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Nils und Jakob

Teil 4 - Koma

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Dieser Teil der Nils-und-Jakob-Geschichte spielt zum größten Teil in Hamburg. Und da gibt es dann wohl einen Erklärungsbedarf, denn nicht jeder weiß mit Hamburger Spezialausdrücken was anzufangen. Darum hier ein kleines Wörterbuch der Spezialbegriffe „Hamburgisch-Deutsch“: Udel (auch: Udl): Polizist. Daniel Wischer: Ein Hamburger Fischrestaurant, u. a. in der Spitalerstraße. Freihafen: Abgezäunter Teil des Hamburger Hafens, durch Kontrollpunkte des Zoll zu betreten/befahren und verlassen. Im Freihafen ist man im Zollausland, aber jedermann darf rein. Man muss nur damit rechnen, dass man kontrolliert wird, was man bei sich hat. St. Pauli: Stadtteil in Hamburg mit Reeperbahn („sündige Meile“), Heiligengeistfeld (auf dem der Hamburger Dom abgehalten wird) uvm. Boberg: Stadtteil von Hamburg mit großem Unfallkrankenhaus.

Nils

Wochenende!

Morgen, Samstag, werde ich mit Jakob zu seinem Vater fahren.

Seine Eltern haben sich endlich scheiden lassen, und sein Vater ist nach Hamburg gezogen.

Von hier aus ist das nicht so weit.

Wir werden mit meinem neuen Moped hinfahren, und ich warte dann solange, bis Jakobs Besuch zu Ende ist.

Was wir danach machen, haben wir genau geplant.

Wenn sein Besuch mittags zu Ende ist, gehen wir schön essen.

In die Spitalerstraße zu Daniel Wischer.

Da gibt’s Fisch. Frischen Fisch.

In Hamburg MUSS man Fisch essen.

Und danach fahren wir weiter nach St. Pauli.

Nein, nicht was ihr denkt!

Auf das Heiligengeistfeld.

Da ist nämlich Dom, Frühjahrsdom.

Na ja, wer von euch weiter südlich wohnt: Das ist eine Kirmes. Oder Kirchweih. Oder Rummel. Oder Kerb. Oder Jahrmarkt. Ganz wie ihr wollt.

Wer NOCH weiter südlich wohnt: Wie der Prater. Nur eben nicht dauernd.

Aber bestimmt genau so schön.

Jetzt komme ich gerade vom Mopedhändler, weil ich für Jakob einen Helm gekauft habe.

Und den muss er ja noch ausprobieren.

Darum werden wir heute noch ein bisschen raus fahren.

Dahin, wo wir alleine sind.

In der Schule sehen wir uns ja nur in den Pausen.

Er ist in keinem Kurs, den ich besuche.

Schade eigentlich.

Na, mal sehen, ob er schon abfahrbereit ist.

Jakob

Ich bin sehr gespannt!

Einmal darauf, wie mein Papa in Hamburg so wohnt.

Überhaupt auf Hamburg. Da war ich noch nie.

Dann Daniel Wischer …

Wischer!

Wie das klingt!

Das klingt so nach bekleckerten Resopaltischen.

„Einmal den Wischer an Tisch 10 bitte!“

Schnellimbiss eben.

Danach auf den Dom.

Und dann bin ich natürlich gespannt auf Nils’ neues Moped!

Na, er wird ja gleich kommen und mich abholen.

Und dann werden wir uns irgendwohin verkriechen, wo wir für uns sind!

So n Moped ist ja ne tolle Sache!

Mal schnell hierhin, mal schnell dahin!

Mal schnell was einkaufen.

Mal schnell was besorgen.

Mal schnell zum Kuscheln fahren…

Nils

Das war ein schöner Ausflug gestern.

Er endete in einem kleinen Wäldchen, wo wir uns ganz ungestört miteinander beschäftigen konnten.

So n Moped ist was Wunderbares!

Aber heute ist Samstag.

Wir brausen über die Bundesstraße nach Hamburg.

Jakob sitzt hinter mir, er lehnt sich an mich.

Ich spüre seinen Körper, seine Wärme.

Mit den Armen hält er sich an mir fest.

Das gibt mir ein zärtliches Gefühl: Jakob begibt sich unter meinen Schutz.

Wir fahren durch den Freihafen und überqueren den nördlichen Arm der Elbe.

Jakobs Vater hat eine Wohnung in der Nähe des Bahnhofs.

Wir stellen das Moped in der Tiefgarage ab, schließen es ab, und ich bringe Jakob bis an die Wohnungstür.

Sein Vater bittet mich mit rein, das kann ich nicht ablehnen, ohne unhöflich zu sein.

Nachdem er uns herumgeführt hat, sitzen wir auf dem Sofa, Jakobs Vater auf einem Sessel uns gegenüber und fühlen uns unbehaglich.

Eine peinliche Pause entsteht.

Jakob sieht seinen Vater traurig an.

Der sagt plötzlich: „Wie gut, dass du Nils hast. Ihr beide seid ein schönes Paar.“

Wir trauen unseren Ohren nicht: Sein Vater weiß alles!

Und findet das positiv!

Leichten Herzens können wir uns verabschieden, denn er hat noch einen Termin.

Er bewirbt sich auf eine Stelle, und da muss er heute, am Samstag, hin.

„Bring deiner Mutter das lieber vorsichtig bei“, hat er noch gesagt, „ich weiß nicht, wie sie reagiert“.

Diskutierend gehen wir in die Tiefgarage.

Dort im Dunkel müssen wir uns erstmal umarmen, küssen, Mund abwischen.

Jakob

Mein Papa!

Das hätte ich nicht gedacht!

Immerhin kann man jetzt wieder mit dem reden.

Vor der Trennung hatten die beiden ja nur ihren Streit im Kopf.

Leichteren Herzens schwingen wir uns wieder auf Nils’ Moped und fahren den kurzen Weg zu Daniel Wischer.

Zum Glück hatte ich nicht Recht wegen der Tische.

Weder sind die Platten aus Resopal, noch schmutzig.

Dafür ist das Essen lecker.

Aber ich kann es kaum erwarten, zum Dom zu kommen.

Eine der Straßen am Heiligengeistfeld haben sie einfach für Durchfahrten gesperrt und zum Parkplatz gemacht.

Das Moped steht sicher abgeschlossen hinter der Polizeibude, in der die Wache untergebracht ist, und wir machen den ersten Rundgang um den ganzen Platz.

Markant ist das Riesenrad.

Das größte Europas.

Ja ja, liebe Wiener, ich meine natürlich: das größte TRANPORTABLE Riesenrad Europas.

Wir nehmen eine Kabine und fahren langsam, immer wieder unterbrochen durch den Halt des Rades, um neue Fahrgäste aufzunehmen, nach oben.

Im Zenith könnten wir einen Blick über den Hafen und die City werfen.

Aber wir haben keine Zeit.

Wir müssen uns wieder einmal zärtlich küssen.

Langsam bekommt Nils Übung; seine Küsse sind nicht mehr GANZ so feucht, wie noch vor einigen Wochen.

Wieder unten angekommen, bummeln wir weiter und machen an einer Schießbude halt.

Jeder von uns hat fünf Schüsse, und jeder schafft es, genau eine Rose zu erlegen.

Die schenken wir uns natürlich gegenseitig!

Wie gut, dass Nils das Mittagessen eingeplant hatte!

Sonst hätten wir nämlich hier ein kleines Vermögen ausgeben müssen, um satt zu werden.

Noch etliche Runden drehen wir über das wirklich große Gelände.

In einem 3-D-Kino, wo uns die gezeigten Fantasiegestalten durch den Effekt mit den Polarisationsbrillen aus Pappe hautnah erschrecken, müssen wir immer wieder aneinander Schutz suchen, was wir natürlich zu innigen Umarmungen ausnutzen.

Hier in der Großstadt kümmert sich niemand darum, schön!

