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Ein Winterlied

Teil 4 - Eiskalt

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Informationen

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

-4: Eiskalt-

Zitternd schlang er die Arme enger um seinen Oberkörper, dabei immer bedacht, Nathanaels nun recht schwere Tasche nicht fallen zu lassen, musste dabei wieder an Nathanaels (er hatte beschlossen, dass ihm dieser Name besser gefiel, denn irgendwie war der Junge trotz seines Jobs doch irgendwie sehr engelhaft) spärliche Bekleidung denken. Am liebsten hätte er seine Mutter gebeten, den Jungen für eine Weile bei sich aufzunehmen, aber er wusste, dass jener dies niemals angenommen hätte, sei es aus Stolz oder aus peinlicher Berührtheit. Also hatte Caspar getan, was er konnte, hatte Nathanael ein paar belegte Brote, zwei Äpfel und eine Tafel Schokolade eingepackt, weil er so mager war und wenigstens heute, oder besser gesagt morgen sollte er nicht hungern müssen. Außerdem noch einen kuschelig weichen Pullover, der dem Kleineren vielleicht ein wenig zu groß sein, ihn auf jeden Fall aber wärmen würde. Auch das Notizbuch, dass Nathan „vergessen“ hatte, befand sich in der Tasche, die an seiner breiten Schulter hing. Allein die Zeichnung, die er von dem Schwarzäugigen gemalt hatte, stand noch bei ihm zu Hause in einem kleinen schwarzen Rahmen, da es das einzige Bild von ihm war, das er besaß, und er sich einfach nicht davon hatte trennen können.

In der Zeit, in der Nathanael verschwunden war, hatte er in dem Notizbuch weitergeschrieben und nicht selten waren Zeilen wie „Ich vermisse ihn“ oder „Langsam macht es mich wahnsinnig“ zu finden, doch als Caspar es eingepackt hatte, und auch jetzt noch, war ihm dies entfallen – vielleicht hatte ja auch das Schicksal seine Finger im Spiel.

Nur die kleinen Tüten mit dem weißen Pulver darin, welche er samt und sonders in der Toilette entsorgt hatte, waren nicht mehr in der abgewetzten Tasche und da Caspar annahm, dass Nathanael es sofort bemerken und ihn fortan ewig hassen würde, hatte er zu guter Letzt noch einen kleinen Brief in feinsäuberlichen Lettern beigelegt. Für einen Außenstehenden waren die üblichen Fragen wie etwa „Ich hoffe es geht dir gut?“ sicherlich nur Belanglosigkeiten, doch für den Blondschopf waren sie bitterer Ernst. Wie oft hatte er sich gefragt, wie es dem Kleinen wohl gerade ging und hatte gleichzeitig befürchtet, jener könnte schon längst leblos in irgendeiner dunklen Gasse liegen. Was jedoch die Drogen anging, so hatte er sich mit keinem Wort entschuldigt, hatte im Gegenteil sogar ausdrücklich geschrieben, dass es ihm nicht Leid tat und dass er Nathanael die Drogen einfach niemals hätte geben _können_.

Während der Medizinstudent bibbernd die Kälte verfluchte, näherte er sich Nathanaels Arbeitsplatz.

/Arbeitsplatz.../ Bei diesem Gedanken verdunkelte sich Caspars Gesicht wie eine schwarze Gewitterwolke den Sommerhimmel. Verdammt, der Junge war hübsch und ganz bestimmt nicht dumm – wie konnte es also sein, dass ihm in ihrer ach so zivilisierten Welt und ihrem Land der Freiheit und grenzenlosen Möglichkeiten nichts anderes blieb, als sich an schmierige Perverse zu verkaufen?

Im nächsten Moment erblickte er die schlanke Gestalt des anderen und atmete erleichtert auf. /Endlich.../

Doch schon in der darauf folgenden Sekunde tauchte ein unangenehm aussehender Mann mittleren Alters auf, wollte offensichtlich, dass der Jüngere mit ihm kam. Ohne dass er es registrierte, begann Caspar loszurennen.

Nun konnte er auch die Stimmen der beiden hören, vernahm, wie Nathanael verärgert rief: „Verzieh dich, ich bin fertig für heute!“

Vielleicht hätte er das nicht tun sollen, denn der deutlich betrunkene Mann schien Abfuhren gar nicht gut zu ertragen und begann schon handgreiflich zu werden, als der Braunäugige endlich die letzten Meter überwunden hatte und seinen erklärten Erzfeind ohne lange zu fackeln niederschlug.

„Lass uns gehen“, sagte er grob und zog den Jüngeren ohne eine Widerrede zu dulden einfach mit sich. Normalerweise hätte er den Jüngeren im Gegenteil sogar _gebeten_, doch nun war er einfach zu wütend, musste schnell hier weg um den „Kunden“ nicht noch aus reiner Mordlust umzubringen, die nun in ihm brodelte, heißer als reinster Hass; er konnte den Gedanken, dass sich diese engelsgleiche Gestalt tagtäglich benutzen lassen musste, einfach nicht ertragen.

Caspar bemerkte nicht, wie die Zeit verging oder wie Nathanael ab und zu versuchte, sich zu wehren und aus seinem stählernen Griff loszureißen, bis sie auf einmal an seinem Lieblingsplatz angekommen waren und die kalte Wut in ihm so plötzlich verschwand wie sie aufgetaucht war. Erschöpft und zitternd, doch nicht vor Kälte, ließ er sich gegen den Stamm einer alten Eiche sinken, schloss für einen Moment einfach nur die Augen und atmete tief durch, während er darauf vertraute, dass der Kleine blieb, wo er war.

Schließlich hatte er sich weit genug gesammelt, um betreten zu flüstern: „Tut mir Leid... Dir ist es sicher nicht recht, wenn ich deine Kundschaft verprügele, aber...“ Er brach ab, schüttelte angeekelt und wütend den Kopf. „Nein, verdammt, es tut mir eben nicht Leid! Dieser Perverse hätte dich vermutlich sogar einfach vergewaltigt, wenn ich ihn nicht niedergeschlagen hätte!!“


Alain beendete seine Schicht früher als sonst. Er hatte kaum mehr die Kraft nur herumzustehen und wäre sicher beim nächsten Kunden zusammengebrochen.

Seine Hand glitt wie von selbst in seine Hosentasche und griff nach einem Messer, das er immer für den Notfall dabei hatte, als ein fetter, nach Alkohol stinkender Mann auf ihn zuwankte und seine wurstfingrige Hand unter Alains Hemd gleiten ließ. Er wies ihn mit einer Kälte zurück, von der er fürchtete, sie nie mehr los werden zu können. Er hielt sie auch wie einen Schutzschild vor sich, als Caspar überraschend auftauchte und ihn hinter sich her zerrte, ehe Alain auch nur begriffen hatte, was geschehen war. Er brauchte sie, um sich gegen Caspar zu wehren. Er wollte ihn nicht mit in die Sache mit seinem Vater hineinziehen. Aber dies war nicht der Hauptgrund. Das einzige, das ihn davon abhielt, schluchzend in die Arme des rettenden Engels zu werfen, war die Angst, dass er sich falsche Hoffnungen machen könnte.

/Vielleicht ist `falsche Hoffnungen machen´ auch die falsche Formulierung/, dachte er. Er machte sich keine „Hoffnungen“ auf ein besseres Leben, unter dem Schutz eines Mannes, der versucht hatte, ihm _echte_ Zuneigung entgegenzubringen. Daran glaubte er schon lange nicht mehr. Doch er wollte einfach mal wieder einschlafen, ohne sich sorgen zu müssen, ob er am nächsten Tag wieder erwachen würde, oder erfroren, mit durchschnittener Kehle oder einfach von den allzeit präsenten Ratten getötet unbemerkt für immer in diesem Dreckloch liegen würde.

Es bereitete ihm keine Mühe, mit Caspar Schritt zu halten. Als dieser keuchend anhielt, blieb Alain nur wenige Schritte vor ihm stehen und beobachtete fasziniert, wie seine Haare im Licht einer Straßenlaterne golden glänzten, hörte erst schweigend zu.

/Jetzt!/, schrie sein Verstand, /Bitte ihn jetzt, dich mitzunehmen!!/ doch die Worte, die aus seiner Kehle drangen, waren nicht dieselben:

„Was sollte das?“ hörte er sich selbst wie von fern fragen, „Wieso vergewaltigen? Das ist mein verdammter JOB! Ich schreibe Ihnen auch nicht vor, was Sie tun sollen und was nicht!

Wenn Caspar den Wechsel zum höflichen „Sie“ überhaupt bemerkte, ignorierte er ihn einfach.


„JOB?“, ächzte Caspar. „Das... das ist kein _Job_, das ist-“

Caspar zuckte zusammen. Nein, er hatte nicht das Recht, das zu verurteilen, was Nathanael tat. So schluckte er mühsam seine mit Fassungslosigkeit durchmischte Wut herunter, sah den Jüngeren ernst an, musterte ihn von oben bis unten, überging dessen Antwort, auch wenn sie höllisch schmerzte und er etwas dazu hätte sagen müssen. Er sah blass aus und fror so erbärmlich, dass es dem Einundzwanzigjährigen beinahe körperlich wehtat, den Kleinen so zu sehen. Schweigend stellte er die Tasche vor Nathanaels Füße, immer darauf bedacht, ihn jetzt nicht zu berühren, da er dann für wirklich gar nichts mehr hätte garantieren können, war er doch schon jetzt so unendlich erleichtert – nein, _glücklich_ - ihn mehr oder weniger unversehrt zu sehen. Dann schloss er die Augen, wisperte leise: „Du weißt, dass die Naht wieder aufplatzen wird, wenn du dich überanstrengst, oder?“


Einen Moment war er von Caspars Antwort irritiert.

