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KeYNamM

Teil 5

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Inhaltsverzeichnis

14 Ikken und Yufayyur stehen füreinander ein

Ikken und Yufayyur wählten eine schmale Lücke zwischen zwei Felsblöcken am Kamm des nördlichen Talhangs als Versteck. Sie legten dürre Äste über den Spalt, um besser getarnt zu sein. Vom dem Versteck aus konnten sie den Platz um den Siebenziegenbrunnen herum gut einsehen, ebenso den schmalen Weg, auf dem Areksims Truppe das Trockental heraufkommen müssten. Lieber hätten sie das Versteck in größerer Entfernung vom Brunnen angelegt, aber von weiter hinten war nur der Pfad zum Brunnen zu sehen und nicht dieser selbst. Ihre Pferde hatten sie in einer Schlucht des Hochplateaus zurückgelassen und dort an einen verkrüppelten Argahnbaum gebunden, dessen Wurzel durch Felsspalten bis zum Grundwasser reichten.

Beim Anbinden der Pferde war Yufayyur sehr vorsichtig. Er vermied sorgfältig den Baum zu verletzen, denn das würde den Geist des Baumes verärgern. Er war ängstlich und zog als Vorsichtsmaßnahme den Gesichtsschleier über den Mund, um dem Geist, falls der verärgert wäre, den Eintritt in seinen Körper zu verwehren.

Jetzt lagen die Beiden eng aneinandergedrückt und warteten auf das Eintreffen des Expeditionskorps. Die Hitze des Tages war abgeklungen. Ein schwacher Abendwind brachte frische Luft aus den nahen Bergen. Alles war ruhig, nur das Schrillen der Zikaden hallte vom Brunnen herauf. Beide schwiegen und genossen das Beisammensein. Yufayyur hatte Ikken's weites Hemd etwas hoch geschoben und streichelte dessen Rücken mit sanften Bewegungen. Ikken genoss die leichten Berührungen und schob seinerseits vorsichtig eine Hand unter das Übergewand seines Freundes und fuhr mit den Fingern das Rückgrat seines Freundes entlang bis zum Hosenbund. Als er am leisen Kichern bemerkte, das Yufayyur das mochte, wurde er kühner. Er befeuchtete seinen Zeigefinger mit Spucke steckte die Hand unter den Hosenbund und tastete mit dem feuchten Finger nach Yufayyur Polöchlein.

Sie waren so intensiv miteinander beschäftigt, dass sie beinahe den Augenblick verpassten, als sechs Reiter vor dem Brunnen auftauchten. Fast unhörbar, denn sie hatten die Hufe ihrer Pferde mit Lappen umwunden, umritten sie den Brunnen in immer weiteren Bögen, auf der Suche nach Spuren. Als sie keine frischen Spuren am Brunnen selbst ausmachen konnten, blieben Zwei dort zurück, während die anderen Vier die Talhänge und die unmittelbar angrenzende Hochfläche abzusuchen begannen.

Ikken und Yufayyur erstarrten, als ein Reiter bis auf wenige Schritte an ihrem Versteck vorbeiritt. Als sein Pferd den Geruch der Beiden wahrnahm, schnaubte es unwillig und riss den Kopf hoch. Zum ihrem Glück ignorierte der Reiter diese Warnung, ritt weiter und gab kurz darauf das Signal, auf das die beiden Späher unten am Brunnen gewartet hatte. Diese ritten schleunigst den sandigen Pfad zurück zu Areksims kleiner Armee, um den Feldhauptmann zu informieren, dass am Brunnen keine Gefahr lauere.

Einige Zeit später war der Lärm der herannahenden Marschkolonne zu hören und bald ritt die erste Zwölfergruppe schwer bewaffneter Söldner auf den Brunnen zu. Ihnen folgte Areksim selbst mit Udad und einem von dessen Adjutanten. Erst danach kamen die weiteren Teilnehmer am Expeditionskorps in Gruppen zu etwa Zwölf herangeritten. Ikken zählte im Ganzen sechs Reitergruppen und fünf weitere Reiter. Da aber manche Pferde zwei Reiter tragen mussten, konnte er in der herrschenden Dämmerung nicht genau herausfinden, über wie viel Mann Areksim jetzt noch verfügte. Die fünf Männern der Versorgungsgruppe, die mit ihren Maultieren die Vorräte transportierten, eingerechnet, schätze er, dass die Truppengröße auf etwa 85 Mann zusammengeschmolzen war. „Yufayyur!“, flüsterte er, „Unser erster Angriff war erfolgreich. Mehr als zwanzig Männer fehlen und mindestens zwei Dutzend Reittiere! Noch ein erfolgreicher Angriff und sie sind zu schwach, um die Kasbah des Amenokals zu überfallen.“ Darauf antwortete Yufayyur nur, „Die werden erst gar nicht so weit kommen. Warte nur, wenn Tarit's Taktik Erfolg hat, muss Areksim am Ksar der Jinns umkehren.“


Plötzlich wurden die leisen Geräusche, die vom Brunnen heraufdrangen, durch Gebrüll und Fluchen unterbrochen, in der sich bald das ungeduldige Wiehern der Pferden und das schrille Geschrei der Maultiere mischte. „Jetzt haben sie gemerkt, dass der Brunnen leer ist!“, flüsterte Yufayyur triumphierend, „Die kommen nicht einmal zum Ksar, denen ist schon jetzt das Wasser knapp geworden. Hörst du die Pferde und Esel, die schreien nach Wasser. Wir haben den Brunnen völlig leergeschöpft und das Wasser des fauligen Sees sollten sie besser auch nicht trinken. Sie müssen jetzt schon ihre Wasservorräte angreifen.

Nach einer Zeit verklang der Lärm am Brunnen und wurden durch die Geräusche ersetzt, die beim Einrichten des Lagers entstanden. Allmählich verstummte der Lärm fast völlig und wurde vom Schnarren der Zikaden übertönt.

Ikken und Yufayyur hatten ihr Ziel erreicht. Sie kannten die Verluste Areksims Truppe und wollte sie so schnell als möglich an KeYNamM und Tarit weitergeben. Als sie gerade rückwärts aus dem Versteck herausgekrochen waren, kamen zwei schwerbewaffnete Wachen den Hang hinauf und begannen ihre Patrouille entlang des Kammes. Es war zu spät zurück ins Versteck zu kriechen. Sie konnte nur hinter den umherliegenden Felsblöcken in Deckung gehen und hoffen, dass die Wachposten bald weit genug entfernt wären, damit sie ungesehen zu ihren Pferden gelangen konnten.

Einer der Söldner machte ihnen aber einen Strich durch die Rechnung. Als die Beiden vielleicht fünfzig Schritte von ihnen stehenblieben, sagte der Eine etwas zu dem Anderen, drehte sich um und kam schnell auf die Felsblöcke zu, hinter denen sich die Beiden versteckten. Ikken und Yufayyur erstarrten zu Stein. Doch der Soldat schaute sich nicht weiter um, sondern drehte ihnen den Rücken zu, hob sein Obergewand hinten hoch, zog die weite Hose herunter und hockte sich hin.

Der Abstand zwischen Ikken und Yufayyur und dem hockendem Wachposten betrug nur ein halbes Dutzend Schritte. Die beiden Freunde versuchten so gut es ging das Atmen zu unterdrücken und lauschten dem angestrengten Stöhnen des Söldners. Trotz der Dunkelheit sah Ikken wie sein Freund ihn angrinste und eine anzügliche Geste machte. Dann begann Yufayyur vorsichtig den krummen Dolch an seinem Gürtel zu ziehen. Trotz seiner konzentrierten Bemühungen musste der Wachposten das Schaben wahrgenommen haben, das der Dolch beim Herausziehen aus der Scheide verursachte. Er drehte plötzlich den Kopf zu ihnen hin und erblickte die zwei grauen Gestalten vor dem dunklen Fels. Mit einem Ruck versuchte er sich aufzurichten, was die herabgelassene Hose jedoch verhinderte. In diesem Augenblick sprang Yufayyur vorwärts, packte den Mann am Kopf, bog den zurück und trennte ihm die Kehle mit einem Schnitt durch. Begleitet von dem gurgelnden Geräusch des herausspritzenden Blutes fiel der Mann auf den Rücken und begann um sich zuschlagen. Ikken sprang hinzu und half Yufayyur den Körper des Sterbenden am Boden festzuhalten. Als das Strampeln des getöteten Söldners aufhörte, versuchten Ikken und Yufayyur seine Leiche in die Lücke zwischen die Felsblöcke zu ziehen in der sie sich zuvor versteckt hatten.

Entweder wurde dem anderen Wachposten die Zeit zu lang, die der Andere wegblieb, oder es machten ihn die Geräusche misstrauisch, die aus Richtung des Felsens zu ihm herüberdrangen. Er stand auf, blickte sich um und begann leise nach seinem Kollegen zu rufen. Da er keine Antwort erhielt, begann er auf die Felsen zuzugehen, hinter denen er ihn vermutete.