Langsam nähert sich die Uhrzeit dem Limit, das wir uns gesetzt haben, und bedauernd, aber zufrieden schlendern wir zurück zum Parkplatz.

Das Moped ist weg.

DAS MOPED IST WEG!

Nils

Mein Moped!

Mein neues Moped!!

Ich krieg ne Krise!

Wir rein zur Polizei.

„Abend, Herr Wachmeister…“

„Hauptwachtmeister, bitte“

„Herr Hauptwachtmeister! Gerade eben…“

„Na also! Geht doch!“

„Äh … ja. Gerade eben habe ich festgestellt, dass mein Moped weg ist!“

„Moment!“

Er spannt einen Bogen in eine Schreibmaschine aus dem vorigen Jahrhundert ein.

Nach umständlichem Korrigieren von Ausrichtung und Zeilenhöhe setzt er seine Finger, Beherrschung des 10-Finger-Blindschreibsystems vortäuschend, auf „asdf“ und „jklö“ und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich sehe ihn an.

Schweigen.

Immer noch Schweigen.

Langes Schweigen.

Nicht Enden wollendes Schweigen-

Langsam peinlich werdendes Schweigen.

Er fixiert mich.

Ich halte dem Blick stand.

Wer wird gewinnen, wer beschämt den Blick senken?

Ey, Bulle, ich habe früher Fische gehabt.

Ich hab das TRAINIERT!

„Komm, Nils, lass uns doch gehen und selber suchen“, wispert Jakob an meinem Ohr.

Den Mund in seine Richtung verziehend, zische ich ein „Schnauze!“, das außer ihm keiner verstehen soll.

Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!

Wir messen unsere Kräfte, ich erlahme nicht.

Er auch nicht.

ABER ich kann länger als Sie!

„So, junger Mann, was kann ich für Sie tun?“

Ich erwache aus meinem Tagtraum, in den ich verfallen war, weil ich die Abfertigung einer Frau abwarten musste, die sich, weil alkoholisiert gelallt, etwas hinzog.

„Herr Hauptwachmeister…“

„Oberwachtmeister.“

Er lächelt amüsiert, aber ermunternd.

Sein Lächeln verschwindet und macht einer gespannten Aufmerksamkeit Platz, als ich den Tatbestand schildere.

„Oje, da müssen wir gleich mal… äh, Wo sagten Sie, hatten Sie das Kleinkraftrad abgestellt?“

„Gleich hier hinter dem Haus“.

„Max, du hast doch vorhin was von nem Kleinkraftrad erzählt. Wo hast du das noch mal gefunden?“

Gebrummel aus dem Nebenraum.

„Danke, Max. Gehst du eben mit den beiden Herren raus und erledigst das? Danke“

Zu mir: „Der OBERwachmeister geht mit Ihnen mal in unsere Asservatenkammer. Viel Glück!“

Der OBER kommt und winkt uns, ihm zu folgen.

In einem angrenzenden Schuppen, durch eine schwere Tür mit noch schwererem Schloss gesichert, stehen wohl zwei Dutzend Fahrräder.

Hinten im Halbdunkel erkenne ich ein paar Mopeds, darunter auch meins.

Das Stahlseilschloss hängt jämmerlich runter und macht einen geknickten Eindruck.

Ich auch.

Nach dem Erledigen der Formalitäten und dem Versuch des Udels einer Ehrenrettung für Hamburg im Allgemeinen und für die Hamburger Polizei im Besonderen schwirren wir ab.

Puh!

Noch mal Glück gehabt!

Jakob

Wir setzen unsere Helme auf, die glücklicherweise noch unversehrt am Lenker hängen.

Es wird dunkel, und eigentlich sollten wir schon zu Hause sein.

Ich setze mich wieder hinter Nils, schmiege mich an ihn, lege meine Arme um seinen Körper und fühle mich geborgen.

Wir nehmen Kurs auf die Brücke über die Elbe im Freihafen und fahren Richtung Heimat.

Die hereinbrechende Nacht ist lau, ich fange an zu träumen.

Die Straßenlaternen, die ich erst sehen kann, wenn sie neben uns auftauchen, jagen vorbei, jedes Mal von einem kurzen Ansteigen des zurückgeworfenen Motorgeräusches begleitet: „Wisch … wisch … wisch … wisch … wisch …“

Wir nähern uns einer von mehreren Hebebrücken, die jedes Mal hochgezogen werden, wenn ein Schiff in den Elb-Arm in diesem Teil des Freihafens einfährt und nicht darunter durchpasst.

Ich sehe das, weil die beleuchteten Aufbauten der Brücke rechts und links aufragen.

Aber jetzt, um diese Zeit kommt hier kein Schiff mehr.

Wir fahren zügig an einer Ampel vorbei, die nur eine rote und eine grüne Lampe hat.

Das rote Licht schimmert durch die Dunkelheit.

Rot wie die Liebe.

Rot wie …

SIE STEHT AUF ROT?!?

„Halt an, Nils, die Ampel eben war rot!“

„Was sagst du?“ dreht Nils seinen Kopf zu mir.

„DIE AMPEL WAR ROT! HALT SOFORT…“

Weiter komme ich nicht.

Ich höre nur noch einen Riesenknall, dann ist alles still.

Ganz langsam wird das Licht herunter gedimmt, bis es ganz dunkel um mich ist.

Jakob

Das Licht wird wieder hochgedimmt.

Es wird immer greller.

Wieso ist denn auf einmal Tag?

Warum ist das Moped aus?

Wer spricht da?

„Er kommt zu sich, Doktor!“

Aufatmen.

„Er hat es geschafft!“

„Was ist denn passiert? Und wo ist Nils?“ frage ich.

Aber es kommt nur ein leises Krächzen aus meinem Mund.

„Pscht! Nicht sprechen! Das strengt dich zu sehr an!“

„KOMMT GAR NICHT IN FRAGE! ICH WILL WISSEN, WO NILS IST! JETZT!“

Wieder höre ich mich nur unartikuliert sprechen.

Hä? Was ist denn nun los?!?

„Komm, junger Mann, ganz ruhig, schlaf ein bisschen. Du bist auf dem besten Weg, dich zu erholen. Setz das jetzt nicht aufs Spiel, hörst du? Schwester, geben Sie ihm 5 mg Fvpwhubvr, dann wird er … wieder …einschlfffffffff.“

Es wird hell.

Ich liege in einem Bett.

Nicht in meinem Bett.

Ich habe keine weiße Bettwäsche.

Phase eins: Visuelle Prüfung des Raums.

Teil eins: Unmittelbare Umgebung.

Ich scanne nur mit Augenbewegungen.

Ich stelle fest:

Links neben mir steht ein Klinikwagen mit allerlei summenden, Piepstöne von sich gebenden oder zischenden Geräten, flimmernden Monitoren, klackenden Injektionsautomaten.

Rechts neben dem Bett ein Stativ, an dem kopfüber eine Flasche hängt.

„NaCl – Physiologische Kochsalzlösung“.

Wieso kann ich das lesen, wenn die Flasche verkehrt rum hängt?

Der Inhalt tropft durch ein Röhrchen, von dem aus sich ein Schlauch an die Flasche, ein anderer auf meinen Arm zuringelt.

Tropf … Tropf … Tropf …

Der Arm ist bandagiert.

Der andere Arm ist mit einer Mullbinde am Bett fixiert.

Das rechte Bein ist unter der Bettdecke verborgen.

Das linke liegt über der Decke auf einer Art langer Kiste, deren Oberseite gepolstert ist und eingedrückt scheint, damit das Bein nicht herunterrollt.

Ich trage einen Bein-Gips.

Ich trage einen Kopfverband, von dem ein Streifen mein linkes Auge zu einem kleinen Teil überquert.

Teil zwei: weitere Umgebung.

Ich versuche, den Kopf zu bewegen, was mir nicht gelingt.

Anscheinend auch irgendwie fixiert.

Phase zwei: Passive sensitive Prüfung des Körpers.

