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Unsterblich

Summerchallenge 2005

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Informationen

von der Redaktion:

Dies ist der Gewinner der Summer Challenge 2005

vom Autor:

So liebe Leser, ich wurde nun so oft aufgefordert, was zu schreiben und nun ist es endlich so weit. Meine Story beruht auf einer wahren Geschichte, die sich in den Vereinigten Staaten in den Sommerferien des schönen Jahres 2005 abspielte. Auch in dieser Geschichte wird es wohl früher oder später zu homosexuellen Handlungen kommen und wer damit ein Problem hat, hmm... also, der sollte sich außerhalb meiner Gesellschaft bewegen. Was ich eigentlich sagen wollte ist, dass er in diesem Fall diese Geschichte nicht lesen sollte. Nur als kleine Warnung vorweg. Tja, also normalerweise widmet man eine Geschichte einer Person. Das kann ich nicht, bei mir werden es ein paar Personen mehr. An aller erster Stelle möchte ich diese Story Kate widmen, die mich mit sehr viel Drang unterstützt hat. (Danke, Süße)... ...hmm, dann ist wohl sweet Lenni zu erwähnen, dem ich auch diese Story widme. (Lenni, deine kurze Abhandlung hat mir wirklich sehr geholfen. Und wenn dir mal langweilig ist – Hamburg ist sehr schön, ich würd´ mich auch irgendwie revangieren)... ...im Übrigen, dann gibt’s noch jede Menge Leute, die mich unterstützt haben, die mir gesagt haben, wie ich meinen Stil zu verbessern habe (Danke Manu)... ...und natürlich die Familie... *fg* An dieser Stelle einen Gruß an meinen Papi und an meinen Paten. ...last but not least und als letzte Widmung kommt ein Schweizer an die Reihe, der in dieser Geschichte mitspielt und sie vielleicht auch irgendwann mal zu lesen bekommt. (Danke Josh, dass ich dich kennen lernen durfte). Ansonsten wünsche ich allen hiermit viel Spaß und das Glück, sich niemals in Urlaubsflirts zu verlieben

Unsterblich

“Seid ihr zusammen,...?“

Ich starrte den Kellner an...

//Moment mal, was geht dich denn das an?//

“...oder wollt ihr getrennt zahlen?“

Ich atmete auf. Ich war wohl mal wieder ein wenig abgelenkt gewesen. Ich blickte auf den Jungen, der mir gegenüber in der Cocktailbar am Tisch saß und der nun ein wenig aus der Fassung geraten zu sein schien. Anscheinend hatte auch er die Frage ein wenig falsch verstanden. Tja, ich bin mir seit gut einem halben Jahr sicher, dass der Süße bi ist... Und da ich wohl in unserer Stufe der Kerl mit der meisten Offenheit dafür bin, hatten wir uns angefreundet und nun war ich mit ihm ein wenig einkaufen... shoppen halt. Geld ausgeben für völlig überteuerte Sachen; aber wenn er es sich kaufte, probierte er es vorher immer an und ich durfte mein Urteil abgeben. Eigentlich schade, dass wir nicht in der Bademoden-Abteilung ein wenig gestöbert hatten. Nun kramte er in seinen Taschen, die dunkelbraunen Haare fielen ihm dabei ins Gesicht. Heute hatte er kein Gel darin, ich mache nämlich immer einen tierischen Aufstand deswegen, weil sie sonst irgendwie ein wenig nach Mafia-Style aussahen. Und das stand ihm nun wirklich überhaupt nicht.

Als er endlich sein Portemonnaie gefunden hatte und seinen Cocktail bezahlte, warf er mir einen Blick zu, unter dem ich dahinschmolz.

Ich bezahlte meinen Cocktail und wir schlenderten in Richtung U-Bahn Jungfernstieg. Ein letzter Blick noch auf Hamburgs schöne Flaniermeile mit Blick auf die Alster und ab in den U-Bahn-Schacht.

“Hat Sebastian eigentlich noch mal was gesagt?“, fragte ich ihn.

Er blickte mich verständnislos an, offenbar verzweifelt auf der Suche nach dem Hintergrund meiner Frage.

Ich fuchtelte mit den Armen. “Ben, du weißt schon, Berlin!?“

“Berlin?“

Tja, wir waren zwei Wochen vor den Ferien mit unserer Stufe nach Berlin gefahren. Solche Reisen nennen sich offiziell Studienreise, aber das Einzige, was wir studierten, waren Bier, Wodka und eigentlich Alkohol in jeder erdenklichen Art und Weise.

“Naja, an dem vorletzten Abend...“, ich machte eine Kunstpause, “... als du Sebastian bestiegen hast!“

Man konnte förmlich sehen, wie ihm der Kiefer herunterfiel und er sich das Gehirn darüber zermarterte, was ich wohl meinen könnte. Hektisch blickte er sich im Wagen um. In Hamburg interessiert es kaum jemanden, wer mit wem schläft, vor allem nicht, wenn es in U-Bahn-Wagen diskutiert wird.

“Wie bestiegen?“, er hatte einen so roten Kopf, dass er mir fast Leid tat. Aber auch nur fast.

//Hey, sag mir einfach, was ich wissen will, okay!? Dann versuch ich auch nicht mehr, es mit allen Mitteln aus dir herauszubekommen. Und wenn man mir dreimal sagt, das, was du da machst sei nur ein Hilferuf!//

Ich lachte. “Du warst so breit an dem Abend, dass du Sebastian einfach deine Beine um die Hüfte geschlungen und ihn an dich herangezogen hast...“ Ich wurde leiser und grinste dreckig. Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.

Er starrte mich entgeistert an. “Bist du sicher?“

“Jupp...“, meinte ich, “...immerhin hatte ich dich da im Arm...“

Das “...,damit du mir nicht umfällst“ ließ ich einfach weg. Sollte er doch ein wenig nachdenken, warum er an mich “gekuschelt“ war.

20 Minuten Bahnfahrt und andauernd fragte er mich, ob Sebastian noch irgendwas darüber gesagt hatte. Sebastian und seine Zwillingsschwester Amelié, meine “besten“ Freunde aus der Klasse hatten nichts gesagt. Er hatte allerdings irgendwie etwas doof gegrinst als ich ihm erzählt hatte, dass ich am Wochenende nachdem meine Stufe Berlin verlassen hatte, noch auf dem CSD war. Ich war etwas länger in Berlin geblieben als meine Stufe, nämlich noch das folgende Wochenende, während die anderen schon am Freitag zurück mussten. Ansonsten hatte er cool reagiert. Ich lächelte, ein wenig in Gedanken versunken. Das war für mich so, wie ich mir Freiheit vorgestellt hatte, damals... Ich sah vor meinem inneren Augen noch einmal wieder die Bahn vom Berliner Olympia-Stadion Richtung Nollendorf-Platz abfahren. Mein Lächeln auf den Lippen, es endlich geschafft zu haben, nur kurz mal von meinen Eltern wegzukommen. Es mag zwar komisch klingen, dass ein Hamburger in Berlin eine Großstadt sieht, aber es ist halt einfach anders da. Das Flair, das in Berlin herrschen soll... Es gibt es wirklich.

Ich lächelte Ben an. “Das Wochenende Berlin war auch ganz nett!“, provozierte ich.

Er blickte mich an, sah seine Chance eine neue Gesprächskarte zu ziehen und fragte nach: “Wieso?“

“Ich war noch ne Runde auf´m CSD!“

Sein Gesicht veränderte sich. Es war wohl eine Art Mischung zwischen 'Ich-wär-gern-mitgekommen' und 'Warum-erzählst-du-mir-das?'. Ich wurde aus dem Jungen einfach nicht schlau, und das faszinierte mich so an ihm.

Der Bus fuhr auf meine Station zu. Ich hatte ihm vorgeschlagen, doch mit mir zu fahren, was nur einen kurzen Umweg für ihn bedeutete. Ich stützte mich auf seinen Oberschenkel und erhob mich. Ich grinste ihn an, reichte ihm die Hand und lächelte als ich aus dem Augenwinkel mitverfolgen konnte, wie er seinen Oberschenkel anstarrte.

In wenigen Minuten war ich zu Hause. Ich packte mein paar gekaufte Sachen aus und stapelte sie weg. Das heißt bei mir so viel wie: Ich schmiss sie auf einen Stuhl in meinem Zimmer. Dann pflanzte ich mich eine Runde vor meinen Lap, um noch mal meine Mails durchzulesen, falls irgendwas Wichtiges für meinen Urlaub gekommen wäre, was ich noch brauchte. Nur eine neue Mail: Ben! Komisch, hätte er mir doch auch sagen können...

Hey Stef,

ich wünsch dir eine schöne Zeit in Amerika. Und auf deine Frage, ob du mir einen Cowboy mitbringen sollst... sofern es nicht der von den Village People ist.

Aber mir wäre eine heiße Indianerbraut lieber.

LG

Ben

//Heiße Indianerbraut? Aha! //

Den Flug von Hamburg nach Frankfurt hatte ich bereits hinter mir. Aber die zehn Stunden Flug nach Denver... vor denen hatte ich richtig Schiss. So lange war ich noch nie geflogen. Vor mir lagen 14 Tagen Vereinigte Staaten. Eine Busreise mit meiner Schwester, meiner Oma und meinen Eltern von Denver über die Rocky Mountains, die National Parks entlang bis nach Las Vegas sollte es werden. Leider bedeutete das auch 4000 km Busfahren... mir tat schon beim Gedanken daran der Arsch weh.

Ich hatte es wider Erwarten geschafft, den Großteil des Fluges zu schlafen, stellte ich fest, als ich gelangweilt auf das Laufband mit den Koffern blickte, die ich allesamt nicht kannte. Meine Schwester hingegen hatte sich mit Kotzen beschäftigt.

//Jedem das Seine!//

//Wieso haben unsere Koffer immer die blöde Angewohnheit, als letzte auf dem Fließband durch den Flughafen zu fahren?//

Wie oft ich mir diese Fragen inzwischen gestellt hatte, weiß ich nicht. Irgendwann hatte ich aufgehört, zu zählen.

In unserm Hotel angekommen hatte ich es mir in einem Sessel in der Lobby bequem gemacht und ließ meinen Blick über die Mitreisenden gleiten. Eine Familie mit drei Kindern, zwei Jungs und ein Mädchen, zwei Seniorenpaare, die nun was von der Welt sehen wollten, zwei dreiköpfige Familien und zwei -allem Anschein nach- allein reisende Männer. Dann fiel mein Blick auf die letzte Familie, die mit uns reisen wollte. Zwei Jungs. Ich grinste. Der eine war vielleicht ein wenig jung, aber dafür sah der ältere um so besser aus. Kurze schwarze Haare, in die er seine Sonnenbrille geschoben hatte. Groß, vielleicht nicht ganz so groß wie ich, aber seine 1.80 m hatte er schon. Freundliche dunkelbraune Augen und einen niedlich Mund, der, wie sagte mal jemand von Rosenstolz, “viel zu schön ist, um ungeküsst zu sein“.

Halt alles in allem jemand, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenlief.

Ein wutentbrannter Reiseleiter schrie auf Englisch einen Kofferträger an, er sollte nun endlich unsere Koffer auf die Zimmer bringen.

“Raketen auf den Mond schießen können sie, aber sie sind zu blöd, die Koffer raufzubringen!“

Dieser Aufschrei riss mich aus meinen Tagträumen.

//Hey, wer hat dir das erlaubt? Mich einfach so beim Träumen zu stören!//

Drei Tage, ohne, dass irgendwas passiert war. Na gut, okay, wir hatten ein paar Viecher gesehen, Wapiti, Büfffel, Kojoten... aber darauf kam es mir seit dem ersten Blick auf diesen Jungen nicht mehr an. Natürlich, wie hätte es auch anders sein können, saßen wir am gegenüberliegenden Ende des Busses.

//Menno.//

Wir waren an diesem Tag um 06:00 Uhr morgens aufgestanden.

//Den Kerl, der für den Plan verantwortlich ist, bring ich um!//

Nun war es bereits 10:00 Uhr und unser Morgen-Stop war angesagt. Anderthalb Meilen vor´m Eingang zum Yellowstone Nationalpark. Ich steckte mir die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren und wanderte vom Bus weg, rüber zum Souvenir-Shop. Da stand er wieder. Mitten in der 30 Grad heißen Sonne. Die kurze Hose und das T-Shirt, dass seinen Körper bedeckten, hätten eigentlich gesetzlich verboten werden sollen. Einfach so was Schönes zu verdecken. Jedes schwarze Haar konnte ich einzeln sehen. Ich konnte sehen, wie sich die Sonnenstrahlen darin widerspiegelten.

Die Berge rechts und links der Straße mit dem kleinen Flußtal auf der einen Seite waren schön, aber für jemanden, der vom Meer kommt wie ich, war es lediglich schön anzusehen. Aber mein Blick konnte sich einfach nicht für diese Monumente der Natur begeistern.

Endlich hatte ich meinen Blick losgerissen, rannte gegen die Tür des Ladens und fluchte leise. //Wieso schaffe eigentlich immer ich es, dass die Türen in die exakt andere Richtung aufgehen, als in die, in die ich drücke?//

Hier herrschte der absolute Kitsch. Da ein überdimensionaler Indianer, der einen Büffel aus Plastik erstach. Daneben eine Axt, ebenfalls aus Plastik. Ich wanderte zu dem Tisch mit dem Schmuck rüber. Hübsch in Silber und mit Türkis drin.

“Navajo!“, sagte plötzlich meine Oma hinter mir.

Ich drehte mich um und anscheinend konnte man in meinem Gesicht das Unverständnis lesen.

“Das ist von den Navajo-Indianern gemacht worden.“, erklärte sie mir. Meine Grandma war bereits das siebte oder achte Mal in den Staaten.

//Sieh an, schon wieder etwas schlauer geworden.//

Ich blickte mich hier drinnen um, auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem. Irgendwas, womit ich Ben ärgern könnte. Auf meine Frage, ob ich ihm einen Cowboy mitbringen sollte, hatte er ja nur geantwortet: “Solange es nicht der von den Village People ist“. Irgendwas in der Richtung sollte es doch in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten geben.

Unsere halbe Stunde Morgenpause war zu Ende. Missmutig ging ich auf den Bus zu. Ich hatte es heute geschafft, eine Zweiersitzgruppe für mich alleine zu ergattern. Ich hatte einfach keine Lust, dass mich jemand nach meiner schlechten Laune ausfragte.

//Ja, klar. Unheimlich schön hier so in den Bergen, aber DAS was ich will ist noch viel schöner... und so weit weg am andere Ende des Busses.//

Es hob meine Laune nicht wirklich, als der Bus startete und ein Geräusch von sich gab, das nach sterbendem Schwan klang. Genervt schloss ich die Augen und drehte meinen Player lauter.

Ganze anderthalb Stunden brauchten Reiseleiter und Fahrer, und natürlich eine ganze Handvoll wichtiger männlicher Helfer aus dem Bus, die von Bussen allesamt keine Ahnung hatten, um herauszufinden, dass das Druckluftsystem der Bremsen nicht arbeitete.

//Hey, so was ist doch witzig.... in den Bergen.//

Sagte nicht irgendein deutscher Politiker, es solle mal wieder mehr Aufbruchsstimmung herrschen? Bei uns herrschte sie, und zwar ungezügelt. Wie wild fingen plötzlich 30 Leute an, ihre Taschen und Klamotten aus den Gepäcknetzen zu holen und sich gegenseitig aus dem Bus zu drängen. Ich verdrehte die Augen, erhaschte aber gleichzeitig einen Blick quer durch den Bus, wo ein verzweifelter, süßer Junge krampfhaft seinen Rucksack gegen eine Familie Ruhrpott-Indianer verteidigte.

Wir hatten zwei Stunden Fahrt von unserm Hotel, wo wir letzte Nacht geschlafen hatten, hinter uns. Und von dort sollte der nächste Bus kommen.