Ikken und Yufayyur war es noch nicht gelungen, den schweren Mann vollständig in die schmale Lücke zwischen den beiden Felsnasen zu ziehen, als der Wachposten schon auf sie zukam. Sie ließen den toten Körper daher liegen und gingen hinter dem Felsbrocken in Deckung. Als der Wachposten um die Felsnasen herumbog, stolperte er über die Füße seines toten Kollegen, die noch aus dem Spalt hervorsahen. Er richtete sich verwirrt auf und stand plötzlich Ikken gegenüber, der seinen Bogen gespannt hatte, um sich zu verteidigen. Der Wachposten schrie erschrocken auf, machte einen Schritt zurück und Ikken ließ die gespannte Sehne des Bogens unwillkürlich los.

Der Pfeil traf die Brust des Mannes mit voller Wucht, bohrte sich in dessen Brustkorb und blieb tief in der Lunge stecken. Der Mann stöhnte auf, hustete Blut und ging in die Knie. Ikken blieb starr vor Schreck am Felsen gelehnt stehen, da er nicht geplant hatte, auf den Wachposten zu schießen. Im Gegensatz zu Ikken erfasste Yufayyur die Situation sofort. Er sprang vorwärts, stieß den Verwundeten zu Boden und drückte dessen Kopf in den Sand, um ihn am Schreien zu hindern. Erst jetzt wurde Ikken wieder lebendig. Er riss seinen Krummdolch aus dem Gürtel, stürzte vorwärts und tötete den Mann durch Hiebe ins Genick.


Ikken und Yufayyur durften keine Zeit verlieren. Sie rannten daher sofort nach dem Zwischenfall quer über das steinige Plateau zu ihren Pferden. Sie ließen sich auch keine Zeit diese zu füttern oder zu tränken, sondern banden sie los, sprangen auf ihren Rücken und ritten, so schnell es die Dunkelheit erlaubte, durch die kleine Schlucht zum Trockental. Erst dort gönnten sie den Pferden und sich eine kleine Pause.

Während Ikken sein Pferd tränkte, begann er so zu zittern, dass er Wasser verschüttete. „Pass doch auf!“, rief ihm Yufayyur zu, „Wir müssen mit dem Wasser sparsam umgehen!“ Erst dann bemerkte er Ikken's Zittern. „Was ist kleiner Bruder! Komm!“ Er ging zu ihm und legte ihm einen Arm um die Schultern, doch Ikken hörte nicht auf zu zittern. Immer wieder wiederholte er, „Ich habe den Söldner getötet! Ich habe ihn getötet, ich habe ihm nicht geholfen, als ich ihm aus Versehen den Pfeil in die Brust gejagt habe. Nein, ich habe ihn sogar den Kopf abgeschlagen!“ Yufayyur nahm seinen Freund jetzt ganz fest in beide Arme. „Du hast alles richtig gemacht, Ikken! Du musstest ihn töten, sonst wären wir schon tot!“ „Ja, ich weiß! Ich weiß! Aber ich hatte mir beim Tod meines Vaters geschworen, nie jemanden zu töten, sondern jedem zu helfen! Und jetzt?“

Yufayyur suchte nach tröstenden Worten, aber ihm fielen keine ein, so wiederholte er, „Du musstest so handeln, sonst wären wir schon tot.“ Dann fügte er hinzu, „Ich habe den ersten Söldner nur getötet, damit er uns nicht gefährdet! Glaubst du, er tut mir nicht auch leid! Aber wir mussten beide töten. Glaubst du der Gouverneur hat seine Armee in das Reich der Imuhagh gesandt, weil er uns liebt. Nein, er und der Imperator wollen uns zu ihren Sklaven machen. Verlangt der Imperator nicht Tribut von den Menschen am Draa? Hat der Imperator nicht den Amestan fangen lassen, den Beschützer der Menschen im Unland, den König vom Unland? Hat er nicht KeYNamM's Vater umbringen lassen und deinen Vater? Und?“ Yufayyur dachte nach. „Er wird dich verfolgen Ikken, er will dich auch töten! Er verfolgt dich jetzt schon, seit die weise Frau auf dem Markt in dir den Erben Gaya's erkannt hat, seit die Prophetin dir den Hut von König Gaya aufgesetzt hat, dem König Gaya, der vor Jahrhunderten das Reich der Imuhagh regierte. Sie hat dich zum König gekrönt! Dein Kopf ist für den Imperator wertvoller als der Kopf des Amenokal.“ Yufayyur verschnaufte kurz, „Du hast richtig gehandelt Ikken! Du hast so gehandelt, wie König Gaya gehandelt hätte.“

Ikken verstand seinen Freund nicht, denn er kannte die Geschichte der Imuhagh, der Wüstensöhne, nicht. Niemand hatte ihm von Gaya erzählt. Er schüttelte traurig den Kopf, „Auch ein König darf nicht töten. Er muss barmherzig sein!“ Mit einem tiefen Seufzer stieg er auf sein Pferd, „Lass uns reiten Yufayyur, mein lieber Freund! KeYNamM und Tarit warten.“


Als sie den nächsten Halt einlegten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und selbst die überhängenden Felsen warfen kaum Schatten. Ikken und Yufayyur waren todmüde aber auch die Pferde brauchten dringend eine Rast und Wasser. Sie fütterten und tränkten die Tiere und legten sich dann nahe an die Felswand, die noch etwas Kühle abstrahlte. Selbst die Pferde ließen die Köpfe hängen und verhielten sich ruhig.

Ikken schrak plötzlich aus dem Schlaf. Ein unbekanntes Geräusch drang an sein Ohr. Er lauschte auf die Geräusche ringsumher. Das helle Schnarren der Zikaden in den verdorrten Büschen war fast erloschen. Es hatte ihn nicht geweckt, dessen war er sicher. Auch die Eidechsen konnten es nicht gewesen sein, die sich auf einem Stein sonnten. Hatte ihn Hufgetrappel geweckt? Waren ihnen die Söldner des Gouverneurs auf der Spur? Er lauschte mit geschlossen Augen. Etwas war zu hören, etwas was noch nie an sein Ohr gedrungen war. Das unbekannte Geräusch ängstigte ihn. Er schüttelte seinen Freund wach. „Horch! Da ist was? Etwas Unbekanntes! Ich kann das Geräusch nicht erraten!“ Yufayyur setzte sich schlaftrunken auf, lauschte lange, „Ich lebe seit meiner Geburt in der Wüste und denke, dass ich jedes Geräusch kenne. Aber ich kenne es nicht. Aber Hufgetrappel ist das nicht, weder das von Pferden, noch von Antilopen!“ Er zögerte, machte dann ein überraschtes Gesicht, „Ikken siehst du die grau-grünen Kugeln, die über den Sand huschen? Erkennst du sie? Es sind Wüstenrosen!“, rief er triumphierend aus. „Kel Essuf, der große Geist, schickt uns Wüstenrosen! Der Wüstengeist liebt uns! Er liebt uns. Wüstenrosen schickt Kel Essuf nur denen, die er ins Herz geschlossen hat.“

Er küsste Ikken, zog ihn an der Hand hoch, „Wir müssen von den Wüstenrosen so viele einsammeln wie wir können. Sie bringen Glück, nicht nur uns sondern auch denen, denen wir sie schenken.“ Yufayyur sprang auf und zerrte Ikken mit in die heiße Sonne. Sie sammelten soviel der faustgroßen, graugrünen Kugeln, wie sie in ihren hochgeschlagenen Überkleidern nur tragen konnten. „Wüstenrosen! Wüstenrosen! Sie bringen dir und mir Glück! Sie verscheuchen das Böse, sagen den Regen voraus, helfen Frauen, wenn sie im Kindbett liegen! Wir sammeln sie für die Klans der Wüstensöhne und für Tarit und KeYNamM!“


Die nächsten Stunden im Sattel vergingen im Flug. Als sie die Sträucher am Rand des Sees des faulen Wasser in der Ferne sahen, preschten plötzlich zwei Berittene aus einem Seitental auf sie zu, schwenkten Tücher über dem Kopf, „Hierher! Hierher! KeYNamM hat uns geschickt. Er wartet! Wir sollen euch schnell zum Lager bringen.“ „Und Tarit, wo ist er?“, fragte Yufayyur ungeduldig. „Er ist mit der größeren Gruppe seiner Männer voraus zur Oase Mhamit, um dort auf Areksim's Armee zu warten!“

Ikken setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Er trieb sein Pferd an, er musste als erster KeYNamM von der gestrigen Nacht berichten. Das enge Seitental machte plötzlich einen Bogen und um ein Haar hätte er den Amestan umgeritten, der im Schatten der steilen Südwand vor sich hindöste. „KeYNamM-baba, KeYNamM-baba!“ Es hielt Ikken nicht mehr im Sattel, er sprang vom Pferd und in des Amestan's Arme. „KeYNamM-baba, KeYNamM-baba! Du wirst es nicht erraten, was Yufayyur und ich gestern erlebt haben.“ KeYNamM setzte Ikken ab und umarmte Yufayyur, der inzwischen vom Pferd gestiegen war. KeYNamM lachte übers ganze Gesicht, „Tarit hatte recht! Ihr kommt ganz und heil zurück! Danke Yufayyur, dass du so gut auf Ikken aufgepasst hast!“ Ikken zog ein beleidigtes Gesicht! „Ich habe auf meinem Freund genau so aufgepasst wie er auf mich!“

Erst jetzt bemerkte KeYNamM, dass das weite Hemd Ikken's von Blutflecken übersät war. Erschrocken blickte er zu Yufayyur. Auch dessen Überkleid war blutverschmiert. „Was ist los? Seid ihr verwundet?“ Er schaute besorgt, „Ihr wirkt nicht so! Warum seid ihr so blutverschmiert. Ikken, auch dein Gesicht hat Blutspritzer abgekriegt!“

Er zog die Beiden ins kleine Zelt, das Ikken und Yufayyur endlich Schatten bot. Der Luftzug durch die beiden Zeltöffnungen kühlte ihre Haut. Erschöpft ließen sie sich neben den vier Imuhagh in die Hocke fallen. Alle Vier hatten die Gesichtsschleier abgenommen und schauten neugierig auf die beiden Neuankömmlinge. Sie waren um ein Tablett mit Teebechern versammelt und sofort goss einer ihnen Tee aus einer Kanne ein.

