zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

So nah und doch so fern

Teil 6 - Alternatives Ende

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Vorwort

Nun ist es also endlich soweit: „SNUDSF“ geht zu Ende. Wie Ihr aber sicherlich schon bemerkt habt, sind es ZWEI Teile, die gleichzeitig veröffentlicht werden: Teil 5 (Ende) und Teil 6 (alternatives Ende). Dabei ist Teil 6 keine Fortsetzung von Teil 5, sondern schließt ebenfalls direkt an Teil 4 an und zeigt eine andere Möglichkeit, wie sich die Dinge entwickeln könnten.

Das kommt daher, dass ich lange, LANGE mit mir gerungen habe, ob ich für diese Geschichte überhaupt ein Happy End haben will oder nicht. Dass es nun zwei Enden gibt, liegt nun einzig und allein daran, dass ich mich nicht entscheiden konnte. Daher habe ich irgendwann beschlossen, zwei Versionen zu veröffentlichen. Das Produkt seht Ihr nun auf euren Bildschirmen.

Das ist natürlich auch der Grund dafür, dass es so lange gedauert hat, bis ich die letzten Teile veröffentlichen konnte. Daher erst einmal danke für eure Geduld. Aber ich möchte mich auch ganz besonders bei allen bedanken, die ein Feedback zu den ersten vier Teilen geschrieben haben, und bei denen, die in der Zwischenzeit gefragt haben, wann es denn weitergeht. Eure Rückmeldungen haben mir den Ansporn gegeben, weiterzuschreiben!

Und nachdem ich es bei den letzten Teilen konsequenterweise immer vergessen habe: ein GANZ DICKES DANKESCHÖN an alle meine KORREKTURLESER!!! Eure Unterstützung war Gold wert! :-)

Genug der Worte. Ich wünsche Euch nun viel Spaß bei den letzten beiden Teilen mit Tim, Lukas, Jannis, Kevin und Tine. Vielleicht lasst Ihr mich ja wissen, welcher euch besser gefallen hat? ;-)

Liebe Grüße,

Euer readmylips

 

„Wake up in the morning
Stumble on my life
Can’t get no love without sacrifice
If anything should happen
I guess I wish you well
A little bit of heaven
But a little bit of hell.”

Mika: „Happy Ending“ *


Es ist doch zum Kotzen!

Wütend und geschockt flüchte ich die Treppe hinab in den Vorflur und ziehe mir hastig meine Jacke und Schuhe wieder an. Dabei weiß ich nicht einmal, ob ich mehr wütend oder geschockt bin. Die Gedanken schießen förmlich durch meinen Kopf. Was soll so ein Scheiß?!

Als ich gerade aus der Haustür stürme, taucht Jannis hinter mir auf. „Warte!“, ruft er, aber ich denke nicht im Traum daran stehenzubleiben. Er läuft mir nach und fängt mich an der Hecke ab, die das Grundstück von Kevins Haus umschließt.

„Tim! Warte bitte!“, wiederholt er und hält mich am Arm fest.

„Lass mich los!“, zische ich und schüttele ihn ab.

„Ich will dir doch nur erklären-“ Doch er kommt nicht weiter, denn mir platzt der Kragen.

„Deine Erklärungen interessieren mich einen Scheiß!“, schnauze ich ihn an und stapfe wütend weiter.

„Aber …“, setzt er an.

Zornig fahre ich herum. Jannis ist so überrascht davon, dass er mich fast umrennt.

„Ist dir eigentlich klar, was du Lukas damit antust?!“, herrsche ich ihn an. „Er liebt dich!! Mein Gott, ist dir das überhaupt bewusst??? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie glücklich er war, als ihr zusammengekommen seid? Ist dir jemals das Leuchten in seinen Augen aufgefallen, wenn er dich in der Schule gesehen hat?!“

Ich bin wortwörtlich auf 180. Aber das muss jetzt raus! Jannis starrt derweil niedergeschlagen auf den Gehweg.

