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Ordinary Life

Kapitel 3 und 4

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Inhaltsverzeichnis

---Drei---

Im Bus ist es unbequem, da die Straße holprig und schlecht geteert ist. Das kalte Licht der Neonröhren scheint unbarmherzig auf mich herunter, als ob ich etwas verbrochen hätte. Wie in den alten Filmen, wo man mittels Schreibtischlampe zum Geständnis gebracht wurde. Ich bin der einzige Fahrgast, es ist kurz nach eins. Dicke Regentropfen rinnen über die teilweise zerkratzten Fenster und ab und zu donnert es. Blitze zucken über den Himmel. Ein klassisches Sommergewitter, ganz typisch für den August. Mein Dorf liegt weit hinter uns, wir sind schon dreißig Kilometer gefahren. Bald sind wir in K., die Bebauung ändert sich schon langsam. Alles hat diesen Vorort-Flair, die Straßen sind gut und sauber, ich komme mir mal wieder wie ein Bauerntrampel vor. Wie sieht das überhaupt aus, hm? Ein Kerl, knappe neunzehn Jahre, mit Reisetasche und vollkommen verwaist am Bahngleis.

Nicht sehr spektakulär.

Ich schalte meinen MP3-Stick an. Musik schafft es immer, mich zu beruhigen. In dieser Situation habe ich es auch bitter nötig. Möchte gar nicht daran denken, was meine Eltern in ein paar Stunden vorfinden, was sie sagen werden. Will nicht wissen, ob ich dann noch ihr Sohn bin. Oder Thomas' Freund.

Mittlerweile sind wir in der Stadt. Ich kenne mich hier aus, wir fahren immer zum Shoppen her. Also wenn wir Klamotten brauchen, meine ich. Hier gibt es sogar FastFood-Restaurants, ja? Und eben einen Bahnhof, der gut angebunden ist. An Nürnberg, Würzburg und so. Größere Städte halt, die nur auf mich warten. Aber was dann? Wo will ich überhaupt hin, mitten in der Nacht?

Pascal.

Ich hole mein Handy aus dem Rucksack, der Busfahrer beobachtet mich misstrauisch.

„Telefoniert wird hier drinnen aber nicht, gell?“, sagt er in nicht gerade nettem Tonfall.

Ich nicke niedergeschlagen und stopfe das alte Teil in meine Hosentasche, in die es gerade so passt. Na ja, SMS schreiben und telefonieren geht, was will man mehr?

Ich drücke auf den roten Stopp-Knopf, raffe mein Gepäck zusammen und gehe zu der hinteren Tür. Es hat immer noch nicht aufgehört zu regnen, das Wetter wird bestimmt schlechter. Immerhin kühl. Der Bus biegt um eine Ecke und ich klammere mich an eine der gelb lackierten Eisenstangen. Meine Handgelenke treten weiß hervor und ich sehe ein bisschen leichenhaft aus in dem fahlen Licht. Krank.

Die Türen öffnen sich und die regnerische Nachtluft weht herein. Ich atme tief durch und steige aus. Endstation Bahnhof. Setze mich auf die kleine Holzbank des Bushäuschens und krame das Handy aus meiner Hosentasche. Schlucke trocken.

Tippe langsam seine Nummer und warte.

„Kramml?“, fragt es nach einer Minute am anderen Ende der Leitung.

„Pascal, bist du's?“, frage ich zögernd.

„Sebastian? Was, um Himmels Willen, ist passiert, dass du mich um... na ja, so spät anrufst?“

„Du, da ist gestern ganz viel Scheiße passiert“, jammere ich ins Telefon.

„Erzähl“, fordert Pascal mich auf und ich kann sein unterdrücktes Gähnen hören.

Habe ihn wohl aus dem Schlaf gerissen. Sollte auch nicht verwunderlich sein um diese Uhrzeit, aber so bin ich halt. Ich berichte also, was alles vorgefallen ist, und ende damit, dass ich abgehauen bin und jetzt am Bahnhof stehe.

„Willst du zu mir kommen?“, fragt Pascal.

Ich nicke, aber das kann er natürlich nicht sehen.

„Ja, gerne“, antworte ich. „Aber ich weiß ja nicht mal, wo du wohnst!“

„Pass auf. Du löst mit deiner EC-Karte eine Fahrt nach München – Hauptbahnhof, okay? Am besten nimmst du den nächsten Zug. Schreib mir unterwegs eine SMS, wann ich dich abholen soll. Gut so?“

„Ja. Vielen Dank, Pascal. Ich weiß echt nicht, was ich ohne dich machen würde. Jetzt, wo alles so anders ist.“

„Schon okay, Sebastian. Bis später“, verabschiedet er sich.

„Tschüss“, murmle ich und lege auf.

Was für ein seltsames Gespräch. Auf zum nächsten Fahrkartenautomaten!


Im Zug ist es still, nur ab und zu rattert es ein wenig. Die meisten Mitreisenden schlafen und auch ich bin müde. Dennoch halte ich mich krampfhaft vom Einnicken ab, weil ich mal gelesen habe, dass man schlimme Ereignisse so eher vergisst. Stattdessen habe ich mein Notebook angeschlossen und schreibe an meiner aktuellen Story weiter. Nein, ich erzähle nicht meine Geschichte. Ich schreibe von Schwulen, die ganz einfach das sein dürfen, was sie sind. Erzähle von einer rosa Welt, die es nicht gibt, vielleicht nie geben wird. Zumindest nicht da, wo ich herkomme.