Als Ikken das erste Glas geleert hatte, platze es aus Yufayyur heraus. „Verwundet? Es ist das Blut der Söldner, die wir getötet haben! Ja, Ikken und ich haben jeder eine Wache ausgeschaltet!“, berichtete er stolz. Dann schilderten sie die Ereignisse der vergangenen Nacht, vor allem wie sie die Söldner überrascht und getötet hatten. Am Ende Yufayyur's Berichts aber wurde Ikken traurig und flüsterte „Ich wollte den Wachposten gar nicht töten. Ich hasse es zu töten!“

„Jeder Amenokal, jeder Amestan muss töten können, wenn sein Leben bedroht ist! Wenn du, Ikken, später ein Anführer werden willst, dann musst du bei Zeiten lernen, die richtige Entscheidung zu treffen“, sagte der Älteste der Imuhagh. „Du hast es richtig getan. Du hast die getötet, die dich bedrohten!“, sagte ein Anderer.

Als die Sonne schon tief am Himmel stand brach KeYNamM mit Ikken, Yufayyur sowie mit zwei der Imuhagh auf. Sie wollten noch vor Mitternacht an der Oase Mhamit ankommen, wo Tarit sie erwartete. Die beiden Anderen Grenzwächter hatten den Auftrag vom Rand des Plateaus aus die Ankunft der Truppe des Gouverneurs zu beobachten, die vom Brunnen des faulen Wassers den Wadi heraufkommen würden.

15 Hinterhalt bei der Oase Mhamit

Von den Obergeschossen der Wohnburg in der Oase Mhamit standen nur noch einige Wände aus Stampflehm und die herabgestürzten Deckenbalken lagen kreuz und quer. Nur die Kammern im Untergeschoss waren noch halbwegs brauchbar. Hier in diesen fast lichtlosen Räumen erwartete Tarit mit seiner kleinen Truppe die Ankunft von Areksim's Truppe. Zwei seiner Imuhagh hatten sich auf den noch nicht völlig eingestürzten Turm heraufgewagt, von dem aus sie den Weg zum Palmenwald um die schmale Wasserfläche der Oase und den kleinen Seen selbst übersehen konnten.

Gegen Mitternacht erfassten die geübten Augen der Wachposten eine Bewegung auf dem Plateau im Osten. Die schnell näherkommenden Punkte wurden größer und größer. Bald erkannte er KeYNamM an seinem Pferd und erriet, dass es sich bei seinen Begleitern um Yufayyur und Ikken sowie zwei ihrer Kameraden handeln musste. Er verständigten Tarit, der den Herannahenden einen Reiter entgegensandte. Als KeYNamM schon nahe am See der Oase Mhamit waren, tauchte unerwartet die Vorhut von Areksim's Truppe auf dem Pfad auf, der zur Oase führte.


Der Tighremt, also die Wohnburg, klebte an der Steinwand des Südhangs. KeYNamM musste also mit seinen Männern den Palmenwald durchqueren um zu Tarit's Versteck zu kommen. Da Areksim's Truppe schon gefährlich nahe war, konnten sie die Pferde nicht mehr benutzen. „Steigt ab!“, befahl KeYNamM, „Wir durchqueren den Palmenwald zu Fuß und du Wächter bringst die Pferde zurück auf das Plateau und wartest dort auf einen Befehl.“

Plötzlich war die Nacht voller Rufe. Die fast verdurstete Truppe des Gouverneurs hatte die glitzernde Wasserfläche zwischen Palmen entdeckt. Die strenge Reitordnung löste sich im nächsten Augenblick auf. Von Durst getrieben sprangen die Söldner von den Pferden und rannten als ungeordneter Haufen zu dem flachen Gewässer, warfen sich am Ufer auf den Bauch und begannen so hastig ihren Durst zu stillen, als hätten sie nie zuvor Wasser gekostet. Weder die Kommandos Areksim, ihres Feldhauptmanns, noch von Udad, seinem Leutnant, noch von dessen Adjutanten konnten die Durstigen bremsen. Aber nicht nur die Söldner stürzten vorwärts, auch die Pferde waren nicht mehr zu halten. Sie galoppierten wasserwärts, überrannten dabei den einen oder anderen Söldner und stürmten in den flachen See um zu trinken. Als die Söldner den ersten Durst gestillt hatten, warfen einige ihre Kleider ab und tauchten ins Wasser, während die Pferde sich mit samt Sattel und Vorratssäcken im kühlenden Nass wälzten.

KeYNamM und seine Männer, die fast zeitgleich mit den Söldnern am gegenüberliegenden Ende des Sees angekommen waren, erfassten die günstige Gelegenheit sofort. Nur in ihre weiten Hosen gekleidet, ohne die verräterischen Gesichtsschleier und Überkleider, wateten sie ins Wasser und packten die ausgerissenen Pferde, die sich am weitesten von den Söldnern entfernt hatten, beim Zügel. Sie zerrten die widerstrebenden Tiere ans Ufer und begannen sie zur Wohnburg zu bringen.


Udad, Areksim's Unterführer, ritt kochend vor Wut am Ufer entlang. Er schrie Kommandos, verlangte brüllend die durchgegangenen Pferde ans Ufer zu holen und prügelte, als seine Befehle nicht sofort Erfolg hatten, mit seiner Reitpeitsche auf die nächststehenden Söldner ein. Als sein Blick auf KeYNamM's Gruppe fiel, die im Wasser auf die Pferde gestiegen war und sie mit Zureden und aufmunternden Schlägen an Land zwangen, war er zufrieden, dass sein Wutausbruch wenigstens bei einigen Männer Erfolg gehabt hatte. Als er jedoch genauer hinsah, fiel ihm auf, dass Reiter die Pferde in den Wald trieben und nicht zurück zum Westende des Sees, wo sich Areksim's Truppe befand.

Udad ritt im Galopp zu der Gruppe, die die Pferde aus dem Seen holte. Dabei fiel ihm auf, dass einer der Reiter klein und schlank war. Der ehemalige Oberkapo konnte sich nicht erinnern, einen Jungen unter den Söldnern gesehen zu haben. „Wer bist du? Komm her, Junge, du da! Wer bist du?“ Als Ikken den Befehl nicht sofort gehorchte, drängte Udad sein Pferd in die Gruppe und versuchte ihn zu sich aufs Pferd herüberzuziehen.

„Lass die Finger von meinem Sohn, Udad, du Schlächter! Erkennst du mich? Erinnerst du dich noch an Azrur! Erinnerst du dich an den, den du in den Tod geschickt hast, auf der Himmelsleiter!“ Udad erkannte plötzlich die Stimme! „KeYNamM? Du lebst noch? Du lebst schon zu lang, Amestan! Hier!“ Er trieb sein Pferd neben das des Amestan's, riss seinen Dolch heraus und stach zu. KeYNamM beugte sich jedoch zur Seite und fing den Arm Udad's ab und zerrte ihm vom Pferd. Bevor sich der ehemalige Oberkapo aus dem Straflager an der Kristallmine gefangen hatte, sprangen zwei von KeYNamM's Begleiter vom Pferd und drückte ihn zu Boden. „Und jetzt?“, fragte einer der Imuhagh, „Soll ich ihm die Gurgel durchschneiden?“

„Stopft ihm das Maul und nehmt ihn mit! Udad soll seine Schulden abzahlen.“


„Was hat Feldhauptmann Areksim vor? Wer liefert ihm seine Informationen? Wie groß ist die Truppenstärke noch?“ Diese und ähnlich Fragen prasselten auf Udad nieder, der in einem dunklen Loch des Tighremt's an einem Querbalken so an den Armen aufgehängt war, dass seine Fußspitzen gerade noch den Boden berührten. Der ehemalige Oberkapo und derzeitige Leutnant Areksim's schwieg eisern. „Wenn du nicht sprechen willst, bleib hängen bis du verfaulst. Du kannst all die Kinder, die du geschändet hast, um Hilfe anrufen, Azrur den Schönen z.B. den du in den Tod geschickt hast! Weder er noch ein Anderer wird dir helfen.“ KeYNamM stieß den am Balken Baumelnden an, damit seine Fußspitzen den Halt verloren und verließ dann die dunkle Kammer. Im Fortgehen rief er den Imuhagh zu, die Udad bewachten, „Macht mit ihn was euch Spaß macht! Er gehört euch!“