Teil eins: Extremitäten.

Abschnitt eins: Beine (einschließlich Füße)

Gruppe eins: links.

Punkt eins: Temperatur.

Ich fühle: Bein ist warm.

Punkt zwei: Druck.

Ich fühle: Bein liegt auf der Unterlage.

Ich fühle: Decke liegt auf Bein.

Punkt drei: Zustand.

Ich fühle: Normal, keine Anzeichen von Verletzungen oder sonstigen Beeinträchtigungen.

Gruppe zwei: rechts

Punkt eins: Temberadur.

Ich fühle: Beim ist waam, aber wenijerals Grubbeeins.

Bungdsweiiiiiiiffffff.

Es wird hell.

Ich liege im Bett.

Ein Zwei-Bett-Zimmer.

Im Bett neben mir liegt …

Kenn ich nicht.

Kleiner Junge.

Kopfverband.

Ein Auge verborgen.

Mit dem anderen sieht er mich an.

„Na? Auch wieder unter den Lebenden?“ grinst er. „Ich heiße Nils“.

„Weiß ich doch“ will ich sagen.

„Woher weißt du DAS denn?“, reißt er das Auge auf.

Anscheinend HABE ich es gesagt.

„Äh, ich bin Jakob. Nein, wusste ich nicht. Ich habe Nils hier in deinem Bett erwartet. Äh, also einen anderen Nils!“

„WAS? In meinem Bett? NOCH einen Nils? Hast du nicht genug mit EINEM Nils? Ich will dir mal was sagen, du Jammerlappen: WENN hier überhaupt noch ein Nils reinkommt, dann aber höchstens in DEIN Bett! Ist das Klar? IST DAS KLAR?“

Oha, der ist ja gut drauf!

„Abgemacht! Wenn Nils kommt, dann nehme ich ihn in mein Bett!“

„Na, grade noch mal Glück gehabt!“ knurrt er, „glaub ja nicht, dass du hier alles ändern kannst! Mein Bruder besucht mich gleich, und wenn du hier faxen machst, dann wirste ausgetauscht. Klar?“

Insgeheim amüsiere ich mich über den Knirps.

„Was ist denn das eigentlich für n Krankenhaus?“ frage ich Nils II.

„EINS wollen wir mal klarstellen: Wenn ich was frage oder sage, dann ANTWORTEST du. Klar?“

Hoppla, hier muss man eine Grenze setzen!

„Eins will ICH mal klarstellen, Nils II: Ich antworte, wann s mir passt. Klar?“

Nils (des zweiten) Gesicht entgleist:

„Das war doch nicht Ernst, Mensch! Ich mach doch nur Spaß! Der vorher dein Bett hatte, hat immer drüber gelacht, Mensch!“

„Ok, ok, konnte ich ja nicht wissen. Also: Ha ha ha.“

Er ist nicht überzeugt.

„Komm, Kleiner, alles in Ordnung. Hab verstanden. Ok?“

„Kleiner? ICH GEB DIR GLEICH KLEINER!“

Er stürzt sich tatsächlich aus dem Bett und kommt zu mir rüber.

„Halt halt!“ Ich halte seine Hände fest. „Ich bin frisch operiert. Da wird SICHER NICHT gekitzelt!“

„Na, siehst du? Nun hast du’s begriffen! Aber…“, reißt er wieder das Auge auf, „woher wusstest du denn, dass ich dich kitzeln wollte?“

„Ich hab da so meine Nils-Erfahrung!“

„Du kennst mich doch gar nicht!“

„Aber ich kenne Nils!“

Er sieht mich zweifelnd, verständnislos an. Draußen hört man Klappern. Er geht wieder zurück in sein Bett: „Das Essen kommt. Ich soll noch nicht aus dem Bett“, grient er.

„Zweiter Versuch: Was ist das hier für n Krankenhaus?“

„Sie befinden sich hier im Unfallkrankenhaus Boberg.

Dies ist ein typisches Krankenzimmer, in den beiden Betten zwei typische Kranke, in dem einen“, hier zeigt er auf sein eigenes Bett, „ein Beispiel eines Musterpatienten, in dem anderen“, weist er nun auf meins, „das genaue Gegenteil; aufmüpfig, desorientiert, von Pflege und Zuwendung abhängig, kurz: lebensuntüchtig.

Aber auch mit solchen Fällen wird das Fachpersonal fertig.“

Er grinst wieder, wird aber, als er mein Gesicht sieht (ich bemühe mich, keine Miene zu verziehen), wieder ernst.

„Hier kommen vor allem Arbeitsunfälle rein, aber auch Verkehrsunfälle. Ich bin hier, weil mein Bruder Jakob hier Oberarzt ist.“

„Ach, und der kommt gleich?“

„Klar, der darf auch außerhalb der Besuchszeiten!“

Wie auf Stichwort geht die Tür auf.

Ich wusste gar nicht, dass es zu den Aufgaben eines Oberarztes gehört, Essen zu verteilen.

Er hat auch nur das Essen für seinen kleinen Knirps-Nils-Bruder.

„Na Nils? Wie ist das werte Befinden?“

„Kommen Sie rein, Doktor! Der Blutdruck beträgt im Liegen RR 130/75 mm Hg. Der systolische Wert ist eine SPUR zu niedrig. Die Diastole liegt im Normbereich.“

„Na“, lacht der Arzt und nimmt den Kleinen in den Arm, „dann ist ja alles klar!“

Er dreht sich zu mir um.

„MEINE Schule! Hallo, ich bin Dr. Johanns, Dein Oberarzt“. Er reicht mir die Hand und strahlt mich an. Ein sympathischer Mensch!

„Zuerst muss ich mal deine Personalien haben. Wir wissen von dir nur die Blutgruppe, sonst hätten wir dich gar nicht operieren können.“

Ich diktiere ihm, was er wissen will. Er verspricht, Mama anzurufen.

„Herr Doktor, wie geht es Nils?“ frage ich bange.

„Du hörst doch, alles im Normbereich, Systole etwas niedrig“ schmunzelt er.

„Nein, Herr Doktor, den mein ich nicht, ich …“

Er steht abrupt auf.

„Ich habe weiter keinen Patienten behandelt. So, nun wird gegessen!“

„Aber, aber…“

In dem Moment geht wieder die Tür auf, und mein Essen kommt.

Ich würge es herunter, weiß nicht mal, was ich esse.

Der Doktor hilft dem Kleinen beim Essen.

Der könnte das sicher auch alleine, aber er genießt die Nähe seines großen Bruders.

Nach dem Essen, als wir wieder alleine sind, versuche ich, Nils darauf einzuschwören, sich nach Nils (also Nils Löwenherz) zu erkundigen.

Ich erzähle ihm von dem Tag auf dem Dom und unserem Unfall, soweit ich ihn überhaupt in Erinnerung habe.

„Nun weiß ich überhaupt nicht, wo er ist, wie es ihm geht. Hilf mir bitte, Nils, dass ich etwas erfahre, ja?“

Er sieht mich nachdenklich an.

„Der ist dir wohl sehr wichtig, was?“ fragt er leise.

Mir kommen die Tränen.

„Wichtiger als alles andere auf der Welt!“ flüstere ich, „bitte, hilf mir, Nils!“

Er kommt wieder aus seinem Bett zu mir rüber, sieht mich einen Augenblick mitfühlend an, stellt sich dann stramm hin, salutiert und sagt: „Ok! Aber nur, weil der auch Nils heißt!“

Jakob

Nils II hat gestern versucht, was über Nils I raus zu finden. Ohne jeden Erfolg!

Außer ihm scheint es keinen Nils hier im Krankenhaus zu geben.

Plötzlich fällt mir ein: Keiner kann ja wissen, dass Nils Nils heißt!

Meinen Namen wussten sie ja auch nicht.

Nils II wird zu einer Untersuchung geholt. Ich liege allein im Zimmer.

