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Wer lieben will, muss reisen!

Teil 1

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Ich saß in einem Café. Vor mir stand ein großer Becher mit warmem Kakao mit einer extra Portion Sahne und einem Schuss Baileys. Ich trinke immer Kakao. Nichts anderes kommt für mich in Frage. In dieser Angelegenheit, bin ich immer noch ganz Kind.

Ich mochte einfach keinen Kaffee, obwohl ich schon 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Aber ich vermisse die Wirkung des Energieschubs.

Kann man sagen, dass ich das vermisse? Kann man etwas vermissen, dass man gar nicht mal kennt?

Diese Fragen stellte ich mir, während ich durchs Fenster in die Dunkelheit schaute. Die beleuchtete Straße war durch den Regen, der gegen die Scheiben prasselte, verschwommen. Das Lied, das gerade über meine Kopfhörer anspielte, passte für mich gerade total. Breakfast in America von Supertramp.

Ich war schon immer ein Kind der 80-er Jahre, zumindest was die Musik betraf.

Mein Traum war es schon immer, ja schon als ich ein kleines Kind war und mein Vater mir von der Zeit erzählte, wo er als junger Mann durch Amerika getrampt ist, mal nach Amerika zu reisen, wenn auch nur einmal in meinem Leben.

Ich wollte unbedingt einmal New York in Real Life erleben. Diese Stadt, dieses Land fasziniert mich einfach. Ich weiß nicht warum. Wahrscheinlich hat mich einiges geprägt von den endlos schönen Geschichten, die mir mein Vater immer erzählt hat, als ich noch ein kleines Kind war. Immer wenn mein Dad mir was von seinen amerikanischen Abenteuern erzählte lagen wir grundsätzlich immer vor unserem Kamin. Dadurch verbinde ich Amerika immer mit dem Geruch und der Wärme von brennendem Holz. Mir ist bewusst, dass Amerika ein ganz anderes feeling haben wird. Nicht so gemütlich, aber sehr viel spannender, als wenn ein Holzscheitel in sich zusammenfällt.

Vor der Freiheitsstatue stehen, und sagen wie klein ich mir doch vorkomme, das träume ich ganz oft nachts, und diesen Traum werde ich mir mit Gewissheit erfüllen! Aber nicht alleine, sondern nur mit dem Menschen, der die Liebe meines Lebens ist, und auch den Wunsch hegt, nach Amerika zu reisen. Das war eine von mir gestellte Voraussetzung.

Amerika war mein Lebensinhalt. Das spürte ich förmlich. Ich spürte, dass es mich irgendwann dahin ziehen wird.

Nur bis jetzt habe ich die wahre Liebe noch nicht gefunden. In Gedanken schob ich den Traum weitere zehn Jahre in meinem Leben nach hinten, und löffelte deprimiert den Haufen Sahne von meinem Kakao. Ich wechselte den Song. Mad World von Gary Jules.

Ich schaute weiter durch das Fenster, in die dunkle und feuchte Außenwelt hinaus, während ich den warmen Becher mit beiden Händen umfasste, um diese zu wärmen. Aus irgendeinem Grund habe ich immer kalte Hände. Viele meiner Freunde finden das gruselig und geben mir selten die Hand. Sie haben es lieber mich zu umarmen. In bezeichne meine Freunde auch nicht als Freunde, sondern als meine Brüder und Schwestern. Sie hingegen, bezeichnen mich liebevoll als den lebenden Tod, denn ich war ziemlich dünn. Ich war ein Hauch von nichts. Ein Strich in der Landschaft. Eine Ansammlung von Knochen, wo man jeden Moment erwartet, dass mein Skelett anfängt zu klappern, wenn ich mich bewege.

Ich hatte schwarze Haare, und trug auch eigentlich fast nur diese eine Farbe, die offiziell gesehen ja keine Farbe war. Ich sah die Sache anders.