Die Protagonisten führen ein glückliches Leben, die Eltern verstoßen ihre Söhne nach ihrem Coming-Out nicht und schneiden ihre Sprösslinge auch nicht. Ihr größtes Problem ist, dass sie so weit voneinander entfernt wohnen. Deshalb treffen sie sich immer am Wochenende, wenn sie wieder genug Geld für die Fahrkarten gespart haben. Love is in the air.

Ich seufze und reibe mir die Augen. Wie soll es jetzt weitergehen? Ich kann mich ja nicht ewig bei Pascal breit machen und irgendwann wird mein Geld auch zur Neige gehen. Momentan tummeln sich noch um die viertausend Euro auf meinem Konto, aber wie lange mag das reichen? Gerade in einer Großstadt wie München. Landeshauptstadt, man stelle sich das mal vor! Fünf Uhr dreißig. In einer dreiviertel Stunde werde ich aus dem ICE aussteigen und mich in einer ganz anderen Welt wiederfinden. Einer, die nicht meine eigene ist.

Hoffentlich hat Pascal meine SMS bekommen. Auf der ganzen Fahrt war der Empfang meines Netzbetreibers unter aller Sau und vor geraumer Zeit hat er sich ganz verabschiedet. Natürlich ist das ganz üblich, ich bin ja im Zug. Heute ist es aber dringend und eigentlich warte ich auf eine Antwort, um sicher zu sein.

Überhaupt ist alles total unwirklich: Innerhalb weniger Stunden hat sich so viel geändert. Ich habe Pascal kennen gelernt, die ersten Erfahrungen mit einem Mann gemacht. Vorher war das ja mehr theoretisch, hat sich ja alles in meinem Kopf abgespielt. Ich bin schwul und zwar so richtig. Nicht mehr »ein bisschen vielleicht«. Ausgerechnet Cornelia, die dumme Gans, hat zwei und zwei zusammengezählt. Ich könnte sie immer noch würgen. Wegen der musste ich flüchten, Hals über Kopf. Meine Eltern werden kein ruhiges Leben mehr führen können, viele Kunden verlieren und das nur, weil ihr Sohn eine »schwule Sau« ist. Mein Vater wird mich abgrundtief hassen.

Ich sehe mir die Websites der Münchner Universitäten an – wer weiß, vielleicht kann ich ja irgendwann doch studieren. Papa war ja dagegen, er hat ja auch nur die Realschule besucht. Hat ja gereicht, um erfolgreich zu sein. Weiß nicht, wie oft er mir das unter die Nase gerieben hat.

Ich stöpsele meine Kopfhörer an mein Notebook an, damit die Leute um mich herum nicht wach werden. Muss ja nicht sein, meinem Musikgeschmack ist nicht jeder zugetan: Alles, was traurig klingt und/oder fast nur noch an Geschrei mit Lärm erinnert. Zumindest beschreiben andere es oft so. Im Moment lausche ich »Burger Queen Français«, ein Lied, das mich immer ziemlich ruhig macht. Warum auch immer, der Text ist ja nicht so nett. Sobald ich es höre, denk ich halt nicht mehr, dass das Leben mich hasst. Fazit: Ich höre es oft. Im Internet keine neuen Beiträge.

Was habe ich eigentlich erwartet?

Dass um sechs Uhr morgens Hochkonjunktur herrscht? Flaute wohl eher. Jeder normale Mensch liegt jetzt noch im Bett, sofern er nicht arbeiten muss. Da sind Rechner ja auch nicht gerade erlaubt, beziehungsweise nicht für Privatangelegenheiten zu gebrauchen. Vielleicht sollte ich mal wieder paraplüschen. Kuscheltiere therapieren lenkt bestimmt wunderbar von eigenen Problemen ab. Obwohl... die Seite hat Soundelemente, da höre ich Placebo ja gar nicht mehr vor lauter Elektroschocks. Mein Leben hasst mich doch.

Das Lied hat sich inzwischen auch schon vom Acker gemacht, sprich: Es ist vorbei. Nochmal abspielen ist auch doof, oder nicht? Egal. Nur noch fünfzehn Minuten, dann sehe ich Pascal wieder. Vorausgesetzt, ich finde ihn am Bahnhof. Bei meinem Suchsinn wäre das ein Wunder. Ich habe nämlich einen festen Ablauf, der natürlich strengstens befolgt werden muss: Einmal um die eigene Achse drehen, nervös mit den Armen wedeln, anschließend mit den Schultern zucken. Zum Schluss folgt ein geistreiches »Das ist hier gar nicht!« inklusive anklagendem Blick. Sehr kompetent, ich weiß. Ich fahre das Notebook herunter und seufze erstmal ausgiebig. Mit Gähnen habe ich schon vor einiger Zeit aufgehört. Es verbraucht einfach zu viele Kalorien, ja? Und erst der Aufwand an Muskelkraft, grausam.

Ich stehe auf und angle mein Gepäck aus dem Gang. Packe meinen Laptop wieder ein und mache mich auf den langen, beschwerlichen Weg zur nächsten Tür. Zeit habe ich ja eigentlich genug, aber ich bin -ähm- überpünktlich, so nennt man das, glaube ich. Außerdem habe ich tierische Panik, dass ich nicht rechtzeitig zum Aussteigen komme und deshalb noch eine Station mitfahren muss. War im Bus schon immer der Erste, der aufgestanden ist.