Als der Oberarzt kommt und mich untersucht, frage ich beiläufig: „Was ist eigentlich aus dem anderen Unfallbeteiligten geworden?“

(Dass wir einen Unfall hatten, wusste er ja, er hatte er mir davon erzählt)

„Keine Ahnung, Jakob, ich habe nur dich als Patienten.“

Kurzerhand weihe ich ihn ein; er macht einen sehr Vertrauen erweckenden Eindruck auf mich.

„Nils und ich lieben uns. Und ich muss unbedingt wissen, was mit ihm ist. Er hat sich nicht gemeldet, ich weiß gar nichts. Bitte, helfen Sie mir, ja?“

Wieder fällt mir auf, dass der Oberarzt keine direkte Antwort gibt.

„Mal sehen, aber ich bezweifle, dass ich was erfahre…“

„HERR DOKTOR! Glauben Sie wirklich, dass es meiner Genesung zuträglich ist, wenn Sie mir was verheimlichen?“

„Ich verheimliche gar nichts!“ wird er ärgerlich, fasst sich aber sofort wieder.

„Jakob, das Wichtigste ist, dass du dich erholst. Dafür brauchst du deine ganze Kraft. Denk erstmal an dich, bis es dir besser geht. Dann können wir immer noch …“

Ich unterbreche ihn: „Das wird nichts, glauben Sie mir. Wenn ich nicht weiß, dass es ihm gut geht oder auch nur, dass er … dass er lebt, dann …“

Weiter komme ich nicht.

Wieder einmal kriege ich einen Weinkrampf.

Der Doktor schüttelt den Kopf, streicht mir über das Haar, verabschiedet sich leise und geht raus.

Allein gelassen liege ich und heule alles raus, kann nicht aufhören.

Was, wenn er … ich mag nicht zu Ende denken.

Nils, mein Nils!

Lebst du?

Jakob

Plötzlich höre ich Nils II wieder reinkommen. Seine kleine Hand schiebt sich in meine, drückt sie, und er sagt tröstend: „Lass doch, Jakob. Ich weiß, dass er lebt!“

Ich fahre hoch!

„WAS? DU WEISST, DASS ER LEBT?“

„Leise! Ich darf das gar nicht wissen. Ich habe heute früh gelauscht, als die Nachtschwester und die Tagschwester Übergabe gemacht haben. Sie dachten, ich schlafe noch, und du ja hast geratzt, wie ein Bär.

Da sagte die Nachtschwester, dass du dich erst erholen musst. bis sie dir sagen, wie schwer Nils verletzt ist, sie soll sich ja nicht verquatschen!“

Nils LEBT!

Und er ist hier!

„Danke, kleiner Nils! Das war das Schönste, was du mir sagen konntest!“

„Ja ja, schon gut! Du zerquetschst mich ja! Hallo? Ich bin der andere Nils! Vorsicht, zerbrechlich“

Ich habe gar nicht bemerkt, wie sehr ich den Kleinen drücke.

Ich lass ihn los, er geht, übertrieben röchelnd und wankend wieder in sein Bett zurück.

„Und wo ist er? Weißt du das auch?“

„Nee, davon haben sie nichts gesagt. Dass er hier in Boberg ist, ist ja klar. Er kann eigentlich nur auf der Intensiv sein.“

Mhh, auf der Intensivstation kann ich natürlich nicht nachsehen, und Nils II erst recht nicht.

„Ich KÖNNTE mich dazu peitschen lassen, meinen Bruder danach zu fragen. Aber das kostet dich ne Menge! Kannst du mich überhaupt finanzieren?“

Er grient breit, so dass seine Ohren Besuch bekommen.

„60 Minuten die Stunde, mehr kann ich nicht zahlen!“

„WILLST DU MICH VERSCHEISSERN? ICH GEB DIR 60 MINUTEN DIE STUNDE!“

Er springt aus seinem Bett, fängt an mich zu kitzeln.

„Au! Lass das bitte, ich bin kitzelig! Ich darf mich nicht so anstrengen, hat dein Bruder gesagt!“

Das wirkt sofort.

Vor seinem Bruder hat er wohl großen Respekt.

Ich versinke in Nachdenken.

Wie kann ich was über Nils Löwenherz erfahren…

Jakob

Gestern war meine Mama da.

Sie kann ja richtig schauspielern!

„Ach, Jakob, GUT siehst du aus!“ Kotz!

Na ja, sie blieb nicht lange.

Sie kann den Krankenhausduft nicht ab, sagt sie.

Ich weiß, Mama!

Hättest auch ne Karte schreiben können!

Am besten, ganz wegbleiben.

Obwohl, als sie weg ist, fühlte ich mich nur NOCH verlassener.

Auch, weil ich nicht mit ihr darüber reden konnte.

Mist!

Da geht die Tür auf, und Papa kommt rein.

„Hallo Jacki!“

„PAPA!“

Er tritt an mein Bett, nimmt mich in den Arm, ich fange hemmungslos an zu Schluchzen.

Nils II steht aus seinem Bett auf, geht, verlegen hüstelnd, raus.

In der Tür sagt er noch: „Ich werd mal … nach dem Rechten sehen … äh … ja!“

Papa streicht mir durchs Haar, wie er es früher immer getan hat.

„Na mein Junge? Was machst du für Sachen!“

„Bitte, Papa, ich hab jetzt keinen Kopf für Scherze. Nils geht’s verdammt schlecht, aber man will mir nichts sagen.“

„Pscht, Jacki! Ist ja alles gut. Ich werd mich mal erkundigen. MIR wird man schon Auskunft geben!“

„Danke, Papa. Und sag nicht Jacki zu mir, ja?“

Er sieht mich erstaunt an.

„Nicht? Das hab ich doch immer gesagt!“

„Ich möchte es eben nicht mehr. Ok?“

Er nickt ergeben.

„Hast du denn Schmerzen?“

„Nee, geht schon. Ich krieg ja Medikamente. Wann kannst du denn mal nach Nils fragen?“

„In einer Viertelstunde hab ich einen Termin mit dem Oberarzt.“

„Danke, Papa!“

20 Minuten später kommt Papa wieder ein.

„Du sollst liegen bleiben, sagt dein Bruder!“

Nils II war schon wieder halb aus dem Bett.

„Ja, Nils, bleib da, du kannst ruhig zuhören, muss ich dir wenigstens nicht alles erzählen!“

„Na ja, die Visite kann ich ja auch auf später verschieben. Die fangen ohne mich ja gar nicht erst an!“

„Ja, Jakob“, sagt Papa ernst, „da ist wohl irgendwas im Gange!“

„Wie – im Gange?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe überhaupt keine Auskunft bekommen. Als ich so tat, als wüsste ich, dass Nils hier ist, räumten sie das auch ein. Woher ich das denn hätte, wollten sie wissen.“

Nils II verkriecht sich unter der Decke.

„Keine Angst, ich habe geschwindelt und gesagt, ich hätte mit seiner Mutter telefoniert. Das hat sie dann etwas beruhigt.“

Nils steckt seine Nase erleichtert wieder in die Luft und spitzt weiter die Ohren.

„‚Auskünfte gehen NUR am Verwandte. Sind Sie ein Verwandter?’ haben die dann gefragt. ‚Nein’, musste ich zugeben, ‚aber mein Sohn ist mit Nils eng befreundet’.

‚Tja, dann tut es uns Leid. Wir müssen auch auf den Schutz der uns anvertrauten Patienten achten. Das schreibt das Gesetz so vor’“

„Moment!“ sagt da Nils. „Die Menge der uns anvertrauten Patienten beinhaltet auch einen gewissen Jakob. Und auch der steht unter unserem Schutz. Und wenn dessen Re … Rekolavetenz – oder so – sich dadurch verzögert, dann verstoßen wir ebenfalls gegen diese Bestimmung!

Triumphierend schaut er uns an.