//Hipp-Hipp Hurra//

Ich pflanzte mich demonstrativ mit einem Buch über irgendwelche korrupten New Yorker Cops in die Sonne auf eine Holzbank. Mein Dad rannte hektisch umher, trällerte allen aus meiner Familie zu, dass man doch für diese Reise bezahlt habe und dass er Schadensersatzansprüche stellen würde. Irgendwie ist es in solchen Situationen komisch, wenn der eigene Vater im Gericht arbeitet. Es hätte noch gefehlt, dass er angefangen hätte, mit den übrigen aufgebrachten Mitreisenden eine Sammelklage auf die Beine stellen zu wollen. Dieser Vorschlag kam am Ende der Reise wirklich – aber nicht von meinem Dad. Ich war stolz auf ihn.

Innerlich musste ich über ihn grinsen. Dann saß man halt zwei Stunden in der Sonne und machte nichts, das heißt, man beobachtete.

//Na und?//

Inzwischen waren aus den zwei Stunden Warten allerdings fünf Stunden geworden und unser geistiger Vortänzer, landläufig auch als Reiseleiter bekannt, hatte es in einer halbstündigen Aktion geschafft, dass unsere Gruppe, die es mal wieder geschafft hatte, sich über den gesamten Autobahnrastplatz zu verstreuen, wieder zu einen.

//Meinen Respekt.//

Die Sonne schien auf den klaren, eiskalten Gebirgsbach. Die Reisegruppe hatte sich, aus Respekt vor der Hitze, wie es unser Reise-Guru so schön formuliert hatte, an die Ufer des Baches zurückgezogen. Nur wenige Meter hinter mir rauschte der Verkehr vom Freeway. Meine Schwester stand mit beiden Beinen im Wasser und fror sich ihre Unterschenkel blau. Ich hatte mich auf einen toten Baum gesetzt, der quer über dem Bach lag und balancierte nun kniend darauf herum, während ich mich daran versuchte, eine Orange zu schälen. Im Schneidersitz blickte ich (hahaha) zum anderen Ufer herüber. “Mein“ Süßer saß am Rand und ließ seine nackten Füße ins kalten Wasser baumeln. Geschickt turnte er dann von einem Stamm zum anderen, die allesamt, wie meiner über den Bach - wohl durch Biber - gefallen waren. Wie ein Akrobat in seinen besten Zeiten sprang er leichtfüßig über die toten Stämme, die sich herrlich warm nach dem kalten Wasser unter den Füße anfühlen mussten. Ich rutschte im Schneidersitz ein wenig zur Seite, damit er an mir vorbeikommen konnte. Wie schwerelos sprang er durch die Gegend, seine Füße berührten den Baum kaum.

Krachend brach ein Ast ab, der unseren Baum bisher gehalten hatte und plötzlich begann der feste Boden auf dem ich bis eben noch gesessen hatte, sich zur Seite zu neigen.

Lediglich mein niedriger Schwerpunkt verhinderte, dass ich in das kalte Wasser fiel. Ein kurzer Griff zur Seite, der wohl doch etwas zu unsanft angesetzt war, verhinderte, dass der Schwarzhaarige sich in das Schmelzwasser verabschiedete. Ich hatte ihn am Oberarm gepackt und nun standen wir fest umklammert, da er sich an mir festhielt, auf dem noch immer leicht schwankenden Stamm.

Er blickte mich nur an, sah mir in die Augen und sagte nichts.

//Über ein “Danke“ hätte ich mich sicher nicht beschwert.//

Ich streckte meinen Arm aus, deutete auf das Ufer und grinste ihn an. “Nach dir!“

Nur zögernd ließ er mich los. Anscheinend war er festen Boden unter den Füßen gewöhnt. Leichtfüßig, wie er es eben auch schon gemacht hatte, sprang er über den Stamm auf das steinige Ufer. Er nickte mir zu und ich erhaschte einen kurzen Blick auf diese wunderschönen, dunklen Augen.

Old Faithful. Immer noch im Yellowstone Nationalpark: Unser Ersatzbus schlurfte mit 39 Meilen durch die Gegend. Es war unerträglich heiß, denn sowas wie Klimaanlage ist in Gegenden, wo es nur 35°C heiß ist, völlig unwichtig.

//Ein Hoch auf den Reiseveranstalter.//

Aus der Frontscheibe entdeckte ich ein Holzhaus. Mein Interesse wurde nicht wirklich geweckt. Ich holte meine Kopfhörer aus den Ohren, um zu hören was unser Guru von sich gab.

Aha, wieder was gelernt: Old Faithful ist ein Geysir.

Vor der Holzhütte, die immerhin fünf Stockwerke hatte, wurde unser Bus aus dem Verkehr gezogen. Ich konnte meine Oma irgendwas von jetzt-wird-unser-Bus-vom-Förster-für-straßenuntauglich-erklärt grummeln hören.

Recht hatte sie. Zwanzig Minuten später hatten die Park-Ranger unseren Bus einkassiert.

//Juhu, damit hatten wir innerhalb von fünf Tagen zwei Busse verbraten.//

Der Old Faithful geht alle 70 Minuten hoch. Ich hatte das große “Glück“ mir gleich drei Ergüsse hintereinander anschauen zu dürfen. Mit Bussen hingegen hatten wir echt kein Glück. Auf einem Balkon direkt über den Haupteingang in die Lodge, wie sich Wohnhäuser im Allgemeinen im Mittleren Westen der USA nannten, hatte sich unsere Gruppe hingestellt und blickte sich missmutig den zweiten Erguss an. Wie man sich mit ein ganz klein wenig Fantasie vorstellen kann, blickte ich mir ein anderes Naturwunder an.

//Moment mal, Freundchen, das ist meiner!//

Ein Junge, vielleicht ein Jahr älter als ich, also siebzehn, kam auf “meinen“ Süßen zu. Sauerei

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, einen Deutschen im Yellowstone Nationalpark zu treffen, fragte ich mich und lauschte angestrengt dem Gespräch, das er meinem Süßen aufdrängte.

Ich grinste. Englisch. Sie redeten Englisch miteinander. Innerlich wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.

//Was bist du auch so blöde und wartest so lange, andere Jungs sind doch nicht blind!//

Beide gingen zu einem Tisch auf dem Balkon und fingen an, Karte zu spielen. Innerlich freute ich mich, hatte ich doch einen Gesprächsansatzpunkt gefunden. Nur noch wenige Tage und wir waren in Vegas...

Aus dem Augenwinkel bekam ich noch mit, dass das Reiseunternehmen es geschafft hatte, unseren ersten Bus wieder zu reparieren. Seid mir nicht böse, wenn ich auf Busse nicht weiter eingehen werde. Sie sind so ähnlich wie das amerikanische Essen: Einfach nicht erwähnenswert!

Ich weiß nicht genau, ob es jetzt diese Situation war, aber mir war in dieser Lodge bewusst geworden, dass ich ihn nicht ewig einfach nur anstarren konnte.

Unser Nachmittags-Stop machten wir an einem Moränen-See. Ich schlenderte vom Bus weg, warf mir meine Tasche über, da ich nicht gerne meine Papiere im Bus liegen ließ. Ein Junge stand bereits am See, hatte sich die Schuhe ausgezogen und ließ seine Füße abkühlen. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, er sei schwul. Ich grinste.

//Keine Frage, Junge, du weißt, dass du gut aussiehst//

Ich konnte unter seiner Sonnenbrille erkennen, wie seine Augen über meine Finger huschten, mit denen ich gerade dabei war, mir meine Sonnenbrille aufzusetzen. Mal wieder amüsierte ich mich über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier bestand einfach die Möglichkeit nicht, dass ein unverheirateter Mann einen Ring trug. Und genau dieses ungeschriebene Gesetz hatte ich gebrochen.

Ich ließ noch einmal meinen Blick über ihn gleiten: Blonde Haare, leicht braune Haut, Muskelshirt, helle, kurze Hose und Nike-Schuhe. Die blonden Haare hatte er mit ein wenig Gel versehen und ließ sie hochstehen. Sah gut aus!

Wie zufällig ging ich langsam auf den Mülleimer neben ihm zu. Nahe an ihm vorbei. Wir tauschten durch die dunklen Sonnenbrille Blicke aus, als würden wir gleich übereinander herfallen.

//Junge, du bist gut.//

Bisher hatte ich erst einmal wirklich eine Situation gehabt, wo ich Leuten Blicke zugeworfen habe, die sich nicht genau deuten ließen: Eine Mischung aus Lüsternheit und Aggressivität. Und wenn viele Leute mich hier jetzt für vielleicht ein wenig irre halten: Die Theorie, dass Lust und Schmerz nahe beieinander liegen, kann ich persönlich nur bestätigen.

Ich setzte ein fieses Grinsen auf. Er musterte mich immer noch. Ich dachte das erste Mal – jedenfalls für heute – über mein Erscheinungsbild nach. ¾-Hose in einem netten Jeansgrün, dazu ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt und die ach so legendären Badelatschen oder auf neudeutsch halt Flip-Flops.

Ich warf ihm ein “Hi“ zu.

Er sah mich an.

Ich grinste.

Anscheinend war das jetzt zuviel für ihn, denn mehr als ein “Hi“ brachte er auch nicht zustande.

Ich entschied diese Gefecht für mich. Klar, kein wahrer Sieg, aber das “Gespräch“ hatte seinen Teil erfüllt. Ein Blick über die Schulter sagte mir, dass ich Recht hatte.

Mein kleiner Schwarzhaariger stand an ein Bootshaus am See gelehnt und beobachtet uns aus dem Schatten heraus. Da er seine Sonnenbrille noch immer in die Haare geschoben hatte, konnte ich den Blick seiner Augen genau verfolgen.

Ich wanderte an dem Bootshaus vorbei, guckte einmal rein und ließ leise flüsternd, staunend mein Fachwissen über Boote vom Stapel. Allerdings stellte ich schnell fest, dass Boote für Seen einfach viel zu Flach für Weltmeere gebaut waren.

Dafür erntete ich einen verständnislosen Blick eines schwarzhaarigen Jungen.

Über den Kiesstrand wagte ich mich ins Wasser. Ich verzog leicht das Gesicht. Das Wasser war kalt. Ich blickte auf die Spiegelungen im Wasser. Sowas machte ich zu Hause auch gerne. Für mich war das Wasser eine Anreihung von Symbolen mit denen man zu leben lernte... früher oder später. Ich blickte in die Sonne, die sich im Wasser spiegelte und ein paar kleine silberne Fische schwammen vorüber. Ich folgte ihnen mit meinen Blicken. Wieder blickte ich in das Wasser. Nur so als kleiner Tip am Rande, im Wasser wird man viel schneller braun, als an Land, da das Wasser spiegelt. Ich genoss die Wärme einfach. Dazu die Kühle an den Füßen. Es war herrlich. Ich träumte einfach und blickte auf den See, sah am Rand die Tannenwälder, die so riesig waren, dass man sich ohne Frage darin hätte verlaufen können. Die gewaltigen, schroffen Felsformationen, die den Horizont bildeten spiegelten auch noch die Spiegelungen des Wassers wider. Es war schön.

Ein Steinchen schoss über die Wasseroberfläche, ditschte mehrmals auf, bevor es unterging. Ich lächelte, und suchte den Werfer. Da oben saß er, an dem Bootssteg hinter dem Holzhäuschen und paddelte mit den Füßen im Wasser. Die Spiegelungen des Wasser ließen ihn noch schöner aussehen.

Wieder ein Steinchen, das über die Oberfläche ditschte. Sowas ging zu Hause ganz selten. Wir hatten meist zu viele Wellen, damit die Steinchen wieder hochsprangen.

Ich watete wieder an den steinigen Strand zurück und schlenderte dann auf den Steg zu.

Die alten, in grün gehaltenen Holzplatten knarrten, als ich über sie ging. Er saß da, neben einem kleinen Steinchenhaufen, aus dem er sich immer wieder in mühevoller Kleinarbeit ein paar aussuchte. Ich stellte mich neben ihn, setzte mich ganz dreist und ließ meine Füße auch ins Wasser hängen.

“Darf ich?“, fragte ich.

Zur Antwort bekam ich nur ein Nicken.

//Hmmm...?!//

“Und“, fragte ich, “hast du schon für Las Vegas geübt?“

Er grinste mich an, ich lächelte.

“Ach, du meinst, mit dem Ami vom Geysir?!“, sagte er.

Ich drehte meinen Kopf ein wenig. “Zum Beispiel!“

Er grinste plötzlich fies. “Du hast dich ja nicht angeboten!“

Ehe ich entgeistert etwas antworten konnte, redete er bereits weiter: “Ich hab´ mit ihm ein bisschen gespielt... Poker!“

Den Namen des Spiel hatte er angehängt, als er von mir ein nicht zu unterdrückendes Grinsen gesehen hatte.

Dann hängte er noch was dran, und mein Grinsen verschwand beinahe sofort. “Die Schweizer-Version!“

//Okay... das ist ... scheiße weit weg!//

Natürlich hatte ich seinen Dialekt gehört, aber ich konnte ihn nicht so wirklich zuordnen. Trotzdem haute mich das jetzt einigermaßen aus der Fassung.

Er schien es auch zu bemerken.

“Alles okay?“

“Hmm? Was?... Ja, alles okay!“, stammelte ich.

Ein aufgeregtes Kind rannte auf die Brücke. Die schwarzen, kurzen Haaren ließen keinen Zweifel aufkommen, um wen es sich handelte – um niemand geringeren als seinen kleinen Bruder.

“Ihr seid zu spät!“, sagte er mit einem Dialekt, den ich nicht in Schriftsprache fassen könnte.

“Du hast mich halt einfach ganz in Anspruch genommen.“, sagte sein großer Bruder lächelnd zu mir.

Ich wollte etwas antworten, aber ich kam nicht mehr dazu. Plötzlich hatte er seine Arme um mich geschlungen und hob mich ganz auf den Steg.

“Machst du sowas öfters?“, fragte ich, noch nicht ganz sicher, was ich davon zu halten hatte.

“Nein, nur bei ganz speziellen ...“, nuschelte er.

Was er am Ende sagte, habe ich nicht mehr verstanden.

Denny’s: eine Burgerkette in den Vereinigten Staaten. Meine Mum hatte unserer Familie einen Tisch in dem von unserer Buscrew gestürmten “Restaurant“ errungen. Wirklich Appetit hatte ich nicht. Den fünften Tag Burger...

Ich bestellte eine große Coke und meinen ach so heiß geliebten Chicken-Burger. Die Coke, wie immer, ein riesen Becher war halb mit Eiswürfeln gefüllt. Wahrscheinlich hätte ich mehr zu trinken bekommen, wenn ich der Kellnerin die hohle Hand hingehalten hätte. Ich ließ meinen Blick, wie sooft an diesem Tag, schweifen. Hinweg über die billige Lederausstattung des Ladens, hinweg über einige Mexikaner, die versuchten Flecken aus dem Teppich zu bekommen, hinweg über wahnsinnig dicke Amis, hinweg über...

Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, ob ich mir die restlichen Eiswürfel meiner Coke selbst über die Hose gekippt habe oder ob mein Becher, von dem Anblick, der sich bot, auch vom Hocker gerissen wurde.

Er saß da. An einer Bank am Rande, direkt am Fenster. Hinter ihm ein gewaltiger Truck, dessen Spiegel Sonnenlicht ins Denny’s warfen. Wie eine Corona leuchtete die staubige Scheibe um ihn herum. Ich glaube, ich habe noch nie so lange einem Menschen beim Essen zugesehen.

“Stef, magst du deine Pommes nicht mehr?“, quäkte plötzlich meine kleine Schwester.

“Die Dinger heißen hier Fries, Mädel“, schnauzte ich sie an, “aber wenn du dich diesem Volk anpassen möchtest, kannst du sie gerne haben!“

Ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Das ist normalerweise so überhaupt nicht meine Art. Sie aber grinste mich nur an, schnappte sich meinen Teller und mampfte diese unheimlich fettigen Dinger mit einem Genuss, dass einem schlecht werden konnte.

Ich hingegen beschäftigte mich lieber mit süßeren Sachen.

Bezahlen, Aufstehen, auf´s Klo gehen... Was ist daran nur so schwer? Mit meiner Familie ist es anscheinend extrem kompliziert und faszinierend... jedes Mal.

