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Little Lies

Teil 6

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Inhaltsverzeichnis

Janosch: Freitag Mittag, 21. 07. 2000

Einen Moment standen wir einfach nur so da, bis Mum schließlich sagte: "Übrigens, einen schönen Gruß von Rip soll ich euch bestellen, wir sollen um fünf zum Grillen dort sein." "Ist was besonderes?", fragte ich. Mum schüttelte den Kopf. "Nein, Rip hat zumindest nichts gesagt." Luke wurde blass. "Au, verflixt! Heute ist Richies Geburtstag, er wird 20." Wir drei sahen uns ratlos an. Mum hob die Hände. "Okay, langsam. Jetzt ist es kurz nach eins, das heißt, wir haben noch knapp vier Stunden - was schaffen wir in der Zeit noch?"

Zum ersten Mal seit Langem trat die Reilly-Spontaneität in voller Stärke hervor. Ich weiß nicht mehr genau, wie wir es geschafft haben, aber auf jeden Fall machte Mum einen Salat, ein Blechkuchen nach ihrem Spezialrezept (von dem sie wusste, dass Richie dafür sterben würde, weil er ihn so liebte) und Luke und ich fanden noch ein passendes Geschenk für Richie - ich war mir zwar nicht sicher ob es so toll war, Richie ein Rasierwasser zum Geburtstag zu schenken, aber Luke wusste, welche Sorte Richie benutzte. »Meinst du nicht, dass so ein Geschenk eher von Anne oder Jason kommen sollte?«, fragte ich ihn. Luke schüttelte den Kopf. »Könnte, aber muss nicht. Davon abgesehen weiß ich, dass zumindest Jason etwas anderes für ihn hat, und ich habe es noch nie erlebt, dass Anne Richie ein Rasierwasser geschenkt hat.«

Ich grinste. »Du warst ja auch schon so oft dabei, wenn Anne Richie ihr Geburtstagsgeschenk überreicht hat.« Den Seitenhieb konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Luke knuffte mich vorsichtig in die Rippengegend. »Mein lieber Janosch, Richie und ich haben uns schon öfter von Mann zu Mann unterhalten.« Ich ging vorsichtshalber hinter dem Küchentisch in Deckung. »Du meinst, Richie hat mit Jason gesprochen und du hast daneben gestanden?« Luke sah sich suchend auf dem Küchentisch um, das Einzige, was in seiner Reichweite stand, war die Mehltüte. Kaum hatte er sie in der Hand kam Mum herein. Sie klopfte Luke im Vorbeigehen auf die Schulter. »Oh, gute Idee, dass du die Streusel für den Kuchen machen willst.« Luke klappte die Kinnlade herunter. Mum sah ihn mit einem wissenden Lächeln an. »Oder brauchtest du das Mehl für etwas anderes?« Luke schüttelte resignierend den Kopf. »Nein. Aber vielleicht kannst du Janosch ja davon überzeugen, dass meine Idee für Richies Geschenk gar nicht so schlecht ist.«

Pünktlich um fünf standen wir bei den Masters auf der Matte. Richie empfing uns mit einem breiten Lächeln. »Hey, schön dass ihr es noch geschafft habt.« Auch der Rest war schon versammelt, wir waren trotz aller Beeilung doch die letzten gewesen. Das störte jedoch niemanden. Ich war etwas überrascht, dass die ganze Feier noch recht gut überschaubar war. Richie, Jason und Rip waren sowieso da; Julian und Natalie waren vorbeigekommen, ebenso Richies jüngere Schwester Anne mit ihrem Mann - sie war zu dieser Zeit die einzige im Masters-Clan, die verheiratet war. Rip war natürlich da, und Roland mit weiblicher Begleitung - ich nahm an, seine Frau. Markus war mit dabei, und David hatte einen Mann in Rips Alter bei sich, den ich überhaupt nicht kannte. Ich beschloss, mal vorbeizuschauen, aber in dem Moment kam Roland schon auf mich zu.

»Hallo Janosch, wie geht's dir?« »Danke, ganz gut, und dir?« Er lachte. »Bei solchen Gelegenheiten immer gut. Ich möchte dir kurz meine Frau vorstellen, deine Mum kennt sie schon, aber du noch nicht. Barbara, das ist Janosch, Lynns jüngster.« Barbara kam auf mich zu und gab mir die Hand. »Hallo Janosch, freut mich sehr, dich kennenzulernen.« »Äh ... mich auch, danke«, erwiderte ich etwas schüchtern - auf diesen Überfall war ich nun gar nicht gefasst gewesen. Wir unterhielten uns ein bisschen, und bei der Gelegenheit fiel mir etwas ein. »Roland, hab' ich mich eigentlich schon bei dir für deine Hilfe bedankt? Ich meine, wenn du und Rip das nicht alles eingefädelt hätten, dann ...« Roland winkte ab, dann hockte er sich vor mir hin und sah mir in die Augen.

»Janosch, dass wir dir geholfen haben, war eine Selbstverständlichkeit für uns alle. Das Wichtigste an der ganzen Geschichte bis dahin war jedoch, dass du es geschafft hast, den ersten Schritt zu machen und Luke zu erzählen, was eigentlich los war. Rip und Luke haben mir beide gesagt, dass sie sich schon länger den Kopf zerbrochen hatten, was in dir vorging. Du hast den ersten Schritt geschafft, und ich bin mir sicher, dass du auch den Rest dieses Weges schaffen wirst. Alles was wir getan haben, ist dich ein bisschen festzuhalten, damit du nicht vom Weg abkommst. Und den Rest schaffst du, da bin ich mir ganz sicher.« Er stand wieder auf und klopfte mir auf die Schulter. »Hundertprozentig sicher«, fügte er dann noch hinzu.