Tarit hatte seine Mannschaft schon in Gruppen aufgeteilt und verteilte jetzt die Aufgaben. Du, KeYNamM schleichst mit acht Männern um den See herum bis zum Ende von Areksim's Lager, bis dorthin, wo die Tragetiere angebunden sind und das Proviant liegt. Dort überwältigt ihr die Wachen, raubt soviel vom Proviant wie ihr tragen könnt und versucht den Rest zu vernichten. Vergesst nicht die Tragetiere loszubinden. Versucht sie jedoch nicht mitzunehmen, die laufen schon von alleine fort. Ich werde in der Zwischenzeit mit acht Männern zur Westseite des Waldes schleichen und mich der Stelle, an der die Pferde stehen, soweit annähern, dass wir sie mit Brandpfeilen in Panik versetzen können. Yufayyur und Ikken bleiben mit dem Rest der Mannschaft hier. Du, Yufayyur, bewachst mit drei Männern die Rampe, die zum Tor der Wohnburg führt. Ihr versteckt euch so, das ein Vorübergehender euch nicht sieht. Du, Ikken, nimmst einen Mann mit auf den Turm. Von dort übersiehst du die gesamte Oase und ihre Umgebung. Sobald sich Fremde der Wohnburg nähern, warnst du Yufayyur. Du schreist dreimal wie ein Kauz und wiederholst den Schrei bis Yufayyur mit dem gleichen Schrei antwortet. Wenn sich eine große Schar Feinde nähert, dann schießt ihr Brandpfeile in die Luft, um uns zu alarmieren. Dann kommen wir sofort zurück. Noch etwas Yufayyur. Wenn Udad, der Bock, Lärm macht, schneide ihm das Herz heraus!“


Der Feldhauptmann Areksim schrie nach Udad, „Verdammter Verbrecher, wo bist du wieder? Alles läuft kreuz und quer! Bring mit deinem Abschaum die verdammten Anfänger zur Räson! Schau, dass sie aus dem Wasser herauskommen und die Pferde wieder einfangen!“

Areksim hatte Udad noch in der Dämmerung verschwinden sehen, aber das war schon ein Weile her! Voller Wut gab er dem Pferd die Sporen, trieb es den schmalen Pfad am Seeufer entlang, dabei schlug er mit seiner Peitsche nach den Soldaten, die im Wasser standen. Auch am Ostende des Sees traf er nicht auf Udad, auch nicht auf sein Pferd. Noch wütender ritt er den gleichen Weg zurück zum Sammelplatz. Unterwegs keimte ein Verdacht auf. Udad war ein Verbrecher! War es möglich, dass er mit den Wüstensöhnen, den Imuhagh, gemeinsame Sache machte? Dafür würden die Zwischenfälle sprechen, der Überfall bei Meryems Quelle, die falsche Information über den Siebenziegenbrunnen, das faule Wasser an der letzten Wasserstelle. Er musste die altgedienten Soldaten, die er bisher zu Gunsten Udad's und seiner Brut vernachlässigt hatte, fest auf seine Seite ziehen.

Am Sammelplatz hatten die erfahrenen Soldaten begonnen ein Biwak aufzubauen, während andere die Pferde zusammentrieben und um sie für die Nacht festzubinden. Areksim trieb sein Pferd in die Mitte des Biwaks, richtete sich in den Sporen auf. „Mein Leutnant ist verschwunden, mit seinem Pferd verschwunden. Ich ernenne daher Maysar zum neuen Leutnant, sowie Tanan, Ayrad und Winsen zu seinen Adjutanten. Ihr Vier übernehmt sofort das Kommando von Udad's Vertrauten. Diese setzt ihr fest! Sie bleiben solange gefesselt, bis Udad's Verschwinden aufgeklärt ist!“ Dieser Schachzug schien ihm richtig. Er würde seine alten Mitstreiter versöhnen und gleichzeitig die Probleme mit Udad's ehemaligen Kapo aus der Welt schaffen.

Die neue Führungsgruppe begann sofort zu handeln. Jede der Zwölfergruppen musste seine Pferde selbst bewachen, was auch hieß, dass die Pferde jetzt nahe bei den Feuern angebunden und mit Fußfesseln versehen wurden. Außerdem teilten sie Wachmannschaften ein, die im Laufe der Nacht einander ablösen sollten.


Tarit's und KeYNamM's Gruppen waren inzwischen auf den abgesprochenen Angriffspositionen eingetroffen und lagen dort auf der Lauer. Beide hatten sofort erkannt, dass die Neugruppierung Areksim's Truppe eine Änderung des Plans erforderlich machte. Tarit reagierte als erster. Er sandte die Hälfte seiner Männer KeYNamM zur Verstärkung und blieb mit nur vier zurück. Beide Gruppen beobachteten das Biwak und warteten geduldig bis der Nachtwind anzeigte, dass Mitternacht vorüber war. Als die Dunkelheit am tiefsten war, begann er mit dem Angriff.

Tarit und seine Männer schossen Brandpfeile in die Mitte des Lagers zwischen die angepflockten Pferde der dort lagernden Söldner. Die Feuerspuren des ersten Pfeilhagels am Himmel alarmierten die Wachen und ihr Geschrei weckte die Männer aus ihrem leichten Schlaf. Der stechende Geruch des Feuers und der Funkenflug der herannahenden Feuerpfeile machten die Pferde scheu. Sie begannen herumzutänzeln, versuchten sich loszureißen und als das nicht gelang, begannen sie mit den gefesselten Hinterbeinen auszukeilen. Der zweite Pfeilhagel vergrößerte den Tumult noch, denn die Söldner konnten die Pferde nicht beruhigen. Der Lärm weckte auch Areksim aus seinem unruhigen Schlaf. Er sprang auf, stieß Verwünschungen aus und begann Befehle zubrüllen. Die Mehrzahl der noch halbschlafenden Männer verstanden die Befehle nicht, nur einige der altgedienten Soldaten errieten sofort was zu tun sei. Sie packten ihre Waffen und als sie sahen, aus welcher Richtung die Pfeile kamen, formten sie einen Stoßtrupp und stürmten in diese Richtung. Tarit und seine kleine Gruppe hatte den Angriff erwartet. Sie schossen noch ein drittes Mal Brandpfeile in das Feldlager, verließen dann ihre Stellung und verteilten sich fächerförmig im Dunkeln. Areksim's Stoßtrupp stieß ins Leere, während Tarit und seine Männer das Lager umgingen und sich KeYNamM's Gruppe anschlossen.

Areksim vermutete die Gefahr im Norden, da von dort die Pfeile gekommen waren. Er vernachlässigte daher zunächst die Südflanke. Das machte sich KeYNamM's Gruppe zunutze. Als Tarit mit seinen Männern eingetroffen waren, hatten die Verteidiger des Reichs der Wüstensöhne fast wieder ihre volle Stärke erreicht und unternahmen einen Vorstoß in Richtung auf das Vorratslager des Expeditionskorps. Sie versuchten erst gar nicht bis zu den Säcken mit den Vorräten vorzustoßen, sondern warfen Feuertöpfe zwischen diese. Die zerplatzten beim Aufprall auf den Boden und die Mischung aus Steinöl, Harz und Salpeter ergoss sich über die Säcke mit den Vorräten, sie entzündete sich und ein Flammenmeer breite sich in alle Richtungen aus. Bald war das gesamte Nachtlager in stechend schwarzem Rauch gehüllt. Die Bewacher des Vorratslagers flohen hustend und kopflos in die Dunkelheit.

Währen dessen bemühte sich Areksim fluchend Ordnung in die Reihen der Expeditionskorps zu bringen. Sein Gebrüll konnte den Lärm der aufgescheuchten Männer kaum durchdringen. Erst nach längerer Zeit konnte er mit Hilfe seiner neuen Leutnants die Ordnung wieder herstellen.


Sofort nach dem Angriff zogen KeYNamM und Tarit sich mit ihren Männern bis zum Tighremt zurück. Dort formierten sie eine vorläufige Verteidigungslinie, gaben die jedoch wieder auf, als der erwartete Gegenschlag Areksim's ausblieb. Daraufhin beschlossen sie zwei Stoßtrupps mit jeweils fünf Männern auszusenden, die Areksim's Truppe von den Flanken überfallen sollten, während der Rest der Gruppe unter dem Kommando von Yufayyur am Fuß der Wohnburg zur Verteidigung zurückblieb.

KeYNamM, der als Bewohner des Draa mit Wasser vertraut war, begann den nächsten Angriff mit seinen fünf Männern von der Seeseite her. Ihr Ziel war es die Schlagkraft Areksim's Truppe weiter zu schwächen, ohne sich in einen direkten Schlagaustausch mit ihr einzulassen. Da sie sahen, dass der Feldhauptmann seine Truppe im Zentrum des Lagers versammelt hatte, beschlossen sie soviel Pferde als möglich freizulassen. Sie schlichen um die Gruppe herum zu den Pferden, durchtrennten die Fesseln an ihren Hinterbeinen und schnitten sie los. Die Tiere blieben zunächst verdutzt stehen, aber realisierten dann ihre Freiheit und trollten sich in die Dunkelheit.