/Welche Naht.../, doch als hätte der Gedanke an die Wunde den Schmerz neu entfacht, fühlte er das Brennen und wunderte sich, wie er sie so lange hatte ignorieren können.

Hastig griff er nach der Tasche, die Caspar vor ihm auf den Boden gelegt hatte.


Er hörte, wie der Schwarzhaarige die Tasche schulterte, _spürte_ den zögernden Blick auf seiner Haut, bevor jener mit hörbar zur Teilnahmslosigkeit gezwungener Stimme antwortete: „Ich muss jetzt nach Hause.“

Obwohl Caspar ihn am liebsten durchgeschüttelt hätte, blieb er still und wo er war, lachte nur eiskalt auf: „Ja, natürlich, ich vergaß... dein _liebevoller_ „Vater“ wartet sicher schon auf dich...“

Bitter wandte er sich ab.


/Sag es ihm!/, verlangte die hartnäckige Stimme in seinem Kopf /Bitte ihn, dich über Weihnachten aufzunehmen!/, doch da Caspar sich schon abgewandt hatte, murmelte er leise ein paar Worte zum Abschied und ging eilig wieder zurück in die Richtung, aus der er mit Caspar vor kaum drei Minuten gekommen war.


Verzweifelt lauschte er mit geschlossenen Lidern, wie Nathanael davonlief, die durch den Schnee knirschenden Schritte schnell immer leiser wurden.

Und in genau diesem Augenblick hielt Caspar es nicht mehr aus, zerfiel die Maske der Unberührtheit zu Staub, konnte ihn nicht mehr länger davon abhalten, dem Jüngeren zu folgen, ihm bis zu seinem zu Hause nachzulaufen.


Er wechselte die Tasche, die er nicht so schwer in Erinnerung gehabt hatte, von der linken zu rechten Schulter und stapfte durch den noch immer dicht fallenden Schnee davon. Verwundert drehte er noch einmal den Kopf, als eine seiner Kolleginnen ihn zurückrief, als er wortlos an ihr vorbeilaufen wollte. Es war die kleine Rothaarige, die vor einem Jahr ins Geschäft eingestiegen war.

„Fröhliche Weihnachten! Ich weiß, dass das erst übermorgen ist, aber ich hab mir Urlaub genommen, also werden wir uns vorher nicht nochmal sehen.

Übrigens: ich heiße Pia.“, rief sie ihm zu.

Alain blieb perplex stehen und starrte sie an. Erst als er sicher war, dass sie nichts weiter sagen würde, keine hämische Bemerkung machen, und ihr Lächeln immer schwächer wurde, wagte er es, das Lächeln zu erwidern.

Hastig drehte sie sich wieder weg und Alain ging, in einem merkwürdigen Gefühl der Melancholie, den Blick nicht, wie sonst, zu Boden gerichtet, sondern den fallenden Schneeflocken entgegen gehoben, den Kopf weit in den Nacken gelegt, zielsicher durch einige düstere Gassen nach Hause. Doch je weiter er sich von dem weihnachtlich geschmückten Straßen entfernte und immer weiter in die stinkenden Slums vordrang, desto mehr veränderte sich das Gefühl, desto weiter senkte sich sein Blick, und als er nicht einmal in der Ferne Lichter blinken und Weihnachtsmusik dudeln hören konnte, rannte er, ohne gemerkt zu haben, wann er damit angefangen hatte, die Augen auf seine Schnee aufwirbelnden Schuhspitzen gerichtet.

Ohne auch nur einmal aufzusehen, bog er in einige der kleineren Gassen ein.

Vor einer alten Bauruine, einem bedrohlich düsteren Rohbau, noch ohne Treppen, Türen oder Fensterscheiben, blieb er stehen. Er warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück, ehe er sich durch die mit nicht abgeholtem Sperrmüll und liegen gelassenem Baumaterial verbarrikadierte Türöffnung zwängte.

Drinnen war es genauso kalt wie draußen, doch hier war er wenigstens vor schneidendem Wind geschützt. Hohes, lautes Quieken ließ ihn herumfahren, als eine der vor der Tür liegenden Küchenzeilen umkippte. Ratten huschten zwischen seinen Füßen hindurch, krallten sich in seine Beine, wenn er versehentlich einer auf den Schwanz trat.

Wütend fluchend bahnte er sich seinen Weg durch die fliehenden Tiere zu einem der Metallpfosten, die das Dach stützen sollten. Einige Augenblicke tastete er blind an dessen Rückseite entlang, bis er das alte Seil fand, das er dort befestigt hatte.

Die ersten zwei Wochen, in denen er hier gelebt hatte, hatte er im Erdgeschoss ausgehalten, doch dann beugte er sich den Gesetzen der Tierwelt und kletterte an einem Pfosten hinauf in den ersten Stock, um den aggressiven Ratten und hin und wieder hier unten übernachtenden Obdachlosen zu entkommen.

Dort hatte er fast ein Jahr gelebt, als er eine neue Entdeckung machte, die ihn dazu brachte, noch weiter oben zu leben: einen großen Stapel liegen gelassenen Baumaterials, vor allem Steine, Balken und Seile. Daraus hatte er sich ein eigenes „Haus“ gebaut. Eine fünf Quadratmeter große Nische im hintersten Winkel des Geschosses hatte er mit einer Mauer aus Steinen, die er einfach übereinander gelegt hatte, abgetrennt, mit Balken überdacht und seine vom Sperrmüll geholte kaputte Matratze und seine ganze Habe darin versteckt. Darunter befand sich unter anderem eine beeindruckende Sammlung verschiedenster Klingen (von Küchenmessern, die er bei „Hausbesuchen“ mitgenommen hatte über Taschenmesser bis zu seinem persönlichen Stolz: einem schönen, mittelalterlichen Dolch (natürlich alles gestohlen)).

Ein paar Schritte davon entfernt stand eine rostende Metallwanne, bis zum Rand mit von einer dicken Eisschicht überzogenem Regenwasser gefüllt. Ein „Trampelpfad“ in der dicken Schicht aus Staub und den durch die leeren Fensteröffnungen hereingewehten Schnee zeigten deutlich, welchen Weg Alain normalerweise zurücklegte.

Er kletterte an dem Seil nach oben, war jedoch zu faul, es einzuziehen.

/Nachher!/, dachte er, /Wenn ich geschlafen hab. Es ist schon ewig keiner mehr hier gewesen!/

Müde schleppte er sich zu seiner Schlafkammer, zündete einen der überall herumliegenden Kerzenstummel an. (In Gedanken formulierte er eine an Gott gerichtete Entschuldigung. Seine Kerzen stahl er meistens in einer Kirche, da diese nicht so gut bewacht wurden wie die Kaufhäuser.)

Dann zog er sich aus, nahm einen Stein von einem, im krassen Gegensatz zum Rest der Etage ordentlich gestapelten Haufen, und stapfte nackt auf die Wanne zu. Davor ließ er sich schwerfällig auf die Knie sinken und schlug immer und immer wieder auf die Eisschicht ein, bis sie splitternd zerbrach. Das Eis fischte er heraus und stieg in die Wanne.

Nach den Minusgraden draußen war das noch nicht gefrorene Wasser richtig angenehm und er kniete sich, einen leisen Seufzer nicht unterdrücken könnend, in die Wanne.

Seine Tasche, die er direkt neben sich gelegt hatte, zog er nun zu sich heran und holte daraus eine Haarbürste hervor. Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen. Er würde morgen gleich losgehen und sie Caspars Mutter zurück geben! Morgen! Oder übermorgen...

Er versuchte eine Weile, sich wenigstens die schlimmsten Knoten aus den Haaren zu kämmen, aber da er so was nicht oft tat (so etwa alle drei Jahre, wenn er nicht einen Friseur unter seinen Kunden hatte), verhedderte er sich hoffnungslos und gab es bald wieder auf.

Den Kopf hängen lassend versuchte er sich zu entspannen. Er änderte diese Haltung vorerst auch nicht, als er leise Schritte näher kommen hörte. Erst als die Person, die offensichtlich nicht gehört werden wollte, hinter ihm stand, hob er den Kopf und griff unauffällig nach einer wasserdichten Blechdose, die am Grund der Wanne gelegen hatte.

„Was willst du, Vater?“, fragte er leise, während er die Dose unter Wasser öffnete, und das Schweizer Messer, das darin gelegen hatte, herausnahm und öffnete. „Ich habe das Geld noch nicht. Oder bist du nur gekommen, um zuzusehen wie ich in diesem Dreckloch hocke, immer hungrig. Wie ich Tag für Tag um meine Existenz kämpfe, wenn auch nicht immer mit ganz legalen Waffen? Warum kommst du immer wieder? Es ist immer dasselbe. Wann fängt es dich wohl zu langweilen an, mit mir zu spielen; wann werde ich so uninteressant wie Paco, wann ende ich so wie er? Wann wirst du mich töten?

