du magst die Suppe nicht essen!“, schreit er auch schon drauflos.

Ich bestreiche mein Brot mit Butter und Marmelade. Meistens gehen diese Attacken schnell vorbei – obwohl er sich auch bei Kleinigkeiten ziemlich aufregt. Mama bekommt das auch öfters zu spüren. Esse gelassen mein Brot, während Papas Blicke mich erdolchen. Akustische Begleitung: Schnauben meines Vaters.

„Gehst du heute noch fort?“, unternimmt Mama den Versuch die Lage zu retten.

Ihr schüchternes Lächeln macht die Sache nicht unbedingt besser. Wenn sie nicht vorsichtig genug ist, bekommt sie ihr Fett auch noch weg. Ich kaue auf und ringe mir ein Grinsen ab, eins der netten Sorte.

„Ja, der Thomas und ich wollten zum Jugendtreff. Wir sind um sieben bei ihm verabredet, ich komm so um zwölf heim, denke ich.“

Mein Vater runzelt indes die Stirn, hüllt sich aber in Schweigen. Er mag es nicht, wenn ich spät nach Hause komme. Besonders nicht, wenn ich etwas getrunken habe. Die Nachbarn könnten es ja sehen. Schande!

Mache mich wieder über mein Brot her. Mama zupft ihr graumeliertes Haar zurecht, sie ist schon fertig. Weil sie immer so viel probieren muss, bis der Geschmack passt, ist sie meist schon vor dem regulären Essen satt. Dann tut sie sich nur eine Miniportion auf. Sie dreht den schlicht goldenen Ehering an ihrem Finger, ihre Hände sehen knochig aus. Wann ist sie so abgemagert?

Ich habe aufgegessen und nicke meinen Eltern zu. Papa runzelt mal wieder die Stirn, bevor er mir seinen Teller hinschiebt. Ich soll abräumen, ganz klar. Staple das Geschirr aufeinander und sortiere es in die Spülmaschine. Arbeit getan!

---zwei---

Thomas zupft nervös an seinem babyblauen T-Shirt. Ich finde ja nicht, dass es das richtige Oberteil für einen Aufreißer ist, aber wenn er meint... Er scheint heute Abend einen großen Wert auf Lässigkeit zu legen, hat sogar eine silberne Kette umgemacht. Vermutlich die von der Kommunion, nur ohne Kreuz. Wir stehen schon vor dem Jugendtreff, einem leicht heruntergekommenen Haus. Eigentlich sind wir nur wegen Tom draußen, der überprüft nochmal seine Coolness. Endlich setzt er sich in Bewegung und macht die schwere Tür auf. Die Stimmung der jungen Leute ist bombastisch. Hat jemand die Ironie mitbekommen? Wenn ich ehrlich bin, lümmeln die meisten knutschend auf den Sofas rum, 08/15-Musik dudelt aus den Lautsprechern und von der Aufsichtsperson ist nichts zu sehen.

„Hi Tom! Ich hab ja so auf dich gewartet!“, quietscht es da auch schon und mein Freund wird stürmisch umarmt.

Küsschen links, Küsschen rechts. Lisa, war ja klar. Sie lösen sich wieder von einander, das Mädel wirft mir einen abschätzenden Blick zu.

„Und... Sebastian“, begrüßt sie mich in miesepetrigem Tonfall.

Offenbar ist sie nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Könnte daran liegen, dass ich nicht in ihren weiten Ausschnitt starre und ihr Flirten ignoriere. Genauso ihre Anmache vor zwei Wochen. Tom zieht mich kurz zur Seite.

„Du, Wasti?“, fragt er mit Dackelblick.

Was will er denn? Vielleicht was zu trinken? Ich nicke.

„Könntest du dich heute – ähm – anderweitig beschäftigen?“

Ich ziehe eine Schnute. Das wollte er mir also sagen? Damit ich zwischen maximal 16-jährigen Halbstarken rumhängen darf, toll. Der Abend ist doch jetzt schon gelaufen!

„Sind doch ganz viele nette Mädels da, Wasti! Schau mal, die Brünette da drüben ist doch scharf!“, versuch er mich zu ermuntern.