„Weißt du“, fahre ich wütend fort, „ich wünsche mir nichts sehnlicher, als einmal das zu haben, was ihr habt. Und was machst du Idiot? Du vögelst mit Kevin rum!“

„Wir haben nicht-“, setzt er an.

„Ihr hättet aber!“, unterbreche ich ihn erneut. „Und ich dachte, dass sein Ruf inzwischen auch bis zu dir durchgedrungen wäre!“

Jannis schweigt betreten, während ich wie ein Tiger im Käfig auf und ab laufe, um meine Wut unter Kontrolle zu halten, was mir allerdings nur bedingt gelingt.

„Und das Schlimmste ist, dass ihr mich da mit reingezogen habt!“

„Glaub mir, ich wusste das nicht, das war Kevin …“

„Ach halt bloß den Rand!“ Normalerweise wäre das nicht meine übliche Art mit jemandem umzugehen. Aber das ist auch keine normale Situation.

„Du … du verrätst ihm doch nichts, oder …?“ Er sieht mich ängstlich an.

Ich möchte ihm am liebsten sofort eine scheuern. Nein, zwei: eine links und eine rechts. Verdient hätte er es ja. Aber mir fällt auf, dass ich leider keine Ahnung habe, wie ich mich nun gegenüber Lukas verhalten soll.

„Ich gebe dir nur einen Tipp“, fauche ich ihn an, um von meiner Unsicherheit abzulenken, „versuch’s mal mit Ehrlichkeit.“

Damit drehe ich mich abrupt um und sehe zu, dass ich hier wegkomme. Jannis folgt mir nicht mehr.

Ich weiß schon, warum ich Diskos wie das Bizarre hasse. Da ist noch nie etwas Gutes bei rausgekommen.


Montag.

Wieder einmal mache ich mich übermüdet auf den Weg in die Schule. Übermüdet deshalb, weil ich letzte Nacht, anstatt zu schlafen, mich noch lange hin und her gewälzt und gegrübelt habe. Ich habe Lukas nicht angerufen und ihm auch keine E-Mail geschickt. Ich hätte ja eh nicht gewusst, was ich ihm hätte sagen sollen – oder wie ich es hätte sagen sollen. Außerdem wäre ich mir wie eine blöde Petze vorgekommen.

Ich frage mich aber, wie er reagiert hätte. Hätte er mir geglaubt? Gerade jetzt, wo er weiß, was genau in den letzten Wochen mit mir los war … Vielleicht hätte er mir vorgeworfen, dass ich ihn und Jannis aus Eifersucht auseinanderbringen will. Aber hätte er mir das wirklich zugetraut?

Ich bin mir ja nicht mal selber sicher, welche meine wahren Motive gewesen wären. Das war auch einer der Punkte, über die ich letzte Nacht so lange nachgedacht habe. Ganz direkt gesagt, finde ich Jannis’ Verhalten einfach nur völlig daneben, indiskutabel, unentschuldbar. Aber ich kenne auch nicht die Hintergründe. Gab’s vielleicht Zoff zwischen den beiden? Immerhin schien am Samstagabend noch alles in bester Ordnung. Wenn, dann müssen sie sich gestritten haben, nachdem ich aus dem Bizarre abgehauen bin.

Aber hätte Lukas mir das nicht erzählt? Er hätte doch anrufen können, wenn ihn etwas belastet. Immerhin sind wir doch Freunde, oder etwa nicht? Oder sind wir nicht mehr so enge Freunde, seitdem er weiß, was ich für ihn empfinde?

Ja, ich empfinde immer noch sehr viel für ihn. Das hat mir der Abend im Bizarre deutlich gezeigt.

Vielleicht würde er deshalb nicht mit mir reden wollen? Je mehr ich letzte Nacht darüber nachdachte, desto mehr musste ich einsehen, wie kompliziert diese ganze Geschichte inzwischen geworden ist. Ich liebe Lukas. Lukas liebt Jannis. Jannis liebt Lukas – dachte ich zumindest. Und dann macht er mit Kevin rum. Ich ertappe sie. Irgendwie verrückt, nicht wahr?