Mum hatte sich nach draußen in die Sonne gesetzt, da es ihr drinnen zu kalt war. Mein Dad diskutierte mit einem Kellner über den prozentualen Anteil von Eiswürfeln in Cola-Bechern und meine Oma war mit meiner Schwester auf´s Klo gegangen.

Ich blickte wieder zu ihm herüber. Inzwischen war die Sonne nicht mehr ganz so stark, aber noch immer funkelten seine schwarzen Haaren in dem Widerschein. Lediglich sein Bruder saß neben ihm an dem Tisch. Zwei bereits benutzte und fein säuberlich leer gegessene Teller standen dort außerdem. Anscheinend waren ihre Eltern bereits wieder draußen. Die Gelegenheit musste ich nutzten, eilte zu dem Tisch rüber und stellte mich hinter ihn. Seinen Bruder ließ ich mit einer Geste wissen, dass er still sein sollte.

“Excuse me Sir, you enjoy your food?“, fragte ich ihn.

Er grinste mich an. “Hab’n sie dir hier einen Praktikumsjob gegeben?“

“Nein, ich würde zu allererst den Speiseplan ändern, dem Koch Lehrstunden geben und diese hässlichen Sofas entfernen.“, meinte ich.

“Wieso?“, antwortete er sarkastisch, “Versteh ich gar nicht, ist doch eine Wahnsinnsauswahl: ChickenBurger oder Chicken mit Fries oder Chicken mit....“

Sein Bruder unterbrach ihn. “Sag noch einmal Chicken und ich bewerft dich mit Federn!“

Anscheinend schien plötzlich “meinem“ Süßen wieder was einzufallen. Hektisch rutschte er auf der Lederbank zur Seite, schlug dann leicht drauf.

“Setzt dich doch.“, sagte er dann.

“Dein Wunsch sei mir Befehl!“ Ich pflanzte mich neben ihn.

Ein Kellner kam angetuckt.

//Aha... auch ne interessante Variante, sich zu entwickeln.//

Sein Bruder hatte es plötzlich ganz eilig nach draußen zu kommen. Ich sah ihm fragend nach. Okay, ist vielleicht nicht normal, dass jemand so ankam. Aber ... so zu reagieren, fand ich eindeutig übertrieben.

Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem Bein. Sie fuhr es schnell nach unten, war dann kurz weg, und dann wieder da. Er hatte sein Portemonnaie hervorgeholt, um den Kellner zu bezahlen.

Mit einem gegrummelten “Thanks“ verzog er sich mit jeder Menge Dollar wieder.

“Was war das denn?“, fragte ich ihn.

In seinem Gesicht konnte ich lesen, dass er nicht genau wusste, worauf ich hinaus wollte.

“Du meinst den Kellner?“, fragte er zurück.

Ich nickte, war gespannt auf seine Antwort.

“Also, ich würd´ mal sagen, das war ein schwuler Kellner. Für meinen Geschmack ein wenig zu feminin!“

Ich riss die Augen auf vor Staunen. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. Dann musterte ich ihn nochmal, blickte ihm in die Augen. Plötzlich wich er scheu meinem Blick aus. Röte stieg ihm ins Gesicht, als ihm klar wurde, dass ich jetzt eine Nachfrage stellen würde.

“Ich darf doch?“, fragte ich ihn, völlig zusammenhanglos und deutete auf seine halbvolle Coke. Gierig holte ich mir einen Eiswürfel aus dem süßen Zeug. Meine Zunge wurde kalt, ich schluckte das Bisschen geschmolzene Wasser herunter.

“Nun frag schon!“, sagte er mit Blick auf die Tischplatte.

Ich blickte ihn an. “Was soll ich dich fragen?“

Er wurde wütend, ballte die Fäuste und starrte mich angriffslustig an. Schnaufend schlug er die Hände vor mir auf den Tisch, sodass die Coke, die ich dort eben hingestellt hatte, schwappte.

“Frag mich!“, schrie er, “Frag mich, ob ich schwul bin!“

Obwohl er ohne Probleme die Beatles, die aus alten Boxen an der Decke dröhnten, übertönt hatte, sah uns keiner an. Glücklicherweise saß keiner aus unserer Reisegruppe in dem Laden.

“Warum sollte ich das fragen? Wenn du es mir erzählen willst, dann wirst du es sicherlich auch tun.“, sagte ich ruhig.

Er sackte ihn sich zusammen, starrte auf die Tischplatte, zog seine Coke wieder zu sich und begann mit einem Strohhalm die Eiswürfel zu stubsen.

“Hey“, sagte ich leise. “sei du selbst. Mach das, was ich nicht kann.“

Ihm fiel der Kiefer runter und er kippte sich die Coke über die Hose. Ich stöhnte auf. //Naja gut, immerhin war es mir nicht passiert.//

“Was denn?“, fragte ich ihn. “Hast du noch nie jemanden gesehen, der damit mindestens genau so viele Probleme hat wie du?“

Er legte eine Hand auf mein Bein, und allein dadurch, dass er mich anlächelte, zog er meine volle Aufmerksamkeit auf sich. “Nein, ich habe noch überhaupt keinen gesehen!“

Ein dröhnendes Hupen von draußen störte uns. Anscheinend ging es dem Fahrer unseres Busses viel zu langsam.

//Nerv jemand anders.//

Ich grinste schief, als er aufstand. Ein kleiner Schwall Coke lief ihm über die Hose. Er lächelte mich an und zuckte die Schultern.

“Passiert halt!“, sagte er grinsend.

Die Hitze traf mich wie ein Schlag. So von jetzt auf gleich einen Temperaturunterschied von fast 20 Grad war schon heftig. Ich kniff im Sonnenlicht die Augen zusammen und griff hinter mich zu meiner Tasche, um mir meine Sonnenbrille zu holen. Eine Hand hielt mich fest. Ich verspürte ein leichtest Kribbeln, eine schöne Wärme an der Stelle, an der er mich berührt hatte. Ich drehte mich um, alleine seine Nähe machte mich wahnsinnig. Und nun blickte ich ihm in die dunkelbraunen Augen und schmolz dahin, und ich bin sicher, dass es nicht am Wetter lag. Seine Hand lag noch immer auf meiner. Ich blickte ihn an.

“Wie heißt du eigentlich?“

Innerlich trat ich mir in den Arsch.

//Wie konnte ich sowas nur vergessen?//

“Stefan Stadtschneider“, sagte ich und blickte ihn fragend an. Schließlich wollte ich ja auch seinen Namen wissen.

Er reichte mir die Hand, und brachte plötzlich ein wenig Abstand zwischen uns, als er merkte, dass sich die langsam in den Bus steigende Reisegruppe anfing, sich für uns zu interessieren.

“Ich heiße Joschua Neubauer. Freut mich!“, sagte er förmlich und konnte sich ein fieses Grinsen kaum verkneifen.

Doch mit meiner tiefen Verbeugung, die ich machte hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Verblüfft nahm er mein “Sehr angenehm!“ entgegen.

Der Busfahrer war anscheinend mit seiner Geduld am Ende, denn so langsam begann er mir mit seiner Huperei WIRKLICH auf den Nerv zu gehen.

Der nächste Photostop wurde von mir herbeigesehnt wie noch keiner vorher. Aufmerksam nahm ich die gesamte Umgebung war, auch wenn mein Blick andauernd nach hinten fiel.

Wie ungeduldig ich aus dem Bus sprang, weiß ich nicht mehr. Ich hatte mich auf die andere Seite des Busses gestellt, in die Sonne, abseits der Gruppe. Hier war ich zwar alleine, aber ich war mir sicher, dass Joshua mich finden würde.

Jemand schlich sich hinter mich und schlang mir einen Arm um den Kopf, drückte mir die Hand auf die Augen. Ich lachte.

“Hey, was lachst du?“, fragte mich Joshua.

“Du bist süß!“, sagte ich schlicht und warte gespannt auf seine Reaktion.

Er lief rot an. Ich sah ihn an, wartete auf seine Antwort.

“Das ist das erste Mal, dass das ein Junge das zu mir sagt.“, stammelte er.

Ich tippte ihm auf die Nase und befreite mich aus seiner Umarmung, obwohl ich hier gerne noch unendlich lange so mit ihm gestanden hätte.

“Es wird aber nicht das letzte Mal sein!“, sagte ich.

Er strahlte.

“Komm, lass uns zu den anderen gehen.“, sagte ich und schob ihn vor mir her, darauf bedacht, soviel von ihm zu spüren, wie es nur möglich war.

Der Sonnenuntergang war nicht wirklich spektakulär gewesen. Die Sonne verschwand einfach hinter den Wolken und war weg. Ich war tierisch müde. Es mag zwar komisch klingen, da man ja eigentlich nichts macht, außer im Bus zu sitzen. Ich blickte nach hinten zu Joshua. Ihn hatte der Schlaf bereits übermannt. Und bei mir fehlte auch nicht mehr viel.

Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen.

//Joshua//

Sein Gesicht erschien mir vor dem inneren Auge. Ich lächelte still vor mich hin und begann in die Traumwelt abzudriften. Auf leisen Schritten folgte Joshua mir.

“Hey Schlafmütze, aufwachen!“, murmelte mir jemand ins Ohr. Wie ich es hasste, geweckt zu werden. Müde gähnend machte ich die Augen auf und begann, kaum dass ich wach war, bereits wieder zu zerfließen.

Wunderschöne braune Augen strahlten mich an.

“Bekomm´ ich denn wenigstens einen Gutenmorgenkuss?“, stammelte ich, noch nicht ganz wieder in der Realität.

//Scheiße, was hab ich da gesagt?//

Gehetzt richtete ich mich auf, und blickte mich um. Nichts. Niemand. Ja, ich glaube, niemand ist wohl eher das passende Wort. Unser Bus war verlassen. Selbst der Fahrer stand draußen und war damit beschäftigt, mit einer Einmal-Kamera einen Waldbrand auf einem gegenüberliegenden Hügel zu filmen.

“Keep cool!“, sagte er grinsend.

Ich sackte in mich zusammen vor Erleichterung.

Ich schlug sanft auf meinen Sitz und sah ihn bettelnd an.

“Du bist süß!“, sagte er, und nun war es an mir, rot zu werden. “Deswegen bin ich hergekommen: ich wollte fragen, ob du beide Plätze brauchst!?“

Ich musterte ihn lange. Sehr lange und sehr intensiv. Er begann langsam, nervös zu werden.

“Joah, ich glaub, für jemanden wie dich kann man das schon wagen!“, witzelte ich dann.

//Hmm.//

So hatte ich mir ein Hotel in Arizona nun nicht vorgestellt. Frieren war hier anscheinend gesetzlich verboten. Als ich ausstieg, bekam ich erstmal die Temperaturkeule ins Gesicht. Unser Hotel lag mehr oder weniger direkt am Glen Canion, der nun als 100km langer Stausee fungierte. Für einen Mitteleuropäer sind 40°C einfach von jetzt auf gleich zu viel. Ich hatte meine Tasche umgehängt und blickte in den zweiten Stock des Hotels. Oben, auf dem Laubengang, der die Zimmer der zweiten Etage verband, sah ich bereits die Koffer. Tja, nur halt nicht unsere.

Plötzlich hatte ich eine Hand in den Haaren und ein Strahlen nahm mich ein. Joshua kam aus dem Bus gewankt. Ihn als Schweizer hatte es noch mehr getroffen als mich. Mehr fallend als gehend kam er mir entgegen.

“Hast du Lust zu schwimmen?“, fragte er mich leise.

Aber es war zu laut!

“Schwimmen?“, fragten zwei aufgeregte Münder. Sein kleiner Bruder und meine kleine Schwester. Ich konnte sein enttäuschtes Gesicht sehen, legte ihm meine Hand auf die Schulter und strich ihm vorsichtig, so gut wie möglich, vor den Zaungästen versteckt, über den Nacken.

“Ja, gerne...“, antwortete ich und war gespannt, worauf er hinauswollte. Mir war nur klar, dass ich so eine Gelegenheit nie wieder kriegen würde.

“Stef, mach zu!“, dröhnte es aus dem zweiten Stock des Hotels. Meine Oma. Ich lachte kurz, aber hart auf. Dummerweise hatte ich die Zimmer-Keycard eingestrichen. Ich schubste meine Schwester vor mir her, warf Joshua noch ein “Bis gleich am Pool“ zu.

Amerikanische Herzinfarktprophilaxe! Ich war mir sicher, dass jede mittelmäßige Weinbergschnecke schneller die Treppen raufkroch als der Kofferträger. Jeden Koffer einzeln die Treppe hoch. Inzwischen hatte ich aufgehört zu zählen, wie oft ich gehetzt zum Pool rüberguckte.

Warum alle ihre Koffer hatten, nur meine Familie nicht, verstand ich ehrlich gesagt überhaupt nicht. Und natürlich musste das auch noch heute passieren. Ich hatte mich an das Geländer gelehnt und blickte unseren Bus an, inzwischen war die Sonne wirklich endgültig weg, aber der Pool wurde von mehreren Scheinwerfern angestrahlt.

Wie ein Engel, der aus der Dunkelheit erscheint, so erschien Joshua in den Strahlen der Lampen. Mir blieb das Herz stehen. Er sah so übernatürlich aus, nur mit Badeshorts bekleidet und mit einem Handtuch auf dem Rücken.

Ich stolperte mindestens drei Mal als ich versuchte einen neuen Weltrekord im Treppen-runter-rennen aufzustellen.

“Hey!“, sagte ich leise, noch immer in der Dunkelheit stehend.

Er drehte sich um und ich war mir sicher, dass er mich sofort erkannte.

“Hey.“, sagte er ganz leise, sodass nur ich ihn verstehen konnte.

“Ich habe da ein ganz kleines Problem!“, grummelte ich, und verkniff mir jegliche Kommentare bezüglich der Kofferträger. “Ich hab nichts anzuziehen!“

Mir wurde erst im Nachhinein klar, dass ich gerade eine typische feminine Phrase von mir gegeben hatte.

Er grinste mich an. “Du Armer. Also, wenn es dir nichts ausmacht, musst du auch nicht im Anzug kommen!“

Ich kniff ihn in die Seite.

“Werd’ nicht frech, mein Kleiner!“, sagte ich und sah ihn einfach nur an.

“Komm du mir ins Wasser...“, sagte er nur und machte ein paar Gesten, bei denen ich nicht genau wusste, was ich davon zu halten hatte.

Ein Ruf durchbrach die Stille der anbrechenden, lauen Nacht.

“Stefan!“, schrie meine Schwester. “Die Sachen sind da!“

“Halt mir einen Platz im Pool frei, sonst setzt ich mich auf deinen Schoß!“, sagte ich und war bereits auf dem Weg.

“Der Pool ist voll!“, rief er mir hinterher.

Boah, ich sah in den Shorts echt scheiße aus. War mal wieder Zeit, ein wenig Sport zu treiben.

Ein kleines Wesen in Bademantel rannte vor mir rum. Viktoria, meine kleine Schwester.

“Vik, nun lass uns endlich los!“, sagte ich kaum, dass ich mein Handtuch gefunden hatte.

Ich lehnte am Rand des Beckens und ließ mir heißes Wasser gegen den Rücken pumpen. Joshua war so sehr damit beschäftigt, seinen Bruder zu ärgern, dass er uns gar nicht bemerkt hatte. Ich beobachtete die beiden einfach nur. Mein Schwesterchen dümpelte neben mir und versuchte krampfhaft, ihr Zopfgummi aus den Haaren zu entfernen.

Ich tauchte unter, zog die Füße an, stieß mich vom Beckenrand ab und verschwand im Wasser. Die paar Meter, die die beiden Jungs von uns entfernt waren schwamm ich unter der Wasseroberfläche. Ich hatte beim Auftauchen die dumme Angewohnheit, möglichst gerade aufzutauchen, was natürlich bei Wettkämpfen jede Menge Zeit kostete. Ich glitt über den Boden, zählte die bläulichen Kacheln, stieß mich dann mit den Händen vom Grund ab und schoss nach oben. Meine Brust berührte seinen Bauch als ich auftauchte. Das war nicht geplant gewesen. Sofort schossen mir Blitze durch mein Brust und es kribbelte leicht und fühlte sich wohlig warm an.