Und jetzt erzähl mir nicht, bei mir wäre es etwas anderes, nur weil ich dein Sohn bin! Das hat dich nie interessiert. Ich weiß, dass du gekommen bist, um mich zu bestrafen. Für das, was gestern geschehen ist, hab ich Recht?“ Mit einer zitternden Hand schob er seine Haare beiseite und bot seinen ungeschützten Nacken dar. Die Schritte kamen näher. Alain verkrampfte sich, als zwei Finger über die Narben und offenen Wunden, die fast alle entzündet waren, strichen. Er hasste die Art seines Vaters, zu bestrafen. Keine dieser Wunden war tödlich, keine besonders tief oder anders gefährlich, soweit er das beurteilen konnte, doch sie schmerzten. Wenn sein Vater besonders übel gelaunt war, hatte er immer gute Ideen. Besonders gern mochte er Salz.

/Noch ein Schritt.../ dachte Alain. Und wirklich, der Mann trat nun ganz an ihn heran und beugte sich leicht über Alain. Dieser konnte aus den Augenwinkeln eine grob menschliche Form ausmachen. Das genügte ihm.

Im Hocken drehte er sich blitzschnell um. Sein Messer zog einen tödlich surrenden Halbkreis durch die Luft, zielte auf die Kehle seines Vaters.

Doch eine Hand des Anderen schnellte vor und hielt Alains Finger auf, stoppte die Klinge zwei Zentimeter vor dem ungeschützten Hals.

Alains Blick wanderte aufwärts und sah erstarrt in ein Paar Augen.


Unterdrückt keuchend hielt Caspar inne. Der Kleine war verdammt schnell und kannte sich viel besser aus als er, sodass der Student ihn nicht nur einmal aus den Augen verloren und gerade noch so wiedergefunden hatte. Gleichzeitig hatte er innerlich schon zum millionsten Mal seinem Kampfsporttrainer gedankt, der ihn über Jahre hinweg solange gedrillt hatte, bis seine Bewegungen kraftvoll, geschmeidig und leise wie die eines Tigers waren, denn sonst hätte er sich ohne Zweifel schon längst verraten.

Vor ihm ragte nun eine Ruine dessen auf, was wohl mal ein Rohbau für ein Haus hatte sein sollen, er konnte nicht verhindern, dass seine linke Augenbraue besorgt nach oben zuckte. /HIER wohnt er?/

Nach einer Weile wagte er es, dem Jüngeren in das düstere baufällige Gebäude zu folgen, musste sich erst an die Lichtlosigkeit dieses Ortes gewöhnen, während er angeekelt und unterdrückt fluchend vor den quiekenden, behaarten Ratten zur Seite wich.

Schließlich hatten sich seine Augen der Dunkelheit angepasst und zeigten ihm ein noch leicht schwingendes Seil, das aus der übernächsten Etage herabhing. Caspar zögerte nicht, war innerhalb weniger Sekunden das wenig vertrauenerweckende aber dennoch zuverlässig haltende Seil hinaufgeklettert, folgte einem Trampelpfad im Schnee in ein anderes „Zimmer“. Nur dass ihn dieses Mal statt reiner Dunkelheit flackerndes Kerzenlicht erwartete, das ihn unwillkürlich an seine Wohnung erinnerte.

Auf dem Boden erkannte er Nathanaels Sachen, sodass ihm der Atem stockte. Der Kleine würde sich doch hier nicht mit einem weiteren Kunden treffen - ...oder?

Im selben Moment vernahm er ein plätscherndes Geräusch, wie von jemandem, der sich gerade in einer Badewanne wusch, zuckte erschrocken zusammen, während er herumfuhr und ungläubig auf die gutvertraute, schmale Gestalt blickte, die tatsächlich in einer Badewanne saß – nur dass sie, im Gegensatz zu der bei Caspar zu Hause, uralt und am Rand mit Eis (!) bedeckt war...

Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu, ließ ihn nicht einmal den leisesten Laut hervorbringen, selbst als Nathanael ihn ansprach, wobei er Caspar offensichtlich für seinen... _Vater_ hielt. Hilflos kam er näher, erstarrte entgeistert, als er die schrecklichen Wunden im Genick des jungen Schwarzäugigen erblickte, strich mit den zitternden Fingern seines ausgestreckten Armes darüber, als müsse er sich so von ihrer Existenz überzeugen. Ein scharfer Schmerz durchzog seinen Körper, ausgehend von seiner bebenden Hand, und es fühlte sich an, als würde er in einem einzigen Augenblick all die Qualen durchleben, die Nathanael über die Jahre hinweg hatte ertragen müssen.

Sein Mund stand offen, doch er bekam keine Luft mehr, und mit vor Entsetzen nassglänzenden Augen beugte er sich über den Kleineren, wollte ihn einfach nur in die Arme schließen und ihm leise Worte des Trosts zuhauchen – und hätte es beinahe mit dem Leben bezahlt.

Nur seine in langjähriger, harter Arbeit geschulten Instinkte retteten ihn, indem er seinen Körper ohne nachzudenken zurückwarf und er gleichzeitig die heranrasende Hand packte, eisern umschloss, bevor ihm das Messer gefährlich werden konnte. Erstarrt blickte er auf das Taschenmesser, entwand es ohne hinzusehen den feingliedrigen Fingern, starrte unentwegt in die schwarzen Augen, während das Messer auf den Boden prallte und in die Dunkelheit sprang.

Er konnte nicht fassen, dass Nathan ihn wirklich hatte töten wollen – selbst wenn er ihn für jemand anderen hielt.

Schweigend machte er wieder den einen Schritt auf die Badewanne und den darin hockenden Schwarzhaarigen zu – und sah die Pfütze gefrorenen Badewassers nicht.

Das Letzte, was er spürte, war ein scharfer Schmerz in seinem Genick, als es unglücklich auf einen Haufen loser Ziegelsteine prallte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.


Alain erwachte erst aus seiner Erstarrung, als Caspar fiel. Er stand hastig auf und griff nach dem Arm des Studenten, verfehlte ihn jedoch. Er stieg aus dem Wasser, überwand die Eispfütze in einem schnellen, aber viel umsichtigeren Schritt als Caspar, und kniete neben ihm nieder. Eine Weile rüttelte er hilflos an dessen Schulter, schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht und versuchte sogar, ihn mit einem vom halb gefrorenen Wasser feuchten Zipfel von Caspars Pullover zu wecken. Erst als all das nicht half, kam er auf die Idee, den Mann auf den Bauch zu drehen. Alain erschrak, als er die blutverklebten Haare berührte. Sanft strich er sie beiseite. Eine fast 10 Zentimeter lange Platzwunde zog sich über seinen Schädel, und nun, da Alain die auf die Wunde gedrückten Haare zur Seite strich, rann das Blut ungehindert über Alains kalte Finger.

„SCHEISSE!“, schrie er seine Angst hinaus. Er packte Caspar so sanft wie möglich unter den Armen, hob seinen Oberkörper ein Stück an und schleifte ihn die paar Meter bis zu seiner Wohnnische einfach über den zum Teil mit Schnee bedeckten Boden. Währenddessen redete er leise beruhigend auf Caspar ein, obwohl er wusste, dass dieser ihn vermutlich nicht hören konnte.

Er legte Caspar auf seine Matratze, deckte ihn zu, riss ein Stück Stoff aus dem Bezug und rannte barfuß wie er war zu der Wanne zurück, um den Stoffstreifen nass zu machen. Vorsichtig wischte er etwas von dem Dreck, der von den Steinen in die Wunde gelangt war weg, wusch den Lappen abermals aus und wickelte ihn zweimal um Caspars Kopf, so dass die Wunde wenigstens etwas geschützt war.

In seiner Angst war ihm gar nicht aufgefallen, wie kalt es hier war, und dass er noch immer nackt herum lief. Hastig zog er sich an und ließ sich auf den Boden neben Caspar sinken.

/Was, wenn er stirbt? Ich kann ihm hier nicht helfen!/

Nachdenklich spielte er mit einem der Eiskristalle, die sich in seinem Haar gebildet hatten, da er sie weder abgetrocknet noch warm gehalten hatte. Er war schon aufgestanden um ein Feuer anzuzünden, als er sich an Virginias Abschiedsworte erinnerte:

„Wenn du Hilfe brauchst oder dich einfach mal nur irgendwo aufwärmen willst, komm doch einfach vorbei. Egal wann!“ .

Er trat aus der „Hütte“ und sah durch eins der leeren Fensterlöcher hindurch zum Mond. Es musste kurz nach zwei Uhr sein.

Alain beschloss für sich, dass Virginia wohl _wirklich_ „egal wann“ gemeint haben musste, und holte Caspar, noch immer in die Decke gewickelt, ebenfalls heraus. Dann zog er seine Tasche zu sich heran und leerte sie auf dem Boden.

Jede Menge Zeug, dass definitiv _nicht_ ihm gehörte kullerte heraus. Er war froh, dass er seine Spritze wiederfand. Aber das Dankesgefühl, das in ihm aufgestiegen war wie ein Ballon, zerplatzte, als er bemerkte, dass der Rest fehlte.

Laut fluchend schüttelte er den Pullover aus, in der Hoffnung, die Tütchen könnten sich darin verfangen haben, doch sie waren weg.

Noch immer vor sich hin fluchend zog er sich den Pullover über, biss in eins der Brote und beäugte die Schokolade misstrauisch. Da er bisher, soweit er sich erinnern konnte, so etwas noch nie gegessen hatte (er nahm einfach mal an, dass es sich um etwas Essbares handelte) packte er sie wieder ein, warf sich die Tasche über die Schulter und legte sich selbst von hinten Caspars Arme um den Nacken.

/Der Mann wiegt bestimmt dreimal so viel wie ich!/, ächzte er in Gedanken, als er Caspar mühsam zum Ausgang schleppte.