Am Fenster ziehen die Häuser vorbei, ich kann sie sogar erkennen. Der ICE wird also schon langsamer, bei 200 km/h könnte ich das wohl kaum genau sehen. Die Durchsage muss ich glatt verpennt beziehungsweise überhört haben, denn plötzlich haben sich noch andere verschlafene Gestalten zu mir gesellt. Nur wenige, aber wer fährt samstags auch schon so früh Zug?

Jetzt kann man das Bremsen deutlich spüren, ich klammere mich an eine der Stangen. Eine abgespannte junge Dame nimmt mir die Aufgabe ab, die Tür zu öffnen. Sehr schön! Ich murmle ein leises Danke, bevor ich mich raus auf den Bahnsteig stürze. Richtig, ich habe die Stufen übersehen. Reflexartig strecke ich die Arme aus, bevor mein Gesicht Bekanntschaft mit dem Beton machen kann. Akustisch untermalt wird der ganze Vorgang von den überraschten bis hysterischen Rufen meiner Mitreisenden. Ja, so einen schönen Schwinger hat man schon lange nicht mehr gesehen! Meine Handflächen schrinnen und mein Gepäck hat mich halb erschlagen, aber sonst ist alles okay. Hätte ja auch schlimmer kommen können. Ich rapple mich schnell auf, will ja nicht den Ausstieg blockieren. Und da steht er: Gut zwanzig Meter entfernt, das blonde Haar vom Schlaf zerzaust. Er geht langsam auf mich zu, winkt. Ich lächle, was er auf die Distanz bestimmt nicht sehen kann. Egal.

„Pascal!“, rufe ich enthusiastisch und werfe mich in seine Arme.

Er streichelt meinen Rücken etwas abweisend und küsst mich auf die Stirn. Ist er so in Gedanken vertieft? Nun ja, vielleicht ist das ja seine Art. So lange ist es ja auch nicht her, dass wir uns gesehen haben. Nur ein paar Stunden, was macht das schon?

„Hallo, Sebastian“, murmelt er und greift nach meiner Hand. „Trinken wir einen Kaffee!“

Scheinbar hat er sich das schon vorher überlegt, da will ich ihm nicht seine Pläne durchkreuzen.

„Gut“, murmle ich und weiß nicht recht, wie ich mich verhalten soll.

Ich meine... wenn es nach mir geht, war die Sache gestern Abend einmalig. Aber was denkt Pascal darüber? Will er vielleicht mehr? Hat es ihm überhaupt gefallen?

Wir schlendern zum nächsten Café und lassen uns an einem der Tische häuslich nieder, mit Gepäck und allem. Nach einem kurzen Blick entscheide ich mich für heiße Schokolade, nach Kaffee ist mir gerade nicht besonders. Pascal bestellt auch lieber grünen Tee, wo er doch so scharf auf Kaffee war.

„Sebastian, wir müssen reden“, sagt er leise.

Ich seufze leise und nicke. Ja, etwas in der Art habe ich mir schon fast gedacht. Es gibt immer ein Licht am Ende des Tunnels. In meinem Fall ist es permanent der entgegenkommende Zug, bereit mich platt zu wälzen, wenn ich mich gerade wieder aufgerappelt habe.

Er kratzt sich verlegen am Kopf.

„Weißt du... du kannst nicht bei mir bleiben. In meiner Wohnung, meine ich. Ich habe einen Freund, Sebastian.“

Bitteschön, da haben wir es wieder, mein ganz persönlicher Wahnsinn. Wenn du denkst, es geht mal wieder bergauf, kommt eine Walze bergab gefahren und macht wieder alles kaputt. Dich inklusive.

Ich schlage meinen Kopf auf die Tischplatte und verweile da. Ist einfach nur schön das Gefühl. Pascal streichelt meinen Arm.

„Sebastian, rede doch mit mir! Hast du gedacht, das mit uns würde etwas langfristiges werden? He, weinst du?“, fragt er besorgt.

Ich richte mich ein wenig auf, zucke mit den Schultern. Nein, ich will und wollte keine Beziehung mit ihm. Aber ich dachte, dass ich bei ihm bleiben könnte, wenn auch nur für kurze Zeit. Wie steh ich denn jetzt da? Ohne Dach über dem Kopf, vor der homophoben Bevölkerung meines heimatlichen Dorfes geflüchtet.

„Wo soll ich jetzt bleiben?“, frage ich angespannt. „Warum hast du mir überhaupt gesagt, dass ich herkommen soll?“

Pascals Blick hellt sich auf. Ja, erfreu dich nur an meinem Leid! Ich steh drauf, ehrlich. Wenn du jetzt noch auf mir rumtrampelst, bin ich der glücklichste Mensch im Universum. Mach nur, viel kann sowieso nicht mehr kaputt gehen!

Ich zücke mein Handy und tippe ein SMS an die gute Veronika. Je eher diese Geschichte aufhört, desto besser. Schicke die Meldung ab und schlucke. Vorbei, vorbei, vorbei. Und jetzt? Nichts.

Offiziell wieder Single und auf dem Markt.

Allerdings auch zurück auf dem Boden der nackten Tatsachen, Scheiße aber auch.