„Das Abwägen der Rechtsgüter …“

„Nun halt mal die Luft an, du Genie!“ sage ich grinsend zu ihm, „wir haben begriffen!“

„WEISS ich nicht. Leuten mit geistigen Dezifi.. Dingens muss man alles ganz genau erklären!“

„Du hast Glück, das ich mein Kissen noch brauche, du geistiges Defizit, sonst hätte Papa dir das jetzt an den Kopf geworfen!“

Er feixt.

„Von DIR nehm ich das als Kompliment!“

„Tja“, sagt Papa, „Dann müssen wir eben unsere Taktik ändern. Jakob, du wirst dich ab sofort nicht mehr weiter erholen, Klar?“

„Klar!“, sage ich.

„Klar!“, sagt Nils II.

„Und du, Einstein, bekommst später ein großes Eis von uns. Klar?“

„Klar!“, sagt Nils II.

„Klar!“, sage ich.

Papa geht nicht, bevor er mich umarmt hat, dann Nils II, der wieder mal seinen Senf zugeben muss: „Achtung! Zerbrechlich!“

Nachdem wir wieder unter uns sind, fragt Nils II: „Sag mal, Jakob, wer ist eigentlich dieser Einstein?“

Jakob

Zwei Wochen sind nun vergangen, in denen mein schauspielerisches Talent arg strapaziert wurde.

Zwei Wochen, in denen es mir SEHR schlecht ging.

Nils II stand mir dabei hilfreich zur Seite.

Mein bester Kritiker!

Nach jedem Auftritt gab s ne Manöverkritik.

Wenn ich zu schwächeln begann, wurde unbarmherzig dran gearbeitet.

Und die ganze Mühe soll sich nun heute auszahlen!

Papa kommt, und wir werden zusammen eine Besprechung mit Dr. Johanns haben.

Mama war nicht wieder hier im Krankenhaus.

Sie sei im Urlaub, ließ sie durch die Schwester ausrichten.

Nicht, dass ich nun besondere Sehnsucht nach ihr gehabt hätte.

Aber das tut schon verdammt weh, wenn man der eigenen Mutter gleichgültig ist.

Aber nun kommt Papa!

Im Schlepptau Dr. Johanns.

„So, Nils, du hast heute die erste Physiotherapie! Geh schon mal raus, du wirst gleich abgeholt, ok?“

Der zwinkert mir im Vorbeigehen ermunternd zu.

„Na, ihr beide versteht euch ja!“ meint sein Bruder, aber er ist auch ein bisschen stolz auf Nils.

Nun sind wir zu dritt.

Papa fängt an: „Also, Herr Doktor, ich mache mir große Sorgen um meinen Sohn! Es geht ÜBERHAUPT nicht voran!“

Der Doktor überlegt: „Jakob, hast du noch irgendwo Schmerzen?“

(Als ob er das nicht jeden Tag gefragt hätte!)

„Ja, ziemliche Schmerzen“, ächze ich.

„Und wo genau?“

Ich zeige auf meine Brust. „Hier!“

Er nimmt besorgt sein Stethoskop, macht mir die Brust frei (wobei ich mir das Lachen mannhaft verkneife: Es ist schließlich für Nils!) und setzt die kalte Membran auf den Brustkorb.

„Tief einatmen … ausatmen … einatmen … Luft anhalten … danke!“

„Mhh ...“

Er legt seine Hand flach auf die Brust, klopft mit gekrümmtem Zeige- und Mittelfinger darauf.

„Auskultatorisch und perkussorisch o.B.“ notiert er im Gedächtnis.

„Jakob, wo genau tut es weh, und wann ist das: bei Bewegung, in Ruhe, beim Atmen oder nach Anstrengungen?“

Ich zeige wieder auf meine Brust, diesmal etwas links unten versetzt.

„Hier. Dauernd. Ein … Ziehen!“

Er sieht mich zweifelnd an.

„Das Herz?“

„Herr Doktor, er redet immer nur von Nils“, mischt sich jetzt Papa ein.

„Die tun sich beide gegenseitig gut. Ja, ich bin froh, dass der hier ist!“

Ich halte die Luft an!

„ER IST HIER?!?“ schauspielere ich.

„Na ja, JETZT ist er beim Therapeuten.“

„HERR DOKTOR, SIE WISSEN GENAU, UM WELCHEN NILS ES HIER GEHT!“

„Sachte, sachte, Bürschchen!“

Papa macht sich gerade: „Herr Doktor, ich bitte Sie, meinen Sohn ernst zu nehmen! Er liebt diesen Jungen, und er ist krank vor Sorge!“

Nun, endlich, resigniert Dr. Johanns.

Er holt einmal tief Luft, und beginnt: „Jakob, Dein Nils ist sehr schwer verletzt worden bei dem Unfall.

Aber diese Verletzungen haben wir in den Griff bekommen, ihn mehrfach operiert.

Schlimmer ist:

Er liegt im Koma.

Im Wachkoma.“

Peng!

Das Licht wird langsam heruntergedimmt, bis es völlig dunkel um mich ist.

Jakob

Zuerst kommt das Bild.

Ich sehe das verschwommene Gesicht von Papa.

Daneben Dr. Johanns, Nils des Zweiten Bruder.

Daneben Nils II.

Alle starren mich an.

Sie bewegen die Münder, es sieht grotesk aus.

Der Ton kommt verzögert.

„… wieder, mein Sohn?“

„… Mensch!“

„… mich hören?“

Ich sortiere:

1 war Pappa.

2 war Nils II

3 der Doktor..

Ich atme einmal tief ein und aus.

Der Schwindel, den ich verspüre, vergeht langsam.

Was war das noch, da zum Schluss?

Was mit Nils, glaube ich.

Nils … nee. Schon, aber … nee

der Unfall … auch nich

schwere Verletzungen …

Koma! Das war’s!

WACHKOMA!!!

Ich schrecke hoch.

„Ich muss zu ihm! Ich muss sofort zu ihm!“

Der Oberarzt macht vollautomatisch eine Abwehrbewegung, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen.

„Sie lassen mich sofort zu meinem Nils! Ich verlange das! Er braucht mich! Ich weiß es!“

„Jakob, das geht noch nicht! Sieh es doch ein, ihr seid beide noch nicht so weit, du nicht und er schon gar nicht.

„UND WIE LANGE WOLLEN SIE WARTEN, HÄ? EIN – ZWEI WOCHEN? ODER MONATE? ODER JAHRE? VIELLEICHT NOCH N LEBEN? IHR LEBEN ODER MEINS?!?“

„Bitte, Jakob, schrei nicht so. Du brauchst deine Kraft für deine Genesung!“

„MEINE KRAFT BRAUCHT NILS, SONST NIEMAND AUF DER WELT! UND ICH LASSE MICH NICHT VON IHM FERNHALTEN! ICH SCHREIE SO LANGE WEITER, BIS SIE MICH ZU IHM LASSEN!“

Papa redet auf ihn ein, Nils, der tapfere kleine Recke, redet auf ihn ein, und da …

gibt er seinen Widerstand auf.

Jakob

Vor Nils Löwenherz’ Bett steht ein Rollstuhl.

In dem Rollstuhl sitze ich.

Nils ist ganz vergraben unter Verbänden, Gipsschienen, Drainagen, Schläuchen mit Sauerstoff, Kanülen, durch die lebenserhaltende Medikamente in seinen geschundenen Körper strömen, Leitungen, die von den an der Brust und am Kopf befestigten Elektroden zum EEG-Schreiber, zum EKG-Schreiber führen.

Die Schwester, die mich hier rein geschoben hat, nachdem sie mich in grünes, steriles Zeug gesteckt hatte, ist still verschwunden.

Aber ich weiß, dass sie im Nebenzimmer auf jede Regung, jedes schwache Zittern einer Nadel des EEG-Schreibers, jedes Zucken der Anzeigen achtet.

Nils sieht mich an.

Sein Gesicht ist seltsam leer.

Er regt keinen Muskel.