/Na toll!/. Kritisch sah er an dem Seil herunter...

~.~

Er hatte Caspar vorerst in den Schnee vor die Ruine, gelegt und suchte ein geeignetes Brett, das er als Schlitten verwenden konnte. Als er nichts fand, trat er einfach die Rückwand aus einer der billigen Einbauküchen heraus und legte sie neben den Studenten, um ihn besser hinüberheben zu können. Eine der noch daran genagelten Leisten ließ er gleich befestigt, um den improvisierten Schlitten besser ziehen zu können.

„Du schuldest mir ne neue Tasche!“, murmelte er dabei, missmutig auf das Brandloch in der alten starrend.

~.~

Virginia meinte tatsächlich „egal wann“.

Alain musste zwar diesmal sieben Mal klingeln, ehe sie den Kopf zum Fenster 'raus streckte, aber sie lächelte Alain freundlich zu und ließ ihn sofort eintreten, als sie ihn erkannte.

Ihr Lächeln verblasste jedoch, als sie ihren Sohn bemerkte, der blass und regungslos auf dem Brett hinter Alain lag.

„Er ist hingefallen und hat sich den Kopf angeschlagen. Ich war’s nicht!“, verteidigte er sich sofort, als er ihren ängstlichen Blick auf Caspar geheftet sah.


Caspar stöhnte mit verkniffenem Gesicht auf. In seinem Kopf schien eine Horde grüner Gnome Riverdance aufzuführen.

Seltsamerweise hatten sie alle das Gesicht eines schwarzäugigen Engels...

Als er jedoch die Augen öffnete und sich in dem Bett aufrichtete, welches er als das seiner Mutter identifizierte, und tatsächlich den Kleinen sah, der neben dem Bett saß und seinen Kopf und die Hände zum Schlaf darauf gebettet hatte, musste er warm lächeln, strich ihm eine der verfilzten und dennoch schönen schwarzen Strähnen aus dem blassen Gesicht, nahm die kleinere Hand in seine große.

Obwohl der Blonde sehr behutsam war, schlug der Jüngere sofort die Augen auf und sah ihn einfach nur stumm an.

Und ebenso schweigend umarmte Caspar ihn, flüsterte ihm dann ins Ohr: „Danke, dass du mich hierher gebracht hast – wie immer dir das auch gelungen ist...“

Dann legte er sich zurück, weil ihm doch ziemlich schwindelig war, ließ aber nicht die Hand des anderen los, schloss die Augen und wisperte leise: „Weißt du, ich habe als Kind immer davon geträumt, dass zu Weihnachten ein Engel kommt und mit uns feiert... Und als ich dich das erste Mal sah... bist du mir genau wie so ein Engel vorgekommen... Deswegen... Würdest du Weihnachten mit mir verbringen?“

Er lauschte angespannt, drückte die Hand etwas fester, als könne er den Schwarzäugigen so vom Gehen abhalten, wartete auf die Antwort, die so oder so sein Leben verändern würde...


Virginia rannte die fünf Stufen zum Bürgersteig fast hinunter und half Alain, den regungslosen Körper ihres Sohnes in ihr Bett zu tragen. Mit schnellen, geübten Bewegungen untersuchte sie die Wunde und desinfizierte sie gründlich.

Alain stand neben ihr und erklärte ihr leise, was passiert war. Er schwieg, als sie ihn in mütterlichem Ton zurechtwies, er hätte wegen seiner Verletzung gar nicht baden dürfen.

Virginia bat ihn aufzupassen, dass Caspar sich im Schlaf nicht zu heftig bewegte und rauschte hinaus, um Tee und Suppe zu kochen.

Alain kniete neben dem Bett nieder, so dass er die Tür im Blick hatte und legte den Kopf auf seine verschränkten Arme. /Du musst wach bleiben!/, sagte er zu sich selbst. /Nur einen Moment die Augen schließen... Aber du darfst nicht einschlafen./

Sein Kopf schien nur noch aus hämmernden Schmerzen zu bestehen, und wenn er daran dachte, dass es Caspar noch viel schlimmer gehen musste, konnte er sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.

Er musste doch eingeschlafen sein, denn er erwachte erst, als jemand seine Hand ergriff. Erschrocken fuhr er hoch und sah direkt in Caspars braune Augen.

Überrascht ließ er es geschehen, dass Caspar ihn umarmte und ließ ihn auch ausreden, als dieser kaum hörbar seine Bitte hervorbrachte.

Dann jedoch zog er zweifelnd eine Augenbraue hoch und erwiderte, ebenso leise:

„Du musst dir den Kopf wirklich böse angeschlagen haben!“, und entzog ihm die Hand, die dieser noch immer umklammert hielt.

Er stand entschlossen die Müdigkeit verdrängend auf und ging in die Küche zu Virginia.

Er wurde gleich freundlich empfangen, indem sie ihn besorgt musterte und ihm drei Teller in die Hand drückte.

„In der Schublade mit dem roten Knauf findest du Löffel. Deck bitte schon mal den Tisch! Brot ist in der weißen Metalldose neben dem Toaster. Du siehst halb verhungert aus!“

Alain tat schweigend, was sie ihm aufgetragen hatte und stellte sich dann mit auf dem Rücken verschränkten Armen neben sie.

„Caspar ist wach.“, sagte er schließlich leise, während er einen Schritt zurück trat, damit Virginia ungehindert eines der Schubfächer neben dem Herd öffnen konnte.

Virginia schenkte ihm ein breites Lächeln.

„Schön! Dann kannst du ihm ja Bescheid sagen, dass das Essen fertig ist!“

Missmutig stapfte Alain aus der Küche. Er hatte keine Lust, wieder allein mit dem Mann zu sein. /Engel.../, dachte er kopfschüttelnd /Der spinnt doch. Oder er ist wirklich blauäugig.../

Caspar war wieder eingeschlafen, doch Alain hatte keine Hemmungen ihn zu wecken. Um ihn nicht berühren zu müssen, was dieser falsch auslegen könnte, warf er einfach zwei der Kissen, die Virginia neben das Bett gelegt hatte, damit diese sie nicht stören konnten, nach Caspar.

„Es gibt was zu essen.“, rief er Caspar noch zu, das Zimmer schon wieder verlassend.

Die Bohnensuppe war sehr gut, doch Alain war nicht in der Stimmung, dies zu würdigen. Er würde es nicht mehr lange aushalten ohne seine Drogen. Natürlich beherrschte er sich, aber er wäre am liebsten aufgesprungen und rausgerannt.

„Nun... Nathanael“, begann Virginia fröhlich, „Ich nehme mal an, dass du so heißt... ich habe beschlossen, dass du über die Feiertage bei uns bleibst! Und keine Widerrede! Ich hab dich jetzt für das Weihnachtsessen mit eingeplant und ich hab sogar schon ein passendes Geschenk für dich gefunden!“

Alain versuchte zu widersprechen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Falls du glaubst, du müsstest unbedingt mit deiner Familie feiern, ist diese natürlich auch herzlichst eingeladen!“

Alain zuckte hilflos mit den Achseln und murmelte eine kaum hörbare Zustimmung und etwas, das man mit etwas gutem Willen, und davon besaß Virginia besonders viel, als „Danke“ auslegen konnte.

Er vermied es, Caspar anzusehen und löffelte stumm weiter seine Suppe.

/Na toll!/, dachte er sarkastisch. /Weihnachten im fröhlichsten Familienkreis. Und wann zum Teufel soll ich mich dann mit Simon treffen?/. Er musste seinen Dealer unbedingt sehen, sonst würde er durchdrehen.

Aber er setzte seine Maske mit dem freundlichen Lächeln auf und sah sich aufmerksam im Esszimmer um, noch immer vermeidend, in Caspars Richtung zu sehen.


Caspar aß schweigend, versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Das Essen schmeckte gut, auch wenn Bohnensuppe nicht unbedingt sein Leibgericht war, aber ob es nun ein Festmahl oder trockenes Brot war blieb sich im Moment gleich – seine Geschmacksnerven schienen ohnehin auf unangenehme Weise betäubt und nichts mochte ihm wirklich schmecken.

Es war nicht einmal Nathanaels Zurückweisung. Innerlich hatte er _gewusst_, dass der Schwarzäugige niemals zugestimmt hätte, zu bleiben, wäre seine Mutter nicht gewesen. Irgendwie konnte er es auch verstehen. Er erinnerte sich an die grässlichen Wunden im Nacken des Jüngeren und dachte daran, dass jemand, der solche Wunden hatte einstecken müssen, auch seelische Verletzungen davongetragen haben musste. Vermutlich war Vertrauen ein Fremdwort für ihn... und ein... _Kunde_ sicherlich niemand, bei dem man damit anfangen konnte, es zu erlernen...

Aber er konnte den schleichenden Wahnsinn in Nathanaels Augen glitzern sehen, die unstillbare Gier nach vollkommenem Rausch. Und er wusste, dass, wenn der Kleinere nicht von selbst zu ihm kam, er am Ende schließlich doch gegen die Drogen verlieren würde. Und gegen ein... _Ding_ zu verlieren war weitaus schlimmer, als von einem Menschen oder dessen Gefühlen besiegt zu werden...

Er dachte an den Augenblick zurück, in dem die weißen Tütchen mit dem Wasser im Abflussrohr vor seinen Augen verschwunden waren.

Warum nur hatte er gewusst, dass es nichts bringen würde? Dass er mit dieser Tat nicht auch Nathanaels Sucht wegspülen konnte?