Apropos Kevin. Was der damit zu tun hatte, habe ich auch noch nicht so ganz kapiert. Er hatte mich ja angerufen, weil er mir etwas zeigen wollte. Aber was? Dass er Jannis rumgekriegt hat? Er kannte doch die beiden, er hatte sie ja ein paar Mal im Bizarre gesehen. Er wusste doch, dass sie zusammen sind! Umso schlimmer finde ich, dass er sich in ihre Beziehung einmischen musste! Und dass er mich da mit reingezogen hat. So ein Arsch!

Vor lauter Wut und Grübelei bin ich dann kaum zum Schlafen gekommen. Und während ich nun zur Schule radele, wird mir dieses Gefühlschaos, das in mir herrscht, von Meter zu Meter bewusster. Verdammt! Was soll ich bloß tun? Wie soll ich mich verhalten?

Pünktlich mit dem Klingeln erreiche ich unseren Klassenraum. Schmidt ist wohl verspätet, aber Lukas sitzt schon an seinem Platz und sieht … auweia … ziemlich beschissen aus: blass, kleine Augen.

„Hey …“, begrüße ich ihn vorsichtig.

„Hallo“, erwidert er monoton und tut so, als wäre er in „Le Petit Prince“ vertieft, welches wir gerade im Unterricht lesen.

Stumm setze ich mich auf meinen Platz und überlege, was ich sagen soll.

„Ähm … alles okay?“, setze ich zaghaft an.

„Sieht es so aus?“, faucht er mich vorwurfsvoll an. „Außerdem müsstest du doch am besten wissen, dass nicht alles okay ist!“,

Ich verstehe. Damit hat sich meine Frage, ob Jannis es ihm erzählt hat, wohl erübrigt.

Schmidt kommt rein und eröffnet den Unterricht. Ohne weiter auf Lukas’ Verhalten einzugehen, nehme ich meine Sachen raus und versuche, dem Unterricht zu folgen.


In der Pause verschwindet Lukas ohne ein Wort. Ich suche den Schulhof nach ihm ab und entdecke ihn schließlich in einer entlegenen Ecke mit Jannis. Die beiden stehen da ganz allein und scheinen in eine größere Debatte verstrickt zu sein. Ich verstecke mich hinter ein paar Büschen und beobachte. Leider kann ich nicht hören, was sie sagen.

Lukas’ Gestik und Mimik verraten mir aber, dass er wohl ziemlich sauer zu sein scheint. Mit wütendem Gesicht und wild fuchtelnden Armen läuft er vor Jannis auf und ab und redet auf ihn ein. Jannis dagegen scheint ihn beschwichtigen zu wollen. Er sieht traurig aus und versucht, Lukas seine Hand auf den Arm zu legen, welche dieser aber rigoros abschüttelt. Lukas scheint im Moment nicht sonderlich scharf auf Körperkontakt mit Jannis zu sein.

So diskutieren die beiden hin und her. Jannis ist eindeutig in der Defensive, weil Lukas ihn immer wieder anfährt. Nach ein paar Minuten baut sich Lukas schließlich drohend vor Jannis auf, zeigt mit dem Zeigefinger auf ihn und redet auf ihn ein. Jannis scheint dabei in sich zusammenzusacken, er schaut traurig auf den Boden und nickt nur stumm, als Lukas mit seiner Tirade fertig ist.

Dann dreht sich Lukas abrupt um und läuft direkt auf mein Versteck zu. Jannis bleibt mit hängenden Schultern zurück.

Ich verkrieche mich in der Hoffnung, dass er mich nicht entdeckt, noch ein bisschen tiefer im Gebüsch. Schnellen Schrittes zieht er an mir vorbei und wischt sich dabei über die Augen und verschwindet in Richtung der Schule. Er scheint mich nicht gesehen zu haben.

Kurz darauf verzieht sich auch Jannis, aber in die andere Richtung. Ich warte, bis er außer Sichtweite ist, und verlasse dann mein Versteck.

Mir ist schlecht. Einerseits, weil ich wahrscheinlich gerade beobachten durfte, wie Lukas Jannis in den Wind schießt. Anderseits, weil ich mir wie ein dreckiger Spanner und Verräter vorkomme, der deren Geheimnisse ausspioniert hat.