„Was war das jetzt?“, fragt er interessiert.

„Hab mit meiner Freundin Schluss gemacht“, antworte ich trocken und starre ihn düster an.

Verdammt, wie kann der noch eine so heitere Stimmung an den Tag legen?

„Oh“, murmelt er. „Tut mir Leid für dich.“

„Muss es dir nicht“, fauche ich kühl. „Gibt Schlimmeres als diese Kratzbürste loszuwerden.“

Er nickt rasch, zu schnell, um genau zu sein. Begriffen hat er nichts.

„Um nochmal auf dein kleines Problem, also deine Obdachlosigkeit zurückzukommen“, redet er weiter. „Da hätte ich eine ganz passable Lösung.“

Ich nicke gleichgültig.

„Erzähl!“

Er faltet die Hände und sieht mir in die Augen. Hat ein bisschen was davon, wie man sich den klassischen Blick eines Psychologen vorstellt. So ekelig wissend, verständnisvoll und so.

„Ich habe da so eine Freundin, die wohnt in einer WG. Da ist ein Zimmer frei, weiß du? Nicht besonders groß, aber für München billig. Willst du es dir ansehen?“

Ich will es eigentlich nicht zugeben, aber: Das klingt verdammt geil! Damit hätte sich ein Großteil meiner Probleme gelöst. Gut, eine winzige Kammer sollte es auch nicht sein, nicht, dass ich Platzangst bekomme.

„Ja, wäre wohl nicht schlecht“, antworte ich gedehnt und nehme einen großen Schluck heiße Schokolade. „Vom Ansehen wird mir ja kein Zacken aus der Krone brechen.“

Pascal lächelt zufrieden. Klar, seine Probleme haben sich auf einen Schlag gelöst. Was musste diese kleine, grünschnäbelige Memme aber auch auftauchen? Hätte ja fast alles versaut, Beziehung und so.

„Erzähl mir etwas von deinem Freund!“, fordere ich ihn auf.

Ich weiß, dass das grausam ist. Im Moment möchte ich nicht anders sein. Sehe, wie er um Worte ringt, wie seine Hände sich verkrampfen.

„Er ist...nett, wirklich. Einsneunzig groß, muskulös. Hat – Sebastian, was soll das eigentlich?“, fragt er plötzlich.

Ich zucke mit den Schultern. Immerhin ist es ihm peinlich mir von ihm zu erzählen. Zu sagen, dass er seinen netten, gut gebauten Freund hintergangen, ja, betrogen hat. Mit mir, der Vollnull. Jemandem, der nicht besonders gut aussieht und sich auch nicht durch einen tollen Charakter hervortut. Einfach nur ich.

Er beugt sich vor.

„Stehst du doch auf mich?“, fragt er mit gerunzelter Stirn.

„Nee, ehrlich nicht. Möchte halt nur ein bisschen was über dich wissen – wo du doch so viel für mich tust“, antworte ich natürlich ohne jede Spur von Ironie.

„Dann ist ja gut.“

Die nächsten Minuten verbringen wir schweigend beziehungsweise schlürfend. Wäre ja schade um die teuren Getränke, wenn wir sie unberührt lassen würden. Ich sehe auf meine Uhr. Kurz nach sieben schon. Ist mir gar nicht aufgefallen, dass wir so viel Zeit gekillt haben.

„Wie heißt deine Freundin?“, frage ich in die Stille.

„Milena. Also eigentlich Oktyabrina, aber das hört sie nicht gerne. Wollen wir zu ihr?“

Ich nicke und sehe zu, wie er die Kellnerin bezahlt. Wenn mich nicht alles täuscht, flirtet er gerade aufs übelste mit ihr. Von Treue kann da für mich keine Rede sein. Scheiß auf »gegessen wird zu Hause«, ich als Freund würde ausflippen. Und das, obwohl ich sonst nicht für Eifersucht zu haben bin. Ich stehe demonstrativ auf und warte draußen auf ihn. Natürlich mit einer Kippe im Schnabel.

Das sollte ich mir auch so schnell wie möglich abgewöhnen, verpulvert nur unnötig Geld. Ohne Job ist das -ähm- schlecht, genau. Aber wenn ich die Zigarette jetzt austrete, ist es ja auch Verschwendung, nicht wahr?

Der werte Herr Pascal schickt sich auch endlich an, seinen Allerwertesten nach draußen zu bewegen. Irgendwie wird er mir immer unsympathischer, je länger ich ihn kenne. Weiß sein Freund davon? Wahrscheinlich nicht. Oder er hat sich längst damit abgefunden, aber da gehört schon viel dazu.

„Was guckst du denn so anklagend? Hab ich was gemacht?“, fragt er ahnungslos.

Ich schüttle nur den Kopf.

„Dann mal los!“

---Vier---

Die Wohngegend ist nicht die beste, das Mehrfamilienhaus sieht auch nicht so toll aus. Im Treppenhaus riecht es muffig, nach dem Essen des Vortags und anderem. Pascals Freundin wohnt im Erdgeschoss, wenn man es so nennen darf. Er drückt auf die Klingel, auf dem vergilbten Schild steht irgendetwas, das sehr russisch klingt. Ich versuche mich erst gar nicht an der Aussprache, daran würde ich sowieso nur scheitern. Die Tür wird wenige Sekunden später geöffnet und ein Orkan sucht uns heim. Zumindest fühlt es sich ganz danach an.