Ich war ein wenig sprachlos ... eigentlich hatte ich das bisher alles ein wenig anders gesehen, und ich glaubte immer noch daran, dass ich das ohne die Hilfe von Luke, Rip, Roland und Mum nie geschafft hätte. Markus lächelte mich an. »Hey, Janosch - du kannst meinem Vater ruhig glauben, er weiß wovon er redet. Und ich auch.« Ja, das wusste ich ... Markus hatte mir am ersten Abend, nachdem ich Luke davon erzählt hatte und der wiederum Rip und Roland informiert hatte, erzählt was ihm passiert war - ihm war es noch um einiges schlechter ergangen als mir. »Roland, Markus - ich glaube euch das gern, aber trotzdem möchte ich mich bei euch bedanken. In meinen Augen habt ihr mir sehr geholfen.« Roland zwinkerte mir zu. »Ist schon okay. Na komm, und jetzt wird gefeiert.«

Ich ging davon aus, dass ich mit diesen Worten aus der Runde entlassen war. Ich setzte meine Suche nach David fort, den ich vorher ja schon gesehen hatte, der mittlerweile aber wieder aus meinem Blickfeld verschwunden war. Er stand in einer Ecke des Gartens und unterhielt sich immer noch mit diesem Typen, den ich nicht kannte. Ich bahnte mir meinen Weg durch die ganzen Leute, und dann hatte ich endlich die Gelegenheit, David zu begrüßen. Wir hatten uns heute Morgen nicht gesehen, weil ich ziemlich früh aufgestanden war, und irgendwie hatte ich ihn den ganzen Tag über ein bisschen vermisst.

»Hi Janosch!« Er nahm mich kurz in den Arm. »Hi David. Na, alles okay bei dir?« Das war offensichtlich - schließlich strahlte er übers ganze Gesicht, was allerdings wegen der Zahnlücken noch etwas seltsam aussah. In diesem Moment schoss mir der Gedanke durch den Kopf wie David wohl aussah, wenn er endgültig wiederhergestellt war. »Mir geht's super. Das ist Schröder, mein Klassenlehrer, von dem ich dir ja erzählt hab'.« Der Typ erinnerte mich ein bisschen an den einen Wissenschaftler aus 'Independence Day' - lange Haare, eine schmale Brille und ein freundliches, aber zurückhaltendes Grinsen im Gesicht. »Hallo, ich bin Janosch Reilly.« »David hat mir ein bisschen was von dir erzählt. Ihr scheint euch ja gut angefreundet zu haben.«

Ich grinste verlegen. »Na ja, wenn man von einer kleinen Eskapade absieht, auf jeden Fall.« David zwinkerte mir zu, und Schröder sah verständnislos von einem zum anderen. Von David und mir kam aber nur einstimmig zurück: »Das ist eine lange Geschichte.« »Okay, ich frag' ja gar nicht weiter - von Blondie bin ich's ja gewöhnt, dass er nicht mit der Sprache 'rausrückt.« David wurde rot und warf Schröder einen bösen Blick zu, während ich vor Lachen nach Luft schnappte. »Blondie????«

Zum Glück kam in diesem Moment Roland dazwischen. »Herr Schröder, haben Sie noch einen Moment Zeit? Wir würden gern noch etwas mit Ihnen besprechen, Dr. Masters und ich.« Schröder nickte und war wohl ganz froh darüber, dass er sich so elegant aus der Affäre ziehen konnte. »Wir sehen uns später noch«, sagte er zu uns, dann war er auch schon verschwunden. »Seit wann hast du denn den Spitznamen 'Blondie' weg?«, fragte ich, immer noch lachend. »Den hat Schröder mir vor ein paar Jahren mal verpasst«, antwortete David grummelnd. Offensichtlich war es ihm gar nicht so recht, dass ich etwas davon wusste. »Hast du zufällig Kippen dabei?«, fragte ich, um ein bisschen vom Thema abzulenken. »Klar, hier.« Er hielt mir die Schachtel hin, ich nahm mir eine und David gab mir Feuer.

»Und, wie läuft euer Umzug?«, fragte er. »Super. Die Wohnung ist total schön, du musst sie dir unbedingt mal anschauen.« Er nickte. »Mach' ich, versprochen.« »Mum hat bestimmt nichts dagegen, wenn du mal für eine Nacht bei uns schläfst, wenn du Lust hast«, bot ich ihm an. Er lächelte. »Klar, gern - ich weiß aber nicht was Rip dazu sagen wird.« »Ich glaube nicht, dass der was dagegen haben wird.« In diesem Moment tippte mir Richie von hinten auf die Schulter. »Janosch, hast du mal 'ne Sekunde Zeit für mich?« »Klar, was gibt's?« »Wir wollten gleich noch eine kleine Session machen, bist du dabei?«, fragte er. »Gegenfrage, wer ist sonst noch mit dabei?« »Na, Jason, Nick und ich natürlich. Schließlich sollen ja auch noch ein paar Leute zuhören.« »Okay, ich bin dabei.« »Braucht ihr noch 'nen Roadie?«, bot David an.

Richie grinste. »Im Prinzip ja, aber tu' mir den Gefallen und klär' das mit Nick - du weißt ja wie er beim letzten Mal reagiert hat, als ich dich für einen Arbeitseinsatz vorgeschlagen habe.« Wir lachten - das ganze schien so ewig lange her zu sein, dabei waren gerade erst fünf Tage vergangen. David nickte. »Okay, ich frag' ihn.« Richie und ich sahen uns immer noch lachend an. »Irgendwie passt der Kleine hier verdammt gut 'rein«, sagte Richie. Ich nickte. »Ja, allerdings - und ich glaube, er fühlt sich bei euch auch ziemlich wohl.« Richie nickte. »Wir tun was wir können.« »Ja, das merke ich - nicht nur bei ihm.« Richie verwuschelte mir lachend die Haare. »Du gehörst hier doch sowieso schon mit dazu, Kleiner.«

Jason war mit dem Aufbau als Erster fertig und beschloss, sich zur Stärkung noch schnell eine Bratwurst 'reinzuziehen, während Richie, Nick und ich uns um den Rest der Instrumente kümmerten. Plötzlich war vom Grill her ein Geschrei und dann Gelächter zu hören. David hatte Jason die letzte Wurst vor der Nase weggeschnappt und Jason jagte ihn jetzt - immer noch mit der Ketchupflasche in der Hand - durch den Garten. Jason war zwar ein guter Sportler, aber David war kleiner und wesentlich flinker als Jason, sodass der keine Chance hatte. Die Frage nach dem Roadie hatte sich zwischenzeitlich erledigt, soviel hatten wir auch nicht aufzubauen, dass wir das nicht noch allein geschafft hätten.