Ausnahmen sind festliche Anlässe, wie Hochzeiten und Feiertage oder Tage wo ich mich übernatürlich wohl fühle (was aber selten bis nie der Fall war). An diesen Tagen beging ich Color Blocking nach allen Regeln der Kunst. Was soviel bedeutet, dass es keine gibt! Heute trug ich einen schlichten schwarzen Rollkragen Pullover und eine schwarze Hose mit unzähligen Taschen und Nieten. Das einzig farbige an mir war heute das lila an meinem schwarz-lila karierten Nietengürtel.

 

Draußen, hinter der mit Regentropfen gesprenkelten Fensterscheibe fiel mir ein Junge auf. Oder sollte ich viel mehr sagen ein Wesen, das es versteht, alle Regeln der Kunst und des Color Blockings zu brechen.

Dieser Junge hatte türkis-blaue Haare, die unter einer Kapuze hervor schauten. Die Frisur sah aus wie von einem anderen Stern. Ich würde sogar darum wetten, dass sie im Dunkeln leuchtet!

Er betrat das Lokal. Jetzt konnte ich diesen faszinierenden Jungen –mir fiel auf den Schlag kein Wort ein, dass diesen Jungen besser beschrieb- viel besser erkennen. Was noch viel besser war, dass er direkt in meine Richtung guckte. Er sah nicht mich an, sondern wahrscheinlich jemanden, der ein Tisch hinter mir saß oder so.

Passend zu den blauen Haaren, hatte dieser Junge auch eisblaue Augen. Seine Gesichtszüge waren weich. Er hatte eine unglaublich reine Haut für sein Alter. Wie alt mag er wohl sein? Mein Alter, oder älter? Aber auf keinen Fall jünger als ich, dachte ich mir. Er ging an mir vorbei, schaute mich auch kurz an. Ich meinte ein kleines Lächeln erkennen zu können, als er mich ansah. Ich jedoch redete mir ein, dass das täuschte. Mit einem Mal war dieser Mann aus meinem Blickfeld. Schade.

Ich drehte mich ein paar mal unauffällig zu ihm um. Er saß dort mit einem anderen Jungen. Einem unscheinbaren aber jedoch anziehenden Jungen. Ich schämte mich, fremde Leute so offensichtlich zu stalken. Ich trank meinen Kakao in einem Zug aus, wobei ich mir meine Zunge verbrannte, die sich jetzt auch ziemlich pelzig anfühlte. Mein Ziel waren jetzt die Toiletten, damit ich meinen Mund und meine Zunge mit kaltem Wasser kühlen konnte. Als ich wieder kam, setzte ich mich auf die andere Seite des Tisches, um ihn einfach weiterhin bewundern zu können. Ich bestellte mir bei der Bedienung einen weiteren Kakao mit extra viel Sahne. Ein neuer Song musste her! Kein Zurück von Wolfsheim.

Während ich auf meinen warmen Kakao wartete, damit ich meine inzwischen wieder kalt gewordenen Hände darum legen kann, schaute ich nach draußen, und schaute nach draußen, hin und wieder schaute ich zu den zwei Jungs. Insbesondere schaute ich zu dem Jungen mit den blauen Haaren und den wundervollen eisblauen Augen. Sie waren offensichtlich in ein intensives Gespräch vertieft.

Von einem Augenblick, auf den anderen gab es ein Riesengepolter im Lokal. Erschrocken schaute ich in die Richtung, wo der Krach her kam.

Das Getöse kam von den zwei Jungs. Der Blauhaarige ist wohl so sehr aufgesprungen, dass der Stuhl, auf dem er saß, zurück gefallen ist. Auch der Tisch stand nicht mehr auf den extra dafür angefertigten Tischbeinen. Überall lagen Scherben.

Es war nicht zu übersehen, dass sie sich stritten. Ich wurde neugierig und zog meine Stöpsel aus den Ohren. Obwohl… das wäre eigentlich nicht nötig gewesen, so laut wie sie sich anschrien.