Die perfekt aussehende junge Dame, die sich Pascal gleich in die Arme wirft, ist sehr energisch. Ihr superglattes hellbraunes Haar fliegt durch die Luft und peitscht mich quasi aus. Völlig unbewusst, versteht sich.

„Da seid ihr ja, ihr zwei Schnuckel!“, ruft sie überschwänglich und herzt auch mich. „Du musst Sebastian sein, der Pascal hat schon so einiges von dir erzählt – vorhin am Telefon!“

Ich nicke bedröppelt und umarme sie kurz. Warum muss ich so unbeholfen sein, was Frauen angeht? Was Kerle angeht, ist es fast noch schlimmer, muss ich gestehen. Aber das tut ja im Moment nichts zur Sache.

„Kommt rein – aber seid leise, David schläft gerade!“, fordert Oktyabrina-alias-Milena oder wie auch immer sie heißen mag uns auf.

Was, noch ein neuer Charakter in diesem Drama? Ihr Freund, ihr Liebhaber ihr was-auch-immer?

Ich bin abgrundtief verwirrt, aber das scheint hier ja keinen zu stören.

Stattdessen betreten wir den schmalen Flur. Die Wände sind mit türkisfarbenen Tüchern verhangen, darauf sind Sterne aus den unterschiedlichsten Materialien geklebt. Scheint etwas exzentrisch zu sein, die Frau. Eigentlich gefällt es mir recht gut. Pascal signalisiert mir mit einer ungelenken Geste, dass ich meine Sachen hier stehen lassen kann. Gut, genau darauf habe ich gewartet.

„Geht ihr schon mal zu David ins Wohnzimmer, ich habe Frühstück gemacht und der Tee ist auch gleich gut!“, flüstert Milena und schiebt uns auf eine Tür zu.

Mir soll es recht sein. Aber auf Tee habe ich, nachdem ich vorhin die Schokolade getrunken habe, keine Lust mehr. Das Sofa sieht teuer aus, ein solches hätte sich im Dorf bestimmt keiner gekauft. Auch die Angeber nicht, beige wird doch so schnell dreckig.

Und jetzt weiß ich auch, wer David ist:

Auf einem flauschigen Sessel in einem Maxicosi liegt der Gute. Schlussfolgerung: Er ist ein Verwandter von ihr. Oder so. Jedenfalls sieht er süß aus, wenn er schläft. Noch so neu und er riecht noch so richtig nach Baby. Ich weiß nicht, ob ich mir das nur einbilde, aber es ist eben so. David ist einfach durch und durch knuddelig.

„Er ist erst drei Monate alt“, wispert Pascal nahe an meinem Ohr.

Er ist unbemerkt hinter mich getreten und fährt sanft über die Wange des Säuglings. Süß!

„Frühstück“, flüstert Marvela und stellt so vorsichtig wie nur möglich ein wuchtiges Tablett auf dem Glastischchen ab. „Bedient euch!“

Ich greife auch gleich mal zu, egal, ob das unhöflich ist oder nicht. Der Hunger regiert gerade über meinen Körper und hat das Hirn auf Urlaub geschickt. Sollte es jemals vorhanden gewesen sein, was ich immer noch bezweifle.

„Siehst du, er fühlt sich schon wie zu Hause!“, flüstert Milena amüsiert.

Ich bin peinlich berührt und höre sofort auf zu kauen. Shit, jetzt stehe ich wieder wie das Landei vom Dienst da. Sie wuschelt durch mein Haar.

„War nicht so gemeint, Kleiner! Und ganz im Vertrauen: Du siehst ziemlich sehr doll süß aus, wenn du schmollst! - Iss ruhig und lang ordentlich zu“, sagt sie lächelnd.

Das darf doch nicht wahr sein! Ich und Schmollen, das sind doch zwei verschiedene Welten, die da aufeinander prallen. Gut, ich hatte meine Unterlippe ein wenig vorgeschoben, aber das ist doch noch kein Grund... ach, egal. Esse ich eben weiter.

„Tja... Ich muss dann auch mal“, murmelt Pascal auf den Boden starrend. „Volker kommt in einer Stunde nach Hause und wir müssen noch alles planen – für in fünf Wochen.“

Milena nickt und ich verstehe mal wieder Bahnhof. Warum fühle ich mich nur so über- beziehungsweise hintergangen, hm? Muss wohl an mir liegen. Ich bin ja immer schuld. Sündenbock auf Lebenszeit.

Mit einem kollektiven »Bye« verabschieden wir uns von unserem Talkpartner Pascal Kramml. Auf nicht allzu schnelles Wiedersehen.

Jetzt bin ich also alleine mit meinen neuen Bekanntschaften. Die Semmel ist aufgegessen und ich möchte auch keine neue nehmen. Zwecks Unhöflichkeit und Gast-Sein, das wäre ja fatal. Lieber hungere ich ein bisschen, meiner Figur würde das nur zugute kommen. David ist gerade wach geworden und blinzelt nun verschlafen in die Gegend. Süß!

Oh ja, ich mag kleine Kinder, ganz richtig erkannt. Und dieser kleine Bengel ist so ziemlich das liebste Wesen auf Erden. Habe ich bis eben gedacht. Denn jetzt schreit er, als wolle er der Sirene der Feuerwehr Konkurrenz machen. Meine Ohren!