Ich holte tief Luft und beendete meinen Auftritt mit einem drögen “Moin“.

Er grinste mich an. “Mach das nicht nochmal, sonst räche ich mich vielleicht mal an dir!“

Der Unterton, der in seiner Stimme mitschwang war schön und gefährlich. Ich setzte ein dreistes Grinsen auf und schubste ihn nach hinten. Er reagierte so schnell, dass es mich verblüffte. Sofort zog er mich an sich und ich versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Doch das gestaltete sich schwerer als erwartet. Der Kleine war echt stark und ich wollte eigentlich gar nicht befreit werden. Wir beide bildeten in Sekundenschnelle ein einziges, Wasser in alle Richtungen spritzendes, Wesen. Vier weitere Arme mischten sich plötzlich ein und sofort merkte ich, wie Joshua sich noch enger an mich klammerte. Ich spürte seine warmen Oberschenkel an meinen und obwohl das Wasser wirklich tierisch kalt war, war mir heiß. Er blickte mich plötzlich an. Ich konnte nicht mehr, presste mich noch enger an, wollte ihn nie wieder loslassen.

“Wir kriegen euch schon auseinander!“, lachte sein Bruder. Joshua grinste traurig und mir brach es fast das Herz.

//Dazu brauchen wir dich gar nicht, Junge, es sind nur noch fünf Tage bis nach Los Angeles. Scheiße//

Mit einem Aufschrei und einer Kraft, die unglaublich war und größtenteils aus Kitzelattacken meiner Schwester bestand, lösten die Beiden uns voneinander.

Nur einen einzigen Moment später hatten die beiden sich umschlungen.

“Jetzt sind wir dran!“, behauptete meine Schwester.

Ich musste mich bei diesem Bild einfach erinnern. Es war früher einfach anders gewesen als man noch viel unbefangener mit seinen Gefühlen umgegangen ist. Ich grinste schief. Und damals wollte man unbedingt nicht mit einem Mitglied des anderen Geschlechts gesehen werden. Mädchen sind doof. Und nur ein paar Jahre später ist es das Wichtigste: ein Mädchen. Ich sah Joshua an. Oder ein Junge!

Er blickte mich an und ich hatte das Gefühl, er würde wissen, was ich dachte. Ich legte ihm meinen Arm um die Hüfte und zog ihn ein wenig zu mir herüber, legte meinen Kopf so schief, dass er fast auf seiner Schulter lag. Er hielt seinen Kopf auch schief und blickte meine Schwester und seinen Bruder an.

“Sind schon ein süßes Pärchen!“, meinte er.

Sofort stoben die beiden auseinander.

Ich grinste beide breit an. “Ich würd´ sagen, die Zeit, die ihr gebraucht habt, war länger. Wir haben gewonnen!“

Beiden sahen so aus, als würden sie sich gleich beschweren. Mein Schwesterchen fing an. Ich griff sie mir, hob sie aus dem Wasser, fasste noch einmal nach und warf sie in den Pool. Sie schrie lachend auf. Ich wusste, wie gerne sie das hatte.

Hinter mir hörte ich ein frohes Lachen, als sein Bruder auch geworfen werden wollte.

Mir tat der Rücken tierisch weh. Ich hatte vergessen, wie schwer zehnjährige sein können.

“Und was ist mit mir?“ Wie hatte ich auf die Frage gehofft.

“Auf eigenes Risiko!“, scherzte ich.

“Alles, was ich mit dir mache, mache ich auf mein Risiko!“, sagte er ernst und doch mit einem Lachen in der Stimme.

Er legte mir die Hände auf die Schulter und ich legte meine Finger sanft an seine Hüfte. Er hielt die Luft an. Ich fuhr ihm ganz langsam an der Seite entlang nach oben und schob dann meinen rechten Arm unter seinen. Dann schob ich ihm mein Bein zwischen seine. Er zog zischend die Luft ein und sah mich ängstlich an.

Ich lächelte um ihn zu beruhigen. Ich drückte seine Beine mit meinem bis auf die Wasseroberfläche und griff dann mit dem anderen Arm nach. Er lächelte mich an und schloss die Augen. Mir war bewusst, dass er viel schwerer als meiner Schwester oder sein Bruder war, doch für mich wog er nicht mehr als eine Feder. Ich warf meine Feder.

//Komm wieder zu mir zurück geflogen//

Er tauchte hinter mir wieder auf und beinahe sofort hatte ich ihn auf meinem Rücken hocken. Er war ein bisschen leichter als ich, aber ich ging trotzdem unter und er mit mir.

Lachend kam er wieder an die Oberfläche und spuckte mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Ich hatte die selbe Idee gehabt und zog ihn nun an mich heran.

Doch ich konnte ihn nicht anspucken. Er hatte seine Finger auf meine Oberarme gelegt und sah mir unentwegt in die Augen, während wir uns immer näher kamen. Meine Arme kribbelten. Die Welt da draußen, die Welt um uns herum existierte nicht mehr. Ich versank in seinen braunen, dunklen Augen. Er ließ sich in meine Arme fallen.

Nur noch wenige Zentimeter trennten uns voneinander. Ich hatte Angst. Würde dieser Kuss doch alles verändern. Meine Schwester, so glaubte ich wenigstens, würde es nicht verstehen und mich outen. Ich wollte nicht, dass Joshua Schwierigkeiten wegen mir bekam. Mir hat mal jemand gesagt, wer beim Küssen nachdenkt, der wird sich nicht fallen lassen können. Und ich hatte ein Problem damit, mich fallen zu lassen. Aber dieser Junge, der jetzt in meinen Armen lag, der würde mich fangen, da war ich mir sicher.

Ich sah ihn traurig an.

“Ich bin noch nicht soweit!“, flüsterte ich.

Ich ließ ihn los und verfluchte mich dafür.

Gehetzt schwamm ich zum Rand.

Kaffee. Endlich. Ich hatte heute länger geduscht als normal. Heute war es sicherlich eine halbe Stunde gewesen. Ich hatte Schuldgefühle und Angst. Ich war morgens eine Stunde zu früh aufgewacht, was mir eigentlich nie passierte, hatte mich auf den Balkon gestellt und stundenlang in den Sonnenaufgang geblickt. Gesehen, wie die rote Scheibe sich langsam von dem noch grauen und mit Dunst behangenen Land erhob, höher stieg, um die Welt zu beleuchten und ihr Wärme zu bringen.

//Scheiße, Junge, bitte lass mich nicht alleine//

Jetzt saß ich in der Lobby des Hotels und starrte in die eklige, braune Suppe, die die Amerikaner Kaffee nannten. Ich hätte ihn mir doch selber kochen sollen. Aber heute morgen stand mein Sinn eh eigentlich nach ein wenig Alkohol, in dem ich meine Sorgen hätte ertränken können. Vorsichtig hob ich den Styropor-Becher an meinen Mund und verbrannte mich prompt. Innerlich verfluchte ich mich für so viel Dummheit, wohl wissend, dass Styropor Wärme hält.

Krümel zierten meinen Teller – die letzten Überreste des viel zu süßen amerikanischen Muffins. Die fettigen Würstchen und die Rühreier hatte ich weggelassen, aus Angst mich übergeben zu müssen.

Er rauschte an mir vorbei, als ich gerade vorsichtig einen weiteren Trinkversuch unternahm.

“Joshua!“, rief ich und plötzlich war es mir scheißegal, dass mich der gesamte Speisesaal/Lobby-Kombinationssaal ansah.

Er machte auf dem Absatz kehrt und zielsicher sah er mich in meiner Ecke.

“Was?!“, fragte er und klang dabei sowohl wütend als auch unsicher und traurig.

“Komm, setz´ dich bitte zu mir!“, bettelte ich.

“Meine Familie kommt gleich runter!“, meinte er, wohl wissend, wie sehr mich das verletzte.

Ich schluckte. “Bitte.“ Mehr konnte ich ihm einfach nicht sagen.

Er hatte sich haufenweise Muffins auf den Teller getürmte, als er sich auf den Stuhl mir gegenüber an den runden Tisch setzte. Ich blickte noch immer weiter in meinen Kaffee.

“Tut mir Leid... wegen gestern.“, stammelte ich und blickte vorsichtig auf. “Ich wollt dich da nicht einfach so stehen lassen.“

//Bitte sag was, mir fällt das so schwer. Sag was, irgendwas//

“Aha!“, grummelte er, beugte sich dann vor und näherte sich mir. Ich sah ihn, innerlich zitternd, an.

Ich krallte mich an meinem Becher fest, meinem einzigen Halt hier.

“Ich wollte dich nicht verletzten, aber ich hab Angst. Angst vor der Veränderung und ich habe Angst, dich bloß zu stellen!“

“Du hast das aus Angst um mich gemacht?“, fragte er ungläubig.

Ich nickte stumm.

//Bitte!//

“Das muss ich jetzt erstmal verdauen!“, sagte er und griff sich meinen Kaffee. Jeder andere hätte dafür sich erstmal eine gefangen. Wer auf die bescheuerte Idee kam, mir am frühen Morgen den Kaffee zu klauen, hat es nicht besser verdient.

Ich machte nichts, saß nur stumm da und beobachtete ihn, wie auch er sich an dem immer noch viel zu heißen Kaffee die Lippen verbrannte.

Ich sagte noch immer nichts und sah ihn traurig an. Mir war echt nach Heulen zumuten.

“Joshua, kommst du bitte?!“, rief plötzlich eine Stimme bestimmt. Seine Mutter. Sofort sprang er auf. Die kleine Frau hatte eine unglaubliche Autorität und etwas Erhabenes. Trotzdem machte sie sich gerade ziemlich unbeliebt bei mir.

//Bleib bei mir, bitte Joshua!//

Er war in dem Getümmel der Lobby mit seinen Eltern untergetaucht. Verzweifelt stocherte ich in den Resten meines Muffins herum, schließlich krallte ich mir den Tellern mit seinen Muffins und begann eine Art Frust-Fressen. Meine Familie kam. Alle Vier stürmten sie mit “Guten Morgen“-Rufen auf mich ein. Sie luden sich ihre Teller am Buffet voll und begannen eine wahre Fressorgie, so gut es halt mit amerikanischem Frühstück ging.

Dad, der seinen Teller mit sieben Muffins bestückt hatte, musterte meinen Kaffeebecher, der immer noch da stand, wo Joshua ihn zurückgelassen hatte.

“Ist das dein Kaffee?“, fragte er.

“Hmm?“ Ich mampfte Joshuas Muffins.

“Deiner?“, meinte er und zeigte auf den Becher.

“Hm!“, bejahte ich die Frage und zog den Becher mit dem inzwischen wohl kalten Kaffee zu mir.

Vorsichtig begann ich, den Deckel abzumachen, den Joshua mühevoll auf das Styropor-Ding gebastelt hatte. Leer. Kein Kaffee mehr. Deswegen war der Becher also inzwischen kalt geworden.

Ein kleiner Zettel, die Überreste der Serviette, die auf unserem Tisch lag, klebte ein wenig mit Kaffee angefeuchtet am Becherrand.

“Ich will dich sehen!“, stand dort.

Ich las mir den Satz durch, nochmal und nochmal.

“...Der Bryce Canyon besteht hauptsächlich aus Sandstein, wobei die kleinen Türmchen die Sie dort sehen, mit einer Kuppe oder Platte aus härterem Stein, zum Beispiel Vulkangestein, bestückt sind, die die Verwitterung nicht so schnell voran schreiten lassen!“, beendete unser Reiseguru seinen Geologieunterricht über den Canyon, unserem nächsten Photostop.

“Wir werden dort eine Stunde Stop machen, während sie in den Canyon runterwandern können oder aber oben in der Lodge bleiben und sich mit Souvenir-Krams aller Art eindecken können. Ein kleiner, relativ schmaler Weg führt nach unten und allen, die Probleme mit dem Herzen, mit der Lunge oder mit dem Rücken haben.... also allen, die nicht hundertprozentig gesund sind empfehle ich, diesen Weg nicht zu benutzen.

“Nein, ich geh da ganz sicher nicht runter!“, textete meine Mutter meinen Vater zu, der aber nicht zuhörte, sondern aufgeregt mit der Hand wedelte, um ihr zu zeigen, dass er mit seiner Kamera gerade wohl die siebte Stunde Urlaubsvideo drehte.

“Stefan, wenn du da runter willst, dann frag doch Joshua, mit dem verstehst du dich doch so gut!“, meinte meine Oma und schnappte sich meine Tasche, damit sie beim Abstieg nicht störte.

“Ich frag mal!“, sagte ich und begab mich auf die Suche.

Ich fand ihn mitten in dem Souvenirshop.

“Möchtest du ein Stückchen gehen?“, fragte ich vorsichtig.

Er lächelte mich an, anscheinend war er mir nicht mehr böse.

“Runter in den Canyon, du Flachlandtiroler?!“, fragte er mich spöttisch.

Ich zog eine Augenbraue hoch. Mir war es halt einfach lieber, wenn ich den Horizont sehen konnte. Ich fühlte mich immer ein wenig beengt im Gebirge. Beengt und was noch dazu kam, ich hatte immer das Gefühl, dass sich hinter dem nächsten Berg irgendwas verstecken konnte, was ich nicht erwartete.

Ein kalter Wind pfiff in der Schlucht, als wir uns langsam über den Sandweg nach unten begaben.

“Darf ich dich mal was fragen?“, sagte er plötzlich und blickte mich an. Ich war krampfhaft darauf versessen, meine Schritte ordentlich zu setzen und hier nicht den Abgang zu machen.

“Ja, was willst´e wissen!“, fragte ich, immer noch zu Boden schauend.

“Wie war es eigentlich bei dir?“

“Wie >Wie war es bei dir?<? Willst du wissen, woher ich weiß, dass ich schwul bin?“

Er nickte hektisch, blickte sich gehetzt nach allen Seiten um.

“Ganz ruhig. Ist das bei euch so ein Tabu-Thema?“

Er sah mich traurig an. “Ja, leider!“

“Bei mir auch. Meine Eltern sind ... ach, ich weiß nicht. Aber zurück zu deiner Frage: Hm! Das erinnert mich jetzt irgendwie ein wenig an so hässliche Talkshows.“, ich lachte, “Okay... Also; tja... äh... wie soll ich anfangen? Hat wohl damit angefangen, dass ich männliche Models attraktiv fand. Tja, und irgendwann vor gar nicht so langer Zeit, sozusagen als persönliches Outing, habe ich mich zum ersten Mal mit der Szene in Verbindung gesetzt. Wir waren in Berlin auf Studienfahrt und ... zufällig war an dem Wochenende, wo ich da war, der Christopher Street Day...!“

“Was ist das?“, fragte er.

“Das ist... du meinst den CSD? Also, der Christopher Street Day ist eine Parade von Schwulen, Lesben und deren Freunden für mehr Tolleranz und Akzeptanz!“

Es kam Leben in den Kleinen.

“Und, wie war´s?“

“Schön, aber ...“, sagte ich und ich spürte, wie mir die Stimme versagte, “...mit dir wär es noch viel schöner gewesen.“

Ich blieb stehen und berührte ihn an den Armen, hielt ihn ganz sanft fest. Noch nie war mir das Reden so schwer gefallen, wie in diesem Moment, als ich meinen Blick von dem Pfad abwand und in Joshuas wunderschöne, braune Augen sah.

“Joshua, ich habe mich in dich verliebt!“

Joshua sah mich nur verstört an. Anscheinend begriff er nicht. Ich war einem Heulkrampf nahe.

Scheiße, jetzt hatte ich Joshua meine Liebe gestanden, und was macht er? Er steht da einfach nur so rum.

„Scheiße, Josh, sag was, bitte, sag irgendwas!“ Ich verschluckte mich ein wenig, blickte ihn aber weiter an.

„Halt´s Maul!“ ,sagte er.

Das war zuviel für mich. Ich brach eindeutig in einen Heulkrampf aus. Joshua legt sanft seine Hand an meinen Hals und ich begann zu zittern.