Eine halbe Stunde später war es soweit - wir hatten alles aufgebaut, Richie stand mit der Gitarre in der Hand vorne am Mikro und dann konnten wir loslegen. Mittlerweile kam ich mit dem Schlagzeug recht gut klar - zumindest für einfache Beats reichte das, was ich konnte, aus, und Richie und Jason hatten mir versprochen, mir noch ein bisschen Unterricht zu geben, wenn ich Lust dazu hatte. Eigentlich hatte ich nur das Problem, Mum von meinem neuen Hobby zu überzeugen ... aber das würde sich bestimmt noch einfädeln lassen, außerdem gehörte zu unserer neuen Wohnung ein recht geräumiger Keller.

Wir spielten eine Reihe von Songs quer durch den Garten - im wahrsten Sinne des Wortes, schließlich fand die Party draußen statt - und sogar Nick hatte einen kleinen Auftritt mit dem Song »Only You«. Wie Richie mir später erklärte, hatte er damit auch seinen Einstand im Masters-Clan gegeben ... ach so, das wissen einige ja noch gar nicht: Nick ist zwar der leibliche Sohn von Rip, aber er hat eine andere Mutter als Julian, Richie und Anne. Nick hat mir die Geschichte mal erzählt, aber da sie ziemlich lang ist, sollte sie jeder, der Lust hat, einfach selbst lesen .

Nach allem, was ich in den letzten anderthalb Wochen erlebt hatte, war dieser Abend wunderschön. Wir hatten viel Spaß zusammen, konnten all unsere Sorgen vergessen und feierten einfach nur. Als wir unsere kleine musikalische Einlage beendet hatten, schnappte Rip sich Richies Gitarre und verzog sich mit den Erwachsenen in die Ecke, wo bald darauf lautstarker Gesang ertönte. Ich wusste bis zu dem Zeitpunkt gar nicht, dass Rip auch Gitarre spielen konnte, aber mittlerweile überraschte mich bei ihm eigentlich nichts mehr.

Auch die schönste Feier ging irgendwann einmal vorbei, und gegen halb zwei fielen wir todmüde in die Betten. Es war die letzte Nacht, die wir bei Rip verbringen würden. Das hieß gleichzeitig auch es war die letzte Nacht, die David und ich zusammen verbringen würden. Plötzlich war meine gute Laune dahin, ich vermisste David jetzt schon. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mit jemandem, den ich eigentlich kaum kannte, so eine enge Freundschaft schließen konnte, aber genau das war geschehen, und ich war froh darüber. David würde jedoch noch ein paar Tage bei Rip bleiben, sodass wir uns auf jeden Fall noch einmal sehen würden.

Janosch: Montag, 24. 07. 2000, nachmittags

Das letzte Poster war aufgehängt, die neuen Möbel waren in allen Zimmern aufgebaut, und die Kartons, die wir nicht brauchten, standen im Keller. Kurz gesagt: Wir hatten es endlich geschafft, die neue Wohnung war komplett fertig. Am Sonntag Nachmittag waren Richie und Jason für ein paar Stunden da gewesen und hatten Luke geholfen, die PCs untereinander zu vernetzen - ich wusste zwar noch nicht, was wir mit einem Netzwerk anfangen sollten, aber Luke hatte die Idee, Mum fand sie gut und war vor allem dafür, das Ganze sofort zu erledigen, während wir eh' noch im Chaos steckten.

Wir saßen in unserer neuen Küche und tranken Kaffee. Bei Rip war die Küche ja eigentlich der Raum, in dem sich das Alltagsleben abspielte, und bei unseren Großeltern in Irland war es genauso. Das brachte mich wiederum auf einen völlig anderen Gedanken. »Mum, wann kommen Grams und Grandma eigentlich mal wieder?« Zur einfacheren Unterscheidung der Großeltern hatten wir uns bei Mums Eltern auf die englischen Bezeichnungen geeinigt. »Ich weiß es noch nicht, Janosch - sie wissen überhaupt nicht, was passiert ist.« Ich nickte. »Und was ist mit Oma und Opa, wissen die Bescheid?« Mum schüttelte den Kopf. »Nein, auch noch nicht.«

»Äh, darf ich dir widersprechen, Mum?«, fragte Luke. Mum nickte. »Ja, wieso?« »Ich denke, Opa ahnt etwas.« »Wann hast du denn mit Opa gesprochen?«, fragte ich etwas erstaunt. Ich hätte wohl besser nicht fragen sollen - Luke macht ein etwas verlegenes Gesicht und der Blick, den Mum ihm zuwarf, sprach Bände. »Äh ... ja, also ...« Mum nahm Luke das ganze ab. »Janosch, am Mittwoch war die Beerdigung von Jo.... von Dad. Und da waren auch Oma und Opa da.«

Ich wusste nicht so richtig, was ich sagen sollte. Einerseits war ich sauer, dass mir keiner Bescheid gesagt hatte, andererseits war ich froh, dass ich so drum herum gekommen war. Na ja, jetzt war es eh' zu spät und man konnte nichts mehr daran ändern. »Was war denn nun mit Opa?«, fragte ich statt dessen. »Luke?« Mum gab die Frage gleich an meinen Bruder weiter. »Opa hat mich während der Trauerfeier angesprochen. Janosch, du kannst dir denken, dass es uns nicht gerade leicht gefallen ist, die trauernden Hinterbliebenen zu spielen, und Opa meinte irgendwann, er hätte das Gefühl, es würde noch mehr dahinterstecken - mehr hat er aber nicht dazu gesagt. Er wollte in den nächsten Tagen mal vorbeischauen, ohne Oma. Jedenfalls hat er mir meine Trauer nicht abgenommen.«

Mum nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Hm, dann wollen wir hoffen, dass er der einzige ist, der etwas gemerkt hat. Oder ist dir sonst noch jemand aufgefallen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Oma war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.« Mum nickte - sie und Oma hatten in den letzten Jahren kein sonderlich gutes Verhältnis gehabt, was mit Sicherheit auch daran lag, dass Oma ständig versucht hatte, sich in den Haushalt und die Ehe unserer Eltern einzumischen. Wie wohl dieser Kontakt in Zukunft aussehen würde? Oma hatte mich nie so richtig gemocht, was mit Sicherheit auch an Dad lag.