„Sch, David, ganz ruhig“, murmle ich und halte ihm meine Hand hin, die er sogleich ergreift.

Sein zahnloser Mund lächelt mich an, er hat aufgehört zu schreien. So gefällt er mir doch gleich wieder besser! Aber dass ich so eine Wirkung auf Kinder habe, hätte ich nie gedacht. Auch Milena scheint verwundert.

„Cool!“, bricht es aus ihr heraus. „Bei mir ist er nie so schnell ruhig!“

Ich grinse glücklich vor mich hin. Ein erster kleiner Erfolg, yay! Wurde ja auch langsam Zeit, nach all dem Mist. Irgendetwas muss ich können, oder? Gut, ich werde nie Papa werden, aber... ich wäre für den Job geeignet.

„Kann... kann ich mein Zimmer sehen?“, frage ich zögerlich.

„Klar!“, antwortet Milena und wirbelt auch schon los.

Dieser Elan bringt mich noch um, ehrlich. Ist die auf Drogen? Kann mir egal sein, ich weiß. Aber Sorgen macht man sich schon, habe ich mir auch gemacht in der Zeit, als Thomas öfter Joints geraucht hat.

Ich folge ihr. Unauffällig, versteht sich. Mit David im Maxicosi, damit er nicht wieder schreit. Mann, muss das seltsam aussehen. Hier kriegt ja keiner mit, wie ich mich zum Horst mache. Hoffe ich zumindest.

Und dann sind wir da, in meinem neuen Zimmer. Im Moment sind die Wände lindgrün gestrichen, nicht unbedingt mein Geschmack. Immerhin steht schon ein Bett drin, 1,40x2 Meter schätze ich. Das muss ich also nicht mehr kaufen. Hell ist es, gleich zwei Fenster bei 18 Quadratmetern. Ich liebe es!

Milena sieht mich fragend an.

„Ich nehme es, keine Frage!“, antworte ich ihrem Blick. „Aber... wie viel soll der ganze Spaß denn kosten?“

Milena trommelt verlegen auf dem Türstock rum. Ist die Miete denn so hoch? Was mache ich denn dann? Auf der Straße hausen, vermute ich. Und irgendwann sterben, ohne dass jemand Notiz davon nimmt.

„Also... so ganz habe ich da noch nicht drüber nachgedacht. Bis vor zwei Monaten hat meine Schwester hier gewohnt, aber die ist zu ihrem Freund gezogen. Damals habe ich die Miete ganz bezahlt und sie dafür das Essen. Geht ja jetzt schlecht, ne?“, erklärt sie mir umgehend.

Was soll ich sagen? Ja, das klingt sehr logisch. Trotzdem: München ist teuer und ich habe keinen Job. Ein neues T-Shirt und ich bin zahlungsunfähig – okay, das ist jetzt übertrieben.

„Und... hast du schon an eine bestimmte Summe gedacht oder so?“, frage ich vorsichtig.

Milena wirft ihr Haar zurück und geht zum Bett rüber. Holla, ich soll das aber nicht durch – ähm – Liebesdienste begleichen, oder?

„Nun ja... Weißt du, ich komme mit David nicht so ganz klar. Ich arbeite als Model und bin deshalb öfter unterwegs, auch auf Partys und kleineren Empfängen. Da kommt mein Sohnemann öfters zu kurz und deshalb wollte ich dich bitten, auf ihn aufzupassen – gegen Gehalt, versteht sich!“, rückt sie heraus.

So jung und schon Mama? Bezaubernd und dann auch noch so ein netter Spross! Aber Moment mal: Sie will mich bezahlen? War das eben nicht noch umgekehrt? Ich meine... ich wohne ja hier und um David würde ich mich auch so kümmern, denke ich.

„Und die Miete?“, frage ich zögernd.

Milena macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Peanuts“, sagt sie verächtlich und legt den Kopf schief. „Und, machst du mit? Ich zahle auch gut!“

Ich kaue verlegen auf meiner Unterlippe rum. Junge, das ist das Angebot meines Lebens! Besser kann es doch gar nicht laufen, oder? Der Knirps ist, soweit ich das jetzt beurteilen kann, ein Lämmchen und Milena scheint auch sehr weit vom Star-Gehabe entfernt zu sein. Ja!

„Ich nehme das Zimmer!“, antworte ich glücklich. „Und passe natürlich auf David auf.“

Die Dame des Hauses schenkt mir ein strahlendes Zahnpasta-Lächeln. Okay, ich weiß, warum sie so viel Geld hat: Sie ist wirklich sehr hübsch. Sie ist das, was der »Mann von Welt« wohl ähm... »geil« nennen würde. Das kann ich ganz frei sagen, ich steh ja auf Kerle.

„Wunderbar! Du kannst die Einrichtung natürlich noch ändern, so schön ist es ja wirklich nicht hier drinnen... meine Schwester hat einen etwas ausgefallenen Geschmack, muss ich zugeben. Mit ein bisschen Farbe kriegen wir das aber ganz schnell in den Griff – musst halt sagen, was dir gefällt. Sonst bin ich nicht mehr zu bremsen!“, bricht es aus ihr heraus.

Ich grinse. Die ist aber auch ein Energiebündel, die Frau! Wie hält die das nur aus, auf dem Laufsteg so ruhig zu sein? Wird wohl immer ein Rätsel für mich bleiben, hm. Aber ich hab wieder ein Zuhause. Ich hebe David vorsichtig aus seinem Maxicosi und wiege ihn hin und her. Oh Mann, ich sollte nicht so sentimental sein!