„Was ist so schlimm daran frei zu sein?“, schrie der Blauhaarige. „Warum willst du dich verstecken, warum kannst du nicht zeigen wer du wirklich bist? Du bist nicht du selbst! Auch jetzt nicht! Wirst es auch nie sein können.“ Mit diesem Satz schlug er noch einen weiteren Stuhl um und eilte aus dem Lokal.

Ich konnte nicht anders, und ihm hinterher. Ich legte 30 Euro auf den Tisch. Es war mir gerade total egal, dass es viel zu viel Geld war. Ich wollte einfach zu ihm. Ich wusste nicht warum und dachte auch ehrlich gesagt nicht wirklich darüber nach. Ich war schon immer ein Mensch der zuerst auf seinen Bauch hört und erst dann auf die Gedanken in seinem Kopf.

Ich stürmte durch die Tür des Lokals nach draußen. Es war so nass und dermaßen kalt, dass ich meine Jacke enger zog. Ich suchte nach dem blauhaarigen Jungen. Ein regelmäßiges donnern tönte in meinen Ohren. Als würde jemand gegen Blech treten. Genauso war das auch. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, dass der Blauhaarige gegen einen wunderschönen alten VW-Bus trat. Es war mein absolutes Lieblingsauto. Genauso wie er da stand. In Rot und weiß. „Was machst du da?“, fragte ich ruhig, aber mit einem entsetzten Ton in der Stimme. Es war nicht zu fassen, dass er so einem wunderbaren Auto mutwillig Schaden zufügte. Das wollte und konnte ich einfach nicht zulassen!

„Was willst du denn?“, blaffte er mich an. Als er das sagte, drehte er sich zu mir um. „Oh, ich habe nicht gesehen, dass du es bist. Tut mir leid!“

Wie? Dass ich es bin? Was macht das für ein Unterschied ob ich es jetzt bin, oder jemand anderes?

„Ehm… was ist denn überhaupt los?“, fragte ich vorsichtig. Er guckte mich an, als ob ich nicht mehr alle Eier im Sack hätte. Er kam auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. „Ich bin übrigens der Aaron!“ Überrascht streckte auch ich zögerlich ihm meine Hand entgegen. „Sascha. Sascha Mertens.“, stellte ich mich vor, glücklich darüber, dass ich Aaron in meinen Gedanken nicht mehr den Blauhaarigen nennen musste. „Also Sascha, was macht so ein junger und süßer Junge wie du denn hier ganz alleine in einem Lokal, und trinkt Kakao mit soviel Sahne, als würdest du es absichtlich darauf anlegen, dass du irgendwann unter Diabetes leidest?“ Hatte er mich etwa auch die ganze Zeit beobachtet? Ich merkte wie ich rot anlief. Er kam noch näher an mich ran. So sehr, dass ich sehen konnte, dass er am ganzen Körper zitterte. Er legte eine Hand auf meine Wange und streichelte mich zärtlich. Seine Hand war eiskalt. Trotzdem bekam ich auf meinem ganzen Körper eine Gänsehaut, die mir bis in die Zehenspitzen ging. Ich versuchte trotzdem meine Fassung zu behalten, und versuchte wieder auf das Thema zu kommen, weshalb ich ihm eigentlich gefolgt bin. „Was war denn da los, bei dir und dem anderen Jungen?“ Er schaute mich traurig an. Ich war mir nicht sicher, aber ich meinte zu erkennen, wir er gegen seine Tränen ankämpfte. Eine Weile sagte keiner von uns etwas. „Wie wäre es, wenn wir ein bisschen rumfahren, und ich etwas mehr über den Jungen erfahre, der mir schon den ganzen Abend aufgefallen war?“ Nach einem kurzen Moment, nickte ich zögernd. Es stellte sich heraus, dass der VW-Bus ihm gehörte. Obwohl ich dieses Auto liebte, saß ich das erste Mal in diesem Bus, und hatte noch keinen blassen Schimmer, dass ich in nicht allzu ferner Zeit, ganze Tage in diesem Bus verbringen werde.