Schließlich stand Mum auf. »Also gut Jungs, wir haben glaube ich alle heute noch was vor. Janosch, wir setzen dich gleich bei Rip ab und fahren dann weiter, wir haben noch ein bisschen was zu erledigen, Behördenkram und so weiter. Wann seit ihr fertig?« Ich zuckte mit den Schulter. »Keine Ahnung, aber Richie oder Nick bringt mich nachher bestimmt her, wenn ich sie darum bitte.« Mum nickte. »Dann ist ja alles klar. Also, ab geht die Post.«

Richie und Jason hatten eine tolle Idee für David gehabt: Sie wollten für ihn eine CD aufnehmen, mit Songs, die wir zusammen gespielt und gesungen hatten. Ich war natürlich von der Idee begeistert und freute mich, dass mich Jason und Richie dabei haben wollten. Nick stieß ebenfalls mit dazu, und somit war der Einzige der fehlte Rip. Der wollte einen oder zwei Songs singen, aber an diesem Nachmittag war er noch mit David und Roland beschäftigt. Richie meinte, dass wir die Tracks immer noch später aufnehmen könnten.

Richie holte mich schon ein paar Meter vor der Haustür ab, sodass mich vom Haus niemand sehen konnte. Wir gingen durch den Hintereingang nach unten in den Probenraum, wo Jason und Nick schon am Tisch saßen und ein paar Zettel und zwei große Ordner vor sich liegen hatten. »Hi Janosch, setz' Dich zu uns. Schön, dass du da bist.« Jason begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln. »Wir haben gerade angefangen, ein paar Songs zusammenzusuchen, hast du noch 'ne Idee?« Nur ein Song stand bisher fest: »Davey's on the road again« von Manfred Mann's Earth Band war ein Vorschlag von Rip gewesen, und wir stimmten darin überein, dass der Song einfach dazugehörte. Es dauerte knapp eine Stunde, bis wir uns auf eine Auswahl geeinigt hatten, die auf eine CD passte, aber schließlich waren wir uns einig, was wir singen wollten.

Nick steuerte als Sänger »The Rose« bei - das hatte er schon einmal für David zusammen gesungen und wusste daher, dass ihm das Stück gefiel. Außerdem entschied er sich nach längerem Überlegen, auch »Only You« von Yazoo aufzunehmen, obwohl er diesen Song bis dahin immer mit seinem ersten Freund verbunden hatte ... das hab' ich aber glaube ich schon mal erzählt. Richie und Jason steuerten »The Boys of summer« von Don Henley bei, Richie allein sang »Lass' sie reden« - das Stück stammte von Rosenstolz, und Jason überredete mich schließlich, mit ihm zusammen »Forever Autumn« von Justin Hayward zu singen ... eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, gesangsmäßig etwas beizusteuern und war auch nicht der Meinung, dass ich das wirklich gut konnte - meine Stimme fing seit einiger Zeit an, sich ständig zu überschlagen -, aber erstens gefiel mir der Text und zweitens unterstützte mich Jason so, dass ich von der Stimme her mithalten konnte.

A gentle rain falls softly on my weary eyes
As if to hide a lonely tear
My life will be forever autumn
'Cause you're not here, 'cause you're not here ...

Hm ... seltsam, aber irgendwie passte der Song ziemlich gut für meinen Geschmack. Ich kam nicht großartig dazu, darüber nachzudenken, denn gerade, als wir mit dieser Aufnahme fertig waren, kam Rip herein. »Und, wie weit seid ihr?« Richie hielt nur den ausgestreckten Daumen hoch. »Wenn du etwas Zeit hast, nehmen wir gleich noch das letzte Stück auf.« Rip nickte. »Kein Problem. David ist mit zu Roland gefahren, und der ist eingeweiht.« Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen - Rip hatte wie so oft mal wieder an alle gedacht. Er krempelte sich die Ärmel hoch und schnappte sich eine E-Gitarre, die in der Nähe stand. Nick nahm sich den Bass vor, Richie hatte seine akustische Gitarre, ich saß am Schlagzeug und schon konnte es losgehen.

Ich hatte Rip noch nie singen gehört, aber ich war angenehm überrascht, als ich in den Genuss kam. »Machst du das eigentlich öfter, wenn du nicht gerade Jungs von der Straße aufsammelst, Leute in der Praxis quälst oder eine kleine Gartenfete organisierst?«, fragte ich grinsend. Rip schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. »Nicht mehr so oft wie früher, aber wenn sich mal eine Gelegenheit ergibt, und bei solchen Anlässen wie diesem hier, gerne mal.«

Wir setzten uns ein bisschen zusammen und Richie spielte einmal die Bänder ab, damit wir uns das Ergebnis anhören konnten - und wir waren durchaus zufrieden damit. Rip lächelte mich an. »Hey, an dir ist ein zweiter Ringo Starr verloren gegangen.« Ich sah ihn verständnislos an. »Häh?« Er grinste. »Paß' auf, Janosch, ungefähr 1962 wurde eine englische Band ziemlich bekannt, bestehend aus John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und dem gerade von mir angesprochenen Ringo Starr - er war der Drummer bei den Beatles.« Ich hob abwehrend die Hände. »Rip, bitte ... ich mach' das gerade erst seit ein paar Monaten und hab' kaum Übung drin. Das, was ich kann, reicht für solche Gigs wie diesen hier, aber niemals für mehr.« Rip zwinkerte mir zu. »Hm, wie lautete noch so ein Sprichwort? Ach ja: 'Strive for perfection in everything you do.' - stammt von Henry Royce, einem der Gründer von Rolls-Royce. Und ich denke, du bist auf dem besten Wege, das in die Tat umzusetzen.«

Langsam wurde mir das Ganze peinlich, und darum wechselte ich das Thema. »Wann kommt ihr eigentlich mal zu uns und schaut euch die neue Wohnung an?« Rip grinste. »Morgen. Wir vier und David werden dabei sein, ich habe vorhin noch mit deiner Mutter darüber gesprochen.« Warum wunderte mich das jetzt nicht? Irgendwie wurde ich schlagartig aufgeregt, weil David diesmal bei uns sein würde - das war mal etwas anderes. Bevor unsere Session endgültig beendet war - Nick und Richie würden sich um die technische Seite kümmern - stellten wir uns alle noch mal für ein Gruppenfoto auf, für das Cover der CD. Rinty durfte natürlich nicht fehlen, aber er kapierte nicht so ganz, war um er denn nun mit uns stillstehen und in die Kamera schauen sollte. Schließlich schaffte Rip es doch irgendwie, ihn zu überreden.