Ich bin versucht ihm zu stecken, dass ich nun mal auf Schwänze stehe und die kleine Braunhaarige deshalb keinen Platz in meinem Bett bekommt, kann mich aber rechtzeitig am Riemen reißen.

„Jugendschutzgesetz“, zischle ich stattdessen spöttisch. „Meinetwegen, du hast freie Bahn!“

Dann angle ich mir ein Weizen und geselle mich auf die Sofas. Hier spürt man mal wieder, was es heißt, Single zu sein. Überall rumknutschende Jugendliche, die frisch verliebt sind. Oder zumindest so tun. Ich stehe wieder alleine da. Nippe an meinem Bier und wünsche mich an meinen Rechner. Was ich in der Zeit alles tun könnte!

Schiele zu Thomas rüber, der gerade übelst mit Lisa flirtet. Irre ich mich, oder schiebt sich ihre Hand gerade in raschem Tempo seinen Oberschenkel hoch? Widerlich. Sollen die sich doch ein Zimmer nehmen oder aufs Klo verschwinden! Jedenfalls stehen die Chancen gut, dass er heute mit ihr zusammenkommt. Ich sollte glücklich sein, schließlich nervt er mich dann nicht mehr. Allerdings muss ich mir dann den ganzen Pärchen-Mist anhören, auch dumm.

Ich stelle meine Flasche auf dem Tisch vor mir ab und seufze. Sekunden später finde ich mich mit etwas ziemlich schwerem wieder, das seine Arme um mich schlingen will. Cornelia. Momentan kommt sie mir wie ein Riesenkrake vor, so wie sie sich an mich klammert. Ihre Fahne macht sie nicht unbedingt sympathischer. Mann, wie lange ist die denn schon da, dass sie so viel intus hat?

Versuche gezielt ihre Fittiche von mir zu lösen.

„Conny, komm, geh runter von mir!“, brumme ich augenrollend.

„Lust auf ein bisschen Spaß?“, fragt sie und schiebt ihren sowieso schon kurzen Jeans-Mini hoch.

„Ja, aber nicht mit dir!“, antworte ich kühl und schiebe sie von meinem Schoß.

Zumindest versuche ich es.

„Hey! Ich bin gut im Blasen, ja? Darfst ihn auch überall reinstecken“, plärrt sie überdreht und wirft mir einen Blick zu, der ihrer Meinung nach wohl überaus sexy ist.

Ich verziehe angeekelt das Gesicht. Wie pervers ist die Jugend von heute? Bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht doch älter ist als ich. Von wegen Schamgefühl und so.

„Tut mir Leid, aber ich glaube...ich glaube, du bist eine Spur zu jung für mich“, sage ich zögernd, und auf ihren fragenden Blick hin füge ich hinzu: „Außerdem bin ich mit Viola zusammen!“

Dann schiebe ich sie endgültig von meinem Schoß, woraufhin sie sich verpisst. Gott sei Dank! Widerlich, wie verdorben das Miststück ist. Und das mit zarten 14! Trinke meine Flasche auf ex aus, um das Elend zu verkraften, wahlweise auch zu vergessen. Thomas und Lisa hauen gerade rum. Bäh, müssen die ihre Zungen so öffentlich zeigen?

Eine Gefahr für alle Singles. Da wird man systematisch in Depressionen getrieben, ja? Nicht auszuhalten. Nein, ich stehe nicht auf Thomas. Zumindest nicht mehr. Das war schon mal anders, kennt man ja. Gibt so viele Leute, die sich irgendwann mal in den besten Freund oder die beste Freundin verlieben. Ich hab es unterdrückt und mir von Anfang an keine Hoffnungen gemacht, hat ganz prima geklappt. Ich hatte ja recht.

Je später der Abend, desto besoffener die Gäste. Es sprach Sebastian Bauer.

War vielleicht keine so gute Idee, erst um halb neun hier aufzuschlagen, jetzt haben schon alle ordentlich was intus. Siehe Cornelia. Gehe los, noch ein Bier holen. Den abgefuckten Jugendtreff erträgt man nur betrunken. Nun ja, mindestens angesäuselt sollte man sein. Neueste Eroberung: Eine Flasche Pils. Die trifft man hier nicht so oft an, wir sind schließlich in Bayern. Weizen über alles!