Eine lange Zeit sitze ich nur da, sehe ihn an.

Schließlich halte ich es nicht mehr aus.

Ich beuge mich, so gut es geht, zu ihm hin, hebe die Hand, lege sie an seine Wange, nähere meinen Mund seinem Ohr, das zwischen zwei Windungen des riesigen Kopfverbandes freigelassen ist, und sage:

„Nils! Nils Löwenherz! Hörst du mich?“

Jakob

Nach einer halben Stunde unentwegten Redens und Streichelns, in der ich Nils alles in Erinnerung zu rufen versucht habe, was wir zusammen erlebt haben, was uns wichtig war, was uns erschüttert hat, was uns verbindet, sinke ich ermattet in meinem Rollstuhl zusammen.

Er hat nicht reagiert.

Der Oberarzt kommt rein, im Schlepptau Nils II.

Beide hatten schon eine Weile durch das Fenster zum Nebenraum die Szenerie beobachtet.

„Ich konnte ihm das nicht abschlagen“, meint Dr. Johanns und macht eine Kopfbewegung zu seinem kleinen Bruder.

„Natürlich nicht“, meint der, „erstens sehen sechs Augen mehr als vier, und zweitens tut das ja auch weh!“

„Hä? Was tut weh?“ frage ich ihn.

„Na, das Abschlagen, Mensch!“ grinst er, wird aber sofort wieder ernst.

Dr. Johanns meint: „Du machst das ganz toll! Menschen im Wachkoma können nämlich in manchen Fällen ihre Umgebung wahrnehmen, aber eben nicht darauf reagieren“.

„Und eine Ansprache kann ihnen beim Zurückkommen wertvolle Hilfe bedeuten!“ erklärt Nils II wichtig.

Sein Bruder grinst und formt mit dem Mund tonlos: „Meine Schule!“

„So, nun erhol dich mal erst wieder, morgen kannst du ja dann wieder für 15 Minuten herkommen“, weist mich nun der Oberarzt an.

„Ich habe einen besseren Vorschlag: stellen Sie mein Bett mit hier in den Raum. Dann kann ich bei ihm sein. Das ist für mich wichtig, aber besonders für Nils!“ versuche ich mein Glück, insgeheim ängstlich eine Absage befürchtend.

Bevor Dr. Johanns wieder seine Vollautomatik anschmeißt, sagt Nils II: „Brilliante Idee, Doktor! So machen wir das!“

„Moment, nicht so schnell, das muss ich erstmal überlegen …“

Er sieht von mir zum Bett, wieder zu mir, dann zu Nils II, der ihm auffordernd zunickt: Worauf warten Sie, Doktor?!? und sagt schließlich zögernd: „Na gut, wir versuchen das. Genau eine Woche lang. Wenn keine Verbesserung eintritt, kommst du wieder in dein Zimmer.“

„Einspruch, Euer Ehren! Wenn eine VERSCHLECHTERUNG eintreten sollte!“

„Also wenn eine Verschlechterung eintritt. Gut!“

Komisch, normalerweise würde ich einen Freudentanz aufführen.

Aber ich sehe einfach Nils an und finde das nur gerecht.

Außerdem könnte ich mit dem Gipsbein wohl gar nicht tanzen.

Der Doktor zieht sich zurück.

Nils II steht noch unschlüssig am Bett, zögert.

„Na? Du Schrecken der Nachwache?“ sage ich.

Er bleibt ernst.

„Du, Jakob“, druckst er stockend rum, wird immer leiser dabei, „wenn dein Nils nun wieder aufwacht, dann … dann … kannst du dann mal an mich denken und mich besuchen?“

Ich erstarre.

Dieser kleine Kerl hat uns beiden dermaßen geholfen, dass er nun allein in seinem Zimmer liegen muss.

Ich überlege.

„Pass mal auf, du Defizit, hast du nicht Lust, mir hier zu helfen?“

„Wirklich?“ flüstert er mit großem Auge, „du, das wär ja … MENSCH!“

Die Schwester kommt reingestürmt.

„Äh, Schwester, das war nur … das ist nicht …“

Aber sie kümmert sich gar nicht um uns.

Sie sieht sich Nils I an.

„Ich hatte gerade eine Reaktion auf dem EEG! Bei dem Schrei. Schrei doch noch mal, Nils.“

„MENSCH!“ kräht Nils begeistert. „MENSCH MENSCH MENSCH!“

„Das … das muss sich der Doktor ansehen. Geh nicht weg!“ sagt sie zu Nils Löwenherz und geht schnell nach nebenan, wo sie am Telefon den Oberarzt anpiepen lässt.

Die muss ja vollkommen von der Rolle sein!

Jakob

Dr. Johanns ist sehr aufgeregt.

Er lässt seinen Bruder mehrmals MENSCH rufen, danach auch noch andere Wörter, und beobachtet dabei die Instrumente.

„Erste Reaktionen sind da, aber nicht sehr deutlich … “

„Nils“, schlage ich vor, „ruf doch mal meinen Namen.“

„JAKOB! JAKOB! JAKOB JAKOB JAKOB“

„Verdammt! Die Instrumente spielen ja verrückt! Leiser bitte, Nils!“

„Jakob!“

„Immer noch! Das gibt’s nicht! Schwester, haben Sie das auch auf dem Schreiber?“

„Habe alles protokolliert!“

„Jakob!“ meint er aufgeregt, „sag mal du deinen Namen!“

„Nils! Hier ist Jakob!“

Und da, auf einmal, verzieht sich Nils’ eben noch so starrer Mund.

Nein, ein Lächeln war das nicht!

Aber sein Mund hat sich verzogen, das kann der ANFLUG eines Lächelns gewesen sein.

Jakob

Nach diesem verheißungsvollen Anfang hat der Oberarzt nun beim Chefarzt (nein, NICHT Nils II) durchsetzen können, dass Nils in einen Aufwachraum verlegt wird und ich offiziell auch dort einziehen kann.

Und nun teile ich mit meinem Nils seit 14 Tagen das Zimmer.

Nils II ist so oft da, wie es sein voller werdender Therapiekalender zulässt.

Er ist richtig im Stress!

Ich kann Nils jederzeit ansehen.

Er liegt immer gleich da, er hat sich noch nicht ein einziges Mal selber bewegt.

Sein Blick ist starr, sein Gesicht leer.

Aber wenn ich mit ihm spreche, dann reagiert er.

Eindeutig!

Und so erzähle ich ihm vom Krankenhaus, Dr. Johanns, Nils II, und alles, was mich bewegt.

Dass immer eine Schwester mithören kann, die ihn überwacht, stört mich nicht.

Was wir jetzt zu besprechen haben, kann ruhig jeder hören.

Und dass wir uns lieben, weiß hier sowieso jeder.

Traurig?

Nein, ich bin nicht traurig!

Nicht mehr!

Ich weiß, dass mein Nils wieder aufwachen wird.

Ich muss nur lange genug daran arbeiten.

Gestern habe ich ihm aus dem Buch „Das Lazaruskind“ vorgelesen.

Er hat interessiert zugehört.

Na ja, GLAUB ich!

So eine Gerätschaft wie in dem Buch steht hier natürlich nicht zur Verfügung.

Aber als „Führer“ würde ich mich sofort zur Verfügung stellen!

Wir müssen eben so lange weitermachen, Nils I, Nils II und Dr. Johanns und ich, bis wir Erfolg haben.

Jakob

Heute Morgen war Mama da!

Hat sie sich also doch durchgerungen!

Erst hat sie mich gar nicht gefunden.

Klar, ich hatte ja ihre Urlaubsadresse nicht, wie sollte ich sie da benachrichtigen?

Dass ich auch DANN nicht geschrieben hätte, muss ich ihr ja nicht sagen.

Als sie hier in das Nebenzimmer kam und sah, dass ich mit Nils in einem Zimmer liege, hat sie ganz komisch gekuckt.

Mir doch egal!