Der Besitzer des Lokals, stürmte aus dem Lokal, und hielt Ausschau nach uns. Aaron ließ gerade die Scheinwerfer aufleuchten, somit fielen wir ihm ins Auge. Offensichtlich war der Besitzer, der mich an eine Ratte erinnerte, stinksauer. Es fehlte nur noch, dass er Schaum vor dem Mund hatte. Aaron blendete ihn, indem er kurz das Fernlicht anschaltete. Dann gab er Gas, und wir fuhren hinein in die Dunkelheit. Das mag vielleicht kitschig klingen, aber ich habe mich noch nie so geborgen gefühlt wie in diesem Augenblick.

It’s a Mans World von James Brown und Luciano Pavarotti, drang aus den Boxen, die Aaron zusätzlich im Bus montiert hatte. Ich war froh, dass ein Lied lief, das mir gefiel. Ich war noch entspannter, als ich es eigentlich schon war.

Weit und Breit war nichts, außer Bäume. Manche sehen nur Bäume dicht an dicht, aber ich… ich sehe Zwischenräume und Licht!

Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo wir uns gerade befanden. Ehrlich gesagt, war es mir auch gerade total egal! Ich ertappte mich dabei, dass ich wollte, dass diese Fahrt niemals enden wird. Das Einzige was mir unter den Nägeln brannte, war, endlich zu erfahren, was denn vorhin im Lokal vorgefallen war, und warum.

„Was bedeutet für dich Lebensqualität?“

Ich stutzte. Dieses Frage traf mich völlig unvorbereitet. Schon aus dem einen Grund, weil ich mich jetzt darauf eingestellt habe, dass ich etwas über mich erzählen sollte.

Ich schaute ihn an. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil es so dunkel war. Ich konnte nur sein Profil erkennen. Unverwandt schaute er auf die Straße. Er sah im Moment aus, wie ein Scherenschnitt. Ich schaute auch wieder nach vorne, auf die Straße und dachte eine Weile über die Frage nach, und darüber, was er jetzt von mir hören wollte. Mir fiel nichts ein. Er schien das zu merken und baute die Frage weiter aus:

„Angenommen. Nur angenommen, denn ich möchte nicht, dass es so schnell passiert. Angenommen du liegst im Sterben. Welche Eigenschaft ist dir am wichtigsten, die du bis zu deinem letzten Atemzug erhalten haben möchtest?“ Ich verstand jetzt noch weniger. Ich guckte wie ein kaputtes Auto. Aaron musste lachen. „Guck mal ins Handschuhfach! Darin liegt ein Notizblock. Hol den mal raus.“

Ich tat, was mir aufgetragen wurde. Im Handschuhfach lagen haufenweise Notizblöcke. „Wozu hast du soviel Schreibmaterial? Und warum in deinem Bus?“

„Ich bin Autor, und beim Autofahren kommen mir immer die besten Ideen. Es passiert nicht selten, dass ich auf einem Pannenstreifen stehe, und einen ganzen Block vollschreibe, um meine Idee bis ins Detail zu notieren, bis ich weiter fahre.“ Ich war beeindruckt, und nahm den Notizblock der ganz oben lag, und einen von mindestens 30 Kugelschreibern die auch in diesem Fach lagen. Ich schlug die erste Seite auf. „Und jetzt?“, fragte ich.

„Du reißt jetzt ein Blatt aus diesem Block und reißt es in fünf Teile. Auf jeden dieser Schnipsel, schreibst du dann eine Eigenschaft die dir verdammt wichtig ist.“

Eigenständigkeit schrieb ich auf den ersten Schnipsel. Schmecken, schrieb ich auf den zweiten Zettel. Ich schrieb auch noch was auf die 3 anderen Schnipsel. „Was ist jetzt der nächste Schritt?“, fragte ich.