Lasse mich mit meinem neuen Schatz häuslich nieder, nämlich auf dem Fußboden. Der Deckel lässt sich auch ganz leicht abpfriemeln, hat ja so eine lustige Schlaufe dran. Schluck. Trink.

Huh, wer zwinkert mir denn da zu?

Fokussiere den Kerl genauer. Blonde Haare, leicht gebräunt – Moment, das ist doch der Kerl aus der Gärtnerei! Was macht der denn jetzt? Oha, der fährt sich ziemlich aufreizend über die Brust und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Ich schlucke. Will der mich etwa anmachen? Lecke mir langsam über die Lippen. Er schließt kurz genießerisch die Augen, dann weist sein Blick zur Klotür.

Ich. Mit dem. Da?

Soll ich?

Die Gelegenheit ist gut. Ich meine...wann hat man das denn mal auf dem Dorf? Nehme einen letzten Schluck Bier aus der Flasche, bevor ich sie abstelle. Meine Hand zittert. Ich stehe langsam auf und versuche, niemanden anzustoßen. Gehe durch die Tür hinaus auf die Männertoilette und bestaune die demolierten weißen Kacheln an der Wand. Betrachte mein Selbst in dem dreckigen Spiegel über dem Waschbecken und hoffe, dass der Kerl mich nicht verarscht. Aber nein, da ist er schon. Ich richte mich auf, als er die Tür hinter sich schließt. Sekunden später liegen seine Lippen auf meinen, stellen wer weiß was mit mir an. Eh ich mich versehe, werde ich in eine der schmalen Kabinen geschoben. Ich schäme mich ein klein wenig, weil ich gewissermaßen ziemlich unerfahren bin. Mit Männern mein ich. Er pfriemelt an meiner Hose herum und schafft es endlich den Knopf zu öffnen. Ich lehne mich an die bekritzelte Wand und lass ihn einfach machen.


„Ey, wo warst du denn?“, fragt Thomas zwischen zwei widerlich feucht aussehenden Zungenküssen, die er mit Lisa tauscht.

Scheinbar sinkt seine Fertigkeit auf diesem Gebiet mit jedem Schluck Alkohol, dem er heute – ähm – schon öfter zugesprochen hat. Ich pflanze mich neben ihn und zucke mit den Schultern. Mein Bier wurde während meiner Abwesenheit auch schon für mich geleert, wie hilfsbereit. Nehme einen Schluck aus Thomas' Flasche.

„Aufm Klo“, sage ich schlicht.

Ist ja nicht verboten, oder? Dass da ein Kerl dabei war, der mir einen geblasen hat, muss er ja nicht wissen. Auch nicht, dass ich erst nachher seinen Namen erfahren habe, Pascal. Das klingt so gar nicht wie von hier. Das ist wirklich nichts für Tom.

„Mit Cornelia?“, fragt er ungeniert.

„Nee“, murmle ich und signalisiere, dass hier Endstation ist.

Bis hier her und nicht weiter. Ich brauche meine Geheimnisse – nicht unbedingt, weil ich es liebe sie zu sammeln – ohne sie könnte ich hier nicht überleben. Thomas haut schon wieder mit Lisa rum. Die Geräusche, die sie dabei verursachen, sind höchst seltsam. Ich meine... hier sind wirklich viele Leute, die sich küssen, aber bei denen klingt das nicht so. Bei mir und Pascal war das auch anders, glaub ich. Schwören würde ich es aber nicht, ich war etwas abgelenkt. Nehme noch einen Schluck aus der Flasche, die ich mir eben angeeignet habe.

Thomas greift nach meiner Hand und zieht sie ruckartig zu sich, dabei schwappt Bier über. Auf meine Hose, um genau zu sein.

„He, was soll das denn?“, frage ich angepisst.

Mit nassen Klamotten lacht es sich eben nicht so leicht. Sieht doch aus wie in die Hose gemacht.

„Wie heißt se denn?“, nuschelt Thomas angetrunken.