In dem Moment klingelt es zur dritten Stunde. Ich mische mich unter die Schüler, die mehr oder weniger glücklich in die Schule strömen, und gehe zu unserem Klassenraum. Wir haben jetzt Mathe, aber der Platz neben mir bleibt frei. Lukas’ Sachen liegen zwar noch genauso da, wie er sie zu Beginn der Pause zurückgelassen hat, aber er selber taucht nicht auf.

Tine bemerkt das ebenfalls und schaut mich verwundert an. Ich zeige ihr mit einem Schulterzucken, dass ich auch nicht weiß, wo er steckt.

„Weiß jemand, wo Lukas ist?“, fragt Frau Sullmann, unsere Mathelehrerin, mit einem verwunderten Blick auf seinen Platz.

Allgemeines Schweigen.

„Soll ich ihn mal suchen gehen?“, frage ich vorsichtig.

„Ja, mach das“, erwidert sie. „Alle anderen öffnen bitte ihr Buch. Zu den Hausaufgaben zu heute …“

Den Rest bekomme ich nicht mit, weil ich die Klassentür hinter mir schließe.

Ich finde es immer eigenartig, während des Unterrichts durch die Schule zu laufen. Es ist so still … Normalerweise ist auf den Gängen immer der Teufel los, aber jetzt ist es ruhig. Irgendwie zu ruhig für eine Schule. Während ich durch die Gänge laufe und nach Lukas suche, dringen aus den Klassenräumen nur die Stimmen der Lehrer und das tackernde Geräusch von Kreide, die etwas auf die Tafel schreibt.

Wo soll ich ihn nur suchen?

Ich beginne mit den Toiletten auf unserer Etage. Sie sind alle leer. Ich überprüfe auch die Kabinen, aber die Türen sind alle offen und die Kabinen leer.

Danach gehe ich runter in den ersten Stock und schaue in den Toiletten nach. Aber auch hier ist er nicht zu finden. Langsam werde ich nervös. Ob er das Schulgelände verlassen hat?

Im Erdgeschoss gehe ich als Erstes zum Fahrradunterstand. Sein Rad ist noch da. Also ist er zumindest nicht weggefahren.

Ich überlege, wo ich mich in einer solchen Situation verstecken würde. Natürlich in einer Toilette … aber in welcher?

In einer, zu der ich möglichst schnell hinkommen kann, ohne dass mich allzu viele Leute sehen.

Ich gehe schnell zu der Toilette, die demjenigen Eingang am nächsten liegt, durch den er gekommen sein müsste, nachdem der Jannis draußen zurückgelassen hat. Als ich die Tür öffne, schlagen mir gleich zwei Dinge entgegen: der übliche Gestank, nämlich eine Mischung aus Putzmitteln und Urin, und ein leises Schluchzen.

„Lukas?“, frage ich vorsichtig.

Anstatt einer Antwort höre ich nur Schluchzen. Es kommt aus der letzten Kabine, deren Tür geschlossen ist.

„Lukas, bist du das?“, frage ich noch einmal.

„Was willst du?“, schluchzt er.

„Ich … Du bist nicht in der Klasse erschienen … da habe ich mir Sorgen gemacht und dich gesucht …“

„Nein, hast du nicht“, erwidert er hinter der geschlossenen Kabinentür. „Die Sullmann hat dich losgeschickt.“

Was soll das denn jetzt bitte? „Na komm, mach die Tür auf.“

„Nein“, kommt es trotzig schluchzend zurück.

„Was ist in der Pause denn passiert?“

Er lacht bitter. „Das hast du doch gesehen. Meinst du etwa, ich hätte dich hinter den Büschen nicht entdeckt?!“

„Meine Güte!“, stöhne ich. „Du warst halt so schnell weg und ich habe dich gesucht.“

„Ich habe ihm jedenfalls gesagt“, erklärt er schluchzend und fängt wieder an zu weinen, „dass er sich zum Teufel scheren soll …“

Lukas scheint in der Kabine gegen die Tür gelehnt zu sein, denn ich spüre, wie sie bei seinen Schluchzern vibriert.