Was zum Teufel nützten ihm ein Medizinstudium und die Grundlagen der Psychologie, wenn er sie nicht auch im echten Leben verwenden konnte? Nicht _hier und jetzt_ anwenden konnte?

Schweigend stand er auf und räumte sein Geschirr ab, schaute nur kurz noch einmal ins Esszimmer hinein, den Anblick seines schwarzhaarigen Engels meidend, erklärte einsilbig: „Mom, ich muss kurz weg – bin bald wieder da...“

Mit wenigen, abgehackten Griffen, die nichts mit der üblichen Eleganz eines durchtrainierten Kampfsportlers gemein hatten, machte er sich den schwarzen Mantel und einen leicht schimmernden, dunkelblauen Schal um und war auch schon verschwunden, bevor seine Mutter ihm in den Flur folgen und ihn wie sonst üblich an der Tür verabschieden konnte.

~.~

Er brauchte bei weitem nicht so lange wie damals, als er Nathanael gesucht hatte. Er wusste ungefähr wo er den Dealer finden würde und wenn er nicht da war, dann trieben sich garantiert irgendwelche einschlägig bewanderten Gestalten in der Nähe herum, die er fragen konnte. So dauerte es auch nicht einmal eine halbe Stunde und zwei kurze Gespräche, bis er den Mann gefunden hatte, den er suchte.

Wieder empfand er diese unterschwellige aber äußerst präsente Gefühl der Aversion gegen diesen Typen. Er strahlte etwas seltsam aufdringlich Unangenehmes aus, geradeso wie ein fast unerträglicher Geruch.

Der Dealer sah ihn nur abschätzig an. „So sieht man sich wieder... Ich nehme an dieses Mal willst du Stoff statt Informationen, eh? Eigentlich handele ich ja nur mit Leuten, die ich kenne, aber ich will mal nicht so sein. Willst du was Bestimmtes?“

Caspar zögerte, dann fragte er: „Was hat er sonst genommen?“

„Oh, es ist für den Kleinen? Na ja, hübsch ist er ja, dass muss man ihm lassen... Und für Geld oder Drogen tut er so ziemlich alles, schätze ich... Hab ja gehört, er soll richtig talentiert sein, stimmt das? Zu dumm, dass ich mich nicht auf meine Kunden einlasse... Ist schlecht fürs Geschäft...“, plauderte er mit unverbindlichem Tonfall. Offensichtlich machte ihm das ganze Spaß.

Der Blonde jedoch versteckte seine unbändige Wut hinter einer Maske der Ausdruckslosigkeit, wiederholte mit starrem Gesicht unnachgiebig seine Frage.

„Ach, bald ist das Fest der Liebe, da muss es was Besonderes sein, meinst du nicht auch? Hier... das ist besser. Viel besser. Ziemlich neu. Keine Nebenwirkungen. Eine halbe Tablette reicht für ein bis zwei Stunden Vollrausch vom Feinsten...“

Im Tausch gegen ein paar Geldscheine bekam er eine unscheinbare Pillendose, die normalerweise Vitamintabletten enthielt, in die Hand gedrückt, versuchte dabei so gut wie möglich Hautkontakt zu vermeiden.

Caspar fühlte sich merkwürdig. Eine seltsame Distanz hatte sich in ihm ausgebreitet, ließ die Realität und jegliche Wahrnehmungen sonderbar dumpf werden. Der Student hatte geglaubt, sich für diese Handlung die Hand abhacken zu müssen oder dass er vielleicht würde kotzen müssen vor Abscheu. Doch nichts davon trat ein. Stattdessen steckte er die Pillendose weg als würde ihn das alles nichts angehen und ging grußlos, schwang sich drei Meter weiter auf sein – natürlich – schwarzes Motorrad – eine wunderschöne Kawasaki ZX-10R für die er wohl ewig gespart hatte mit einem dunkelblauen Tribal-Muster darauf, welches er selbst aufgeklebt hatte.


Virginia ließ ihm kaum Platz zum Atmen, so mütterlich besorgt wuselte sie um ihn herum. Alain grinste in sich hinein als sie in besorgtem, mütterlichem Ton auf Caspars Unvorsichtigkeit schimpfte:

„Dass der Junge in SEINEM Zustand auch noch Motorrad fahren muss... der sollte lieber im Bett bleiben und warten bis es ihm wieder richtig gut geht! Und ich bleib wieder auf dem ganzen Nachtisch sitzen. Naja, dann muss er ihn halt alleine essen, wenn er zurückkommt!“

Doch als sie das schadenfrohe Grinsen des Jungen sah, baute sie sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor ihm auf.

„Und nun zu dir! Was hast du dir nur dabei gedacht...“

Alain hörte gar nicht mehr hin. Er beschränkte sich darauf eine reuevolle Maske aufzusetzen, während er mit den Gedanken schon wieder weit weg war.

Wie kam der Mann nur auf „Engel“?

Er hatte in einem Kinderbuch (extragroße Schrift) von Engeln gelesen und sie waren immer als edel, rein, unschuldig und wunderschön bezeichnet worden. Seine Freier hatten ihn früher manchmal „schön“ genannt, aber inzwischen war sein Körper verbraucht. Im Winter, wenn die Kälte seine Haut austrocknete und aufriss und die Menschen genug mit sich selbst und ihren Winterdepressionen zu tun hatten, war es am schlimmsten.

Endlich ließ Virginia ihn in Ruhe und er schlenderte am Bücherregal entlang und entzifferte die Buchrücken, bis sie mit dem Nachtisch zurück kam.

Es war schön, einfach dazusitzen, Tiramisu in sich rein zu schaufeln und dem neusten Klatsch und Tratsch zu lauschen.

Als Virginia den Schlüssel im Schloss hörte lief sie sofort an die Tür und Alain blieb allein und verunsichert auf dem Sofa zurück.

/Ich passe nicht hierher!/


Der langhaarige Blondschopf huschte wie ein Schatten durch den Nieselregen, während sich die Nacht nun endgültig der Pulsader Amerikas bemächtigte. Durch die schwarze Kleidung verschmolz er perfekt mit der Dunkelheit und nur sein hellfarbenes Gesicht und die honigblonden Haare erschienen wie ein verschwommener Fleck im verregneten Dunkel, sodass ihn ein ferner Beobachter wohl für eine Geistererscheinung gehalten hätte.

Seine geschmeidige Beweglichkeit hatte er wiedergewonnen und man mochte es nicht glauben, aber irgendwie fühlte er sich erleichtert. Innerlich hatte er mit Nathanael abgeschlossen. Entweder er würde aus freiem Willen zu Caspar kommen und bei ihm bleiben oder er würde es nicht tun. Es lag nicht in seiner Macht, Nathanael zum einen oder zum anderen zu bewegen. Entweder Gott meinte es gut mit ihm oder er interessierte sich nicht für das junge Menschlein, dessen Leben durch einen seiner Engel völlig aus der Bahn geraten war.

/Jedenfalls kann keiner behaupten, mein Leben sei langweilig/, dachte er ironisch und drehte den Schlüssel im Schloss.

„Bin wieder da!“, rief er in die warme, aus allen Ecken Gemütlichkeit ausstrahlende Wohnung hinein.

„Ah, Caspar! Wo bist du überhaupt gewesen? Du warst plötzlich einfach weg!“, rief sie und sah ihn vorwurfsvoll an. Das konnte sie wirklich sehr gut, wenn sie es auch selten tat. Irgendwie vermutete Caspar, dass Frauen dieser Blick angeboren war... Vielleicht ebenso sehr, wie der Instinkt, der gute Mütter spüren ließ, wann ihren Kindern die größte Not drohte. Jedenfalls schien er bei der seinen ausgezeichnet zu funktionieren. Wieso hätte sie Nathanael sonst so unkonventionell zu einem gemeinsamen Weihnachten einladen sollen?

„Ich will dich nicht anlügen, Mom, aber glaub mir, dir würde es nicht gefallen. Es hat etwas mit Nathanael zu tun – ich hoffe das reicht dir als Erklärung. Und sei mir nicht böse, aber ich bleibe auch nur kurz – und werde dieses Jahr nicht Weihnachten mit dir feiern können.“

Jetzt war es heraus. Den Entschluss hatte er während des Fahrens gefasst. Wenn er auf seinem Bike saß und den Fahrtwind an seinen Kleidern zerren spürte, konnte er ohnehin am besten denken. Und er spürte, dass seine Entscheidung richtig war. Es würde nichts bringen, auf Nathanael einzustürmen. Wenn er wirklich wollte, dann würde er von selbst kommen – und wenn nicht... nun, dann hätte das Ganze ohnehin keinen Sinn. Schließlich wollte er ihn zu nichts zwingen...

Seine Mutter sah ihn ehrlich enttäuscht an, aber er bekam auch ihr vollstes Verständnis zu spüren. „Ich habe es befürchtet... Aber gut, du bist jetzt erwachsen und ich kann dich nicht mehr behandeln wie ein kleines Kind. Du musst selbst entscheiden, was du für das Beste hältst. Doch ich will hoffen, dass dich wenigstens deine Schwester zu Gesicht bekommt, verstanden? Ihr seid immerhin Geschwister!“

„Ja, Mom. Danke... Und ich ruf dich dafür an, in Ordnung? Dann kannst du mir sagen, wie du so schnell ein Weihnachtsgeschenk für ihn auftreiben konntest... Und was es überhaupt ist...“

Der schwarzäugige Engel, ungeschlagenes Hauptthema all seiner Gedanken, hockte auf der Couch und Caspar musste nicht versuchen, sich an seinen Psychologiekurs zu erinnern, um zu erkennen, dass ihm seine Umgebung nicht wirklich behagte. Vielleicht fühlte er sich nach all der Zeit auf der Straße tatsächlich wohler in einem abbruchreifen Haus als in der beschaulichen Stube einer achtbaren amerikanischen Bürgerin.