„Ach ja, die Bezahlung“, sagt Milena wieder total geschäftsmäßig. „Stunden- oder tageweise?“

„Ähm... wie oft soll ich denn aufpassen?“

„So ungefähr jede einzelne Sekunde, befürchte ich. Nachts meistens nicht, es sei denn, ich bin weg. Aber sonst.... ja.“

Ich nicke. So viel Arbeit kann das gar nicht sein, oder?

„Was hattest du dir so vorgestellt?“

„Vielleicht... sechs Euro die Stunde?“, frage ich langsam.

In meinen Ohren klingt diese Forderung schon reichlich unhöflich und schrecklich hoch. Bin ja von meinen Eltern eher schlecht bezahlt worden. Milena runzelt die Stirn. Wusste ich doch, ich bin über die Stränge geschlagen! Was mache ich denn jetzt?

„Ganz ehrlich, Sebastian: Mein Sohnemann ist mir mehr wert. Du kriegst wahlweise fünfzehn Euro die Stunde oder hundertfünfzig am Tag, hm?“, sagt sie stattdessen.

Ich bin baff. So viel und nur für mich? Für ein bisschen Babysitten?

Da werde ich ja noch reich!

„Fünfzehn Euro die Stunde“, murmle ich mit zittriger Stimme. „Wenn es dir nichts ausmacht.“

Milena klatscht zufrieden in die Hände.

„Dann auf zum nächsten Baumarkt!“

Gut, so habe ich mir das Ganze nicht vorgestellt. Aber dann bekommt mein frisch gebackenes Zimmer eben ein neues Design, kann ja nicht schaden!


Mann, ist das Teil groß! Nein, nicht das, was ihr jetzt denkt. Vielmehr der Baumarkt, in dem wir jetzt stehen. Mit Tragetuch, weil der Wagen keinen Platz für Säuglinge bietet. Richtig, ich mit einem Baby vor der Brust. Im Moment betrachten wir die enorme Auswahl an Abtönfarben inklusive Tabellen über die Mischungsverhältnisse. Ich werde ja nicht so ganz schlau daraus. Und überhaupt: Was soll ich denn nehmen?

Wir hatten wohl zu viel Farbenlehre in Kunst, jedenfalls habe ich immer die Assoziationen im Hinterkopf.

Rot – Liebe, aber auch Aggressivität; blau – Kälte oder Reinheit und so weiter. Da kommt man ja auf keinen grünen Zweig!

Gelb ist viel zu gewöhnlich, beschließe ich. Hat ja heutzutage fast jeder irgendwo – und sei es auf dem Klo. Bin ich Klischee?

Nein.

Ein bisschen vielleicht.

Aber ich lege doch nur Wert auf ein bisschen... Ausgefallenheit. Weniger Einheitsbrei und eine eigene Note, oder so.

„Wie wäre es mit dem hier?“, fragt Milena und hält eine Flasche Orange hoch. „Wenn man das Zeug mit Weiß mischt, kommt bestimmt eine schön zarte Farbe raus. Romantisch, nicht?“

Würg. Wenn ich momentan von etwas die Schnauze voll habe, dann von diesem verlogenen Wort. Romantik, was ist das schon? Die meisten vögeln ja doch nur in der Gegend rum. Kerzenschein, Sonnenuntergang, Rosen,... was sagt das schon aus, wenn wir nebenbei alles kaputt machen und uns selbst belügen?

Mann, bin ich fertig mit der Welt. Das ist doch nicht normal, oder? Milena hat doch nur eine ganz normale Aussage gemacht. Denkt ja quasi jeder bei einem weichen Farbton an das Gefühl. Ich schnaube. Sogar ich.

„Also nicht“, sagt meine weibliche Begleitperson sachlich. „Nun gut, weiter im Plan. Irgendetwas wird sich für dich schon finden!“

Na das macht mir ja Hoffnung. Vielleicht sollte ich die Farbe, die das ausdrückt, nehmen? Nee, das Ekelgrün, das momentan die Wände ziert, reicht als Abschreckung. Lila?

Erstens Klischee pur, zweitens Wolllust.

Ich will ja nicht ganz wuschig werden, nur weil ich in meinem Zimmer bin. Danach falle ich noch irgendeine von Milenas Heten-Bekanntschaften an, nicht auszudenken!

Ich. Bin. Einfach. Nur. Schlimm!

Blau. Damit kann man in meinen Augen fast nichts falsch machen, dann komme ich eben etwas frostig rüber. Muss ja auch gar nicht sein, wenn ich einen warmen Farbton mische. Stolz gehe ich zu Milena und präsentiere ihr meine Beute, sprich: Meine persönliche Flasche quietschblau.

„Nimm besser gleich zwei mit, nur für alle Fälle!“, rät sie mir weise. „Dann bleibt noch was für später übrig, wenn du was anmackst oder so!“

Ich gucke leicht verstört.

„An-was?“, frage ich verständnislos.

„Anmacken. Wenn du an der Wand lang schrammst und ein bisschen Farbe abgeht, zum Nachbessern.“

Aha. Wer hätte das bei dem Ausdruck auch ahnen können?

Ich jedenfalls nicht, aber ich hab ja auch keinen Grips.