Oh Mann, so geht das doch nicht.

Kurz entschlossen gehe ich in die Nachbarkabine. Zwischen der Kabinenwand und der Decke sind etwa fünfzig Zentimeter Platz … Das müsste passen. Ich klappe den Deckel der Toilette runter und stelle mich drauf. Ohne weiter darüber nachzudenken, halte ich mich am oberen Rand der Kabinenwand fest und schwinge mein rechtes Bein drüber. Während ich mich oben auf der Wand festhalte, die unter meinem Gewicht mehr knackt, als mir lieb ist, fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, wie ich auf der anderen Seite wieder runterkommen soll.

Lukas schaut mich mit verheultem Gesicht, aber verwundert an. Immerhin hat er erstmal mit dem Weinen aufgehört.

Ich spüre, wie mein Körper auf der schmalen Wand liegt, was langsam anfängt, richtig wehzutun.

„Scheiße …“, stöhne ich. „Wie soll ich denn hier wieder runterkommen …?“

„Du musst erst das andere Bein rüberholen … dann kannst du dich an der Wand runterlassen, bis du mit den Füßen auf der Toilette stehen kannst“, versucht Lukas schniefend, mir zu helfen.

„Hmpf … du hast gut reden …“, stöhne ich und versuche, seine Tipps in die Wirklichkeit umzusetzen.

Mit Lukas’ Hilfe, viel Gepolter, Gefluche, Gestöhne und reichlich Schmerzen habe ich schließlich wieder festen Boden unter den Füßen und bin mir selber nicht mal ganz sicher, wie ich das hingekriegt habe.

„Ich werde nie kapieren, wie ein einzelner Mensch so unsportlich sein kann“, meint Lukas mit dem Anflug eines Lächelns.

„Ganz einfach“, erwidere ich trocken und wische den Staub, der oben auf der Trennwand lag, von meinen Klamotten, „du bist ja auch sportlich für zwei. Also hast du irgendwie meinen Anteil bekommen.“

Aber Lukas geht nicht weiter darauf ein. Stattdessen scheint er gedanklich schon wieder ganz woanders zu sein, lehnt wieder an der Klotür und starrt an die Decke.

„Jannis hat mich gestern Abend angerufen und erzählt, was passiert ist ...“ Seine Augen werden wieder feucht. „Ich frage mich, was wohl noch alles passiert wäre, wenn du nicht dazwischengefunkt hättest …“

„Was heißt ‚dazwischengefunkt’? Kevin hat mir nur gesagt, dass er mir was zeigen wollte. Mehr wusste ich doch auch nicht. Was meinst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich die Zwei gesehen habe?“

„Bestimmt nicht so beschissen, wie ich mich jetzt fühle ...“ Tränen kullern wieder aus seinen Augen und sein Schluchzen wird heftiger.

„Komm her“, sage ich einfach und ziehe ihn in meine Arme. Es lässt es geschehen und heult sich an meiner Schulter aus. Ich spüre, wie sein Körper in meiner Umarmung zuckt.

Irgendwie wirkt diese ganze Szene ziemlich surreal auf mich. Da stehe ich in einer ziemlich unappetitlich aussehenden Toilette, halte meinen besten Freund im Arm, der sich gerade von seinem Freund getrennt hat. Wenn das Ganze nicht so tragisch wäre, würde ich es wohl komisch finden.

Nach ein paar Minuten hat sich Lukas wieder beruhigt.