Ich entziehe ihm meine Hand und verberge sie hinter meinem Rücken, nachdem ich die Flasche abgestellt habe. Als ob ich meinen Körper einer von diesen Schnepfen überlassen würde! Draufschreiben dürften die auf mich auch nichts. Ich sehe ihn böse an und verweigere ihm die Antwort. Er seufzt und schickt Lisa zum Bier holen.

„Und was ist mit Viola?“, fragt er langsam.

Ich zucke mit den Schultern. Muss er mich ausgerechnet jetzt an sie erinnern? Jetzt, wo ich gerade absolute Überflieger-Stimmung habe? Thomas entpuppt sich als mein Gewissen, brr.

„Weiß nicht. Werde mit ihr Schluss machen, schätze ich. Läuft ja schon ewig nicht mehr glatt“, erwidere ich redselig.

Gebt mir nichts mehr zu trinken! Noch ein wenig und ich fange an meine Geheimnisse zu erzählen. Wirklich unangebracht, wenn massenhaft betrunkene Schläger im Raum sind und mich hören können.

„Nach der Zeit ist einfach die Luft raus, Kumpel. Mach dir nichts draus, ist einfach so. Kann ich voll verstehen, dass du dir ne andere gekrallt hast“, stimmt mir Thomas zu.

Er konnte Viola noch nie besonders leiden. Liegt größtenteils daran, dass sie ihm in der Grundschule immer die Fahrradreifen zerstochen hat, war halt schon immer eine Kröte.

„War es denn gut?“, fragt Tom weiter.

Ich nicke mit glasigem Blick.

„Dann würde ich wirklich sagen, du machst so schnell wie möglich mit Viola Schluss! Überleg mal: In der Zeit, in der du mit ihr noch zusammen bist, kannst du nicht optimal nach ihrer potentiellen Nachfolgerin suchen. Ich kenne dich doch, da schiebst du noch Panik, dass du ihre Gefühle verletzt. Am besten, du legst sie flach und sagst ihr direkt danach, dass sie gehen kann. Für immer und so!“

Thomas lacht. War der schon immer so – nun ja – böse? Man muss sich ja auch immer in die Lage des »Opfers« versetzen. Möchte ich so grausam abserviert werden? Nein. Außerdem bin ich nicht scharf drauf, nochmal mit Viola zu schlafen. Ich lache mit Thomas – weil er mein Freund ist. Lisa ist wieder da und hat Bier im Gepäck. Sie kichert eine Runde mit, obwohl sie nicht weiß, um was es geht. Dann wirft sie sich wieder Tom an den Hals – im wahrsten Sinne des Wortes. Die schlabbert an ihm rum, dass es nicht mehr schön ist. Ich verziehe keine Miene. Das stehe ich jetzt auch noch durch, ja.

Und morgen oder übermorgen ruf ich Pascal an. Nur so zum Reden, ich steh nämlich nicht auf ihn. Aber wenn er länger hier im Dorf ist, können wir das von vorhin ja nochmal wiederholen. Nein, nicht sabbern! Was sollen denn die Leute von mir denken?

„Meinst du, ich soll es ihr gleich morgen sagen?“, frage ich Thomas.

„Klar. Da ist sie doch gerade wieder aus dem Urlaub da, nicht?“, keucht er zurück.

Wäh, ich will gar nicht wissen, wo Lisas Hände gerade sind. Hallo, nehmt euch bitte ein Zimmer! Oder geht auch aufs Klo.

„Aus Italien, ja. Nicht dass die Mädels noch da sind, wenn ich komme“, murmle ich.

Die würden mich verkloppen, wenn ich vor ihren Augen mit ihrer Tussen-Freundin Schluss machen würde. Der hochhackige Schuh, der mir zwischen die Beine tritt, wäre sicher.

„Ruf sie halt vorher an. Mann, Wasti, ist doch gar nicht schwer! Lass uns mal eben durch!“, fordert mich Thomas auf und zwinkert mir zu.