//Verflucht, was wird das?//

Er kam mir immer näher und ich fühlte mich wie Wackelpudding in seinen Händen. Den anderen Arm legte er mir um die Hüfte und begann, ganz sanft, mein Zittern zu unterdrücken.

„Bitte, Stefan, sei ganz still!“ ,sagte er flüsternd.

Ich war überhaupt nicht mehr in der Lage, irgendwas zu sagen. Ich lag da in seinen Armen, zitterte noch leicht und verstand nicht, was dieser Junge mit mir machte.

Es traf mich so überraschend, dass ich mich zu Anfang wohl noch wehrte. Ich fühlte seine warmen Lippen auf meinen und diese Schmetterlinge im Bauch brachen plötzlich heraus. Kleine Blitze tanzten an jeder Stelle, wo er mich berührte. Ich zog ihn an mich heran und wollte ihn nie wieder loslassen. Ich wollte mehr von ihm spüren, seine Nähe erfahren. Wohlige Schauer zogen mir über den Rücken, als ich seine Zunge einließ. Er war so sanft, dass ich in seinen Armen schmolz. Ich ließ meine Finger, die ich jetzt endlich wieder unter Kontrolle hatte, sanft über seinen Rücken tanzen. Ich wollte so ewig weitermachen. Nur alleine mit Joshua, der mich küsste.

Nur widerwillig öffnete ich die Augen, wollte nicht zurück in die Realität kommen. Ich konnte Tränen in seinen Augen erkennen.

„Ich lieb dich auch.“ ,flüsterte er.

Wir hielten uns fest, wollten uns nie wieder loslassen.

Hat sich jemand mal Gedanken gemacht, wie schwer es ist, mit jemandem im Arm einen Bergweg hochzugehen?

Ich hatte meine Arme um Joshuas Hüften gelegt und ging nun hinter ihm im Gleichschritt den steilen Bergpfad hoch. Manchmal ließ er sich nach hinten fallen, freute sich darauf, von mir gefangen zu werden. Die Sonne wärmte die Luft um uns herum und ließ uns schweben.

Der Weg nach oben schien mir viel kürzer als der, runter in die Schlucht. Wir gingen, ja wir gingen der Sonne entgegen. Doch Wolken zeigten sich auf dem bis eben noch blauen Himmel.

Plötzlich fing ein kräftiger Wind an, zu blasen. So irrsinnig schnell wie ich es sonst nur im Zeitraffer kannte, zog der so schöne Himmel zu. Mit den ersten, noch zaghaften Regentropfen suchten wir uns Unterschlupf in der Touristen-Lodge. Das alte Holzhaus ächzte unter dem Wind, der nun auch von unten, aus der Schlucht geweht kam.

„Dort drüber sind sie!“, sagte Joshua und zog mich am Arm mit zu dem Rest unserer Reisegruppe. Sie waren allesamt durch und durch nass. Meine Mum umarmte mich, war froh, dass ich wieder da war. Nun war ich auch nass.

//Grrrr//

Joshuas Eltern waren nicht da!

Er blieb erstmal bei mir stehen.

Zehn Minuten.

Zwanzig Minuten.

Der Orkan, der sich zusammenbraute, war so heftig, wie ich ihn nur an „meiner“ Küste im Winter erlebt hatte. Die Leute draußen gingen schief und versuchten, damit dem Wind zu trotzen. Vergeblich. Kleine Kinder hielten sich an den Hosen und Jacken ihrer Mütter fest, und Parkranger versuchte krampfhaft, die Pfade, die in den Canyon runterführten, zu räumen.

Unser Reiseguru war nun nicht mehr so ganz Herr der Situation. Langsam aber sicher konnte ich mitverfolgen, wie er immer wieder nach draußen starrte, die riesigen Regentropfen sich ansah und immer und immer wieder telefonierte.

Seine Miene wurde mit jedem Anruf finsterer.

„Hören Sie bitte alle mal her!“, schrie er in das Getümmel, dass sich in der Eingangshalle der Lodge entwickelt hatte. „Wir werden nicht weiterreisen können, jedenfalls nicht zu unserem heutigen Ziel. Die Straße dorthin wurde unterspült...“

Unruhiges Gemurmel machte sich breit.

„Josh“, sagte meine Grandma, die mit ihrer nassen Dauerwelle wirklich sehr komisch aussah... jedenfalls unter normalen Umständen. „Wo hast du den Rest deiner Familie gelassen?“

Joshua blickte sie an, mit einer Angst in seinem Gesicht, die ich noch nie gesehen hatte.

„Ich weiß es nicht!“, sagte er leise.

„.... ich werde jetzt nochmal durchzählen, ob alle von uns auch da sind!.... Schleier?

„ja, hier alle beide da!“

„Familie Gruner?“

„Ja“

So ging es weiter.

„Neubauer?“

„Neubauers fehlen!“, übernahm meine Grandma Joshuas Antwort. „Und wir sollten sie schnellsten finden!“

Damit war der Reiseguru überfordert. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie er die Möglichkeiten im Kopf durchspielte, was alles passieren könnte.

„Und was machen wir jetzt?“

Allgemeines, viel zu lautes Gemurmel entstand.

Meine gute, alte Oma schien ihre letzten Kräfte zu mobilisieren und schrie in die Runde mit der unmissverständlichen Aufforderung um sofortige Ruhe.

Einige sahen sie geschockt, andere fast gedemütigt an. Doch im Allgemeinen wurde genickt.

„Organisieren sie die Ranger!“, sagt sie.

„Ranger, ja, jaja, ... Ranger...“, gab unser geistiger Vortänzer zum Besten. Es hätte nur noch gefehlt, dass er uns gefragt hätte, wo er die denn finden würde.

Joshua hatte sich zurückgezogen, auf eine Bank gesetzt. Ich strich ihm beruhigend über den Rücken. Er sah mich aus geröteten Augen an. Anscheinend fiel es ihm schwer, die Tränen zurückzuhalten. Vorsichtig nahm ich ihn in den Arm. Er kuschelte sich an und flüsterte mir ein schwaches „Danke“ ins Ohr.

Meine Oma hatte eindeutig die Gesprächsleitung an sich gerissen. Doch plötzlich wurde eine Frage laut, die sie so unerhört wie unpassend und ein gewaltiges Maß an egoistisch empfand, dass es ihr einfach die Sprache verschlug.

„Und was ist mit uns!“, fragte ein Mann, vielleicht Mitte dreißig. „Wenn wir nicht in´s Hotel heute nacht kommen, wo schlafen wir dann?“

Meine Grandma hatte echt Probleme, nicht einem Anfall zu erliegen und über diesen Mann herzufallen.

„Wir kümmern uns erstmal um Familie Neubauer!“, sagte sie und zu unserm Reiseleiter, den sie mit fast bösen Blicken taxierte meinte sie, dass er sich doch möglichst um Zimmer bemühen sollte.

„Zimmer, hier? Aber das zahlt Los Angeles nicht“, sagte er. Wenn er von LA sprach, meinte er immer die Vertretung seiner Firma dort.

„Das zahlen ja auch wir. Wie den Rest der Reise!“, kam das Gegenargument aus der Menge.

Unser Reiseguru, der endlich über sich und über das Gespräch wieder die Kontrolle hatte, berichtete: „Die Ranger sind bereits los, und LA hat auf die 3. Anforderung von mir, uns hier ein Hotel gebucht. Allerdings...“, er zeigte nach draußen in den Regen, „...müssen wir dahin noch fast fünf Minuten gehen. Die Straße, an der es liegt, ist zu klein für unseren Bus.“

Ein unwilliges Gemurmel ging durch die Menge. Ich starrte in den Regen, streichelte Joshua immer noch den Rücken.

Die Tropfen liefen mir die Brauen herunter, rannen mir in die Augen und brannten dort. Ich blinzelte. Joshua ging neben mir. Ich hatte ihm meine Regenjacke gegeben, die ich noch in meiner Reisetasche im Bus gehabt hatte. Ich war durch. Alles an mir war nass. Aber das war mir egal. Für mich gibt es einen Punkt, wo mir auch sowas egal ist. Joshua hielt krampfhaft seine Tasche und die seines Bruders fest, während ich mich mit denen seiner Eltern abkämpfte. Großzügig, wie er war, hatte meine Vater sich meine Tasche geholt.

Die Regenschauer waren so stark, dass man keine zehn Meter gucken konnte. Unsere Gruppe blieb dicht zusammen und wir hatten hinter uns jemanden, der uns immer wieder antrieb.

Ich fühlte, wie die großen Tropfen auf den Stoff meiner Hose tropften, ihn durchschlug, als wäre er nicht vorhanden. Ich watete durch knöchelhohe Pfützen, die sich in einigen Straßenunebenheiten gebildet hatten.

Von Joshuas Nase tropfte es. Er holte tief Luft.

Im matten Schimmer der Neonröhren konnte ich bereits unser Hotel erkennen. Ein riesengroßes Schild. Mehr konnte ich nicht erkennen.

Ich weiß nicht woher, aber unser Reiseleiter hatte sich eine Taschenlampe organisiert und leuchtete damit erstmal jedem ins Gesicht, als wir uns versammelten. Dann verteilte er die Code-Cards für die Zimmer.

„Meine Damen und Herren, leider konnte ich Ihnen keine Zimmer organisieren. Das Hauptgeäude ist voll. Sie werde diese Nacht gezwungenermaßen in den kleinen Lodges, in den Holzhütten, die sie da sehen, verbringen.“ Er begann, die Schlüssel zu verteilen, rief die Namen auf. Dann sah er Joshua an, kam auf ihn zu. Leicht berührte er ihn mit der Hand an der Schulter.

„Sie werden deine Eltern schon finden!“, sagte er und hatte plötzlich etwas, wie von einem festen Glauben stammendes, in der Stimme.

Tapfer nickte mein Süßer.

Ich legte ihm einen Arm um die Schulter, nahm mir noch eine Tasche von ihm, was er versuchte zu verhindern, und schleifte sie über das aufgelöste Kiesbett Richtung Lodge. Wie ein geschlagener Hund kam er hinter mir hergetrottet. Dreimal schob er die Codecard in das Schloß, ehe die Tür aufsprang.

Unglücklich sah er sich in dem Haus um. Zwei Doppelbetten, eine kleine Küchenzeile mit Kaffeemaschine, einer Herdplatte und einem kleinen Kühlschrank. Links dahinter das Bad mit Dusche.

Er warf seinen Koffer in die Ecke, tropfte den Teppichboden nass und ließ sich aufs Bett fallen. Ich zog die Koffer ins Haus aus dem Regen. Wo ich eben noch stand, hatte sich eine Pfütze gebildet.

„Du, Josh, komm mal her!“, sagte ich leise und vergaß völlig, dass ich noch immer nasse Sachen anhatte.

Er stand vor mir und ich musste mit ansehen, wie er krampfhaft versuchte, seine Tränen zurückzuhalten. Ich fasste ihn an den Händen und zog ihn an mich, umarmte ihn sanft und schenkte ihm meine Wärme. Er klammerte sich an mich und hielt mich fest als wollte er mich nie wieder loslassen. Wärme fühlte ich auf meiner Schulter, als seine Tränen durch mein Shirt gelaufen waren.

„Hey Kleiner“, flüsterte ich ihm leise zu.

Von ihm kam nur ein Gebrummel, er wollte diese Umarmung nicht unterbrechen. Vorsichtig schob ich ihn ein Stückchen von mir weg.

„Joshua, du musst dir was Trockenes anziehen!“, sagte ich ruhig aber bestimmt. Er sah mich an, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und drückte meine Hand.

„Ich bin froh, dass du da bist!“

Dann zog er sich aus. Direkt vor meinen Augen. Er streifte sich die nasse Regenjacke ab, die sein Hemd trocken gehalten hatte, zog sich seine Schuhe, Hose und Socken aus. Nun stand er da vor mir, nur in Boxer, die auch einiges abbekommen hatten. Ich stand da wie angewurzelt, musterte ihn und konnte meinen Blick nicht von seinem Gesicht lösen, aus Angst, er würde mich lüstern finden. Weil genau das wäre es für mich gewesen. Diese Situation jetzt auszunutzen, ihn so zu verletzen. Ihn überhaupt zu verletzen, davor fürchtete ich mich.

Aber er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er es bemerkte.

Ich bemerkte erst, dass er nicht mehr vor mir stand, als ich das Plätschern der Dusche hörte. Erschöpft ließ ich mich auf das Bett fallen, wo eben noch Joshua gelegen hatte. Übermüdet kämpfte ich mich aus meinen Klamotten, die an meinem Körper klebten. Endlich hatte ich nasse Jeans und Co. gegen einen trockenen Bademantel getauscht und blickte mir jetzt das Chaos hier an.

Das eine Bett war völlig nass. In einer Ecke türmte sich ein Stapel nasser Klamotten. Die Spuren waren auf dem Teppich zu sehen. Vorsichtig spähte ich in die Taschen rein. Natürlich. Meine Vorahnung hatte sich bestätigt. Die Taschen waren durch und durch nass und die Klamotten waren auch nicht viel besser dran.

Ich hatte es geschafft, nachdem ich beinahe daran verzweifelt wäre, die Heizung anzuschalten. Gleichzeitig gelang es mir nicht, die Klimaanlage runterzudrosseln. Ich legte Joshuas und meine Sachen darüber. Der Rest musste lufttrocknen.

Dann fiel mein Blick auf die Kaffeekanne. Direkt daneben standen mehrere Tüten Kaffee. Ich öffnete eine, steckte sie in die Maschine. Wenigstens Kaffeemaschinen waren überall gleich.

Ich blickte auf die Uhr. So langsam wollte ich auch unter die Dusche. Ich duschte zwar auch lange, aber Joshuas halbe Stunde war echt zuviel. Ich klopfte an die Badezimmertür. Keine Antwort. Ohne lange zu zögern machte ich die Tür auf. Mir kam ein Schwall Wasserdampf entgegen, der mich einen Schritt zurücktaumeln ließ. Ich kämpfte mich durch diesen Nebel zur Duschkabine durch.

Da sah ich etwas, was mir das Herz brach.

Joshua saß auf dem Boden der Kabine und weinte. Kochendes Wasser rann ihm über den Körper. Seine Schultern und sein Nacken hatten bereits ein unnatürliches Rot angenommen.

Ich war nicht im Stande irgendwas zu sagen. Ich griff in die Dusche, und hätte wohl sonst aufgeschrien, unter dem heißen Wasserstrahl. Aber ich zuckte nichtmal, machte das Wasser einfach aus. Ich griff Joshua unter die Arme, hob ihn hoch und trug ihn ins Wohnzimmer. Dort legte ich ihn aufs Bett. Er sah mich an, weinte. Mein Schatz zog die Beine an, schlang seine Arme rum.

„Steff, bitte bleib bei mir!“, sagte er leise und streckte wie ein Ertrinkender den Arm aus. Sanft griff ich seine Hand, verschränkte unsere Finger miteinander.

Er zog mich aufs Bett. Da saß er nun nackt neben mir. Er war wunderschön. Diese schwarzen, glänzenden Haare und die tiefen, dunkelbraunen Augen, die leicht gebräunte Haut. Und doch wirkte er so verletzlich. Er wühlte in seinem Bett rum, legte sich dann auf die Seite, zog mich mit. Vorsichtig, ohne ihn zu stören, wickelte ich mich aus dem Bademantel und legte mich neben ihn, allerdings auf die Decke.

„Komm her, bitte!“, flüsterte er und hob die Decke hoch, sodass ich mich dazu legen konnte.

Er schmiegte sich mit seinem Rücken an meine Brust. Griff nach hinten, holte sich meinen rechen Arm und verschränkte unser Finger, zog ihn sich dann an den Bauch.

„Ich liebe dich!“, flüsterte er leise.

Mir liefen die Tränen aus den Augen und ich konnte nicht mehr sprechen. Ich drückte ihn einfach nur fest an mich.

Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen war, aber als ich aufwachte hatte ich einen tierischen Kater. Der Geruch von Kaffee zog durch den kleinen Wohnraum. In meinen Armen befand sich nun die Überdecke. Dieses 3-Decken-Bett der Amerikaner und Briten werde ich wohl nie verstehen. Müde drehte ich mich um, wollte wissen wo sich mein Süßer befand.