Obwohl: Manchmal hab ich den Verdacht, sie ahnt was!

Na ja, soll sie!

ICH werde nicht davon anfangen!

Sie braucht auch nicht mehr herzukommen.

Kann ruhig wieder Urlaub machen!

Irgendwas hat sie von nem Freund gefaselt.

Wenn s sie glücklich macht!

Sie will den mal mitbringen.

Ich habe dann gesagt, dass sie ja dann noch ein DRITTES mal herkommen müsste, ob sie sich das auch gut überlegt habe.

Ich kann ganz schön frech sein!

Sie hat sich aber nichts anmerken lassen (falls sie das überhaupt verstanden hat!)

Aber jetzt sind wir wieder zu zweit!

Ich erzähle Nils von der Gymnastik, die ich jetzt immer machen muss.

Anstrengend, aber allemal besser, als hier immer im Bett zu liegen!

Abends, wenn Nils II wieder weg ist, gebe ich Nils zur Nacht immer einen Kuss auf den Mund.

Die Nachtschwester hat das schon mal gesehen, und seitdem geht sie immer kurz raus, wenn ich spät mein Bett noch mal verlasse.

Süß, nicht?

Manchmal, wenn ich Nils streichele, merke ich, dass er n Harten kriegt.

Schön, dass diese Funktion wenigstens nicht verloren ist.

Aber angefasst hab ich da nicht.

Ich möchte, dass Nils bestimmt, wann ich da anfassen darf.

Wenn er wieder aufgewacht ist.

Jakob

Ich Fall vom GLAUBEN ab!

Mama kommt heute mit ihrem neuen Freund!

Ich werde sie im Nebenzimmer abfangen.

Ich will nicht, dass sie Nils vielleicht irgendwie stören.

Also hab ich mich angezogen.

Nils II habe ich für heute abbestellt.

Erst hat er erschrocken gemeint, dass er es doch nicht mit Absicht gemacht hat.

„Was?“ hab ich gefragt.

Er meinte: „Weswegen ich nicht mehr kommen soll“, und sein Gesicht entgleiste schon wieder.

Da hab ich ihn in den Arm genommen und gesagt: „Nils II! Das möchte ich nie wieder hören, verstanden? Du hast soviel für uns getan! Nein, es geht um meine Mutter und ihren Freund. Ok?“

Da hat er seine Arme um meinen Hals getan, sich auf Zehenspitzen gestellt und in mein Ohr geflüstert: „Ich wünsch Dir und Deinem Nils ganz viel Glück!“

Und dann ist er abgedampft.

Ich stehe also hier und warte auf Mama und den Freund.

Die Jalousie zu Nils’ und meinem Zimmer hab ich geschlossen.

Und da kommen sie rein.

Mama gibt mir einen Kuss.

Nanu?

Das hat sie ja schon seit Jahren nicht gemacht!

Der Freund wird als „Jürgen“ vorgestellt.

ich murmele irgendwas wie: „Gestern hab ich meine Schwiegermutter umgebracht“ und übersehe seine Hand.

Nicht weil er der Freund von Mama ist.

Nein, weil er so schmierig und unsympathisch wirkt.

Dieses aufgesetzte, mühsame Lächeln!

Diese auf bemüht jugendlich getrimmte Sprache: „Na, Alter? Was geht?“

„Danke und selbst!“ hab ich nur gesagt, und mich dann an Mama gewandt.

„Hast du was von Papa gehört?“

„Nein!“ sagt sie pikiert.

„Aber ich! Dem geht es schon viel besser!“ gebe ich ihr einen mit.

„Ach!?! War er krank?“ fragt Jürgen.

Was geht denn das DEN an!

„Ja“, sage ich freundlich, „er litt unter akutem Matriarchat!“

„War er nicht geimpft?“

Was soll man DAZU sagen!

„Ich hab hier auch was für Nilsi“, sagt Mama, und packt ein kleines Geschenk aus.

Nilsi!

Klingt ja noch blöder als Jacki!

„Der darf jetzt nichts. Der ist noch nicht wach!“

„Das ist nichts zum essen, sondern was zum Lesen!“ sagt Jürgen, „Der KANN doch lesen? Har har!“

„Nein, ich les ihm immer was vor. Der liegt nämlich im Koma!“

„Ach? Ich denk hier in Boberg!“

HRRGH! „IN Boberg IM Koma!“

„So, ja, na dann ist das ja was für ihn. Und wenn du ihm das äh vorliest, dann ist das ja gleich zwei Fliegen mit einer Klappe! Da steht nämlich drin, wie man sich ein Mädchen anlacht! Har har! Und das ist für DICH ja auch Neuland. Har har!“

„Vielen Dank, Herr … Jürgen! Haben Sie es denn auch schon gelesen? Das würde mich wundern. Schließlich haben Sie ja nun mit meiner Mutter Vorlieb genommen!“

DAS hat gesessen!

Er läuft blau an.

Dann läuft er rot an.

Dann fängt er an zu brüllen: „MUSS ICH MIR DAS VON EINER SCHWUCHTEL SAGEN LASSEN?!?!?!?“

Sie wissen es!

Ich bin perplex!

Aber nur ganz kurz!

Ich brülle ihn an, lege meine ganze Wut, meinen ganzen Frust mit hinein: „DAS WERDEN SIE WOHL MÜSSEN! HIER GIBT ES NÄMLICH AUSSER SCHWUCHTELN NUR NOCH ARSCHLÖCHER! ÜBERHAUPT: WAS ERLAUBEN SIE SICH EIGENTLICH? HIER WIRD NICHT GEBRÜLLT! DAS HIER IST EIN

K R A N K E N H A U S !

Die Fensterscheiben klirren.

Die Schwester rennt raus.

Ich nehme mir eine leere Petrischale, die die Schwester gerade aus dem Sterilisationsgerät genommen hatte, und schmeiße sie Jürgen auf den Fuß.

„MACHEN SIE SOFORT, DASS SIE HIER RAUSKOMMEN, SONST HOL ICH DIE POLIZEI!“

Und da sagt Jürgen etwas, das mir das Blut gefrieren lässt.

Er sagt wutverzerrt zu Mama: „Ich hätte auch noch den Rahmen ansägen sollen, dann wären jetzt beide Schwuchteln hops!“

Und Mama?

Mama sagt gar nix.

Sie sieht mich voller Verachtung – nein: Ekel – an, dreht sich um und geht ohne ein Wort raus.

Ich: „VERGISS NICHT, DEN SONDERMÜLL MITZUNEHMEN, DEN DU HIER ANGESCHLEPPT HAST!“, und deute dabei auf Jürgen, der schwer atmend immer noch dasteht und sich den Fuß hält.

Da geht eine Verwandlung mit ihm vor.

Die mühsame Beherrschung, die zwar das Brüllen nicht verhindern konnte, ihn aber immer noch wie ein Mensch aussehen ließ, fällt von ihm ab.

Er wird zum Tier.

Er nimmt einen der LCD-Monitore, über die sich seit der Brüllerei wirre Kurven mit hoher Amplitude schlängeln, schwingt ihn hoch und lässt ihn auf meinen Kopf heruntersausen.

Das Licht wird langsam heruntergedimmt.

Jakob

Das Licht wird langsam raufgedimmt.

Aus dem Bett neben mir werde ich angesprochen.

„Na Jakob? Auch wieder unter den Lebenden?“

Das hatten wir doch schon mal!

„Glaub schon, Nils!“

„Warst ganz schön lange unterwegs!“

„Echt? Keinen Schimmer!“

„Der Doktor kommt gleich, ich hab schon geläutet.“

„Danke Nils!“

Nils?

NILS?

DAS IST JA NILS!

NEIN, NICHT NILS, DER KLEINSTE RIESE DER WELT!

NILS LÖWENHERZ!