So, jetzt gehen die beiden also aufs Klo. Ob sie es in der gleichen Kabine machen wie Pascal und ich vorhin? Ich weiß, ich bin versaut. Überhaupt sollte ich mir meinen Mund mit Seife auswaschen und mir die schweinischen Gedanken vom Herrn Pfarrer austreiben lassen.

Was machen wir mit dem angebrochenen Abend?

Es ist gerade erst elf und ich weiß, dass Tom hundert pro noch eine Stunde bleiben will. Wenn er vom Klo kommt und ich nicht mehr da bin, ist er angepisst. Harre ich also hier aus. Meine Fingernägel sind aber auch wieder interessant!

Nun gut, ich sehe sie mir nur an, weil Cornelia so aus meinem Blickfeld verschwindet. Meines Erachtens hat sie viel zu tief ins Glas geschaut, und das mit vierzehn Lenzen. Gut, hier fängt man ein bisschen früher damit an, und breit sind am Ende alle. Aber kann man sich nicht ein bisschen zurückhalten? Ich muss bald einen Friedhof für alle Gehirnzellen einrichten, die ihr schon weggestorben sind. Kann mich nicht daran erinnern, vorm Abi weggegangen zu sein, das ganze Frühjahr nicht. Der einzige Kerl, der das gemacht hat, ist durchgerasselt, so richtig schön.

Was sagt uns das?

Pfoten weg vom Alkohol. Allein der Gedanke, dass ich morgens neben einem mir unbekannten Kerl ohne Erinnerungen aufwachen könnte, löst bei mir absoluten Stress aus. Wie verhält man sich denn da bitte? Natürlich mit fettem Kater, womöglich in einer Wohnung, die man nie zuvor gesehen hat. Fenster auf und raus? Wohl so ähnlich. Pascal ist schon weg, toll. Das ist übrigens ganz was anderes, als mit Restalkohol neben einem »beautiful stranger« aufzuwachen. Wir waren ja beide bei vollem Verstand, denke ich.

Überlegen wir uns also, wie wir am besten die Sache mit Viola beenden. Arzt-Plural, ich weiß. Aber jetzt zum Wesentlichen: Soll ich eiskalt zu ihr sein, wo ich ihr schon einen Seitensprung verziehen habe? Oder soll ich ihr unter Tränen beichten, dass da einfach keine Gefühle mehr für sie sind? Ich könnte auch ganz lässig sagen, dass da nie welche waren. Bin ich so ein Arschloch? Nein.

„Du, Wasti?“

Ich hebe meinen Blick von meinen Händen und starre direkt in einen weiten Ausschnitt. Mahlzeit. Leicht geschockt rutsche ich ein Stückchen zurück. Allein der Atem von Cornelia reicht schon aus, um beschwipst zu werden. Ihr Gesicht ist gerötet, ihre Augen glasig und ihr sonst so perfektes Haar ist wirr.

„Warum – hicks – warum willst du mich nicht?“, fragt sie und verengt ihre Augen zu Schlitzen.

„Ich vögle nicht fremd, wenn ich eine Freundin habe“, antworte ich so sachlich wie nur möglich.

Bloß nicht aufregen. So, wie die gerade aussieht, würde sie sich auch mit mir schlägern.

„Viola hier, Viola da! Die lässt doch jeden drauf, wenn du auch nur eine Sekunde nicht da bist! Wo ist sie denn heute, hm? Ich kann es dir sagen: Daheim ist sie, lässt sich vom Georg durchs Bett schieben!“, kreischt sie und stampft mit dem Fuß auf.

Die Lage ist äußerst ungemütlich. Eigentlich ist es mir ziemlich egal, mit wem Viola was macht, solange ich nicht involviert bin. Muss die Zicke mir jetzt eine Szene dieser Größe machen?

„Sie meint, mit dir läuft eh nichts mehr! Ein Schlappschwanz wärst du, aber küssen könntest toll. Früher hat sie von dir geschwärmt, sag ich dir! Du willst sie doch eh nicht mehr!“, schreit sie mich weiter an.

Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe. Worauf will sie hinaus? Einige Leute sehen schon interessiert zu uns. Wenn ich sie jetzt nicht abwürge, stehen wir im Blickpunkt der Allgemeinheit. Ein falsches Wort und...