Irgendwas landete auf dem Bett, sodass die Matratze wie wild sprang.

„Guten Morgen!“, lachte Joshua mir entgegen, und eh ich was antworten konnte, bekam ich einen Guten-Morgen-Kuss. Ich strahlte.

„Kaffee?“, fragte er, kaum, dass er mich losgelassen hatte.

Ich sah ihn an. „Noch einen Kuss?“, gab ich die Gegenfrage.

Er lachte und legte sich halb über mich ins Bett, tippte mir sanft auf die Brust.

„Sie haben meine Eltern und meinen Bruder wiedergefunden!“, sagte er und pustete mir ins Gesicht.

Ich legte meine Arme um ihn.

„Das freut mich! Wo sind sie denn?“

„Die Parkranger bringen sie in das nächste Hotel in Las Vegas!“, sagte er.

Ich blickte mich um, setze den entrüsteten Gesichtsausdruck auf, den ich hatte und fragte: „Heißt das, ich muss die ganzen Sachen auch noch wieder zurückschleppen.“

Ich bekam als Antwort einen Klapps auf den Schenkel.

„Du bist unmöglich!“, murmelte er, „Deshalb lieb´ ich dich so!“

Ich zog ihn noch enger an mich und küsste seine schwarzen, gläzenden Haare.

„Du riechst gut!“, nuschelte ich in seine Haare.

„Das ist das billige Hotelshampoo!“, antwortete er grinsend.

Langsam erhob er sich wieder von mir, setzte sich auf die Bettkante. Wie von Zauberhand hatte er den Kaffee von vorhin wieder in der Hand. Ich robbte hinter ihn ran, was bei diesem Bett überaus geräuschvoll von statten ging. Er spielte mit.

Sanft umarmte ich ihn von hinten und stellte fest, dass er nur eine Boxer anhatte. So, als hätte er gewusst, dass ich da war, ließ er sich nach hinten fallen, in meine Arme.

Das war wunderschön. Er lag in meinen Armen und ich hielt ihn fest. Meine Hände hatte ich um seinen Bauch geschlungen und er legte seinen freien Arm auf meine Beine. Sein warmer Rücken lehnte an meiner Brust und ich konnte sogar fühlen, wie er atmete.

Der köstliche Geruch von Kaffee stieg mir wieder in die Nase. Er lehnte sich noch ein Stückchen weiter zurück. Ich beugte mich nach vorne und versuchte, ihm zu bedeuten, mir die Tasse zu geben. Immer wieder zog er sie im letzten Moment vor meinen Lippen weg. Ich begann, seinen Nacken zu küssen mit sanften, zarten und vorsichtigen Küssen, die nur flüchtig seine wunderschöne Haut berührten. Genießerisch lehnte er sich zurück. Ich legte ihm meine Hand auf die Brust, strich sanft darüber...

...und mopste mir mit der anderen die Kaffeetasse.

Er lachte kurz auf, drehte seinen Kopf und plötzlich hatte ich seine Lippen auf meinen. Ich vergaß alles um mich herum. Nur noch er existierte für mich. Von seinen Lippen gingen die Funken aus, die mich elektrisierten. Ich strich ihm über die Wange und rieb meine Lippen ganz sanft an seinen. Die Zeit schien still zu stehen, als er ganz vorsichtig die Lippen öffnete und seine Zunge auf Entdeckungsreise schickte. Unsere Zunge stießen aneinander. Innig küssten wir uns. Vielleicht eine Minute, vielleicht eine Ewigkeit lang.

Frühstück gab es. Nasse Bananen, nassen Karotten und nasses Brot. Er servierte es und noch nie hatte mir etwas so gut geschmeckt.

Kaum hatte ich mich angezogen mit den trockenen Sachen von gestern, stand er schon in der Tür. Warmes Sonnenlicht schien in die Hütte. Seine Silhouette erinnerte an die eines Engel, wie von einer Korona umgeben stand er da.

Ich ging langsam auf ihn zu, legte meinen Kopf auf seine Schulter und blickte über den weiten Parkplatz. Noch nie hatte ich etwas schöneres gesehen. Ein paar Nebelfetzen wanderten über die Hügel am Stadtrand. Verwundert sah ich mir das Schauspiel an.

„Nicht wundern, Steff, es ist halb acht!“, sagte er und fuhr mir durchs Haar.

Ich wunderte mich aber genau deswegen trotzdem. Nie stand ich freiwillig so früh auf und nach einer Unwetteraktion wie in der letzten Nacht eh nicht.

Freudestrahlend kam etwas auf uns zugehüpft.

„Moooooooooooooorgen!“, schrie meine Schwester über den ganzen Parkplatz und winkte.

Außer Atem und keuchend hielt sie bei uns an.

„Hunger?“, fragte sie in ihrer knappen Art. „Mama sagt, ihr sollt zum Frühstücken rüberkommen!“

Eh ich was erwidern konnte, hatte Joshua schon geantwortet.

„Moment, wir sind gleich drüben. Und setzt für deinen Bruder schon mal eine Kanne Kaffee auf. Meinen hat er bereits geleert.“

Für den letzten Satz boxte ich ihm leicht in die Rippe.

„Guten Morgen Joshua!“, begrüßte meine Mum meinen Süßen.

„Guten Morgen!“, antwortete er und lächelte sein strahlendstes Lächeln in die Runde.

„Wie geht es deinen Eltern?“

Meine Oma schaltete sich ein, die Antwort auf die Frage nicht abwartend. „Ich hab mir richtig Sorgen um sie gemacht. Und um dich auch – wie geht’s dir?“

„Danke, gut!“, sagte er knapp und warf mir einen fragenden Blick rüber.

Ein „Nein, sie wissen nichts“ sandte ich ihm mit einem kaum merklichen Kopfschütteln rüber.

„Ich war ja froh, dass du nicht alleine warst!“, textete Oma den armen, kleinen Joshua weiter zu.

Er nickte nur.

Mein Dad hatte wohl anscheinend das Bedürfnis, irgendwen mit dem Brotkorb zu bewerfen und so landeten Krümeln des widerlichen Pappbrotes auf meinem Schoß. Grummelnd wischte ich sie runter.

„So was machst du auch nur dann, wenn wir Besuch haben, oder?!“, lachte meine Mum.

Mein Dad grinste über beide Ohren Joshua an. „Nein, so was mach ich nur, um unserem Gast zu zeigen, dass es noch viel chaotischere Familien gibt als seine!“

Ich fing an zu schwitzen... Vielleicht sollte mein Dad das Wort „chaotisch“ gegen „konservativ“ tauschen.

„Ach!“, Joshua lachte mich an, „Gegen meine Familie sind sie echt harmlos!“

Kaum hatte er das ausgesprochen, sah meine Oma auf die Uhr, verschluckte sich an ihrem Papp-Brot und begann in einem wilden Hustenanfall, uns irgend etwas mitteilen zu wollen.

„Bitte?“

„Hä?“

„Was meinst du?“

So und ähnlich fragte meine Familie nach, obwohl eigentlich niemand auch nur erahnen konnte oder wollte, was sie meinte.

Wie wild schlug sie auf ihre Uhr, immer noch wie ein Reiher dabei, ihr Brot runter zu würgen. Endlich fand sie ihre Sprache wieder.

„Los, verflucht, Kinners, wir müssen los, unser Bus fährt in einer Viertelstunde!“, hetzte sie.

Ein Gestöhn ging durch den Raum und meine Schwester, ebenfalls krampfhaft damit bemüht, ihr Brot zu essen, verdrehte die Augen.

„Vielleicht sollten wir zweimal gehen, bei den vielen Koffern?!“, meinte ich zu Joshua, um ihn aus dieser Situation zu befreien.

„Ja, du könntest Recht haben. Also... Danke vielmals und bis gleich!“, verabschiedete er sich von meiner Familie.

„Deine Familie ist nett.“, stellte er fest.

Ich konnte mir gerade noch so eben eine Antwort verkneifen. „Irre“ und „diskriminierend“ träfe es wohl eher.

Wir hatten unsere Sachen in den Bus gewuchtet und wider Erwarten waren alle da. Meine Familie hatte es sogar geschafft, mit als eine der ersten da zu sein.

Ich bat Joshua, sich neben mich zu setzen.

„Aber gerne, der Herr!“, antwortete er grinsend förmlich und warf sich auf den Sitz.

„...naja, und damals, als Nadine noch nicht in Hamburg war, war es halt alles um einiges einfacher. Vielleicht auch ein wenig ruhiger in der Schule, denn nicht jeder musste sich Nadines Meinung anhören. Und dann hab ich ihr die Meinung gegeigt und seit dem guckt sie mich nicht mehr an. Und ehrlich gesagt, kann ich darauf auch gut verzichten!“, beendete ich meinen Bericht von den chaotischen Vorfällen, in die ich als Klassenpsychiater und –beziehungsberater andauernd hineingezogen wurde.

„Du...?“, flüsterte er, formte seine Finger zu einem Trichter und hielt sie mir ans Ohr. Ich rutschte ein Stück näher an ihn ran.

„Du bist süß!“

Ich war mir sicher, dass jeder im Bus sehen konnte, wie rot mein Kopf wurde. Er lachte. Der fiese Kerl lachte mich aus.

„Ich revanchiere mich!“, grummelte ich. „Ach, und außerdem... du auch!“

„Ich weiß!“, kam die dreiste Antwort von dem anderen Sitz.

Die Revanche war, dass, als er eingeschlafen war, ich seinen Kopf an meine Schulter bettete.

Leise giggelnd las ich das Buch „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“. Ich kann zuhören. Wie das mit dem Einparken aussieht, weiß ich nicht. Die logische Schlussfolgerung aus diesem Titel finde ich auch höchst fragwürdig: Haben Lesben ohne Führerschein wirklich die besten Beziehungen? Ich stöberte weiter darin, fand den Vergleich von Herden mit Männer und Frauen beim Sex. Doch dann musste ich rausgucken. Unsere Autobahn wurde sechsspurig, verzweigte sic und von einem der höheren Highways, auf denen wir kurvten, konnte ich den Dschungel von Las Vegas sehen. Ich freute mich. Darauf hatte ich mich ganz besonders gefreut als wir diese Reise angetreten hatten. Die Städte. Die Großstädte. Ich bin wohl eindeutig ein Stadtmensch. Und zwar ein Großstadtmensch, da mir sogar größere Städte wie Salt Lake City zu klein sind.

Er hingegen war ein Naturmensch. Nicht jetzt so einer, der sich nur einmal im Monat rasierte, da er gerade an seinem Lieblingsviertausender einen Stein gefunden hatte, der scharf genug war. Ich würde es nicht wagen, mich als Naturmensch zu beschreiben. Ich liebte Hamburg und ich liebte auch meine eigentliche Heimat Friesland. Klar, es scheint Touristen nicht besonders anzuziehen, wenn Nebelschwaden über den Deich wabern und kurz vor einem Sturm der Wind bereits ziemlich heftig weht. Ich fand es toll. Ich setzte mich jedesmal, wenn ich konnte in den schon leicht feuchten Sand und ließ die Welt machen, was sie mit mir wollte. Wenn der Wind mit meinen Haaren spielen wollte, dann ließ ich ihn gewähren. Für mich war dies ein Ort der Einsamkeit, aber nicht im negativen Sinne. Ich liebte die Stille, die doch auch gleichzeitig das ständige Rauschen des Meeres zusammen mit dem Möwengeschrei war. Ich liebte den Kontrast der Farben, wenn die Sonne durch die Wolkendecke brach und den Nebel erleuchtete. Und ich liebte Joshua.

Ich nahm wieder einmal ganz intensiv war, wie einsam ich doch gewesen war vor dieser Reise. Und ich hatte Angst, dass die Zeit tun würde, was sie so oft tat – dass sie uns wieder trennen würde.

Er war wach. Mit einem Mal war er wieder wach. Keine Sekunde zu früh, denn ich hätte ihn fast geweckt.

Las Vegas Sunset Boulevard.

Sowas durfte man einfach nicht verpassen.

Noch gab es jede Menge zu sehen, aber dieses wahnsinnige Lichtermeer, das die Stadt bei Nacht ausfüllte, war noch nicht zu erkennen.

Circus Circus, unser Hotel lag am Strip, aber bereits in dem älteren Teil von Las Vegas.

Unser Reiseguru stand auf.

„Der fakultative Ausflug findet wie geplant um halb neun statt. Wir treffen uns an der Stelle, wo unser Fahrer uns rauslässt. Achten sie alle darauf, dass sie möglichst, wenn überhaupt nur Kleingeld mitnehmen.“, sagte er ins Mikro.

Dann kam unser geistiger Vortänzer zu Joshua und mir.

„Joshua, deine Eltern sind wohl bereits auf ihrem Zimmer oben. Ich werde dir jemanden von den Pagen schicken, damit er dir bei den Koffern hilft“, meinte er freundlich.

Doch Joshua lehnte ab. „Danke nein...“, er sah mich an, „Steff hilft mir schon. Nochmals Danke!“

„Okay, dann so!“, grummelte unser Reiseleiter. Ich war mir sicher, dass er sich gerade nachträglich gefragt hatte, was denn ein Page kosten würde.

Der Bus rangierte in einer, naja, man könnte es schon fast Eingangshalle nennen. Der untere Parkhaus-Eingang war mit Kronleuchtern und diesem hässlichen Pink verziert, das überall in dem Hotel seine Widerwärtigkeit präsentierte. Ich fand einfach keinen Gefallen an dieser Farbe.

Einen Meter vor rollte der Bus, dann einen zurück, dann wieder einen vor. Ein aufgeregter Einweiser hüpfte um uns herum und Joshua schien sehr viel Freude an ihm zu haben, denn er kam aus dem Lachen gar nicht wieder raus.

Mr. Reiseguru war wieder zurück und wedelte fröhlich mit den Keycards für die Zimmer. Außerdem hatte er für jeden eine kleine Karte des Hotels dabei, wo alle drei Hoteltower eingezeichnet waren, die internen Casinos erklärt wurden und der Adventure-Dome, ein kuppelförmiger Anbau an das Hotel, der aussah wie ein Zirkuszelt, eingezeichnet waren.

„Bitte nimmt sich jeder ein Exemplar, ich lasse sie jetzt durchreichen!“, dröhnte er ins Mikro und begann dann mit der Anwesenheitskontrolle.

„Niehaus?“

„Hier!“

„Stadtschneider?“

„Joah“, gab meine Schwester zurück. Sie war so tierisch müde, dass ihr die Karte, die unser Reiseguru ihr gab, zweimal runterwarf.

„Neubauer?“

Joshua meldete sich.

Drei Karten kamen bei ihm an. Komisch, normalerweise gab es immer Doppelzimmer. Sollte das in einem so großen Hotel anders sein?

„Äh, ich habe drei Karten bekommen!“, meldete sich mein Süßer zu Wort.

„Ja, das ist ein kleiner Entschuldigungsversuch von BTA für die Unannehmlichkeiten, die deine Familie hatte. Ein weiteres Zimmer, falls sich jemand von euch mal zurückziehen möchte!“

Joshua nickte und obwohl ich ihn nur kurz kannte - und doch war er mir näher, als jeder Menschen vor ihm - war mir sofort klar, dass der Kleine sich etwas ausdachte.

„Ich bring noch schnell die Sachen mit Joshua zusammen hoch!“, sagte ich beim Aussteigen zu meinem Vater.

Er nickte und warf mir eine Keycard rüber, die ich ungeschickt aber immerhin, fing.

Im Fahrstuhl in den 23. Stock quetschten wir uns mit mehreren Chinesen. Allesamt hatten sie Kameras um und anscheinend brauchte jedes dieser kodakfressenden Dinger den gleichen Platz wie unsere Taschen auch.

Wir wurden sogar noch freundlicherweise auf dem 23. Stock von der asiatischen Touristengruppe aus dem Fahrstuhl geschoben.

Mit vier Taschen beladen und unter tierischer Anstrengung schaffte es Joshua, die Keycard in das Schloss zu quetschen.

Die Anzeige wechselte von rot nach grün. Mühsam drückten wir die Tür auf.