Gleichzeitig führte Tarit seine kleine Gruppe um das Lager herum. Er plante vom Westen her anzuschleichen, um das Waffenlager, das sich dort befand, auszurauben. Auf den ersten Blick schienen die Behälter mit Pfeilen, Bögen und Lanzen unbewacht. Nach längerer Beobachtung entdeckte Tarit jedoch, dass sich die Wachen in den Büschen beiderseits des Platzes versteckt hatten. Er schlich allein im Bogen um deren Versteck und näherte sich ihnen dann winkend vom Versammlungsplatz der Truppe her, als würde er ihnen eine Botschaft von Areksim überbringen wollen. Die Wachen reagierten wie erwartet, verließen ihr Versteck und konnten von seinen Männern, die im Hinterhalt gewartet hatten, ohne viel Gegenwehr überwältigt werden. Tarit befahl seinen Männern die Bogen liegenzulassen und nur die Bündel mit Pfeilen und Lanzen zum Tighremt zu bringen.

Dort wurden sie schon erwartet. Von der Aussichtsplattform auf dem Turm hatte Ikken Späher bemerkt, die die Wohnburg umschlichen. Als diese dem Tighremt zu Nahe kamen, konnte sie Yufayyur schnell unschädlich machen. Er sperrte sie zu Udad in den hintersten Raum des Untergeschosses.

Als KeYNamM zurückkam, bereiteten sie alles zum Abzug vor. Die Pferde standen schon gesattelt in den Ställen und als Tarit mit seiner Beute auftauchte, saß die gesamte Truppe auf und verließ die Oase in Richtung auf das Ksar der Jinns.


Als Areksim dachte, er hätte nach dem Brand des Vorratslagers endlich Ordnung in seinen Haufen gebracht, kam der nächste Bote mit einer noch schlimmeren Nachricht, „Herr, Herr! Sie haben die Reservewaffen geraubt! Herr, die teuflischen Imuhagh haben die Wachen überwältigt und alle Pfeile und Lanzen mitgenommen.“

Am liebsten hätte Areksim den Unglücksboten einen Kopf kürzer gemacht, aber so schrie er ihn nur an, „Ist denn keiner hier in der Lage seine Aufgabe zu erfüllen? Holt Pferde, wir müssen die Räuber einholen und bestrafen! Schnell!“

Da kam auch die nächste schlimme Meldung herein. „Die haben einen Teil der Pferde losgebunden. Die Tiere sind in die Nacht geflüchtet und halten sich nun im Palmenwald auf. Wir müssen sie erst einfangen!“ Areksim begann zu fluchen. Er verfluchte erst den Gouverneur, dann seine eigene Mutter, dann seine Frau und zuletzt sich selbst. „Los, sammelt den Rest der Pferde und fangt die Weggelaufenen wieder ein! Ich brauche jetzt zwölf Freiwillige, die mit mir die Räuber verfolgen! Los!“

Die ersten, die sich meldeten, waren seine bewährten Soldaten, „Von euch nehme ich Acht mit, die anderen sind für das Lager verantwortlich!“ Dann blickte er sich in der Gruppe der neu angeworbenen Söldnern um, „Du da, du da und ihr zwei dort, ihr kommt auch mit!“ Das Hufgetrappel der Wegreitenden Imuhagh konnte Areksim gerade noch hören, als er am Tighremt ankam.

Er wollte sich schon auf die Verfolgung der Wüstensöhne machen, als ihn einer seiner Männer auf die gedämpften Schreie aufmerksam machte, die aus den Kellerräumen der Wohnburg drangen. Als ein Suchtrupp nach einiger Zeit aus dem stockdunklen Untergeschoss mit den befreiten Spähern zurückkam, musste Udad geschleppt werden, da er sich nicht auf den Beinen halten konnte. Vor Areksim ließen ihn die Kameraden los und er brach zusammen. „Was haben die mit dir angestellt! Ich hab mich wohl in dir getäuscht, Kapo!“, sagte der Feldhauptmann mit entschuldigendem Unterton, „Als du gestern verschwunden warst, habe ich vermutet, dass du zu den Wüstensöhnen übergelaufen bis! Bist du wohl nicht! Was haben die mit dir gemacht?“ Udad sagte erst nichts und dann nur, „KeYNamM hat ihnen befohlen, den Tod der jungen Burschen im Straflager zu rächen. Er gab ihnen freie Hand. Sie haben mich geschändet, einer nach dem Anderen hat mich geschändet. Die Imuhagh sind allesamt Bestien.“


Die Morgensonne färbte die steilen Wände des Wadi rot. Tarit hob den Arm und befahl seiner Truppe 'Halt'. „Hier trennen wir uns! KeYNamM und ich haben abgesprochen, dass er mit fünf meiner erfahrensten Grenzwächter im Wadi weiter bis zum Ksar der Jinns reitet. Er wird auch die Pferde mitnehmen, die wird Areksim abgenommen haben. Der vielen Spuren wegen wird der Feldhauptmann denken, dass unsere ganze Truppe durch den Wadi zum Ksar der Jinns reitet.“ KeYNamM ergänzte „Mit Tarit treffen wir uns erst am Ksar!“ Dann meldete sich Yufayyur, „Ikken und ich bilden mit Irat und Itri die zweite Gruppe. Unsere Aufgabe wird sein, vom Plateau aus Areksim's Bewegungen zu beobachten und wenn notwendig KeYNamM zu warnen. Irat und Itri sind mit von der Partie, da sie als Imuhagh aus dem Stamm der Angadh die Wüste hier wie ihr eigenes Zelt kennen! Wir werden die schnellsten Pferde nehmen!“ „Und wir ...“, Tarit wandte sich an die dritte Gruppe, „… wir nehme die Abkürzung quer über das Hochplateau zum Ksar der Jinns. Dort werden wir in den zerfallen Tighremt's rund um die Quelle alles vorbereiten, um Areksim und seine Männer passend zu empfangen. Ich gehe davon aus, dass KeYNamM rechtzeitig vor des Gouverneurs Feldherrn und seiner Truppe bei uns eintrifft.“ Damit bog Tarit mit der Hauptmacht in den nächsten Wadi ein, der nach Norden abzweigte und war bald den Blicken von KeYNamM entschwunden.


KeYNamM machte sich Sorgen um Ikken. 'Ich mache mir jetzt schon Sorgen wie ein richtiger Vater!', dachte er bei sich, und schüttelte den Kopf. 'Ich bin es ja schließlich auch und ich bin für ihn verantwortlich.'

Seit Beginn des Feldzugs hatte KeYNamM einen ganz neuen Ikken erlebt. War es der Tukumbut, der rote Hut, der angeblich einst König Gaya gehört hatte, war es die Abwesenheit von Aylal, Ikken's kleinem Bruder, den er sonst immer wie seinen Augapfel hütete oder war es die Freundschaft mit Yufayyur. Störte ihn diese Freundschaft? Ikken und Yufayyur waren unzertrennlich seit sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. Sie hatten sich immer etwas zu erzählen und sobald andere in Hörweite kamen, begann sie zu tuschelten. Wenn sie sich unbeobachtet glaubten, hielten sie Händchen oder einer legte dem Anderen den Arm über die Schulter. KeYNamM war zuerst neidisch auf die enge Freundschaft zwischen den beiden. Dann aber erinnerte er sich an seine erste Zeit mit Tarit. Auch sie waren unzertrennlich gewesen, Tag und Nacht steckten sie zusammen. Er musste lächeln. Hoffentlich nutzt Yufayyur Ikken's Naivität nicht aus. Lass sie doch, sagte er sich dann, Liebe fällt hin wo sie hinfällt und Ikken hat schon gezeigt, dass er Verantwortung tragen kann.

„Ikken, Ikken!“, er rief ihn zu sich, „Ikken! Auf ein Wort!“ Der gab dem Pferd die Sporen und ritt heran, „KeYNamM-baba?“ „Aufgeregt?“, als Ikken ihn unverständlich ansah, sagte KeYNamM nur, „Der Auftrag kann gefährlich werden. Sei vorsichtig!“ „Yufayyur ist bei mir! Zusammen passiert uns nichts!“ Yufayyur drängte sein Pferd auf KeYNamM's andere Seite, „KeYNamM-baba!“ fing er an und wurde plötzlich rot, „Darf ich auch Baba sagen, Amestan?“ Als KeYNamM nickte, „Ich lass Ikken nie im Stich und Ikken wird mich nie im Stich lassen! Tarit und du, ihr seid auch immer füreinander da gewesen.“ Plötzlich blickte er zu Boden, „Er hat mir alles verraten, alles. Er hat mir alles erzählt!“

An der Abzweigung zum nächsten Seitenwadi verabschiedete sich Yufayyur und seine kleine Gruppe verschwand bald um die nächste Biegung des schmalen Trockentals. KeYNamM aber spornte sein Pferd und versuchte seine Männer einzuholen, die ohne ihn weitergeritten waren.

16 Am Ksar der Jinns

Areksim benötigte fast den gesamten Vormittag bis er Ordnung in seine Truppe gebracht hatte und sie abmarschbereit vor ihm stand. Nur die Soldaten, die schon bei anderen Feldzügen unter ihm gedient hatten, waren sofort bereit aufzubrechen, die anderen jedoch, besonders die ehemaligen Strafgefangenen, aber auch ein Teil der frisch angeworbenen Söldner, machten Schwierigkeiten. Teils hatten sie einfach Angst wegen der Ereignisse an Meryems Quelle, dem Durst und der Erkrankungen am 'See des fauligen Wassers' oder den Vorkommnissen der vergangenen Nacht, teils fürchteten sie sich einfach ohne Vorräte und Ersatzwaffen ins Unbekannte zu ziehen. Als sich die Truppe endlich in Marsch setzte, Stand die Sonne schon hoch am Himmel.