Janosch: Dienstag, 25. 07. 2000, nachmittags

Ab halb drei sah ich ständig auf meine Armbanduhr. Rip wollte mit den Jungs und David vorbeikommen, sie wollten sich zusammen unsere neue Wohnung anschauen. Rip selbst war zwar zwischendurch schon mal hier gewesen - er konnte auch mit großen Bohrmaschinen recht gut umgehen - aber als er zuletzt hier gewesen war, herrschte noch ein ziemliches Chaos. Luke legte mir eine Hand auf die Schulter. »Hey, Kleiner, warum bist du so nervös?« »Na ja, ich bin gespannt, was die anderen von der Wohnung halten.« Luke lächelte. »Ich denke mal, die werden genauso begeistert sein wie wir, oder?« Ich nickte. »Ja, hoffe ich auch.« »Siehst du. Hey, wir haben es geschafft. Zumindest diesen Schritt. Und den Rest packen wir auch noch, da bin ich mir sicher.« Wir umarmten und kurz, und dann klingelte es auch schon an der Tür.

Mit acht Leuten - Rip, Richie, Jason, Nick, David und uns drei - war das Wohnzimmer schon recht voll. Rip überreichte Mum nach alter Tradition einen Korb mit Brot und Salz. »Zum Einzug. Normalerweise machen das ja die Nachbarn, aber so weit wohnen wir ja nun auch nicht weg.« Mum lachte. »Ihr könnt ja demnächst hier einziehen, falls hier was frei wird.« Richie zwinkerte Jason zu. »Hm, wie wäre es mit einer eigenen Wohnung?« Jason zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Aber eigentlich fühl' ich mich bei euch ganz wohl.« Rip legte jedem der zwei eine Hand auf die Schulter. »Soweit kommt das auch noch - Julian und Anne sind schon ausgezogen, wenigstens den Rest von meinen Kindern möchte ich noch eine Weile bei mir im Haus haben. Außerdem brauche ich Assistenten für die Praxis.«

Bei dem Stichwort warfen David und ich uns gequälte Blicke zu - was Mum sehr wohl registrierte. »Ja, aber jetzt bist du nicht in der Praxis, Rip, und wenn ich mir unsere beiden Kleinen so anschaue, sind die von der Erwähnung dieses Ortes nicht sonderlich angetan?« Natürlich passte uns beiden der Spruch mit den 'beiden Kleinen' überhaupt nicht - aber Mum brachte das Gespräch schnell auf ein anderes Thema. »Wer will Kuchen?« Natürlich wollten alle. Während des Kaffeetrinkens kam natürlich auch noch einmal das Thema 'Renovierung und Umzüge' auf den Tisch, und Jason und Richie erzählten bei der Gelegenheit, was damals bei der Renovierung von Nicks Zimmer passiert war, kurz bevor er dort eingezogen war. Eine der besten Szenen war, wie Richies Cousin beim Streichen der Decke die Farbrolle auf den Kopf gefallen war. Nick grinste. »Und alles meinetwegen? Ich glaub' dafür muss ich C.T. irgendwann noch mal auf ein Eis einladen.«

Nach dem Kaffee gab es eine allgemeine Wohnungsbesichtigung, Rip und die Jungs waren von der Wohnung genauso begeistert wie wir. Während die anderen schon wieder unten waren, gingen David und ich noch ein bisschen in mein Zimmer. Ich hatte noch eine Kleinigkeit für ihn, und das schien mir der geeignete Moment zu sein. »Sag mal, der Teddy, den du dabei hast, der ist doch von deinem Bruder, oder?« fragte ich ihn. Er nickte etwas überrascht. »Ja. Benni hatte ihn nachts immer mit im Bett.« »Ich bin ja nicht wirklich dein Bruder, aber irgendwie schon und da hab ich mir gedacht, dass ... na ja, weil wir ja jetzt in eine neue Wohnung ziehen und du ja nach Amerika gehst ... damit du nicht allein bist.«

Ich zog Miko, einen meiner Stoffteddys, hinter meinem Kopfkissen hervor, den ich mir extra dort zurechtgelegt hatte, und gab ihn David. »Das ist Miko. Ich hab ihn immer mit ins Bett genommen, als ich noch klein war und als dann ... das mit meinem Vater anfing, da hab ich ihn wieder mitgenommen, ich dachte ... damit er mich beschützt ... und ich nicht allein bin. Er hat mich nie allein gelassen, egal, wie schlimm es wurde und ... ich möchte, dass er jetzt auf dich aufpasst.« David sah erst Miko an, dann mich, dann wieder Miko, und schließlich nahm er mich einfach nur in den Arm. Ich weiß nicht genau, wie lange, aber uns beiden war ziemlich klar, dass es wohl vorläufig das letzte Mal gewesen sein würde, bei dem wir die Gelegenheit hatten.

Luke: Freitag, 28. 07. 2000

Für Mum und mich war mal wieder eine Kaffeestunde angesagt. Gestern hatte Janosch seine erste Therapiesitzung gehabt, bei der wir beide mit dabei waren. Unser Eindruck von der Therapeutin war wirklich gut. Roland hatte sie uns empfohlen, sie hatte sich - damals frisch aus dem Studium - auch um Markus gekümmert, und seitdem hatten die beiden öfter zusammengearbeitet. Heute hatte Janosch allein einen Termin bei ihr und wollte anschließend noch zu Rip. Der Abschied von David war ihm sehr schwer gefallen, das war offensichtlich, und das war auch das erste Thema, das Mum beim Kaffee anschnitt.