Stille, in dem Raum herrschte Stille. Absolut niemand sagte etwas.

Joshuas kleiner Bruder saß vor dem Fernseher und guckte sich im Discovery-Channel irgendwas über Bergkatzen an. Seine Mutter saß an dem kleinen Beistelltisch und schrieb etwas auf ein schönes, sauberes und vor allem faltenfreies Blatt Papier.

Sein Vater war nirgends zu sehen, aber ich hörte, wie heißes Wasser im Bad rauschte.

Geräuschvoll stellte Joshua die zwei Taschen ab, die er trug.

„Josh!“, kam es aus beiden Mündern gleichzeitig.

Ich kann jetzt nicht mehr sagen, wer zuerst bei ihm war und ihn umarmte – seine Mutter oder sein kleiner Bruder!?

Auf jeden Fall kam noch ein großer Mann im Bademantel hinzu und umarmte alle drei.

Ich lächelte. Seine Familie liebte ihn wirklich. Hoffentlich war sie auch bereit, ihn zu akzeptieren.

Ich schleifte die restlichen Koffer in das Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Musste ja schließlich nicht jeder sehen.

Ich guckte noch ein wenig zu, dann kam plötzlich sein Bruder auf mich zu. Anscheinend hatte seine Mutter ihn angestoßen.

„Möchtest du was trinken?“, fragte er freundlich.

Ich lächelte ihn an. „Nein, danke.“

„Nix ist!“, sagte Joshuas Vater und kam auf mich zu, legte mir den Arm um die Schulter und zog mich her. Ich sah ihn an, leicht fragend.

„So, jetzt feiern wir mal kurz unser Wiedersehen... Joshua, kannst´e mal kurz das Bier rüberbringen?“

Joshua sah seinen Vater an und er hatte diesen komisch Ausdruck in den Augen, den ich des öfteren hatte, wenn wir Besuch hatten: Dad, blamier´ mich bitte nicht!

Wie aus dem imaginären Zylinder hatte Joshuas Mum ein paar Styroporbecher organisiert. Zwei Budweiser-Flaschen... waren irgendwie klein, stellte ich fest. Und bei knapp 40°C wurden sie noch kleiner.

Ich nahm einen Schluck von meinem Bier und stellte fest, Astra schmeckt besser.

Eine kräftige Hand schlug mir auf die Schulter.

„Wie sieht es aus?“, fragte mich Joshuas Vater, „Kommst du nachher mit auf diese Nachtfahrt über den Strips?“

Ich blickte ihn an.

//Achja, die fakultativen Ausflüge... hatte ich ja ganz vergessen!//

„Ja, eigentlich schon!“

Joshua hatte sich auf ein Bett gesetzt und schenkte mir noch etwas ein. „Wieso?“

Sein Vater blickte zu seiner Mutter.

„Dein Bruder ist todmüde und wir wollten nochmal kurz runter zum Spielen auf den kleinen Schock von gestern. Aber wir wollten dir nicht deinen heiß herbeigesehnten Ausflug deswegen wegnehmen.“

„Aber wir wollten dich auch nicht alleine in die glitzernde Welt der Shows rauslassen.“, nahm seine Mum den Faden wieder auf.

„Achso!“, sagte ich und blickte ihn lächelnd an. „Das ist kein Problem! Dann darf ich mich also verabschieden!“

Ich stellte mein Glas in die Spüle und war bereits aus der Tür. Die Tür fiel ins Schloss.

Jemand stand hinter mir.

Joshua. Ich konnte ihn spüren, ihn erkennen.

„Hey!“, flüsterte er.

„Hey!“, antwortete ich.

„Sag mal!“, raunte er, „magst du Überraschungen?“

Ich stupste mit meiner Nase seine an. „Ja“

Er lächelte mich an und langsam wollte er mich an die gegenüberliegende Wand drücken und mich küssen. Nicht mehr als wenige Zentimeter trennten unsere Lippen von einander.

Ich legte ihm einen Finger über seine Lippen.

„Magst du denn auch Überraschungen?“, fragte ich, leise flüsternd.

„Ja!“

„Dann begleite mich über den Strip“

Er lächelte fast ein wenig dreckig.

„Halt mir einen Platz an deiner Seite im Bus frei!“, nuschelte er und nun nahm ich meine Finger weg, und küsste ihn sanft.

„Der Platz an meiner Seite ist dir sicher!“

Er lächelte mir nochmal zu, als er in dem Zimmer verschwand.

„Wir lassen Vicky hier, die schläft drüben in dem anderen Zimmer!“, sagte meine Mum, als ich ihnen auf dem Flur entgegen kam und fragte, wo denn meine Schwester sei.

„Aha... naja, gut... okay!“

//Was sollte ich dazu auch groß sagen?//

Ich stellte mich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser an meinen Körper runterplätschern. Ich hatte nie geglaubt, dass ich einmal in der Wüste Nevadas stehen würde und mich über heißes Wasser freuen würde.

Mein Körper war verspannt, meine Schultern taten weh. Der heiße Regen brachte nichts. Immer und immer wieder drifteten meine Gedanken zu Josh ab. Es war wie in einem Traum. Und gleich darauf drifteten meine Gedanken weg von diesem wunderschönen, bezaubernden Lächeln. Sie sagten mir: Hey, eure Zeit ist abgelaufen.

Wie schnell aus diesem Traum ein Albtraum wurde, wollte ich gar nicht wissen. Ich wollte heute Abend nicht ins Bett, wollte mich nicht in Morpheus Arme begeben, denn ich hatte Angst. Ich hatte Angst vor der Welt, die sich dreht. Meine Welt stand still, wenn Joshua in meiner Nähe war. Die Zeit stand still. Nur wir beide existierten für uns. Wir beide existierten füreinander.

Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass wir nur noch vier Tage für uns hatten. Nur noch vier Tage, in denen Joshua bei mir war. Nur noch vier Tage, in denen meine Welt existierte. Ich stütze mich an die Kabinenwand und langsam ließ ich mich zu Boden gleiten. Dampf stieg in der Kabine auf.

Ich stieg zaghaft aus der Dusche. Das Handtuchumwickeln vergaß ich einfach. Die Dämmerung legte sich bereits über die Wüstenstadt und langsam erwachte das so berühmte, glitzernde Lichtermeer zum Leben. Aus dem 24. Stock hatte ich eine großartige Aussicht auf die ganze Stadt. Der Strip war nun eine fast taghell erleuchtete Straße mit mehr Verkehr als so manch eine Straße bei uns in der Innenstadt zur Rush Hour. Die Ampeln wurden rot, Füßgänger betraten die Straße und verließen sie wieder. Und dann wurde die Ampel wieder grün und die Autos fuhren weiter. Wer von den Autofahrern hatte die Leute überhaupt wahrgenommen. Da waren gerade sieben Menschen in das Leben eines einzelnen gekommen, und Sekunden später, da war ich mir sicher, konnte sich Niemand mehr an sie erinnern.

Ich sehnte mich nach Joshua.

Ich würde ihn nicht vergessen.

Gehetzt kam ich zum Bus gerannt. Circus Circus erstrahlte in einem unnatürlichen rosa/pink-Mischmasch, der sich aber hervorragend dem Rest der leuchten Nevada-Metropole anpasste. Die Spielerhölle der Staaten hatte die strahlende Schönheit, die ich nie vergessen werde. Auch werde ich nie vergessen, nicht in die dunklen Seitenstraßen zu gucken.

„Zur Rechten sehen sie das Hotel LUXOR. Es ist eine riesige Glaspyramide aus schwarzem Glas. Wie sie sehen, wird aus der Spitze der Pyramide der Himmel erhellt. Lassen sie es mich so sagen. Der Staudamm am Glen Canyon dient eigentlich mehr oder weniger nur dem Zweck, elektronische Spielereien wie diese hier möglich zu machen...“, redete unser Reiseguru auf uns ein.

Zu meiner Rechte blickte ich Joshua an, der staunend wie ein kleines Kind aus dem Fenster blickte. Manchmal klopfte er mir auf die Schenkel, um dann aufgeregt nach draußen zu deuten und „Guck mal da... oder DA!“ zu rufen.

Ich liebte seine Art einfach. Für manche wird das wohl merkwürdig klingen, aber ich mag es, wenn Menschen sich wirklich für etwas faszinieren können.

„... So, meinen Damen und Herren. Willkommen am TI, am Treasure Island. Dieses so berühmte Hotel ist nun inzwischen eines von den älteren, aber es bietet immer noch eine tolle Show.“

Anstatt uns mit der Show überraschen zu lassen, redete er gleich weiter. „Bei der Show, die mit jeder Menge Pyrotechnik vollgestopft ist, wird ein Piratenschiff versenkt.“

//Noch viel spannender kann man es echt nicht formulieren.//

Resigniert schüttelte ich den Kopf.

//Schiffe versenken im Maßstab Eins zu Eins... Irgendwie sind die Amerikaner komisch!//

„So, der Fahrer wird jetzt halten und wir müssen nun auch alle hier raus. Die Show beginnt um neun, die nächste ist erst um zehn wieder.“, scheuchte unser Vortänzer uns aus dem Bus.

Ich grinste. Ich grinste sogar extrem als ich den verwirrten Blick von Joshua sah, als er mitbekam, dass ein Haufen von Meeresnixen „seine“ Piraten anmachte. Das silberne Schiff schwankte leicht, als die Nixenkönigin einen dunkelhäutigen Piraten ins Wasser stieß. Mit einem doppelten Salto landete er im Wasser.

Ich klatschte.

„Schade!“, sagte er, „dabei sah der eine doch richtig süß aus!“

Dabei grinste er mich dreist an, wohl wissend, dass er mich damit fast ein wenig eifersüchtig machte.

Ich zog ihn zu mir ran, drückte ihn an meine Brust.

Dann sah ich mich noch einmal prüfend um. Alles war dunkel. Sogar die Straßenlaternen in Form von Dalben hatte man extra ausgeschaltet, damit die Feuerwerke noch besser zu erkennen waren. Nur die beiden Schiffe waren erleuchtet, auf denen sich jetzt ein pyrotechnischer Kampf abspielte.

Mit einem wehmütigen Schrei des Kapitäns sank sein Schiff in die unendlichen Tiefen des Showbeckens vor dem Treasure Island.

„Also irgendwie sind die Amis ein komisches Volk. Soviel Kitsch auf einem Haufen bekommen auch nur die hin!“, murmelte ich ihm ins Ohr.

Er nickte.

Eine aufgeregte, rote Mütze versuchte in Mitten einer nun langsam von den Scheinwerfern wieder erleuchteten Menge auf sich aufmerksam zu machen.

„Kommen sie endlich. Wir haben diesen Abend noch viel vor.“, schrie unser Reiseleiter.

Es herrschte absolute Dunkelheit, nichts sah man. Nur der sandfarbene Ceasars Palace war erleuchtet. Der ganze Straßenabschnitt war dunkel.

Joshua stand vor mir und ich hatte ihm meine Hände vor die Augen gelegt. Er kuschelte sich leicht bei mir an und versuchte doch immer wieder, meine Hände wegzuschieben.

„Nun sag endlich...!“, hetzte er.

„Nehehein“, antwortete ich fies grinsend.

„Ich mag aber keine Überraschungen!“, lachte er.

„Die wirst du mögen. Denn ich liebe sie!“, antwortete ich.

Wir beide blickten auf einen künstlichen, riesengroßen und nun dunklen See links neben Ceasars Palace. Nur der sandsteinimitierende Beton trennte uns vor einer künstlichen Klippe, die steil in den See abfiel. Das dunkle Wasser funkelte und glitzerte und spiegelte die Lichterwelt Las Vegas´ wider.

Der See hatte sogar ein paar kleine Grotten, in denen sich das Licht im Wasser reflektierte und tolle Muster an die Betonfelswände warf. Kleine, mittelmeerorientierte Bars waren hoch über dem Wasser gebaut worden.

Ein dröhnender Basston durchschnitt die Luft und ließ alles still werden. Eine Violine setzte ein. Der See wurde plötzlich hell.

Ich nahm meine Finger von Joshuas Augen.

Ein Cello begann langsam und ganz zart ein Solo.

Hell leuchtende Wasserstrahlen spuckte der See aus.

Wie Regen fielen sie auf die Wasseroberfläche zurück.

Ein paar weitere Streicher begannen mit einem Rhythmus. Wagner.

Leuchtende Wassermassen flogen in die Luft, zeichneten die Noten am dunklen Himmel nach und klangen gleichzeitig wieder ab, als neue einsetzten. Mehrere Violinen begannen, alle Wasserspeier explodierten gleichzeitig und warfen ihre funkelnde Fracht in den Himmeln.

„Das ist mein Geschenk an dich!“, flüsterte ich ihm ins Ohr, „Ich liebe dich!“

„Ich liebe dich auch!“, antwortete er schlicht und zog meine Hände an seine Brust, verschränkte meine Finger mit seinen und schmiegte sich bei mir an.

In einem atemberaubenden Höhepunkt bildeten die Strahlen sanft ansteigende Pyramiden, Halbkreise und wunderschöne Ringe, die beinahe in der Luft zu schweben schienen.

Er kuschelte sich bei mir ganz eng an und drehte sich dann zu mir um.

Lange sah ich ihm in die Augen, hinter ihm das Wasserspiel, das langsam an Größe verlor.

Seine Finger lagen an meiner Hüfte. Ich strich ihm über die Wange und legte eine Hand an seine Seite.

Vorsichtig und ganz langsam zog ich ihn an mich heran bis wir uns berührten. Kaum ein paar Zentimeter passten zwischen uns. Ich hatte wieder dieses wunderschöne Gefühl, dieses tolle Kribbeln, das aus meinem Bauch herausbrach wie die Schmetterlinge und in meine Lippen schoss als er mich küsste. Funken schienen aus seiner Zunge zu stieben, als sie meine fand. Er war unglaublich zärtlich. Es war das erste Mal, dass wir uns in der Öffentlichkeit küssten... und niemand sah uns zu. Niemand sah uns in der Menge zu. Wir waren alleine hier im Getümmel und wir waren alles, was wir brauchten.

„Gehst du heute Nacht zu Vicky?“, fragte mich meine Mum, „Denn Oma geht’s nicht so gut!“

Ich nickte. „Joah, kann ich machen. Schläft sie schon?“

Meine Mutter dachte über ihre Antwort nach. „Sie sollte... Sie war vorhin so müde, dass sie mir sogar fast auf dem Stuhl eingeschlafen wäre!“

„Okay, ich bin ganz leise.“, sagte ich, „Dann mal eine gute Nacht!“

Ich küsste meinem Mum und zog meine Keycard aus der Hosentasche.

Mit einem Klick ging die Tür auf.

In dem Licht, das vom Fenster hinein schien, sah ich meine Schwester, wie sie sich friedlich in einem Bett zusammengerollt hatte.

Ich deckte sie noch einmal ordentlich zu.

Dann legte ich mich auf mein Bett, zog mir eine lange Hose an und ein enges schwarzes Shirt. Anschließend holte ich noch ein paar Dollar aus meiner Tasche.

Mein Vater hatte sie so gut versteckt, dass er sie selber nicht mehr finden konnte. Was natürlich auch kein Wunder war, wenn er sie in seiner Tasche sucht, aber sie in meine gesteckt hatte.

Auch holte ich meinen Personalausweis aus meiner Umhängetasche. „German ID-Card?“ fragte der Amerikaner normalerweise, wenn er so etwas sah. Ich grinste.

Halb 12 war es inzwischen. Kein Laut kam mehr aus dem Zimmer von nebenan. Ich verzehrte mich bereits nach Joshua. Hastig zog ich meine Schuhe an, steckte mir mein Portemonnaie ein und vergewisserte mich, dass meine Schwester eine Keycard im Zimmer liegen hatte. Die andere nahm ich mit.

Leise öffnete ich die Tür.

Der Flur im Circus Circus war, wie immer, hell erleuchtet. Ein paar Bilder von bekannten Clowns hingen im 24. Stock. Ungedultig wartete ich auf den Fahrstuhl.

23. Stock

22. Stock

21. Stock

//Warum musste das so lange dauern?//

Das L leuchtete auf.