„Du nimmst jetzt alles Schnipsel, und hälst sie dir vor Augen. Auf jedem Schnipsel steht jetzt eine Eigenschaft oder eine Fähigkeit die dir wichtig ist. Alle zusammen stehen für deine Lebensqualität. Nach und nach entscheidest du jetzt, welche Fähigkeit du am ehesten abgeben würdest.“ Ich starrte auf die Fetzen Papier. Nach und nach warf ich einen Zettel nach dem anderen in den Fußraum. Es wurde immer schwieriger mich von einem Zettel zu trennen. Irgendwann hatte ich nur noch zwei Zettel in der Hand. Was ist mir wichtiger? Ich grübelte ernsthaft drüber nach, welcher Zettel mehr Wert für mich hatte. Auf einem Zettel stand Klar im Kopf sein und Die Fähigkeit mich Ausdrücken zu können. Für mich gehörte das zusammen. Was bringt es mir klar im Kopf zu sein, wenn ich nicht ausdrücken kann, was ich denke, was ich empfinde?

Plötzlich riss mir Aaron einen von den zwei Schnipseln, die ich noch in der Hand hielt, aus der Hand. Ich war erschrocken. Klar im Kopf sein, wurde mir genommen.

„Weißt du jetzt, was ich damit meine, was Lebensqualität ist?“ Ich hatte da so eine Ahnung traute mich aber nicht es zu sagen. Ich hatte auch keine Chance zu sagen was ich denke, denn er fuhr fort.

„Lebensqualität bedeutet: Frei entscheiden und leben zu können, wie du es für richtig hälst. Sobald du nicht mehr entscheiden kannst, wie du leben willst, damit du dich wohl fühlst, hast du keinen einzigen Hauch mehr von Lebensqualität. Du bist dann gefangen in einer Welt, wie die die anderen Menschen sehen. Ich persönlich setze Lebensqualität gleich mit frei sein, weil ich geboren bin um mein Leben zu leben, und nicht ein Leben, für eine andere Person.“

Jetzt wurde es wieder still zwischen uns. Ich bekam ein völlig neues Bild, von ihm. Was noch viel erschreckender war: Ich bekam ein völlig neues Bild von mir!

„Gottseidank kommt da eine Tankstelle! Der Tank ist nämlich leer.“ Aaron lachte verschmitzt. Ich war froh darüber, denn ich brauchte dringend mal etwas frische Luft.

Wir hielten neben einer Zapfsäule. Aaron stellte den Motor aus und schaute zu mir herüber. „Alles okay bei dir?“ Ich nickte. „Wirklich?“ Ich nickte nochmal. Aaron schaute wieder durch die Windschutzscheibe. „Warum glaub ich dir nicht?“ Ich schaute aus meinem Fenster. Ich schaute aus dem Fenster und nicht durch die Windschutzscheibe, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Er sollte nicht sehen, dass es mir nicht gut ging. Er sollte auf keinen Fall versuchen mich zu analysieren wie es mir ging, denn ich wusste es ja nicht einmal selber.

„Na schön.“ Er öffnete die Tür. Dann knallte er sie zu.

Erleichtert wand ich den Kopf wieder nach vorn und atmete tief durch. Erschrocken stellte ich fest, das er sich noch im Auto befand. Ich stellte es in dem Moment fest, als er mein Gesicht in seine Hände nahm und… und mich küsste. Ich riss völlig schockiert die Augen auf. Machte sie aber schnell wieder zu, weil ich fühlte, und da war ich mir zu hundert Prozent sicher, dass es etwas Gutes war.

Nach erst mindestens einer Minute lösten sich unsere Lippen wieder von einander. Er behielt mein Gesicht jedoch in seinen Händen und er lächelte mich an. Trotz der Dunkelheit konnte ich sehen, dass seine Augen noch stärker leuchteten als normalerweise. Es war so ein wunderbares Blau, dass ich in diesem Moment beschloss, dass Blau ab sofort meine Lieblingsfarbe ist, abgesehen von diesem Rot, das den Bus zierte, in dem ich heute meinen ersten Kuss erleben durfte, mit einem Jungen. Schlagartig wurde mir das jetzt erst bewusst. Mein Atem ging rapide schneller, und als ich mir auf die Brust fasste, merkte ich auch, dass sich mein Herzschlag erhöht hatte. „Alles okay?“, fragte er mich jetzt zum zweiten Mal heute Abend. Jetzt wusste ich, dass ich die Frage wahrscheinlich ganz oft hören werde, und ich wusste, dass mir das gewaltig auf den Sack gehen wird.