„Nathanael“, sagte er leise und schreckte den anderen ungewollt aus irgendwelchen Gedanken. „Ich möchte kurz mit dir unter vier Augen sprechen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten ging er in seine ehemaligen Räumlichkeiten, die nun zu einem Gästezimmer umfunktioniert worden waren. Das Zimmer war liebevoll eingerichtet, sodass man fast die Tatsache vergessen konnte, dass man nur Gast war und nicht wirklich hier lebte. Das große, weiche Bett war für den Kleinen frisch bezogen worden und immer Zimmer hing der leichte, sanfte Geruch eines Trockenblumen-Potpourris.

Der Kleinere setzte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf das Bett und starrte stur an ihm vorbei.

Traurig über die förmlich greifbare Distanziertheit, warf er dem Jüngeren die Plastikdose hin. „Da... was besseres konnte ich nicht finden, aber ich hoffe es genügt fürs erste. Der Typ meinte, eine halbe Tablette sei genug. Mehr als eine Ganze ist nicht zu empfehlen, auch wenn es angeblich keine Nebenwirkungen hat... Keine Angst, ich verlange dafür keine Gegenleistung. Wahrscheinlich will ich nur mein Gewissen damit beruhigen, auch wenn ich dafür deine Drogenkarriere vorantreibe. Versprich mir nur, dass du nicht mit Achtzehn tot in einer Gasse liegst, okay? Hm... das war’s schon... Ich weiß nicht, ob es dich beruhigt, aber ich werde Weihnachten nicht hier verbringen. Du kannst jederzeit rüberkommen, wenn du magst, aber ich... ach egal“, er brach ab, sah dem verloren wirkenden schwarzhaarigen Elfen auf dem Bett kurz aber tief in die Augen, sprach dann leise: „Man sieht sich... vielleicht.“

Damit ging er wieder auf den Flur hinaus, verabschiedete sich noch kurz aber herzlich von seiner Mutter und ging dann.

~.~

Weit kam er jedoch nicht. Seine Kawasaki stand nur wenige Meter weit entfernt im Dunkeln, sodass man sie nicht gleich sehen konnte. Seufzend lehnte er sich gegen das aufgebockte Motorrad, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich weichkalte Schneeflocken in sein Gesicht fallen. Und zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, er wäre Raucher und könnte sich nun eine Zigarette anstecken.

Stattdessen blieb er reglos in der Kälte, sog einfach nur tief die eisige Luft ein und versuchte mit ihrer Hilfe seine Gedanken zu klären – was ihm nicht gelang.


Eine ganze Weile starrte Alain einfach nur auf die Dose in seiner Hand, ohne zu begreifen, was das sein sollte. „V I T A M I N C“, buchstabierte er... bis er endlich begriff, was Caspar damit meinte.

/Ich will nicht mit 18 sterben!/, dachte er, ironisch lächelnd. /Ich hoffe, dass das viel schneller geht! Außerdem weiß ich eh nicht, wann ich 18 werde... also ist es schwierig sich an den Befehl zu halten./ Er stockte und legte den Kopf leicht schief, als würde er auf irgendetwas lauschen.

Das Döschen noch in der geballten Faust rannte er plötzlich hinter Caspar her aus der Wohnung, vorbei an der verwunderten Mrs. Blackwell.

Etwas verwirrt blieb er auf der Straße stehen und sah sich um. Es schneite schon wieder und einige Augenblicke sah er fast gar nichts. Dann bemerkte er, einen mattschwarzen Schimmer, fast unsichtbar im Schatten des Hauses. Zögernd trat er näher und erkannte die Silhouette eines Mannes der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und ihn nicht zu bemerken schien.

„Ich brauche keine Almosen!“, verkündete er. Er spürte selber, dass er klang wie ein kleines, trotziges Kind, doch er konnte nichts dagegen tun. „Ich bezahle mein Zeug entweder mit Geld oder mit... Naturalien.“ Einen Moment sah er ihn störrisch an, verzog dann jedoch das Gesicht zu einem anzüglichen Grinsen.

„Oder hat es dir nicht gefallen?“ Er hasste sich dafür und verstand nicht, warum er das jetzt gesagt hatte, aber die Nähe des Mannes verunsicherte ihn. Er wusste nicht, ob dieser es nun ehrlich meinte. Es kam oft vor, dass seine Kunden ihm ihre „Freundschaft“ anboten und ihn, wenn er darauf hereinfiel, ausnutzten und über seine Leichtgläubigkeit lachten. Er hatte sich geschworen, dass ihm das nie wieder passieren würde.

Eine Weile hatten sie sich nur schweigend angesehen. Caspar zitterte, doch Alain schob es auf die Kälte.

„Außerdem musst du mir noch eine neue Tasche besorgen!“, brach er abrupt das Schweigen und hielt ihm die kaputte Umhängetasche vors Gesicht.

„Und du musst mir mal das Buch ausleihen, aus dem du deine Erklärung für das Wort „Engel“ hast... wahrscheinlich stimmt sie nicht mit der aus meinem Buch überein!“

Er legte den Kopf schräg und beobachtete die Reaktion des anderen mit hochgezogener Augenbraue. Dann musste er, gegen seinen Vorsatz, grinsen, so komisch war Caspars ungläubiger Gesichtsausdruck.


Caspar blinzelte verstört. Hatte er jetzt schon wieder Halluzinationen, kaum dass er Nathanael nicht gesehen hatte?

Ungläubig streckte er die Finger nach dem Jüngeren aus und die Kuppen trafen auf weichwarme Haut. Wie vom Blitz getroffen zuckte seine Hand zurück.

/Ich muss verrückt geworden sein/, dachte er mit seltsamer Heiterkeit.

Gerade eben hatte er jegliche Hoffnung aufgegeben, den Kleineren je wieder zu sehen, und nun stand er hier, wollte ihn „bezahlen“ und verlangte im gleichen Moment eine neue Tasche, was ja zwangsläufig eine neues Treffen bedeutete.

Unsicher machte er einen Schritt zurück, sodass er mit dem Rücken gegen einen der beiden Lenkergriffe stieß - wenn er Halluzinationen hatte, dann fühlten sie sich sehr real an. Aber nichtsdestotrotz war ihm dies alles zu unglaublich, als dass er es wirklich glauben konnte.

Er schlug traurig die Augen nieder, war wie betäubt während er sprach. „Natürlich hat es mir gefallen, aber... ich bevorzuge es dennoch, wenn man mit mir schläft um _meiner_ Willen und nicht... wegen meines Geldes. Deswegen _kann_ ich nicht noch einmal mit dir schlafen... nicht so. Das mit deiner Tasche... tut mir Leid. Ich werde natürlich für Ersatz aufkommen... Und eine Bibel kannst du dir auch bei meiner Mutter ausleihen... sie hat so viele, sie würde dir wahrscheinlich sogar mit Freuden eine schenken...“

Ruckartig drehte er sich um und setzte sich auf sein Motorrad. Seine Finger zitterten, während er den Motor startete und die diversen Anzeigen aufleuchteten. Doch er setzte sich weder den schwarzroten Helm auf, noch fuhr er los.

Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er leise, ohne dem Schwarzäugigen in die dunklen Tiefen zu sehen: „Wenn du mitfahren willst, solltest du dir wenigstens den Helm aufsetzen...“


Einen Moment tastete sein Blick unsicher über das Gesicht des Studenten, suchte nach Anzeichen der Unehrlichkeit, einem verräterischem Flackern im Blick. Dann verschleierte er kurz die Augen und murmelte etwas wie „Wozu?“, während er sich hinter Caspar auf die Maschine setzte. Caspar wollte anfahren, doch da kam Virginia, die die Szene offenbar aus einem der Fenster heraus beobachtet hatte, aus dem Haus gerannt.

Sie wedelte wild mit einer Daunenjacke und ließ Alain nicht eher mit Caspar mitfahren, als bis dieser, ergeben seufzend, die Jacke angezogen und bis zum Hals geschlossen hatte. Dann küsste Virginia die beiden noch auf die Wange und rief Caspar noch die Ermahnung, vorsichtig zu fahren, nach, doch sie waren schon um die nächste Kurve verschwunden.

Alain war der mütterlich besorgten Dame im Stillen doch dankbar, als der eisige Fahrtwind sein Gesicht und die Hände zerschnitt. Es war schon fast einen Monat her, dass er das letzte Mal auf einem Motorrad gesessen hatte, und Caspar fuhr auch nicht unbedingt vorsichtig... Aber wahrscheinlich suchte er auch einfach nur einen Vorwand um sich an dem Mann vor ihm festzuklammern. Er zögerte lange, ehe er seine steif gefrorenen Finger unter Caspars Pullover schob.

Enttäuscht zog er seine Hände wieder unter dem Wollpulli des Studenten hervor, als sie das Ziel erreicht hatten, und spürte sofort wieder, wie sie in der eisigen Luft zu kribbeln und zu schmerzen begannen.

Er hatte seinen Entschluss gefasst. Er würde seine Schulden begleichen, sich von Caspar noch das Geld für eine neue Tasche geben lassen und dann gehen.