„Scheiße“, nuschelt er und wischt sich mit einem Taschentuch Tränen und Rotz aus dem Gesicht. „So kann ich doch nicht in der Klasse auftauchen …!“

„Dann fahr doch nach Hause. Ich hole deine Sachen aus dem Klassenraum und sage der Sullmann, dass dir schlecht ist.“

Er lacht bitter. „Das ist ja noch nicht einmal gelogen.“ Dann nickt er. „Okay …“

Er dreht sich um und schließt die Toilettentür auf. „Ich warte dann am Fahrradunterstand auf dich.“

Ich nicke und mache mich auf den Weg zurück zum Klassenraum. Wieder laufe ich durch leere und gespenstisch ruhige Schulflure. Dafür kann ich dort in Ruhe nachdenken. Ich frage mich, ob ich irgendetwas tun kann, damit es Lukas besser geht? Wahrscheinlich ist es schon gut, dass ich mich wenigstens ein bisschen um ihn kümmern konnte. Und ich hätte nie gedacht, dass ich einmal über eine Klowand klettern müsste – und dass ich das auch noch schaffen würde.

Aber wie geht es jetzt mit Lukas weiter? Ich beschließe, den Rest des Tages zu schwänzen und mich um ihn zu kümmern.

Als ich wieder in unserem Klassenraum ankomme, schlägt mir die Monotonie des Mathematikunterrichts mit voller Wucht entgegen.

„… bei dieser Ableitung wird dann aus x² in der nächsten-“ Dann erst bemerkt Frau Sullmann, dass ich wieder zurück bin. „Und? Hast du ihn gefunden?“

„Ja, er war auf Toilette. Der muss irgendwas Falsches gegessen haben, dem war speiübel und er hat-“

„Danke, mehr Details brauche ich nicht“, unterbricht sie mich und sieht etwas angewidert aus. „Geht er nach Hause?“

„Ja, ich wollte nur unsere Sachen holen und ihn dann begleiten.“

Sie nickt nur und macht eine Notiz im Klassenbuch. Alle anderen, allen voran Tine, schauen mich gespannt an. Aber anstatt ihre fragenden Blicke auch nur im Geringsten mit weiteren Erklärungen zu würdigen, packe ich schnell unsere Sachen ein und verschwinde.

Unten am Fahrradunterstand sitzt Lukas schon auf seinem Rad und wartet auf mich, den Blick gen Boden gerichtet. Als er mich kommen hört, sieht er mich verwundert an. „Warum hast du denn deine Sachen auch mitgebracht?“

Ich reiche ihm seinen Rucksack. „Ich war mir nicht sicher, ob ich dich in diesem Zustand alleine lassen sollte, und dachte mir, dass ich besser mitkomme“, erwidere ich vorsichtig.

„Danke, aber das ist nicht nötig. Ich möchte jetzt einfach alleine sein, okay?“ Er schnallt sich den Rucksack um und fährt los, ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Nach ein paar Sekunden ist er aus meinem Blickfeld verschwunden.

Unschlüssig bleibe ich alleine auf dem großen, verlassenen Schulhof zurück. Da ich hier aber wohl nicht mehr gebraucht werde, drehe ich mich um und gehe wieder zurück in die Klasse. Vielleicht hilft mir die Mathematik dabei, mich von dieser Sache abzulenken.


Bevor ich nach der Schule mein Fahrrad erreichen kann, fängt Tine mich ab.

„Nun sag mal, was war denn mit Lukas los?“, fragt sie mich und sieht mich eindringlich an. Ihr fester Blick verrät mir, dass sie es mir nicht abkaufen würde, wenn ich ihr erzählen würde, dass ihm wirklich nur schlecht war.

„Naja“, beginne ich daher zögerlich, „er hat sich wohl mit Jannis gestritten.“

„So etwas in der Art hatte ich befürchtet“, meint sie.

„Und das hat ihn wohl ziemlich mitgenommen“, fahre ich fort.

„Und wie heftig war der Streit?“, fragt sie weiter.

„Auf einer Skala von 1 bis 10 würde ich auf 16 tippen“, erwidere ich trocken.

„Au weia. Und nun?“

„Es scheint so, als hätte Lukas sich von Jannis getrennt.“ Ich will ihr noch nicht alle Details verraten, weil ich ja nicht weiß, ob Lukas das so toll finden würde.

„Das würde auch erklären, warum Jannis heute so käsig aussah“, schlussfolgert sie. Dann sieht sie mich prüfend an. „Du weißt noch mehr, aber du willst es noch nicht erzählen, stimmt’s?“

Manchmal glaube ich, sie kann in mir lesen wie in einem offenen Buch. Ich nicke.