„Willst du noch nach einer Lampe gucken?“

Ich winke ab. Die simple Glühbirne reicht fürs Erste voll und ganz. Traben wir also in Richtung Kasse, wo sich eine meterlange Schlange gebildet hat. Dabei sind doch stolze zehn Kassierer am Werk! Gut, hier kommt die Großstadt wieder durch. David erfreut alle Kunden mit lautstarken Gemütsäußerungen, sprich: Geschrei.

Ich wiege ihn ein bisschen hin und her, aber er ist natürlich nicht still. Der hat doch wohl nicht die Windeln voll?

Die umstehenden Leute hält es jedenfalls nicht davon ab, den kleinen Mann süß zu finden. Ständig wühlen wildfremde Herrschaften sich zu uns in die Schlange durch. Und das nur, um David mit verklärtem Gesicht zu betrachten!

So charmant, wie Milenas Sohnemann jetzt schon ist, bekommt er später sicher alles, was er will. Ein Augenaufschlag und er hat dich da, wo er dich sehen möchte. Ein Lächeln und du machst trotz zwanzig Kilo Übergewicht einen Kopfstand – und stirbst bei dem Versuch.

Ist sein Papa auch einer von dieser Sorte?

Milena äußert sich ja eher abwertend über ihn. Vielleicht ein Schönling, der etwas zu viel aufreißt. Nein, so einen Kerl kann ich auch nicht gebrauchen. Ich bin -ähm- sehr besitzergreifend. Keinesfalls eifersüchtig, aber auch nicht für eine offene Beziehung zu haben. Gegessen wird zu Hause, damit wir uns verstehen!

Die Schlange ist in der Zeit meines Grübelns ein Stück weit kürzer geworden, immerhin sind die Kassierer auf Zack. David hat sich durch mein auf-der-Stelle-Getänzel auch wieder ein wenig beruhigt und sieht mich jetzt mit seinen großen, blauen Augen an.

Himmel, dieser Junge kocht mich noch ganz weich!

Nach weiteren fünf Minuten sind wir an der Kasse. Um unsere Waren zu berechnen, muss der Kerl seinen ausgesprochen netten Knackarsch zu uns bewegen. Mit einem schnurlosen Scanner bewaffnet geht er auf unsere Farben los und zwinkert mir schelmisch zu. Scheiße, hat der etwa meinen Blick bemerkt?

Dass ich auch immer so offensichtlich starren muss!

Nach einer mentalen Ohrfeige und dem erfolglosen Versuch, das Rotwerden zu unterdrücken, wende ich mich beschämt wieder David zu. Sogar der scheint sich über mich lustig zu machen! Alle haben sich gegen mich verschworen, so sieht es doch aus. Milena schiebt sich an mir vorbei und geht schon mal vor. War ja typisch!

Sebastian ganz auf sich gestellt, wie immer eben.

Bilde ich mir das nur ein, oder wackelt der Kassierer mit seinem Hinterteil?

Ich hasse diesen Tag. Warum bin ich überhaupt da? Einen Zweck scheine ich ja offensichtlich nicht zu haben. Der werte Herr ist wieder zurück in sein Kabinchen geklettert.

„Macht neununddreißig Euro siebzig – wollen Sie mit Karte zahlen?“, fragt Herr -kurzer Blick aufs Schild- Klapprott.

Ich nicke und reiche ihm meine Karte. Nur noch eben die PIN eingetippt, fertig.

„Dann bräuchte ich noch eine Unterschrift von Ihnen, Herr Bauer!“, verkündet Klapprott lächelnd und reicht mir einen Kuli, natürlich mit Firmenlogo.

Ich kritzle, ungelenk wie immer, meinen Namen auf das dünne Papier. Auch der Kassierer schmiert noch ein bisschen auf dem Zettel herum, bevor er mir meinen Bon mit einem breiten Grinsen in die Hand drückt. Ich nicke ihm zu und geselle mich dann flugs zu Milena.

Mann, bin ich geschafft!


Wieder in meinem neuen Heim, werfe ich mich erstmal aufs Bett. Uff! Wie Klischee ich auch sein mag, zur Shopping- Wut hat es nicht gereicht. Streichen kann jetzt warten, ich brauche meine Ruhe. Auch vor Milena mit ihrem Elan. Die macht einen noch ganz depressiv mit ihrer guten Laune.

Gedankenverloren ziehe ich meinen Geldbeutel aus der Hosentasche, um ihn auszumisten. Im Laufe der Zeit sammelt sich immer sehr viel an: Eintrittskarten von Veranstaltungen, kleine Zettel mit den Busabfahrtszeiten, Flugblätter, Kassenzettel und so weiter. Macht das Portemonnaie ja nur unnötig schwer, nicht wahr?

Kann weg, auch reif für den Müll, schon etliche Monate her, Band war nicht schlecht...

Dann fällt mir der Bon von heute in die Hände. Wie immer das dünne Papier, auf dem die Farbe so schnell verblasst. Aber das ist nicht alles: Auf der Rückseite steht etwas in verschnörkelter Schrift.

Eine Telefonnummer.

„Kannst dich ja mal melden, wenn du Langeweile hast. Bob.“

Wenn ich nicht gerade sicher auf meinem Bett liegen würde, wäre ich umgekippt. Todsicher.

Wie kann man nur so -ähm- frei heraus sein?

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