/Warum weiß ich in seiner Nähe nie, ob ich wegrennen und mich verstecken soll, ihn umarmen oder nach ihm schlagen?/

Aber erstmal verschob er seine Gedanken.

„Boa... wenn wir noch länger hier draußen rumstehen erfriere ich noch! Mach endlich diese verdammte Tür auf!“


Während der Fahrt versuchte er sich auf die Straßen und die beleuchteten Anzeigen seines Motorrads zu konzentrieren, doch es gelang ihm eher schlecht als recht ob dieser verführerischen Nähe und als sich kalte, jedoch schnell wärmer werdende Finger über seine Haut stahlen und eine ganze Welle Gänsehaut über seinen Körper schickten, hätte er sich beinahe zu sehr in die Kurve gelegt und damit womöglich ihrer beider Todesurteil unterzeichnet.

Caspar war nie ein übervorsichtiger Fahrer gewesen, liebte den Reiz des schnellen Fahrens, den kalten Wind, der mit seinen eisigen Fingern über ihn strich und ihn einhüllte, aber er war vor allem auch immer noch ein _sicherer_ Fahrer, der es nicht unbedingt auf einen Genickbruch und ein Leben im Rollstuhl anlegte. Nun aber fiel es ihm mehr als nur schwer, sein Bike zu lenken und einzig und allein der Gedanke, dass er mit Nathanael hinter sich um Himmels Willen keinen Unfall bauen durfte, war vielleicht dafür verantwortlich, dass sie halb erfroren, ansonsten jedoch unversehrt bei Caspars Wohnung ankamen.

Aber wie mühsam es auch gewesen war, sich zu konzentrieren, als der Schwarzhaarige seine Finger zurückzog, wünschte er sich, die Strecke von seiner Mom bis hierher wäre bedeutend länger. Erst als ihn sein Engel wider Willen ungeduldig anfuhr schreckte er aus seinen Gedanken und dem Anblick des schmalen, von fließendem Ebenholz umgebenen Gesichts, schloss mit zitternden Fingern die Haustür und in der dritten Etage schließlich auch seine Wohnungstür auf.

War es draußen so eisigkalt gewesen, dass Nathanael seine zitternden Finger hoffentlich der Kälte zuschrieb, so erschlug sie nun die Wärme, die in der sehr kleinen aber gemütlichen Zweizimmerwohnung herrschte. Es war fast ein Tag vergangen, seit Francis, wie seine Mutter ihn so gerne nannte (auch wenn Caspar fand, dass es eher ein Mädchenname war, und ihn nicht mochte – wobei die Alternative, immer wieder mit einer Theaterpuppe oder später mit einem Filmgeist verglichen zu werden – besonders zu Grundschulzeiten - auch nicht immer so toll gewesen war), die Wohnung auf dem Weg zu dem Jüngeren verlassen hatte und auch wenn die Heizkörper auf eine niedrige Stufe heruntergedreht waren, hatten die gut 20 Stunden völlig ausgereicht um aus seiner Wohnung eine Art – nach Weihnachten riechende - Vorhölle zu machen, was die Temperaturen anging.

Er dirigierte Nathanael in sein Wohnzimmer und hechtete dann durch die Räume, um die Heizkörper auszumachen und hier und da Fenster aufzureißen. Als er in der Küche war, fiel sein Blick auf ein Brotmesser, das in der Spüle lag, und für einen Moment war er versucht, alle Messer zu verstecken, doch dann ließ er sie, wo sie waren. Wenn sich Nathanael wirklich um jeden Preis umbringen wollte, dann würde er es auch tun – wenn nicht mit einem _seiner_ Messer, so mit dem, das er in der Wanne plötzlich aus dem Nichts hervorgezaubert hatte. Außerdem glaubte er nicht, dass es dem Kleineren gefiel, wenn Caspar ihm belehrend mit dem Zeigefinger vor der Nase herumfuchtelte.

Schnell setzte er noch Wasser für Tee auf, nahm einen imaginären Schluck Mut und Zuversicht und ging dann zurück ins Wohnzimmer. „Also... entweder du schläfst hier auf dem Sofa oder du nimmst mein Bett und ich mach' mich hier breit. Ganz wie du willst“, rief er betont fröhlich, um seine Unsicherheit notdürftig zu übertünchen, während er sich scheinbar gelassen mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen lehnte und versuchte, nicht gleich wieder bis über den Kopf in den beiden schwarzen Tiefen zu versinken.


Im ersten Augenblick glaubte Alain, die Hitze würde ihn erschlagen, doch schon wenig später fand er sie sogar sehr angenehm. Sein Körper kribbelte beim Auftauen wie verrückt und er war froh, dass Caspar rausgegangen war und so sein leises Schnurren nicht hören konnte.

Ein Geruch hing in der Wohnung, wie er ihn immer im Winter in den Häusern wahrnehmen konnte. Er mochte es, wenn es überall nach Essen und Nadelzweigen roch und die Kerzen, die in den Fenstern standen.

Er erschauerte, als ein kalter Luftzug durch die Wohnung pfiff. Eine Gänsehaut überzog seinen Rücken. Das Gesicht in eines von den Sofakissen gedrückt lauschte er auf das Geräusch von Caspars Schritten.

/Schläft er öfters hier auf dem Sofa? Oder warum riechen die Kissen so sehr nach ihm?/

Bei dem Gedanken musste er grinsen.

Alain sah auf und begegnete Caspars Blick.

Anstatt ihm zu antworten streckte er sich einfach auf dem Sofa aus, drückte ein Kissen besitzergreifend an sich und schloss die Augen.

Fast zwei Minuten blieb er so liegen und hörte, dass auch Caspar sich nicht von der Stelle rührte. Dann stand er auf und sah sich aufmerksam in der Wohnung um.

„Wieso hast du die Fenster aufgemacht?“, fragte er grinsend und gespielt zitternd. Er ging an Caspar vorbei durch alle Räume und schloss die Fenster wieder, lächelte den verdutzten Studenten entwaffnend an.

„Zieh doch lieber deine Jacke aus, wenn dir zu warm ist!“

Seine eigene warf er über die Garderobe und kam zurück ins Wohnzimmer.

Mit geschlossenen Augen ließ er sich an der Heizung entlang auf den Boden gleiten und kuschelte sich an das heiße Metall, das ihm fast den Rücken verbrannte; wärmte seine tauben Finger.

Das war so viel schöner als die eisüberzogenen Wände seiner Wohnnische.

Alain starrte den Weihnachtsbaum an, ohne ihn zu sehen.

Er hätte später nicht mehr sagen können, wie lange er so dagesessen hatte. Irgendwann ließ er sich auf die Seite fallen und suchte sich eine gemütliche Schlafposition.


Innerlich seufzte Caspar tief. Wusste Nathanael eigentlich, was er für eine Wirkung auf den Blonden hatte?

Wahrscheinlich nicht. Oder es kümmerte ihn einfach nicht.

Nachdenklich, noch immer – oder besser: _wieder_ - schweigend betrachtete er den Jüngeren, der sich an die Heizung schmiegte. Er selbst wäre nach wenigen Sekunden wieder zurückgewichen vor der brennenden Hitze, aber Nathan schien sie nichts auszumachen. Im Gegenteil. Doch auch wenn der Schwarzhaarige das heiße Blech nicht als schmerzend empfand, so sah er doch deutlich wie sehr sich die sonst ganz blasse feine Haut rötete.

Schnell verschwand er in sein Schlafzimmer, nahm kurzerhand sein eigenes Bettzeug, weil es schneller ging und Kissen und Decke bereits bezogen waren, machte dem Engel mit den gebrochenen Flügeln sein Nachtlager zurecht.

Dann ging er leise zu dem, wenn nicht schlafenden so zumindest vor sich hin dösenden Nathanael, lud ihn sich auf die Arme und trug ihn mit einem leichten Lächeln zum Sofa, deckte ihn gut zu. Dem Mediziner in ihm blieb dabei nicht verborgen, dass die Rötung der Haut bereits zu intensiv war, als dass sie einfach wieder verschwunden wäre. Scheinbar ohne es zu registrieren hatte der Kleine sich eine Verbrennung ersten Grades zugezogen. Nicht weiter schlimm und dennoch schmerzhaft genug, sodass der Jüngere es hätte bemerken und schon aus Reflex hätte zurückzucken müssen...

Vorsichtig strich er über eine der geröteten Stellen, spürte das Blut darunter heftiger als gewöhnlich pulsieren, wie bei Schmerzen solcher Natur üblich. Das war nicht gut. Ganz eindeutig nicht gut. Aber was sollte er schon dagegen tun? Nathanael konnte alles tun und lassen wie es ihm gefiel. Wenn Caspar ihm helfen wollte, so blieb ihm nichts weiter, als die Wunden nachträglich zu versorgen – und natürlich würde er es morgen auch tun. Zumindest das würde er sich als Medizinstudent nicht nehmen lassen, und wenn er den Jüngeren dafür fesseln und knebeln musste!

„Schlaf gut“, flüsterte er dem schönen Jungen ins Ohr, streichelte ihm kurz über die Wange und strich dabei einige der verfitzten Strähnen aus dem blassen Gesicht, stand dann auf und löschte das Licht. Sie konnten auch morgen noch reden. Besser gesagt: sie _mussten_ reden.