„Und was hast du jetzt vor?“, fragt sie weiter.

„Wenn ich das man selber wüsste“, antworte ich schulterzuckend. „Ich denke nicht, dass ich jetzt einfach so bei ihm auftauchen sollte. Er hat vorhin gesagt, dass er lieber alleine sein will. Ich rufe ihn aber nachher mal an.“

Damit scheint sie sich zufriedenzugeben. Vorerst. Dann machen wir uns auf den Heimweg.


Es dauert letzten Endes fast eine Woche, bis Lukas wieder meine Nähe sucht. Die ganze Zeit in der Schule war er ziemlich kurz angebunden, auch auf dem Schulhof hat er nur das Nötigste gesagt. Die anderen Jungs haben zwar gemerkt, dass er irgendwie stiller war, aber ihn direkt zu fragen, was los ist, hat sich auch keiner getraut. Ich übrigens auch nicht, denn als ich ihn einmal morgens fragte, wie es ihm ginge, warf er mir nur einen strengen Blick zu, woraufhin ich von weiteren Fragen abgesehen habe.

Jannis war zwar in der Schule, hielt aber immer einen gewissen Sicherheitsabstand ein. Nach außen hin sah es so aus, als ob es sich einfach nicht ergeben hatte, dass er und Lukas direkt aufeinandertreffen. Aber seine heimlichen Blicke in Lukas’ Richtung, die dieser allerdings konsequent ignorierte, verrieten, dass er sehr unter der Situation zu leiden scheint.

Und so wurde es wieder Samstag. Es sind noch zwei Monate bis zum Finale von „Jugend musiziert“, aber dennoch sitze ich vorm Klavier und übe, als es plötzlich an der Tür klopft.

Lukas schiebt seinen Kopf herein und fragt: „Hey, störe ich?“

„Nein, komm rein“, erwidere ich überrascht und stoppe die CD mit der Orchesterbegleitung.

Er wirft seine Jacke auf mein Bett und setzt sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen, auf meinen Lieblingsplatz auf der Fensterbank und schaut nach draußen. Ich bleibe derweil auf der Klavierbank sitzen und beobachte ihn.

Nach einer Weile bricht er das Schweigen. „So sieht es also aus, wenn du hier sitzt und nach draußen starrst. Irgendwie hatte ich mir das beeindruckender vorgestellt.“

„Das liegt daran, dass die entsprechende Musik fehlt.“

„Wahrscheinlich“, erwidert er gedankenverloren. Wieder wird es für eine Weile still.

Schließlich bin ich derjenige, der das Wort ergreift. „Du bist doch sicher nicht hier, um die Aussicht zu begutachten, oder?“, frage ich mit einem leicht sarkastischen Tonfall.

Anstatt auf meine Bemerkung einzugehen, schweigt er noch ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. Schließlich seufzt er. „Weißt du, ich habe ein bisschen nachgedacht in den letzten Tagen. Über Jannis größtenteils, aber auch über dich … und mich … und Kevin … Irgendwie macht das alles noch keinen Sinn.“

Zum ersten Mal, seitdem er dort sitzt, schaut er mich an, und ich sehe etwas Vorwurfsvolles, aber auch Zorn und Angst, in seinem Blick. „Lass mich dir mal erklären, wie das alles für mich aussieht“, fährt er fort, und seine Stimme fängt an, leicht zu beben. „Erst erwischt du die beiden, ganz zufällig natürlich, wie sie knutschend und fummelnd in Kevins Bett liegen und verlässt fluchtartig das Haus, stauchst aber draußen noch Jannis zusammen, der mit dir reden will. Dieser ruft daraufhin abends bei mir an und gesteht die ganze Scheiße. Ich falle aus allen Wolken. Am nächsten Tag in der Schule knöpfe ich ihn mir vor, aber der kann mir keine vernünftige Erklärung bieten für das, was da passiert ist. Dafür hockst du im Gebüsch und hast offenbar alles beobachtet. Dann schließlich holst du mich aus der Toilette und bietest mir an, mich nach Hause zu bringen.“