»Janosch mag David sehr, kann das sein?« Ich nickte. »Ja, ganz sicher - die beiden haben sich von Anfang an gut verstanden.« »Hast du eine Idee, woran das liegen könnte?« Ich überlegte. »Wahrscheinlich, weil sie beide ziemlich viel durchgemacht haben. Mit dem Unterschied, dass David letztendlich niemanden hatte, der sich um ihn gekümmert hat.« Mum rührte nachdenklich in ihrer Kaffeetasse. »Den hatte Janosch aber lange Zeit auch nicht. Luke, ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er dir nichts erzählt hätte.« Ich schluckte. »Dann hätten wir es hoffentlich früher oder später herausbekommen.« »Ja, aber dann hätte es zu spät sein können.« Der Satz hing eine Weile in der Luft. »Naja, es ist ja alles gerade noch mal gut gegangen«, sagte Mum dann ... es klang fast, als wollte sie sich selbst beruhigen. Vielleicht hatte sie damit recht - zum Glück war es alles so gekommen, wie es gekommen war, und da brauchten wir uns nicht noch darüber den Kopf zerbrechen.

»Hättest du vor drei Wochen gedacht, dass wir beide jetzt hier sitzen und dieses Gespräch führen würden?«, fragte ich Mum. Sie schüttelte den Kopf. »Nein - auf gar keinen Fall. Vor drei Wochen habe ich mir noch Sorgen gemacht, ob es dir im Urlaub gut geht und ob du heile wieder ankommst.« Sie trank einen Schluck aus ihrer Tasse und fuhr dann fort. »Wenn ich das so recht überlege, weiß ich gar nicht mehr genau, was in der Zwischenzeit alles passiert ist. Diese zweieinhalb Wochen kommen mir so unheimlich lang vor. Euer Vater ist für mich ein abgeschlossenes Kapitel, ich denke kaum noch an ihn.« Heute war er auf den Tag genau zwei Wochen tot ... am 14. um ziemlich genau dieselbe Zeit hatten wir in Rips Wagen den Anruf bekommen. »Würdest du ihm noch etwas sagen wollen, Mum?« »Pffff .... eine gute Frage. Einerseits nein, andererseits eine ganze Menge. Wahrscheinlich würde ich ihm auf der Stelle die Augen auskratzen, wenn ich ihn sehen ...«

In diesem Moment klingelte es an unserer Wohnungstür. Mum hob überrascht die Augenbrauen. »Bist du mit Jessica verabredet?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, und Janosch kann es auch noch nicht sein. Na ja, mal schauen.« Als unser unangemeldeter Gast schließlich in der Wohnung stand, war ich nicht wirklich überrascht: es war Opa. »Ich hab' mir gedacht, ich statte euch mal einen kleinen Besuch ab und schaue mir an, wie es euch so geht.« Mum versuchte ihre Überraschung zu überspielen. »Komm' erst mal 'rein ... willst du einen Kaffee?« Er nickte und lächelte. »Wenn du ihn gekocht hast immer.«

Wir setzten uns wieder zusammen an den Tisch. »Und, habt ihr euch ein bisschen von dem Schock erholt? Ihr habt ja ordentlich zu tun gehabt in der Zwischenzeit.« Er sah sich in der Küche um. »Gefällt mir wirklich gut.« Mum nickte. »Ja, es war auch ein bisschen zur Ablenkung von den vergangenen Wochen.« »Ist noch viel an Post und so gekommen?« Mum schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben das aber auch nicht großartig bekannt gegeben. Nur Peter und Inge haben sich ein paar Mal gemeldet und sich rührend um uns gekümmert.« Opa legte Mum eine Hand auf die Schulter. »Ihr werdet das schon schaffen, Lynn - für euch ist es mit Sicherheit nicht leicht, aber ich denke, ihr schafft es.« Mum nickte. »Ja, darüber mache ich mir auch keine Sorgen.«

Opa zog seine Zigarillos aus der Tasche. »Darf ich?« »Klar.« Er hantierte eine Weile mit seinem Feuerzeug herum - was seine Zigarillos anging war Opa ein Genießer, der sich durch nichts und niemanden stören ließ - und schließlich setzte er eine ernste Mine auf. »Lynn, Lucas ... ich möchte euch jetzt etwas fragen und ich erwarte von euch eine ehrliche Antwort, egal was los ist.« Mum und ich warfen uns unbehagliche Blicke zu - wir ahnten was kommen würde. Opa lehnte sich zurück, nahm zwei Züge von seinem Zigarillo und fing dann an zu reden. Zunächst wandte er sich an Mum.

»Lynn, mir ist aufgefallen, dass eure Ehe in den letzten Jahren nicht mehr so gut lief wie am Anfang. Das ist normal bei Ehepaaren - es gibt gute und schlechte Jahre - aber bei euch war es irgendwie mehr als ein reines Auseinanderleben. Ich habe eine Zeit lang vermutet, das Jochen vielleicht eine Geliebte haben könnte, aber ... Moment, lass' mich ausreden ... als ich ihn darauf angesprochen habe, meinte er nur, das wäre selbstverständlich nicht der Fall und ihr wärt beide gerade ein bisschen gestresst mit euren Berufen. Das kann ja alles sein, das hätte ich mich auch noch nicht weiter gewundert. Aber dann waren da noch Luke und Janosch, besonders der Kleine. Er war früher ein aufgewecktes Kind, war viel draußen, hat viel unternommen, war lebenslustig, eben so, wie man das von einem Kind erwartet. Und dann war er irgendwann wie ausgewechselt. Still - zu ruhig für meinen Geschmack -, angespannt, nervös.«

Zwei weitere Züge von seinem Zigarillo, aber uns beiden war klar, dass Opa noch nicht fertig war. »Lynn, wir haben den Artikel in der Zeitung gelesen, uns war klar, dass es da nur um Jochen gehen konnte. Ich habe in der Redaktion vom Abendblatt angerufen und die haben mir gesagt, es hätte an diesem Tag in der Ecke keine weiteren Unfälle gegeben. In dem Artikel stand, dass technisches Versagen ausgeschlossen war. Wir haben Hochsommer, also kann es auch kaum am Wetter gelegen haben. Ihr könnt mir erzählen was ihr wollt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Unfall kein Unfall war. Und dann euer kurzfristiger Umzug. Außerdem ein Anwalt auf der Beisetzung. Ich möchte jetzt endlich erfahren, was in den letzten Wochen passiert ist.«