//Endlich//

Ich stieg in der Lobby aus.

Oh mann, er sah so gut aus als er mich in Empfang nahm. Die schwarzen Haare hatte er leicht gegelt, dazu eine abgetragene helle, enge Jeans und ein weinrotes Shirt.

„Hey Sweete!“, rief ich ihm zu.

Jede Menge neugierige Gesichter drehten sich um. Ich grinste nur breit, mir war es egal.

„Kennst du Tanz der Vampire?“, fragte er mich völlig zusammenhanglos.

Ich antwortete nicht, sondern begann leise zu singen. „Ich geb dir, was dir fehlt: eine Reise auf den Flügeln der Nacht. In die wahre Wirklich... in einen Ort ohne Raum und Zeit.“

Lieb lächelnd begann er leise zu klatschen.

Wir standen uns in der Lobby gegenüber und mehr oder weniger das gesamte Personal sah mir zu, wie ich ihm was vorsang.

„Und? Wohin entführst du mich in dieser Nach?“, fragte er, und er hatte einen Unterton, der mir eine wohlige Gänsehaut bereitete.

Ich schob ihn sanft zurück zum Fahrstuhl.

„Wohin es geht?“, fragte ich ihn.

Ich drückte in der Kabine, deren Türen sich eben hinter uns geschlossen hatten, einen Knopf.

„Mit dir geht’s nur nach oben!“, sagte ich und drückte ihn an mich.

Die Dachterasse im 29. Stock war toll. Ein für Wüstenbewohner wohl eisiger Wind zog hier oben, aber für uns war er genau richtig.

Ein wenig warm.

Unter einen Sonnenschirm setzten wir uns. Warum auch immer.

Ein kleines Teelicht warf tanzend seinen Schatten auf den Holztisch.

Wir setzten uns ganz an den Rand, blickten über das Gitter hinunter auf die Straße. Hinunter auf den Strip, wo das Leben tobte.

Meine Finger krochen langsam über die Tischplatte. Millimeter für Millimeter näherten sie sich seinen. Er lächelte mich an. Ich konnte bereits seine Wärme spüren, wie sie meine Finger umschloss. Dann legte er sanft seine Finger auf meine und drückte sie.

Ein Kellner kam.

//Du nervst, kommst später wieder//

„Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte er und sah mich dabei an.

Ich sah Joshua fragend an. „Was willst du haben?“

„Dich!“, sagte er süß lächelnd.

Ich drückte seine Hand fester.

„Und zu trinken?“

„Zwei Circus Circus Cocktails, bitte!“, bestellte ich dann. Interessanter Weise fragte er mich nicht nach meinem Ausweis, ob ich denn schon einundzwanzig wäre.

Joshua bemerkte meinen unglücklichen Gesichtsausdruck und begann leise zu lachen. Dann wurde er immer lauter.

Ich lachte auch mit. Diesem Jungen und vor allem seinem herzlichen Lachen konnte ich mich einfach nicht entziehen.

„Hey, das ich nicht lustig...“, spielte ich empört, „Seh ich wirklich schon so alt aus?“

Er lachte noch immer und war schwer mit sich am Kämpfen. „Also für 21 siehst du extrem gut aus!“

Ich strahlte ihn an.

Der Kellner kam mit einem Tablett mit zwei hohen Gläser zurück. Mit Bananen und Kiwistückchen und wohl etwas weißem Rum sahen die Cocktails extrem gut aus.

„Darf ich gleich kassieren?“, fragte er.

„Gerne.“, sagte Joshua und begann in seiner Hose zu kramen.

„Finger weg!“, sagte ich ihm grinsend.

„Also...?“, der Kellner war überfordert, „Seid ihr zusammen oder zahlt ihr getrennt!“

„Wir zahlen zusammen!“, sagte ich.

„Wir sind zusammen!“, sagte Josh.

Ich brachte Joshua bis an sein Zimmer. Aber ich war mir sicher, dass es nicht das Zimmer im 23.Stock war, wo ich mit ihm die Sachen zu seinen Eltern geschleppt hatte.

„Steff!“, sagte er langsam und zögernd.

„Ja?“, sagte ich ruhig und wollte ihm zeigen, dass ich mit allem leben konnte, was auch immer jetzt kommen sollte.

„Ich möchte dir was schenken!“, meinte er.

Joshua schloss mit der Karte die Tür auf und trat in den Raum. Ich folgte ihm zögernd. Das war nicht das Zimmer seiner Eltern oder das von seinem Bruder. Das war das dritte Zimmer, das BTA zur Verfügung gestellt hatte.

„Joshua, es gibt nichts, was mir mehr Freude bereitet, als dass du bei mir bist!“, antwortete ich ihm und wollte ihn in den Arm nehmen.

„Stefan“, sagte er und nannte mich zum ersten Mal bei vollem Namen, „ich möchte mit dir schlafen!“

Es war so als ob ich eben via Rakete in den siebten Himmel geschossen wurde. Ich war sprachlos. So schön war es, so schön war es, zu wissen, dass Joshua mir vertraute. Mir grenzenlos vertraute.

Ich ging auf ihn zu und ließ meine Finger über seine nackten Unterarme tanzend.

Dann küsste ich ihn sinnlich.

Ich spürte die Angst, die er hatte. Die Angst, mir weh zu tun. Und ich spürte seine Kraft, seine Power. Und ich spürte seine Liebe. Wir lagen aneinandergekuschelt im Bett und ich streichelte sanft über seine Brust. Wie wild donnerte sein Herz unter meiner Hand. Seine Finger huschte über meinen Rücken, seine Lippen liebkoste meine Brust.

Er war schön, oh ja, er war wunderschön.

Und ich liebte ihn.

Meine Finger wanderten tiefer. Kurz unter seinem Bauchnabel verharrte ich, als er ängstlich die Luft einsog.

„Alles klar?“, flüsterte ich leise.

Seine Antwort war ein Kuss. Ein Kuss, in dem sich all seine Zweifel auflösten. Vorsichtig ließ ich meine Finger mehr von ihm erforschen. Er lag in meinen Armen und genoss es. Meine Finger hatten eine kleine Gänsehaut hinterlassen, über die ich leicht rüberpustete. Er zitterte leicht und versuchte, sich ganz eng an mich zu drücken, um sich an meiner Hitze zu wärmen.

Auch seine Finger gingen auf Entdeckungstour. Ein liebes, ehrliches Strahlen, ging von ihm aus, als seine Finger meine Bauchregion verließen. Ich schloss die Augen.

Ich wollte ihm noch mehr schenken, aber ich hatte Angst. Vorsichtig küsste ich seine Brust, zog ihn an mich und sah ihm fragend in die Augen.

Er strahlte. Er blühte auf. Er war glücklich.

Meine Lippen wanderten tiefer. Und noch tiefer und noch viel tiefer. Er zuckte leicht zusammen, als ich ihn ein wenig kitzelte.

Er war so schön, so übernatürlich schön. Überall. Ich wollte alles von ihm gleichzeitig küssen. Ihn so glücklich machen, dass er weinte.

Er stöhnte leise auf, als ich ihn dort küsste. Er war heiß und komischerweise so sanft. Ich hatte mir das immer ganz anders vorgestellt. Vorsichtig schenkte ich ihm meine Wärme.

Ich hörte ihn, wie er nicht mehr in der Lage war, etwas zu sagen.

Er schmeckte gut... so süß irgendwie. Meine Finger vollführten wahre Freudentänze. Und ihr Tanzpartner schien sich revanchieren zu wollen.

Joshua verlor die Kontrolle über sich und ließ sich fallen.

Und ich fing ihn auf...

Und er schmeckte gut. Ich liebte es, ich liebte ihn, ich liebte alles von ihm.

Joshua sah mich an und küsste mich so lange, dass mir schwindelig wurde. Aber das lag eindeutig an ihm.

Er war so zärtlich, dass er mich in dieser traumhaften Wüstennacht zum glücklichsten Menschen auf der Erde machte.

Ich wachte in seinen Armen auf. Die Sonne, die durchs Fenster schien, hatte mich wach gemacht. Friedlich und unheimlich süß hatte er sich an mich gekuschelt und hielt krampfhaft die Decke fest.

So sanft wie möglich befreite ich mich aus seinen Armen, und schlich unter die Dusche. Die Kaffeemaschine stellte ich vorher auch noch an.

Das heiße Wasser belebte mich ein wenig, zwar nicht so sehr wie Joshuas Power, aber immerhin etwas. Ich musste wieder an ihn denken, an ihn und an die Zeit, die wir noch gemeinsam hatten. Morgen war es zu Ende. Morgen war alles zu Ende.

„Guten Morgen, Sweete!“ Joshua kam ins Badezimmer gestürmt, drängte mich ein wenig unter der Dusche zur Seite und gab mir einen langen Gutenmorgenkuss. Ich sah ihn an, wusste nicht, ob ich traurig sein sollte, oder fröhlich.

Er schob sich ganz dich an mich heran und den Jungen, den ich liebte, nackt in meinen Armen zu halten... Ich vergaß all meine Angst, all meine Zweifel und zog ihn an mich. Meine Finger tanzten über seine Brust, strichen sanft darüber und hatten doch etwas vorsichtig verlangendes. Seine Finger wanderten meinen Rücken runter.

„Josh!“, flüsterte ich, „du weißt, welcher Tag heute ist!“

„Der Letzte!“, antwortete er traurig.

„Ich will darüber jetzt nicht nachdenken!“, sagte ich ihm leise und verbot ihm mit einem Kuss, mir zu antworten.

Wir fielen übereinander her.

Nichts zeugte mehr von der Zärtlichkeit der letzten Nacht. Wir waren beide nur noch von der Angst der Einsamkeit besessen und wollten dieses Moment nutzen. Wir hielten uns gegenseitig in unserer Traumwelt. Und es war wild. Aber es war bereits der aufkeimende Verlust, der uns so scharf aufeinander machte.

Wir wussten beide, dass unsere Zeit zu Ende war.

Und wir wollten es nicht wissen.

„Wo warst du heute Nacht?“, schrie meine Mum mich an als ich mit meinem Gepäck beim Bus angekommen war.

„Bei Joshua!“, antwortete ich knapp.

Sie sah mich an, starrte mich an. Versuchte aus mir etwas herauszubekommen.

„Es war halt der letzte Tag, an dem wir zusammen was machen konnten. Da haben wir uns in der Lobby getroffen und uns unterhalten. Und dann ist es so spät geworden, dass ich Vicky nicht mehr wecken konnte...“ Ich blickte zu Boden. „Ich hab im Zimmer meine Karte liegengelassen!“

„Du bist doch echt bescheuert. Und wir machen uns solche Sorgen um dich!“, zickte meine Mum weiter.

„Tschorry!“, murmelte ich matt, dann holte ich meinen Koffer, schleifte ihn zu Bus und stopfte ihn rein.

Der Bus, der uns heute zum Flughafen bringen sollte, war voll. Alle waren sie da. Jeder hatte mindestens eine Tonne Gepäck dabei.

Die Stimmung war angespannt. Alle hatten das Gefühl, dass sie irgendwas vergessen hatten.

Ich hatte auch noch was vergessen. Dieses Etwas war klein, rund und silber und wartete in meiner Hosentasche auf seinen Einsatz.

Joshua stand bei seiner Familie. Er hatte ein paar Tränen in den Augen. Wehmütig sah er zu mir rüber. Ich lächelte jedes Mal, wenn er mich ansah und versuchte ihm ein wenig Mut zu machen. Dabei fühlte ich mich selber wie ausgekotzt.

Meine Mum bestand darauf, dass ich bei dem Rest meiner Familie blieb und auch sein Dad sah nicht so aus als würde er Platzwechsel tolerieren.

Die Wüste zog noch einmal an mir vorbei, ein letztes Mal fuhren wir den Strip ab, der in der heißen Sonne wie ausgetrocknet, fast tot wirkte.

Als ich das betonerne Flughafengebäude von Las Vegas Airport sah, konnte ich nicht mehr. Mir war so schlecht, die Tränen rannen mir über die Wangen und ich hielt krampfhaft mein kleines Geschenk in meiner Tasche fest.

Vor dem Flughafengebäude sah ich ihn noch einmal. Mühsam zerrte er seine Tasche hinter sich her. In der glühenden Sonne stand ich neben ihm, half ihm noch ein letztes Mal. Und vermisste ihn bereits jetzt.

Er kam auf mich zu.

Mir sackten die Knie weg, ich war am Zittern und hielt mich am Bus fest.

„Josh, ich hab noch was für dich...!“, stammelte ich, kaum mehr in der Lage, mich auszudrücken.

Ruckartig holte ich die Lederkette raus, an der ein kleiner silberner Ring hing.

Ihm liefen ein paar Tränen über die Wange. Ihm war es scheißegal, dass unsere Eltern uns sehen konnten.

Er griff nach meiner rechten Hand, hob sie hoch, und rieb sie an seiner Wange.

„Das war dein Ring!“, sagte er und ihm versagte die Stimme.

„Ich weiß...“

Meine zitternde Hand hielt er fest. Dann zauberte er einen silbernen Ring mit einer aufwendigen Verzierung ans Tageslicht.

„Ich bin mir sicher, er passt nicht auf deinen kleinen Finger....“

„Joshua...“, mir versagte wieder die Stimme.

Er weinte. „Du hast zu mir mal gesagt, dass du nicht sein kannst, wer du bist.“

Er schob mir den silbernen Ring auf den Mittelfinger.

„Sei du selbst!“, flüsterte er.

„Stefan, nun komm endlich. Wir müssen nun endlich mal an den Schalter!“, schrie meine Mum vom Eingang der Halle aus.

Ich reagierte nicht.

Sie kam, fast wütend auf mich zugerannt.

Joshua sah sie an, sah mich an und flüsterte dann noch einmal: „Sei du selbst!“

Ich legte meine Lippen auf seine und forderte ein letztes Mal seine Zunge zu einem zärtlichen Kampf auf. Er legte sich ganz in meine Arme, ließ sich von mir ein letztes Mal in unsere kleine Welt entführen.

„Stefaaaaaaaaan, du sollst herk.....“, meiner Mum blieb ihr wütender Aufschrei im Halse stecken.

Ich legte Joshua die Kette um, schob ihm den Ring an die richtige Stelle an seiner Brust.

„Ich liebe dich. Und ich will, dass du glücklich wirst.“ Ich wollte eigentlich noch ein „Vergiss mich!“ ranhängen, aber das brachte ich einfach nicht über die Lippen.

Unsere Hände glitten auseinander. Mühsam sah ich ihn noch ein letztes Mal an, sah, wie er sich in eine Schlange stellte, wie er die Flugtickets bekam, und ich sah, wie er hinter einer großen Schwingtür verschwand.

Und dann war er weg.

Meine Mum versuchte immer wieder, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich blockte jedes Mal ab. Ich wollte hier weg

Endlich hob der Flieger ab, ich wurde in den Sitz gepresst. Nachdem die Anschnall-Lichter aus waren, durfte ich wieder meinen mp3-Player anmachen.

„Unsterblich“ von Rosenstolz lief.

War es ein Wort

War es ein Blick

Der mich rief

Ich verstand

Nahmst meine Hand

Leicht war der Mut

Und die Zeit, die ich fand

Ich hör dich noch sagen

Meine Welt, die steht still

Wird dich nie verraten

Niemals gehen, wenn du willst

Dann kam alles ganz anders

Denn die Welt dreht sich doch

Niemand konnte uns wehtun

Hinterm Mond, weißt du noch

Wir war’n beide unsterblich

Unbesiegt, auserkor’n

Und hab’n am Ende beide verlor’n

War es ein Wort

War es ein Blick

Der mich warnt

Wenn du gehst

War es die Zeit

War es die Angst

Vor der Welt die sich dreht

Ich hör´ dich noch sagen

Tut es weh, bin ich da

Und weil es jetzt so weh tut

Spürst du mich, bist du nah?

Dann kam alles ganz anders

Denn die Welt dreht sich doch

Niemand konnte uns weh tun

Hinterm Mond, weiß du noch

Wir war’n beide unsterblich

Unbesiegt, außerkor’n

Und hab’n am Ende beide verlor’n

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