„Nils! Du bist ja wieder wach!“

„Klar bin ich wach. Irgendjemand muss doch auf dich aufpassen!“

„Und ich hab das verpennt! Das ist doch nicht wahr!“

„Nein, Jakob. Du hast nichts verpennt! Dir verdanke ich mein Leben!“

Nils

Die ganze Zeit hatte ich so einen dumpfen Traum.

Wir fuhren vom Dom nach Hause.

Durch den Freihafen.

Wir näherten uns der Hebebrücke.

Kamen an einem Signalmast vorbei, der nur eine rote und eine grüne Lampe hatte.

Die rote Lampe brannte und zeigte den Schiffen an, dass dieser Arm der Elbe im Moment nicht passierbar war – Arbeiten an der Hebebrücke.

Da sagte Jakob hinter mir etwas, das ich nicht verstand.

Ich drehte meinen Kopf zu ihm und fragte: „Was sagst du?“

Was er dann sagte, habe ich nicht mehr mitbekommen, denn auf einmal hatte ich den linken Teil des Lenkers in der Hand.

Einfach abgebrochen!

Natürlich konnte ich das Moped nicht halten, ich drehte mich ja gerade nach hinten.

Und so fuhr ich mit vollem Tempo gegen einen der Laternenmaste.

Dann wurde alles dunkel.

Eine unbestimmte Zeit verbrachte ich in einer Art Schlaf.

Ohne Zeitgefühl.

Überhaupt: keine Gefühle, keine Bedürfnisse, keine Impulse, keine Gedanken.

Nur manchmal eine Ahnung von zärtlicher Berührung, schnell wie Schatten wieder vorbei.

Dann wurde ich auf einen Ruf aufmerksam.

„Mensch! Mensch Mensch Mensch!“

Ziemlich weit entfernt und leise.

Dann rief deutlich jemand nach Jakob, und ich begann, von Jakob zu träumen.

Manchmal hörte ich seine Stimme, die mich zärtlich rief.

Dabei fühlte ich ein Sehnen, ihn zu spüren, im Arm zu halten, zu küssen, Zärtlichkeiten zu tauschen.

Und schließlich wurde alles hell und laut.

Geschrei, Gepolter.

Es war Jakob, der da schrie.

Irgendetwas von Schwuchteln und Arschlöchern.

Unmöglich, dieser Kerl!

Und dann, genau bevor ich endgültig aufwachte, hörte ich was runter krachen.

Stille.

Und ich wusste, meinem Jakob war etwas passiert.

Ich war plötzlich wach, hellwach.

Angelte mühsam die Klingel heran und drückte sie, ließ sie nicht los.

Ein Arzt kam, ein kleiner Junge, Polizei, alles war durcheinander.

Erschöpft schlief ich wieder ein, wachte auf, schlief ein.

Immer, wenn ich wach war, saß da dieser kleine Racker an meinem Bett, tupfte mir das Gesicht trocken, wenn ich schwitzte, benetzte meine Lippen, wenn sie trocken waren, strich mir über den Kopf, war einfach da, flüsterte meinen Namen, erzählte von Jakob und Nils, anscheinend wirres Zeug.

Manchmal war auch der Arzt wieder da, den der Kleine komischerweise mit du anredete…

Ich wollte ihn dann nach Jakob fragen, aber sprechen konnte ich erst viel später.

Dann, irgendwann zwischen Schlaf und Wachen, wurde ein Bett neben das meine geschoben.

Jakob!

Dick verbunden sein Kopf, ein Bein in Gips.

Er war besinnungslos, sah schlecht aus.

Langsam erholte ich mich, wurde irgendwann von der Polizei vernommen.

Der Lenker war angesägt worden, aber sie hatten keine Spur vom Täter.

Das muss beim Dombesuch gewesen sein.

Nachdem ich von dem Kleinen (der übrigens genauso heißt, wie ich) erfahren hatte, dass der Krach, der mich aus dem Koma geholt hatte, von dem Freund von Jakobs Mutter verursacht wurde, als er gerade Jakob den Monitor auf den Kopf krachen ließ, konnte ich nichts mehr essen oder trinken.

Ich wartete nur darauf, dass mein Jakob wieder aus der Besinnungslosigkeit aufwachte.

Und als er dann, endlich, die Augen aufmachte, konnte ich nur noch sagen:

„Na Jakob? Auch wieder unter den Lebenden?“

Jakob

Über diesen Glückstaumel, dass ich meinen Nils wiederhatte, vergaß ich nicht, ihm von Jürgen zu erzählen, und was er über das Moped gesagt hatte.

Die Polizei fand das zwar interessant, hatte aber keinen Beweis.

Die Frau, die mich zur Welt gebracht hat (das Wort Mama für sie ist von da an nie mehr über meine Lippen gekommen) konnte sich natürlich „gar nicht erinnern“.

So konnte der Kerl, den ich wohl nicht zu Unrecht als Arschloch bezeichnet habe, nicht belangt werden.

Als ich das Nils II, der immer wieder zu uns kam, erzählte, meinte er nur: „Wartet s ab!“

Mehr war aus ihm nicht herauszukriegen.

Nach drei Wochen war ich wieder so weit hergestellt, das ich vor Gericht gegen Jürgen aussagen konnte.

Die Anklage gegen beide wurde erhoben aufgrund der Aussage des Kleinen.

Jürgen stritt das „Geständnis“ ab, und ich musste miterleben, wie er nach meiner Vernehmung da auf der Anklagebank (scheußliches Klischee, ich weiß!) triumphierte! Aussage gegen Aussage.

Der nächste Zeuge wurde aufgerufen.

Nils, der Recke!

Er konnte den Ausspruch Jürgens bestätigen. Er hatte vor der Tür Stellung bezogen und alles mit angehört.

Jürgen und sein Anwalt versuchten, ihn durch herrisches Auftreten zu verunsichern.

Mit seinem einen Auge habe er ja gar nicht alles mitbekommen können, von den bandagierten Ohren ganz zu schweigen.

Er drehte sich zu Jürgen hin und sagte mit blitzenden Augen: „Wissen Sie, mir ist jede Schwuchtel tausendmal lieber, als so ein Riesenarschloch wie Sie!“

Der Richter verkniff sich ein Grinsen und fragte Nils, was er meine und wie er darauf komme.

Nils berichtete von unserer Schreierei, und das gab den Ausschlag.

Jürgen hatte nämlich, als er sich zur Sache äußerte, den Streit eingeräumt und ihn auch teilweise im Wortlaut wiedergegeben.

Nach den Plädoyers hatte erst er sein letztes Wort: „Es tut mir Leid, dass ich keine ganze Arbeit geleistet habe! Das wären zwei abartige Schwuchteln weniger auf der Welt gewesen!“

Und so wurde er verknackt.

Das Schwurgericht erkannte für Recht, er sei folgender Taten schuldig:

Mordversuch,

vorsätzliche gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen,

schwere Sachbeschädigung,

gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr.

Das Urteil:

Lebenslange Haftstrafe!

Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt; er kommt NIE wieder raus!

Meine Erzeugerin bekam wegen Beihilfe acht Jahre.

Ich will sie nie wieder sehen!

Und Nils II, der Kleine mit dem Riesenherzen?

Der ist nun in unserem eingeschworenen Team der Dritte.

Wir LIEBEN ihn!

Rein platonisch, versteht sich.

Wir sind nämlich nicht pervers.

Wir sind schwul.

Einfach nur schwul.

Epilog

„Aber eins muss ich noch wissen, Nils!“ „Ja, Jakob?“ „Wieso verdankst du mir das Leben? Wenn ich diese „Ampel“ ignoriert hätte…“ „Siehst du, als du mich wegen des roten Lichtes angesprochen und ich nichts verstanden hatte, habe ich doch meinen Kopf zu dir gedreht. Ich merkte gerade noch, wie ein Teil des Geländers, das gerade repariert wurde, haarscharf hinter meinem Kopf vorbeizischte. Hätte ich mich nicht zu dir gedreht, hätte mich dieses Teil glatt geköpft!“ Ende

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