Mum stand auf. »Okay, ich setze uns noch eine Kanne Kaffee auf, das wird länger dauern. Luke, am besten fängst du an, schließlich habt ihr zwei den Stein ins Rollen gebracht.« Zu Opa gewandt fügte sie hinzu: »Was du gleich hörst, wirst du wahrscheinlich nicht glauben, aber ich kann zwei Dinge sagen: erstens, mir ging es genau so. Als ich davon erfahren habe, bin ich durchgedreht. Zweitens, alles was wir dir erzählen, entspricht der Wahrheit. Du wolltest sie hören, dann wirst du sie erfahren.« Opa nickte. »Da bin ich ja mal gespannt.«

Ich zündete mir eine Zigarette an und fing dann an zu erzählen. »Das ganze fing zwei Tage vor Dads Unfall an. Ich war aus meinem Urlaub zurückgekommen, Ripley Masters war abends kurz bei uns und hat Janosch vorbeigebracht. Janosch ist bei ihm in Behandlung, du hast ihn auf der Trauerfeier kennengelernt. Jedenfalls meine Rip ...« Mum und ich erzählten ihm abwechselnd die ganze Geschichte. Opa hörte uns schweigend und ungläubig zu. Es war ihm anzusehen, dass es ihm schwerfiel, uns zu glauben, dass er es aber dennoch tat.

Gut eine Stunde später hatten wir ihm zumindest das Wichtigste erzählt und er war im Bilde. Kopfschüttelnd sah er zwischen Mum und mir hin und her. »Und das ist wirklich alles so passiert?« Wir nickten. »Ja.« Mum sah ihm in die Augen. »Robert, ich habe Jochen geliebt - bis zu dem Tag als ich erfahren habe, was los war. Dass Luke für ihn immer das Wunschkind war, er mit Janosch nicht viel anfangen konnte, war für alle mehr oder weniger klar. Geahnt habe ich das zwar auch, aber ich war mir nie sicher. Janosch hat nie darüber gesprochen, und Jochen hat natürlich immer alles abgestritten. So richtig geglaubt habe ich ihm das nie, aber dass er soweit gehen würde, hätte ich in meinen schlimmsten Albträumen nicht vermutet.«

Wir alle schwiegen eine Weile. Opa musste all das erst mal sacken lassen. Er hatte ja durchblicken lassen, dass er etwas ahnte, aber mit so etwas hatte er wahrscheinlich nicht gerechnet. »Lynn, Lucas - ich glaube euch. Nicht, weil mir nichts anderes übrigbleibt, sondern weil dann endlich alles zusammenpasst. Es tut mir sehr leid, was da passiert ist, und ich weiß, dass es nicht wieder gutzumachen ist. Ich bin Jochens Vater, und ich denke, damit bin ich ein bisschen für das verantwortlich, was hier passiert ist. Ich wünschte - vor allem um Janoschs Willen - dass all das nicht passiert wäre. Ich möchte, dass ihr eines wisst: Wenn ich euch irgendwie helfen kann, egal wie, dann gebt mir bitte Bescheid. Ob ihr Geld braucht, oder jemanden, der euch in der Wohnung hilft, jemanden der sich um das alte Haus kümmert oder was auch immer. Wenn ich irgendwie kann, werde ich euch helfen, das verspreche ich euch hoch und heilig.«

Mum nickte. »Vielen Dank für das Angebot, Robert, vielleicht kommen wir irgendwann darauf zurück - aber im Moment brauchen wir zwei Dinge: Erst mal braucht Janosch jemanden, der ihm unter die Arme greift. Luke und ich haben vorhin festgestellt, dass wir in der Hinsicht viel zu lange geschlafen haben. Ripley Masters und Roland Westermann haben uns eine gute Therapeutin empfohlen, und wenn alles gut geht, wird Janosch in einigen Jahren wieder ein normales Leben führen können. Und außerdem brauchen wir Unabhängigkeit. Finanziell haben wir diese Unabhängigkeit, alles andere wird sich finden. Für uns drei wird es keine leichte Zeit werden - das ist uns klar. Aber wir haben Freunde, die für uns da sind, und wir haben uns selbst. Ich bin zuversichtlich, dass uns dann nichts passieren kann, solange wir drei zusammenhalten.«

Opa nickte zustimmend. »Ja, das ist mir auch klar, Lynn. Aber trotzdem sollt ihr wissen, dass ich für euch da bin. Ich könnte verstehen, wenn ihr jetzt mit uns nichts mehr zu tun haben wollt ... wir haben Jochen in die Welt gesetzt und somit sind wir für diesen Schlamassel mit verantwortlich.« Mum schüttelte den Kopf. »Nein, Robert - das stimmt nicht. Jochen ist euer Sohn, aber ihr seid nicht für das verantwortlich, was er getan hat. Außerdem hätte ich ohne Jochen die Jungs nicht, und ich liebe sie alle beide von ganzem Herzen.«

Langsam entspannte sich die Situation. Opa hatte noch eine ganze Menge Fragen zu dem, was passiert war. Er stellte das alles zu keinem Zeitpunkt infrage, aber er war sichtlich betroffen. Das wunderte mich in zweierlei Hinsicht nicht - zum einen ließ so etwas wohl niemanden kalt, und zum anderen stammte Jochen aus dem, was man wohl eine gutbürgerliche Familie nannte. Seine Eltern führten eine vorbildliche Ehe - Oma hatte sich erst in den letzten Jahren zu so einem Drachen entwickelt, wie sie mittlerweile einer war - und das war eine Sache, die - wenn sie schon vorkam - normalerweise nicht an die große Glocke gehängt wurde. Wenn man all das berücksichtigte, hielt er sich eigentlich recht gut.

Als Janosch etwas später wieder nach Hause kam, war er überrascht, Opa zu sehen. Ich denke, Janosch war klar, dass Opa mittlerweile Bescheid wusste, aber wir sprachen nicht mehr über das Thema. Als Opa sich abends verabschiedete, versprach er uns jedoch, in den Sommerferien zumindest noch etwas mit uns zu unternehmen. Ich glaube bis heute, Opas Schuldgefühle waren weitaus größer als die von Dad, und das, obwohl er eigentlich nichts für diese Situation konnte. In jedem Fall hielt er sein Versprechen.