Sie kamen nur langsam voran, vor allem da zwei Dutzend Pferde verschwunden waren und jetzt manche Reittiere zwei Reiter tragen mussten. Zum Glück standen jetzt auch die Maultiere den Reitern zur Verfügung, die sonst zum Transport der Vorräte und Waffen nötig gewesen waren. Aber die waren langsamer und störrischer als Pferde.

Bald hatten die Späher an der Spitze des Expeditionskorps die Spuren entdeckt, die Tarit's Gruppe im Sand des Wadi zurückgelassen hatte. Aus den Spuren versuchten sie die Anzahl ihrer Gegner zu ermitteln. Sie einigten sich schließlich auf vierzig Reiter. Als Areksim diese Zahl mit der Anzahl der Männer verglich, die Udad in der Wohnburg gesehen haben wollte, wurden er unsicher. Sollte er seinen Spähern glauben oder dem ehemaligen Häftling. Er ließ Udad zu sich bringen und begann ein Verhör. „Hast du dich nicht getäuscht, als du im Tighremt nur um die dreißig Männer gezählt hast? Willst du mich über die wahre Stärke der Imuhagh täuschen oder haben sich meine Späher verschätzt?“ Udad wurde wütend, „Ich habe dir gesagt, dass dort nicht mehr als 26 Imuhagh gleichzeitig waren! Vielleicht waren es mehr und einige hielten draußen Wache. Aber mehr als 30 waren es bestimmt nicht. Vielleicht führen sie Pferde mit sich, die sie uns geraubt hatten , um uns zu täuschen. Den ihren Anführer kannte ich bisher nicht. Sie nannten ihn Tarit. Soviel ich weiß, ist er der Liebling des Amenokals, des Wüstenkönigs, und dessen schärfste Waffe. Aber den anderen, den kenne ich gut! Er war mit mir im Straflager! Der ist durchtrieben und ich traue ihm alles zu. Es ist KeYNamM, der Amestan, der König vom Unland. Und sein Sohn war auch dabei. Die Imuhagh nannten ihn Ikken, den kleinen König Gaya!“ Als Areksim ungläubig den Kopf schüttelte, „Das ist der Kleine, der den Amestan zur Flucht verholfen hat, ein ganz durchtriebenes Bürschchen.“ Dann schwieg Udad. Er glaubte fürs erste genug mitgeteilt zu haben und drehte dem Feldhauptmann den Rücken zu. Im Fortgehen murmelte er halblaut „Glaub es oder glaub es nicht! Ich weiß was ich gesehen habe und ich würde einen solchen Gegner an deiner Stelle nicht unterschätzen!“

Bald näherte sich Areksim's Kolonne der Stelle, an der Tarit mit dem größeren Teil seiner Gruppe die Abkürzung nach dem Ksar der Jinns eingeschlagen hatte. Die Späher ritten ein Stück im Seitental hoch, machten dann jedoch kehrt, „Herr!“ ihr Anführer verbeugte sich vor Areksim, „Herr, dieser Weg führt direkt nach Norden in die Steinwüste. Dort gibt es keine Wasserstelle, keinen Platz zum Rasten, jedenfalls keinen Ort, der für Menschen geeignet ist, die nicht in der Wüste aufgewachsen sind. Wir schlagen vor, dass du ihnen einige von uns Spähern nachsendest, mit dem größeren Teil der Truppe aber weiter den Weg durch den Wadi bis zum Ksar der Jinns nimmst und dort erst in Richtung der Kasbah des Wüstenkönigs abbiegst. Sie ist dann nur noch zwei oder drei Tagesreisen entfernt.“ Areksim überlegte kurz, „Ich brauche euch hier. Aber gut, bestimme zwei, die der Spur folgen sollen. Sie sollen dem Feind aber nicht so nahe kommen, dass er sie entdeckt und abschlachtet. Sobald sie wissen, wohin die Gruppe der Imuhaghs zieht und wer sie anführt, sollen sie zurückkommen!“

Areksim folgte mit der Hauptmacht der Spur von KeYNamM's Gruppe. Da seine Truppen aber langsamer waren, vergrößerte sich der Abstand zu ihnen von Stunde zu Stunde.


Yufayyur, Ikken und die beiden Angadh waren auf dem Kamm der Talwand bis zu dem Seitental zurückgeritten an dem Tarit den Wadi verlassen und die Abkürzung zum Ksar der Jinns genommen hatte. Hier, versteckt zwischen trockenem Gestrüpp im Schatten von Steinblöcken, hatten sie auf den Vorbeimarsch der Truppen des Gouverneurs gewartet. Sie wollten schon die Späher verfolgen und unschädlich machen, verzichteten jedoch dann darauf, als diese nach kurzer Zeit umkehrten, um den Feldhauptmann Areksim zu unterrichten. Als das Expeditionskorps weiter zog und nur zwei Späher die Spur Tarit's aufnahmen, wussten sie was zu tun sei. Sie ließen ihnen einen Vorsprung, gaben dann ihren Pferden die Sporen und holten sie ein. Als die Späher sahen, dass die Imuhagh in Überzahl waren, ergaben sie sich kampflos.

Irat und Itri hatten den Spähern schon das Messer an die Gurgel gesetzt, als Ikken die beiden erkannte. „Hallo ihr Zwei! Euch kenne ich vom Soukh. Du da, du hast einen Obststand gleich neben dem meiner blinden Muhme und du arbeitest auf dem Viehmarkt. Was macht ihr hier? Warum verfolgt ihr mich, Aylal, den Amestan und die Wüstensöhne? Was haben wir euch getan?“

Der Mann mit dem Obststand wurde erst bleich, dann rot und wieder bleich, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Schließlich stammelte „Ikken, bist du das Ikken, mein Nachbar?“, dann schluckte er, „Ich verfolge dich nicht Ikken, auch Aylal nicht! Plötzlich wart ihr verschwunden. Die ganze Stadt suchte nach euch. Der Gouverneur ließ verkünden, dass der Amestan euch geraubt hat! Er hat demjenigen eine Belohnung versprochen, der euch zurückbringt. Als das nicht Erfolg hatte, ließ er den gesamten Soukh bei der Suche nach euch auf den Kopf stellen. Er hat den Stand deiner Muhme niedergebrannt. Meiner ist gleich mitverbrannt.“ Dann verstummte er betrübt, um nach einer Weile fortzufahren „Und deine halbblinde Tante? Du willst es bestimmt wissen, Ikken. Der Gouverneur ließ sie in sein Haus bringen, um für sie zu sorgen!“

Ikken war überrascht. Er war glücklich über die gute Nachricht von seiner alten Tante, „Lebt sie noch? Geht es ihr gut? Was macht sie?“ Er wollte alles wissen. Aber sein früherer Nachbar machte plötzlich ein betretenes Gesicht. „Sie ist tot. Sie starb im Haus des Gouverneurs.“

„Aber meine Tante war zäh, halbblind zwar, aber gesund! Sie war gesund! Ich glaube nicht, dass sie gestorben ist! Er hat sie umgebracht!“

Ikken zog eine Parallele zum Schicksal seines Vaters. „Der Gouverneur hat meine liebe Muhme bestimmt zu Tode gemartert. Er wollte aus ihr herausholen, wohin wir sind, ich, Aylal und der Amestan! Sie hat es nicht gewusst! Ich hatte ihr nicht einmal mitgeteilt, dass wir fliehen, schon gar nicht wohin wir uns wenden würden. Meine Tante konnte es ihm mich verraten, daher hat er sie ermordet!“ Ikken weinte. Dann stieß er voll Zorn hervor, „Der Gouverneur hat am längsten gelebt! Erst meinen lieben Vater, jetzt meine herzensgute Muhme. Der Gouverneur hat am längsten gelebt.“

Die beiden Späher dachten, dass diese Nachricht ihren Tod besiegeln würde. Irat und Itri fesselten ihnen die Hände auf dem Rücken und stießen sie zu Boden. Aber Ikken winkte die beiden zur Seite, „Steckt die Messer fort, wir müssen etwas besprechen.“

Er diskutierte lange und heftig mit Yufayyur und den beiden Imuhagh. Am Ende trat Yufayyur vor sie, „Wenn euch das Leben lieb ist, schwört dem Gouverneur ab und dem Wüstenkönig die Treue.“ Als sie nickten, trat Ikken vor sie; „Wenn euch das Leben lieb ist, dann schwört dem Amestan die Treue.“ Sie nickten. Dann traten Irat und Itri vor sie. „Wenn euch das Leben lieb ist, dann schwört Ikken die Treue, Ikken dem Sohn Königs Gaya's!“ Die gefesselten Späher blickten erstaunt zu Yufayyur und den beiden Imuhagh und begannen zaghaft, „Wir schwören dem Amestan die Treue! Wir schwören dem Amenokal die Treue!“ Dann blickten sie zu Ikken auf, verbeugten sich so tief als sie im Sand liegen konnten, „Wir schwören Ikken, dem Sohn Königs Gaya, dem Schöpfer des Wüstenreichs, die Treue! Wir schwören es!“


Gegen Abend bog KeYNamM's Kolonne vom Wadi in das schmale Seitental ein, das nach Osten führte. Nach etlichen Meilen erweiterte es sich zu einem Kessel, an dessen steilen Wänden drei Kasbahs klebten. Im rötlichen Licht der tiefstehenden Sonne leuchteten die Stampflehmwände der Wohnburg auf der Ostseite wie lebendig, während die Burg im Süden bereits im Schatten lag und zu schlafen schien. Die Überreste der Kasbah auf der Nordseite des Kessels machten aus der Entfernung den Eindruck eines Irrgartens. Sie war die älteste und von ihren Häusern standen nur noch verschachtelte Mauern. Die Dächer fehlten oder waren eingestürzt. Auf dem schlanken Turm der Kasbah am Südhang flatterten an langen Stangen Fähnchen im Abendwind.