„Cornelia, du bist betrunken. Komm, lass und das draußen klären!“, fordere ich sie auf und greife nach ihrem Arm.

„Gar nichts wirst du!“, sie stößt mich weg.

Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. Was soll ich tun? Sie scheint nicht mehr ganz bei Verstand zu sein. Von Tom ist immer noch nichts zu sehen, und die Gaffer sammeln sich um uns. Allesamt angetrunken, die meisten von ihnen gewaltbereit und auf der Suche nach einer ordentlichen Schlägerei. Ich will hier weg!

„Cornelia, verstehst du denn nicht? Denk doch mal nach!“, rede ich auf sie ein.

Plötzlich ist da ein Blitzen in ihren Augen, etwas gefährliches. Ihr Mund verzieht sich zu einer grotesken Grimasse.

„Doch, ich verstehe sehr wohl“, faucht sie voll Verachtung. „Du bist schwul, nicht? Dir macht es Spaß, anderer Kerle Schwänze zu lutschen, nicht wahr? Seht euch diesen kleinen Arschficker an, und von so einem wollte ich was!“

Es tut weh, das zu hören. Aber ich muss schnell handeln, muss weg von hier. Bevor die ganzen Idioten hier realisieren, was Cornelia mir an den Kopf geworfen hat. Sie weiß, dass sie mit ihrer Aussage richtig liegt. Ich renne, schubse die Kerle weg, die vor der Tür stehen und bin endlich an der frischen Luft.

Laufe weiter, obwohl ich Seitenstechen habe und meine Lungen entsetzlich brennen. In Sport war ich immer schlecht, besonders in Leichtathletik. Kann die grölenden Stimmen hinter mir hören, die mich verfolgen. Sie sind schneller als ich, aber ich bin gleich zu Hause. Sehe die Gärtnerei doch schon. Strenge mich ein letztes Mal an, um die Tür so schnell wie möglich zu erreichen. Sicher sein.

Taste noch während dem Laufen nach meinem Schlüssel, panisch. Endlich, gefunden. Suche in der Dunkelheit nach dem Schloss und finde es endlich. Meine Hände zittern, aber ich bekomme das Teil auf. Stürze in den Flur und werfe die Tür hinter mir zu. Ich keuche, würge fast. Mein T-Shirt ist durchgeschwitzt und mein Gesicht verheult. Ich muss geweint haben, als ich gelaufen bin.

Im Moment bin ich sicher, aber nicht lange.

Sie werden herkommen, spätestens morgen früh, und wie der mittelalterliche Pöbel über das Haus herfallen.

Nichts wird so sein, wie es war.

Und eins ist glasklar: Ich muss hier weg. Wie mein Vater reagiert, weiß ich jetzt schon. Kann froh sein, wenn ich dann noch lebend hier wegkomme. Mama würde nur dabeistehen, irgendwo im Hintergrund vermutlich, und leise weinen. Nichts gegen Papa sagen, so wie immer.

Meine Atmung hat sich wieder beruhigt, ich gehe so leise wie möglich die Treppe hinauf, öffne meinen Schrank, zerre die dunkelblaue Reisetasche heraus und werfe etwas willkürlich meine Klamotten rein. Was man halt so braucht. CDs. Und meinen Laptop, der muss auch mit. Wegen der Beweise, die man darauf finden kann: Meine Linkliste, die Stories, die ich geschrieben habe und alles. Die einzige Verbindung zu anderen Schwulen – mal von Pascal abgesehen.

Ziehe den Reißverschluss zu und widme mich meinem Rucksack: Geld, Ausweis, Führerschein, Abiturzeugnis und natürlich meine EC-Karte. Uralt-Handy, was zum Schreiben, MP3-Stick und ein Buch, das muss reichen.

Fahren so spät noch Züge? Ich weiß es nicht.

Ist mir auch egal, ich will nur weg hier. Vielleicht mit dem Nachtexpress, das dürfte gehen. Bus also. Ich setze mir den karierten Hut auf, den ich vor einiger Zeit in K. gekauft habe, und schultere mein Gepäck. Auf in die große weite Welt.

Was auch immer das sein mag.

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