„Wolltest du nicht tanken?“ Er lies mich los, und stieg diesmal wirklich, ohne ein Wort zu sagen aus dem Bus und tankte.

Währenddessen, versuchte ich mich wieder zu beruhigen und meinen Kreislauf wieder zu entspannen. Ich kurbelte das Fenster ein Stück runter, damit ich ein bisschen frische Luft ab bekam.

Fünf Minuten später stieg er wieder in den Bus. „Wo wohnst du? Ich fahre dich nach Hause.“ Ich war überfordert. Klar, der Kuss hat mich für einen kurzen Moment aus der Bahn geworfen. Trotzdem konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass ich den Bus schon wieder verlassen sollte.

„Wieso?“

„Weil ich dich gefragt habe!“, blaffte er mich an. Jetzt funkelten seine Augen wieder, aber diesmal nicht vor Zärtlichkeit, sondern vor Zorn.

Ich brachte kein Wort hervor. Zu sehr war ich damit beschäftigt, mich darauf zu konzentrieren, dass mir keine Träne über die Wange lief. Er sollte mich auf keinen Fall als ein kleines Sensibelchen abstempeln! Ich schaute also nur nach vorne, und beobachte, das Geschehen im Tankstellenshop. „Also?“, hakte Aaron nach? „Wieso willst du das wissen?“, fragte ich. Es war deutlich zu hören, dass ich einen Frosch im Hals hatte. „Weil ich dich nach Hause fahre.“ Seine Stimme klang jetzt weniger aggressiv. „Ich lass dich doch jetzt nicht alleine, vor allem nicht hier. Wir sind mindestens zwanzig Kilometer gefahren. Und ich geh jetzt einfach mal davon aus, dass du nicht genug Geld dabei hast, damit du ein Taxi hättest bezahlen können.“

Ich fand es ehrlich gesagt zum kotzen, dass ich nichts in der Hand hatte um gegen an gehen zu können, und bereute es gerade zutiefst, dass ich vorhin zu viel Geld auf den Tisch geknallt habe, nur damit ich dem Jungen folgen konnte, der mir jetzt ein wahnsinniges Gefühlschaos bereitete.

„Wenn du mir jetzt nicht antwortest, muss ich dich leider bitten auszusteigen, ich kann und will auch nicht die ganze Nacht auf einer Tankstelle verweilen.“

Ich gab schließlich nach. „Du kannst mich beim Lokal absetzen, ich wohne keine zwei Minuten davon entfernt.“

Aaron ließ den Motor des Busses aufheulen, und wir rollten, von der beleuchteten Tankstelle, wieder auf die dunkle Straße.

Wir schwiegen uns an. Ohne mir etwas zu sagen, fuhr Aaron auf einmal rechts ran, schaltete den Motor aus, und dafür das Licht im Auto an. Danach drehte er sich zu mir. „Alles okay?“, fragte ich. „Ich fühle mich schlecht.“ Damit habe ich jetzt nicht gerechnet, aber es machte mir nichts. „Soll ich den Rest zurückfahren?“, fragte ich, mit einem gewissen Maß von Hoffnung in meiner Stimme. Was wäre besser, als mein Lieblingsauto selbst zu steuern, als einfach nur als Beifahrer untätig rumzusitzen. „Das meine ich nicht!“ Er schaute mir tief in die Augen , doch ich konnte seinen Blick nicht deuten. „Ich küsse dich und ich erwarte, dass es okay ist. Vor allem weil es auch noch dein erster Kuss war.“

Woher wusste Aaron das? Ich habe es ihm nicht gesagt. Jedenfalls wüsste ich es nicht. Aber welchen Grund hätte ich denn, ihm, einem Jungen, das zu erzählen? Merkt man das, ob jemand schon geküsst hat oder nicht? Darauf wusste ich keine Antwort. Nach einigen Momenten fuhr er fort. „Ich habe kein Recht dazu, dich einfach anzupampen.“

„Schon okay!“, antwortete ich, um dieser unangenehmen Situation zu entkommen.