„Gebetsfahnen auf dem Turm einer verwünschten Kasbah?“, fragte der KeYNamM den Späher aus dem Klan der Angadh, der neben ihm ritt. Dann überlegte er laut „Gebetsfahnen! Vielleicht sollen sie böse Geister beschwichtigen? Sollen sie gute Geister willkommen heißen? Sollen sie Geister versöhnen?“ Als Bewohner des Draatals wusste KeYNamM nicht viel über die religiösen Vorstellungen der Imuhagh. Sie glaubten an Geister, das wusste er. Vor allem fürchteten sie Kel Essuf, den bösen Kel Essuf und sie liebten Kel Essuf, den guten Kel Essuf. Durch Meditation traten ihre Gelehrten, die Marabout, und die weisen Frauen mit dem Wüstengeist in Verbindung, durch ihn konnten sie heilen, die Zukunft vorhersagen, die Vergangenheit deuten. Kel Essuf, der Unberechenbare, der Wilde, der Einsame, der Trauernde, Kel Essuf war mächtig und allgegenwärtig. Er durfte nicht beleidigt werden. Die Wüstenmenschen schützten sich mit Amuletten vor seinem Zorn, Männern mit einem Beutelchen, in dem sie magische Gegenstände mit sich trugen, Frauen mit einem handförmigen Amulett aus Silber.

Der Späher aus dem Klan der Angadh fragte, „Soll ich dir die Geschichte des Ksar der Jinns erzählen?“ Er wartete nicht, sondern begann. „Die erste Kasbah klebte schon an der steilen Bergwand als wir Angadh hier ankamen. Sie war damals schon unbewohnt und im Zerfallen. Die kleinwüchsigen Menschen, die hier ein karges Leben fristeten, erzählten vom Fluch der auf dem Ort lag.“ Er dachte nach und fuhr dann fort. „Der Jnun der Quelle, ein Wesen, das älter war als der erste Mensch, und das Leben in ihrem Umkreis ermöglichte, verlangte Tag für Tag ein Opfer, kein großes Opfer, kein blutiges Opfer, nein, er begnügte sich mit einem Stückchen Fladenbrot, ein wenig Hirsebrei, ein paar Datteln. Als die Bewohner der Kasbah reich wurden, begannen sie ihre Pflicht zu vernachlässigen. Das ärgerte den Jnun. Er wartete ein Jahr. Als ihm auch nach dieser Zeit niemand mehr Opfer darbrachte, ließ er das Wasser nur noch tröpfeln und als ein weiteres Jahr verging, ohne dass die Bewohner der Kasbah ihre Pflicht erfüllten, ließ er die Quelle vollständig versiegen. Die Menschen verwünschten den Jnun, ohne nach ihrer eigenen Schuld zu fragen. Sie zogen weg und der Wind und der Sturm zerstörten die Kasbah.“

Der Späher schaute KeYNamM in die Augen, „Erfüllt ihr am Draa auch eure Pflicht? Ehrt ihr die Geister?“ Dann fuhr er fort, „Generationen später kam ein junger Imuhagh, der um seinen Freund trauerte. Er setzte sich an das kleine Rinnsal, das dem Quelltopf wieder entsprang und seine Tränen vermischten sich mit dem Wasser. Das erweichte das Herz des Jnun's. Er erbarmte sich, und das Wasser begann zu fließen, reichlicher als je zuvor. Seine Brüder kamen ihn suchen und als sie das Wasser der Quelle kosteten, gründeten sie eine neue Kasbah. Sie zogen mit ihren Frauen, ihren Kindern, ihren Sklaven und ihrem Vieh in die neue Burg, die größer und schöner war, als die erste.“

„Solange der Imuhagh lebte, ging er jeden Tag zur Quelle und weinte um seinen verlorenen Freund und das Wasser hörte nie auf zu fließen. Aber als er im hohen Alter starb, vergaßen seine Kinder, dass er mit seinen Tränen den Quellgeist gelabt hatte. Niemand kam mehr zur Quelle und labte den Jnun mit Tränen, niemand brachte ihm Opfer dar. Langsam, sehr langsam versiegte die Quelle und auch die zweite Kasbah hörte auf zu leben und verfiel.“

Er schaute KeYNamM traurig an, „Alles wiederholt sich! Ein drittes Mal begann die Quelle zu fließen als ein Knabe vorbeikam, der sein weißes Schäfchen suchte. Das war mein Ururgroßvater. Er hatte einen Strauß Blumen gepflückt. Damit wollte er das weiße Schäfchen nach Hause locken. Als er das Schäfchen nicht fand, warf er die Blumen in die Quelle. Der Jnun fing sie auf, war versöhnt und ließ die Quelle wieder fließen.“

„Meine Vorfahren bauten eine neue Wohnburg, die schöner war als alle vorher. Als aber mein Ururgroßvater starb, brachte niemand mehr Blumen zur Quelle. Sie versiegte und die Bewohner der Kasbah mussten wegziehen. Aber ihre Nachfahren schmücken heute noch den Turm mit Fahnen und hoffen, dass der Jnun versöhnt wird und die Quelle wieder so reichlich fließen lässt, das die Burg wieder bewohnt werden kann.“

„Aber deine Brüder haben mir erzählt, dass Jinns in den Burgen wohnen und wer dort übernachtet, kann die ganze Nacht kein Auge schließen. Sag ist das wahr?“ KeYNamM war neugierig.

„Ja, der Jnun hat seine Söhne, die Jinns, zu Hilfe gerufen und erst wenn er wieder versöhnt ist, schickt er sie heim. Dann wird die Quelle des Jnun wieder fließen.“

„Wer wird der sein, der den Jnun versöhnt? Weißt du das Wüstensohn? Du bist weise. Du kennst die Vergangenheit. Kennst du auch die Zukunft?“

„Ich bin keine Marabout. Ich bin nicht weise, Gott hat mir nicht die Kraft geschenkt, die Zukunft zu sehen.“ Dann dachte er nach, „Aber die weisen Mütter sagen, dass es wieder ein Junge sein wird, der den Jnun aufweckt!“

Erst jetzt, vorm Eingang zum Kessel, konnte KeYNamM die Quelle des Jnun sehen. Der vormals fruchtbare Ackerboden der Oase war fast vollständig mit dürrem Gestrüpp bedeckt und im ehemaligen Palmenhain reckten sich nur noch verdorrte Stämme zum Himmel. Dort, wo ein schmaler Pfad aus dem Kessel zur Kasbah am Osthang führte, unterbrach ein tiefgrüner Fleck das graue Einerlei der toten Pflanzen. „Die Quelle?“, wandte er sich fragend an den Späher und gerade als dieser nickte, nahm KeYNamM aus dem Augenwinkel eine Bewegung zwischen den Mauern der Wohnburgruine wahr. Schon richtete er sich in den Steigbügeln auf und griff nach seiner Lanze, als er in einem der Reiter Tarit erkannt.


Tarit näherte sich KeYNamM im gestreckten Galopp und hielt sein Pferd so blitzartig vor ihm an, dass es auf den Hinterbeinen hochstieg. „Ihr kommt spät! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass euch Areksim's Truppen eingeholt hätten.“ Er drängte sein Pferd neben das KeYNamM's, umarmte seinen Freund und drückte ihn fest. „Lass uns zur Quelle reiten und ihr …“ er wandte sich an die Anderen, „… ihr reitet mit meinem Begleiter zu unserem Versteck dort oben. Nehmt die Pferde mit, auch wenn die lieber zur Quelle wollen.“

Über der Quelle des Jnun spannte sich ein Dach aus großen Steinblöcken. Das wenige Wasser, das aus einem Spalt im Felsen quoll, reichte gerade aus, um ein flaches, sandigen Becken zu füllen. Leicht angewärmt von der Abendsonne verließ es die Schale als schmales Rinnsal am entgegengesetzten Ende. Dort versickerte es so schnell im trockenen Boden, dass die Feuchtigkeit gerade für die wenigen Gräser ausreichte, die um den Abfluss herum wuchsen.