Luke: ein kleines Nachwort zu den bisherigen Ereignissen

Ich weiß nicht, wie lange wir alle bisher an den Ereignissen geschrieben haben. Für uns alle, insbesondere natürlich für Janosch, war es nicht leicht, über all dazu zu reden. Wir haben viel geweint, aber auch gelacht. Über manche Dinge konnten wir uns im Nachhinein freuen, über andere konnten wir uns noch einmal freuen. Zur Zukunft möchte ich an dieser Stelle noch nichts sagen.

Eines der Dinge, die mich am meisten gefreut haben - so traurig der Anlass auch war - war der Umstand, dass Rip die Gelegenheit nutzen und Dad einmal das verpassen konnte, was er verdient hat, nämlich eine gehörige Abreibung. Ich habe mich viel später mal mit Rip darüber unterhalten, und er sagte mir, dass es Dads Glück war, dass zu diesem Zeitpunkt die Polizei dabei war. Das will etwas heißen, denn um die Momente abzuzählen, in denen Rip handgreiflich wurde - selbst wenn ich nur davon gehört habe - brauche ich nicht einmal eine Hand.

Ich möchte mich bei allen bedanken, die mir bis hierher zugehört haben, und ich kann euch versprechen, dass wir euch auch erzählen werden, wie es weitergeht. Es ist viel passiert, und es wird noch viel passieren. Aber meine Bitte an alle: Falls ihr je so etwas mitbekommt, bitte handelt! Es gibt für die Opfer nichts Schlimmeres, als keine Hilfe zu bekommen. Wir hatten Glück, dass wir Rip hatten, aber es gibt auch andere Menschen, die genauso gut helfen können!


Zwischenstopp und Zeitsprung

So schnell kann eine Welt zusammenbrechen ... ich weiß nicht, wie viele von euch die Geschichte um Janosch bis hierher verfolgt haben (im Gegensatz zur Veröffentlichung von »Jason« war das Feedback bisher eher spärlich), aber ich gehe einfach mal davon aus, dass sich schon der eine oder andere gefunden haben wird. Bis zu dieser Stelle wurden die Ereignisse aus ungefähr zwei Wochen geschildert, die kleinen Rückblenden und den Urlaub einmal ausgenommen.

So blöd es sich auch anhört, aber das, was mit Janoschs Vater passiert ist, war im Prinzip das Beste, was Janosch passieren konnte. Jochen wird ihn nie wieder angreifen, aber mit den Folgen wird Janosch noch lange genug zu tun haben. Jetzt ist natürlich die große Preisfrage: Wie geht es weiter? Das ist ein Punkt, über den ich mir lange den Kopf zerbrochen habe, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass an dieser Stelle der erste Zeitsprung erfolgen soll. Es wird gleich also im Sommer 2003 weitergehen. Warum immer im Sommer? Nun, aus dem ganz einfachen Grund: Sommerzeit = Ferienzeit. In den Ferien hat man viel mehr Freizeit, das brauche ich wohl keinem von euch zu erzählen. Außerdem kann man dann in der Regel besser mit dem Wetter planen.

Zum Abschluss dieses Zwischenstopps noch ein paar kurze Worte zu den Parallelen in dieser Story: Einige werden sich vielleicht gewundert haben, wer David ist und wieso er so plötzlich auftaucht. Auf die genauen Gründe einzugehen, würde hier den Rahmen sprengen, aber vieles wird für euch klarer werden, wenn ihr die Story NetEscape von Thomas lest, die ebenfalls hier bei Nickstories zu finden ist. Beide Storys sind quasi parallel entstanden, Thomas war mir eine sehr große Hilfe bei der fachlichen Seite in Little Lies und wir haben am Anfang immer gegenseitig Korrektur gelesen - was auch hervorragend funktionierte, finde ich zumindest. Wer Nickstories kennt, der weiß, dass solche Parallelen hin und wieder vorhanden sind, aber in diesem Ausmaß ist es das erste Mal. Thomas und ich haben viel Spaß beim Schreiben dieser Teile gehabt, haben uns teilweise in Diskussionen festgefahren, hatten unkonventionelle Ideen, haben herumgesponnen - wenn ich jetzt die E-Mails aus dieser Zeit lese, kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen.

Ich möchte dieses Zwischenspiel mit einer kleinen Danksagung verbinden an die Personen, die am meisten zu dieser Story - direkt oder indirekt - beigetragen haben: Da ist natürlich als erstes Thomas zu nennen, ohne den diese Story wahrscheinlich völlig anders ausgesehen hätte. Thomas, einen besonderen Dank an Dich auch dafür, dass wir alle großen und kleinen Differenzen ohne bleibende Schäden beigelegt haben, und auch für die Zeit mit NetEscape - du weißt selbst wie sehr man an seinen Figuren hängt und wie schwer es ist, sie in die Hände anderer zu geben, und ich bin Dir dankbar, dass wir diese Möglichkeit hatten!

Einen genauso wichtigen Anteil, wenn auch zu einer anderen Zeit und in einer anderen Form, hatte Julia - ich hoffe, dass nicht zu viel von ihren Vorschlägen der Überarbeitung zum Opfer gefallen ist -, und zur gegenwärtigen Fassung noch einmal ganz lieben Dank an Steffen, Lars, Patrick, Ingo, Björn und last but not least John - Hey Johnny, the stars will shine bright tonight!

Mit Sicherheit habe ich hier noch jemanden vergessen - das ist nicht böse gemeint. Jeder, den ich angesprochen habe, weiß, was er getan hat, und ich hoffe, es fühlen sich auch diejenigen angesprochen, die nicht ausdrücklich genannt sind. Der nächste Teil kommt bestimmt. ... okay, es ist jetzt kurz vor vier Uhr morgens, langsam breitet sich auch bei mir die Müdigkeit aus. Darum möchte ich an dieser Stelle den sechsten Teil von Little Lies abschließen. Aber es wird weitergehen!

Rick

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