„Um auf deine Frage zurück zu kommen: Das war der Grund warum ich vorhin im Lokal auch ausgeflippt bin. Ich bin schwul.“

Es störte mich kein bisschen, er schien mir das auch anzusehen.

„Man sieht es mir auch an und ich stehe auch offen dazu. Nur er halt nicht. Er ist…“ Aaron stockte. „Er war mein Freund. Wir waren jetzt gute zwei Jahre zusammen. Nur ich bin kein Mensch der sich versteckt, dafür was er ist. Ich lebe das aus, was ich bin. Ich kann es doch sowieso nicht ändern. Ich brauche einen Partner, der genauso selbstbewusst ist, wie ich, oder ich muss ihn schon verdammt stark lieben. Ihn liebe ich wohl nicht genug…“

Ich wusste nicht was ich dazu sagen sollte. Das war auch nicht nötig, denn er redete weiter. „Ich dachte eigentlich, dass ich es ernst mit ihm meine, darum habe ich auch eine riesige Reise geplant, um ihn meiner Familie vorzustellen. Kreuz und quer durch Europa. Und zum Schluss nach Amerika. Da hätte ich dann um seine Hand angehalten.“

Ich merkte, wie mir eine Gänsehaut den Rücken runterlief.

„Jetzt trete ich alleine und der alte Kasten hier“, er klopfte auf das Lenkrad. „die Reise an. Ich habe meiner kompletten Familie und meinen Freunden gesagt, dass ich nicht alleine komme, sondern ihnen die Liebe meines Lebens vorstellen möchte. Jetzt darf ich sagen, dass das alles ein Irrtum war.“

Ich konnte beobachten wie eine Träne seine Wange hinunter lief. Ohne das ich was dagegen tun konnte, küsste ich einfach, als wäre das das Normalste der Welt, ihm diese eine verdammte Träne weg. Er lächelte mich an. „Karma halt!“, meinte er. „Du glaubst an Karma?“, fragte ich überrascht. „Natürlich!“ Dann küssten wir uns wieder innig. Der jetzige Kuss war sogar noch besser, als der erste. Mein ganzer Körper bebte, als er seine Zunge langsam und vorsichtig in meinen Mund schob. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns wieder von einander lösen konnten. Er lächelte mich an. Seine Augen funkelten, aber diesmal Gott sei Dank wieder vor Zärtlichkeit. Er ließ den Motor wieder aufheulen, und fuhr weiter. Nach ein paar Minuten standen wir wieder vor dem Lokal, welches aber schon geschlossen hatte. „Ich hoffe man sieht sich wieder!“, meinte Aaron. „Klar, wann denn“, fragte ich wie aus der Pistole geschossen. „In 6 Monaten. Passt es dir Dienstags?“ Aaron lachte. Mit dieser Antwort habe ich nun gar nicht gerechnet. Ich war völlig perplex. „Ich trete meine Reise in zwei Tagen an, und vorher habe ich noch viel zu erledigen. Es tut mir leid.“

Ich konnte mit Fug und Recht behaupten, dass ich in meinem Leben noch nie so traurig gewesen bin, obwohl es mit Sicherheit schon traurigere Momente in meinem Leben gegeben hatte.

„Ich fahr dann erstmal in den Harz. Meine Omi besuchen.“ Ich schluchzte. Das war unbeabsichtigt und ich konnte es nicht zurückhalten. Peinlich! Aaron gab mir einen Abschiedskuss. Als sich unsere Lippen lösten, sagte ich etwas, worüber ich nicht nachgedacht habe. Wie gesagt ich reagiere aus dem Bauch heraus, nicht was mein Kopf für vernünftig hält. „Hältst du am Ende dieser Reise um meine Hand an?“

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