Tarit und KeYNamM rissen sich die Gewänder vom Leib und tauchten im flachen Wasser unter so weit es ging. Als sie später im lauwarmen Wasser ruhten, den Kopf an den Beckenrand gestützt, fragte KeYNamM „Sind Ikken und Yufayyur schon aufgetaucht? Ich mache mir Sorgen um die Beiden. Sie sind noch zu jung, um es mit Areksim's Söldnern aufzunehmen.“

Tarit schüttelte den Kopf, „Ich mach mir auch Sorgen, aber ich verlasse mich auf meinen Yufayyur. Er ist nicht unerfahren und hat schon oft bewiesen, dass er mutig ist. Er ist aber nicht wagemutig.“ Nach einem Moment fügte er hinzu, „Glaub mir mein Amestan, ich würde meinen Schwager und Sohn ebenso vermissen, wie du Ikken und Aylal.“ Als KeYNamM ihn fragend anblickte, fuhr er fort „Nach Tamimt kommt gleich Yufayyur, ihr Bruder. Wenn er fort ist, vermisse ich ihn sogar mehr als Dihya und Lunja, Tamimts Schwestern, meine anderen Frauen.“

KeYNamM lachte leise, „Du liebst ihn? Ich liebe Ikken und Aylal ebenfalls, glaub mir, ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne sie zu leben.“

Als aus der Ferne leise Geräusche der herannahenden Truppe Areksim's zu ihnen drangen, verloren sie keine Zeit und begaben sich zu ihren Männern, um den letzten Teil des Verteidigungsplan zu verwirklichen.


Areksim war unzufrieden, unzufrieden wie nur ein Feldhauptmann sein konnte, wenn alles schiefging. Die Truppe des Gouverneurs hatte viel zu viel Zeit benötigt, um von der Oase Mhamit bis zum Ksar der Jinns zu kommen. Auch jetzt, als er in den Kessel einritt, war die letzte Söldnertruppe noch nicht in Sicht. Wahrscheinlich waren diese Trödler noch nicht einmal in das Seitental eingebogen, das vom großen Wadi zum Ksar der Jinns führte. Natürlich gab es einen Grund dafür, eigentlich sogar mehrere. Einmal fehlten zwei Dutzend Pferde, die an Meryems Quelle und der Oase Mhamit von den Imuhagh geraubt worden oder einfach geflüchtet waren. Folglich mussten jetzt viele Pferde zwei Reiter tragen und was sie entsprechend ermüdete und langsamer machte. Zweitens waren viele der Vorräte bei den Überfällen in Brand gesetzt, also unbrauchbar geworden und drittens hatten die Wüstenreiter die Behälter mit Pfeilen und Ersatzlanzen bei der Oase Mhamit geraubt. Wüstenreiter? Treffender wäre Wüstenräuber! Schimpfte er leise, gottverdammte Wüstenräuber!

Ein anderer Grund war Udad. Wie hatte er den Oberkapo aus dem Straflager an der Kristallmine nur zu seinem Vertreter und dessen Kumpane zu Leutnants befördern können? Das aber war eindeutig die Schuld des Gouverneurs. Dieser hatte ihm Udad und dessen Kumpane aufgedrängt. 'Die haben sich in allen Lebenslagen bewährt', hatte der Gouverneur geschwärmt! Er, Areksim, er als der erfahrene Feldhauptmann, hätte misstrauischer sein müssen und nicht auf den Gouverneur hören. Verbrecher bleiben eben Verbrecher!

Jetzt, wo sie an der Quelle des Jnun standen, waren Udad immer noch die Hände auf dem Rücken gefesselt. Lauthals beschwor der seine Unschuld, verlangte unverzüglich freigelassen und in seine alten Position als Unterführer eingesetzt zu werden. Areksim aber lehnte beides ab! Udad's Gesicht war vor Wut rot angelaufen. Er fluchte. Er beschimpfte den Feldhauptmann. Er drohte ihm und endlich schwor er unverzüglich nach Tinghir zurückkehren zu müssen, um sich beim Gouverneur zu beklagen.

Areksim hatte genug. „Maysar, Tanan, Ayrad und Winsen kommt her!“ brüllte er seinem neuen Leutnant und dessen Adjutanten zu, „Bringt Udad und seine Kumpane in Kasbah dort drüben. Werft sie gefesselt in einen finsteren Raum und verrammelt dessen Zugang, damit sie mir nie mehr über den Weg laufen können! Sollen sie doch dort verhungern!“


Mit ihren Begleitern hatten Yufayyur und Ikken das Expeditionskorps des Gouverneurs verfolgt bis sie sicher waren, dass auch die letzte Gruppe der Söldner im Seitental, das zum Ksar der Jinns führte, verschwunden war. Dann schlugen sie die Abkürzung zu Tarit's Versteck oberhalb der toten Siedlung ein. Dort trafen sie nur einen Leutnant der Grenztruppe und zwei Grenzwächter, die die Pferde bewachten und versorgten.

„Hallo, wen bringt ihr denn mit?“, war die erste Frage des Leutnants, „Das sind keine von uns, nicht einmal Imuhagh. Sehen nach des Gouverneurs Söldner aus.“

„Sind es auch! Wir haben die abgefangen, als sie uns nachspüren sollten. Sie waren nicht die besten Spürhunde!“, antwortete einer der beiden Imuhagh und der andere ergänzte stolz und zeigte auf Yufayyur „Sie haben ihm und dem Wüstenkönig die Treue geschworen. Und ihn ...“, er zeigte stolz auf Ikken, „… sie haben ihn als Erben von König Gaya anerkannt.“

„Warum habt ihr sie denn nicht entwaffnet?“

„Ich kenne beide“, erklärte Ikken, „Sie waren meine Nachbarn auf dem Soukh in der Stadt. Ich traue beiden.“ Dann schluchzte er leise, drehte sich zu Yufayyur, „Wie soll ich Aylal beibringen, dass der Gouverneur seine Muhme umgebracht hat! Sie hat ihn doch aufgezogen und er liebt sie!“

„Ikken, du musst dem Gouverneur den Kopf abschlagen und ihn Aylal bringen. Das wird seine Trauer nicht mindern, ihn nicht trösten. Aber der Kopf des Gouverneurs wird deinem Bruder zeigen, dass Unrecht nicht geduldet wird.“ Als Ikken ihn zweifelnd ansah, „Du bist nicht allein, Ikken! Der Amestan, Tarit und ich, wir werden sie rächen, alle, deinen Vater, deine Muhme, alle, alle die der Gouverneur aus Willkür und Mordlust hat umbringen lassen!“


In der aufziehenden Nacht suchten Ikken und Yufayyur in den Truppen nach Tarit. Diese hatten die Kämme der Hügel um den Talkessel besetzt, in der die Quelle des Jnun entsprang. Besonders gut bewacht war der Weg auf das Plateau des Gebirges, der weiter zur Kasbah des Amenokal führte.

Ikken und Yufayyur brauchten nicht zu lange suchen, da sowohl Tarit als auch KeYNamM sich bei der Gruppe befanden, die den Pfad bewachten. Als die beiden Jungen ankamen, berieten sie gerade, was die beste Taktik wäre, das weitere Vordringen der Truppen des Gouverneurs zu verhindern.

„Wir haben Areksim schon deutliche Verluste zugefügt, einen Teil seiner Vorräte vernichtet, seine Reserven an Pfeilen und Lanzen an uns gebracht, ihm mehr als zwanzig Pferde abgenommen. Das alles wird seiner Truppe fehlen und das Wichtigsten ist, seine Männer taugen nicht für einen Krieg in der Wüste.“

„Du hast recht Tarit“, sagte eine leise Stimme aus dem Dunklen, „Nur etwa ein Viertel der Söldner hat Kriegserfahrung, die andern sind praktisch Rekruten!“

„Hallo, hallo, bist du das Yufayyur?“

„Ist Ikken auch ...“

„Klar KeYNamM-baba! Und wir haben noch eine gute Nachricht! Ich habe zwei seiner Späher gefangen! Und was glaubst du? Es sind meine Nachbarn vom Soukh! Sie haben die Seiten gewechselt und uns die Treue geschworen!“

KeYNamM stürzte auf Ikken zu. In der Dunkelheit rannte er ihn beinahe um. Fing ihn jedoch im letzten Augenblick auf, hob ihn hoch und begann mit ihm im Arm zu tanzen. „Lass mich runter, Baba. Drück mich nicht tot!“ Ikken versucht Luft zu bekommen, denn was er mitteilen wollte, war wichtig. „Aber das ist noch nicht alles! Areksim hat seinen Unterführer Udad degradiert, Udad, den Oberkapo aus der Kristallmine. Er hat ihn und seine vier Kumpane gefangengesetzt.“

„Nun hat er also seine Truppe selbst geschwächt! Uns soll das nur recht sein. Jetzt weiß ich auch, wer die fünf waren, die in die Kasbah gesperrt wurden“, mischte sich Tarit ein, der immer noch einen Arm um Yufayyur's Schultern gelegt hatte.

„Wir sollten die Fünf befreien, denn, wie ich Udad kenne, wird der bestimmt versuchen, Rache an Areksim zu nehmen.“

„Wie kommen wir ungesehen an die Kasbah. Das kann nur einer der sich hier gut auskennt!“

„Ich mach es, ich und mein Zwillingsbruder“, meldete sich ein junger Angadh, „Wir kennen hier jedes Loch. Schon als Kinder haben wir und unsere Freunde in den Wohntürmen gespielt. Jede Kasbah hat versteckte Hintereingänge, auch die, in der die Fünf eingesperrt sind.“

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