Leise schloss er die verglaste Tür hinter sich. Erst jetzt spürte er seine eigene Müdigkeit wieder, dafür mit umso größerer Heftigkeit. Das Motorradfahren hatte ihn mehr erschöpft als er zugegeben hätte und auch der pochende Kopfschmerz hinter seiner Stirn, an den Schläfen und im äußersten Hinterkopf, kehrte wieder in sein Bewusstsein zurück, ließ sich nicht länger verdrängen.

Leise stöhnend holte er die zweite Schlafgarnitur samt den Bezügen heraus und machte sein Bett, öffnete noch einmal kurz das Fenster. Als er sich jedoch gerade seiner Bekleidung entledigt hatte und in seinen Schlafanzug schlüpfen wollte, wurde ihm mit unerwarteter Intensität schlecht, sodass er es nur noch geradeso schaffte unter die Bettdecke zu schlüpfen. Einige Sekunden später und seine Beine hätten einfach nachgegeben.

Einen einzigen Vorteil hatte die Erschöpfung jedoch: Nachdem er sich ein paar Mal herumgewälzt hatte, um eine einigermaßen erträgliche und vor allem möglichst schmerzfreie Schlafposition zu finden, glitt er so schnell in einen unruhigen Schlaf, dass ein Beobachter es wohl schlicht und einfach mit einem Zusammenbruch verwechselt hätte.

Trotzdem sollte es keine erholsame oder gar lautlose Nacht für ihn werden...


Alain wachte nach ein paar Stunden, vor Kälte zitternd, auf und sah sich um. Sein Rücken schmerzte und er lag nicht mehr neben der Heizung.

„Verdammter Arzt!“, fluchte er leise vor sich hin, als er den Schlaf weit genug abgeschüttelt hatte, um wieder klar denken zu können.

/Wahrscheinlich hat er mich hier hoch gelegt/. Er streckte sich und stand auf um sich aus der Küche ein Glas Wasser zu holen.

Die Tischkante prallte schmerzhaft gegen seinen Hüftknochen, doch er war trotzdem zu faul, das Licht an zu machen. In der Küche war es viel dunkler als im Wohnraum, da das Küchenfenster von der Straße und so von allen Straßenlaternen abgewandt war. Als er sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatte, dass er die Küche in ihrem nächtlich tristen Grau genauer erkennen konnte, trat er an den Kühlschrank und öffnete ihn leise. „Warum muss er auch den Tisch mitten in den Raum stellen...“, grummelte er vor sich hin und rieb sich die schmerzende Hüfte. „Das hätt` auch ins Auge gehen können!“

Einen Moment starrte er in den offenen Kühlschrank, dann schloss er ihn wieder. /Was wollte ich eigentlich?/

Etwas verwirrt schloss er die Tür wieder und sah sich die Notizzettel an, die Caspar überall mit Magneten festgepinnt hatte, zwar chaotisch durcheinander und trotzdem ein schönes Gesamtbild ergebend. Zeichnungen, mit Kuli gekritzelt, hingen da 'rum, irgendwelche Auflistungen, die Alain aber aufgrund der Dunkelheit nur als Kontraste wahrnehmen konnte, Fotos und Zeitungsausschnitte.

Sein Blick fiel auf eine Kanne Tee, die neben dem Toaster stand, und er griff danach. Schon hatte er angesetzt einfach aus der Kanne zu trinken, als er sich daran erinnerte, dass er hier nur Gast war und sich wenigstens etwas besser benehmen sollte, und öffnete sämtliche Schränke, bis er die Tassen gefunden hatte. /Wer bewahrt Tassen auch schon unter der Spüle auf?/, entschuldigte er sich bei sich selbst für sein langes Suchen. Er setzte sich auf die Anrichte und trank den Tee, nachdenklich auf den Kühlschrank gegenüber starrend. Alain lauschte auf jedes leise Geräusch, das Grummeln der Heizung, das Knarren des Gebälks, den Wind, der an den Fenstern rüttelte und große, weiche Schneeflocken dagegen trieb, und zuckte zusammen, als er ein leises Stöhnen vernahm. Vor Schreck hätte er fast seine Tasse fallen gelassen, wenn sich seine Finger nicht gleichzeitig so verkrampft hätten, dass es ihm unmöglich gewesen wäre sie abzustellen. Einige Momente saß er einfach nur da und wartete, bis sein Herz aufhörte wild gegen seine Brust zu hämmern und seine Hände sich wieder entspannten, ehe er sich von der Anrichte gleiten ließ und hinüber in Caspars Schlafzimmer ging.

Caspars Zimmer war vom Licht einer Straßenlaterne erhellt und Alain kniff die Augen zusammen. Nach der Dunkelheit, die in der Küche geherrscht hatte, war ihm selbst dieses Dämmerlicht unangenehm.

Als er das Zimmer wieder erkennen konnte sah er sich nach Caspar um.

Der junge Mann warf sich in seinem Bett unruhig hin und her, murmelte im Schlaf vor sich hin. Ab und zu entschlüpfte seinen Lippen ein leises Stöhnen. Schweiß rann über sein Gesicht. Die Decke hatte er von sich getreten und Alains Blick wanderte zu dem offenen Fenster. Mit drei schnellen Schritten trat er vor, um es zu schließen. Zumindest sah so die Theorie aus. Tatsächlich verhedderte er sich nach dem ersten Schritt in Caspars Pullover, den dieser achtlos auf den Boden geschmissen hatte, und er stolperte mehr gegen die Scheibe, als dass er darauf zugetreten wäre.

Hastig sperrte er den kalten Wind aus, schaufelte vorher noch den sich schon auf der Fensterbank angehäuften Schnee nach draußen und drehte sich dann wieder zu dem Schlafenden um. Zögernd trat er einen Schritt näher, legte die Hand auf Caspars Stirn, um ihn zu beruhigen. Er zog sie jedoch sofort zurück. Caspar glühte.

Alain verließ den Raum und machte sich auf die Suche nach einem Badezimmer. Da er keine Lust hatte, erst nach einem frischen Handtuch zu suchen, nahm er einfach das, das neben dem Waschbecken hing, drehte das kalte Wasser auf und tränkte den Stoff.

In dem Medizinschrank daneben kramte er eine Weile herum, bis er einsah, dass er im Dunkeln nichts finden würde und entschloss sich das Licht an zu machen. Es dauerte eine Minute, bis seine Augen sich an das künstliche, grelle Licht gewöhnt hatten, doch dann fand er recht schnell, was er suchte: Unter Pflastern (einige mit bunten Bildchen drauf, wie er kichernd feststellte) vergraben lagen ein paar kleine, silberne Blechdosen. Alain war sehr dankbar dafür, dass Caspar die Dosen alle extra beschriftet hatte, und er so recht schnell die mit der Aufschrift "Fieber" fand. Er steckte sie in die Hosentasche, griff sich die Packungsbeilage und wollte den Schrank schon schließen, als ihm die "Beruhigung"-Dose ins Auge fiel. Hastig und mit einem leichten Anflug von Schuldgefühlen schluckte er drei der Pillen und setzte sich in der Küche an den Tisch, um unter der inzwischen erhellten Lampe besser lesen zu können. Das nasse Handtuch hatte er in die Spüle geworfen und saß nun etwas unschlüssig über dem in winziger Schrift bedrucktem Papier. Es dauerte fast fünf Minuten, bis er den Text so weit genug entschlüsselt hatte. Mit einem Schulterzucken griff er sich das Handtuch, füllte seine Tasse wieder mit Tee und tapste zurück in das dunkle Zimmer des Studenten.

Alain traute sich nicht Licht anzumachen und stolperte natürlich, aus der hellen Küche kommend, wieder über die überall verstreuten Dinge. Er spürte wie seine stechenden Kopfschmerzen langsam nachließen und zog in Erwägung, noch einmal ins Bad zu gehen und sich noch eine Tablette zu holen, doch in diesem Moment stöhnte Caspar wieder leise. Wie um irgendetwas zu entkommen warf er sich hin und her.

Die Tasse klapperte leise, als Alain sie vorsichtig auf dem Nachttischchen abstellte. Er beugte sich über den Blonden, strich ihm vorsichtig einige schweißverklebte Strähnen aus dem Gesicht und legte ihm das kalte Handtuch auf die Stirn. Dann nahm er ihn in den Arm, richtete ihn vorsichtig, versucht, den anderen nicht zu wecken, in eine aufrechte Position und schob ihm eine Tablette zwischen die Lippen. Alain setzte sich am Kopfende des Bettes auf Caspars Kissen, zog den glühenden Körper des anderen leicht an sich, so dass dieser sich gegen seine aufgestellten Beine lehnen konnte, und flößte dem Mann einige Schlucke des Tees ein, bis er sicher sein konnte, dass er auch die Tablette mitgeschluckt hatte.

Dann ließ er Caspar wieder auf seine Matratze gleiten, seinen Kopf in Alains Schoß gebettet und strich ihm beruhigend über die Wange, bis er nicht mehr ganz so stark zitterte. Vorsichtig, um Caspar nicht aufzuwecken erhob sich Alain wieder, holte die Decke des Älteren und deckte ihn ordentlich zu.

Er war schon fast zur Tür hinaus, als er noch einmal zurück sah.

Casper sah wirklich mitleiderregend aus, wie er da so allein in dem recht großen Bett lag. Er hatte wieder angefangen zu murmeln und zu wimmern.

Seufzend drehte er sich um, ging zu seiner Couch zurück, zog sich Jeans und T-Shirt aus und legte sich wieder hin, eng in seine Decke gewickelt und auf das leise Wimmern aus dem Nebenzimmer lauschend.

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