Er hält kurz in seinem Monolog inne und schaut mich direkt an. Seine Augen funkeln angriffslustig. „Mir ist aber immer noch nicht ganz klar, welche Rolle du in diesem Stück spielst. Daher frage ich dich jetzt nur einmal: Hast du Kevin auf Jannis angesetzt, damit er mich betrügt und du dich an mich ranmachen kannst?“

Ich bin so platt, dass ich den Mund nicht mehr zubekomme, während die Gedanken durch meinen Kopf rasen. So viele Gefühle breiten sich gleichzeitig in mir aus, dass ich sie kaum sortieren kann. Ich bin furchtbar wütend und enttäuscht, dass er mir so etwas überhaupt zutraut. Da darf er sich erst bei mir ausheulen, dann helfe ich ihm noch dabei, mit diesem Idioten überhaupt zusammenzukommen, und das ist nun der Dank dafür?!

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?!“, zische ich ihn an. „Du traust mir allen Ernstes zu, dass ich so eine Nummer mit euch abziehe?! Zugegeben, dass ich in dich verknallt war, dürften inzwischen alle mitbekommen haben. Aber dass du mich für einen solchen Psychopaten hältst, das geht ein bisschen zu weit!“

Lukas schaut mir direkt in die Augen, scheint meinen Blick und meine Gedanken zu lesen. „Okay, ich glaube dir“, sagt er schließlich, und der Zorn und die Angst verschwinden aus seinem Gedicht.

„Na wunderbar“, erwidere ich lakonisch.

„Entschuldige bitte, aber das war einer der Gedanken, der mich in den letzten Tagen verfolgt hat“, sagt er niedergeschlagen und blickt nach draußen.

Um die Situation zu entkrampfen, erlaube ich mir eine letzte bissige Bemerkung. „Überlass das Denken in Zukunft lieber den Pferden. Die haben größere Köpfe.“

Wie neunzig Prozent meiner Witze schießt auch dieser ins Leere. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Lukas ihn überhaupt gehört hat, so gedankenverloren, wie er immer noch nach draußen stiert.

„Hör mal, ich kann verstehen, wie sehr dich die ganze Situation belastet“, setze ich zu einer Erklärung an. „Aber glaube mir, ich verstehe sie genauso wenig wie du.“

Dann erzähle ich ihm, dass ich nur kurz mit Kevin am letzten Samstag im Bizarre gesprochen habe und dass er mich am Sonntag angerufen hat, weil er mir etwas zeigen wollte. Dass ich mehr als geschockt war, ihn dort mit Jannis in doch recht eindeutigen Posen anzutreffen. Und dass ich ihm wirklich nur als Freund helfen wollte, als ich ihn in der Schule gesucht habe.

Nachdem ich meine Erklärungen beendet habe, sitzt Lukas nach wie vor regungslos auf der Fensterbank und schaut nach draußen. Nach einer Weile des Schweigens sagt er leise: „Spiel mal was … ist so still hier …“

Wenn er es so wünscht. Ich rutsche auf der Klavierbank herum und spiele das Lied, welches mir als Erstes in den Sinn kommt: Chopins Prélude in e-Moll. Es ist ziemlich tragend und traurig, und je mehr Takte ich spiele, desto weniger bin ich mir sicher, ob das eine gute Wahl war. Aber kurz bevor das Lied zu Ende ist, steht Lukas auf, setzt sich neben mich auf die Klavierbank und beobachtet, wie meine Finger über die schwarzen und weißen Tasten fliegen. Ich muss mich dabei arg konzentrieren. Ich kenne das Stück zwar in- und auswendig, aber seine Nähe und sein Duft benebeln meine Sinne. Ich frage mich, ob ich dieses Gefühl jemals verlieren werde, und hoffe tief in mir drin, dass das niemals passieren wird.

Nachdem endlich der letzte Akkord ausgeklungen ist, flüstert Lukas leise: „Das war schön … spiel’s noch einmal, bitte …“

Ich muss ein wenig grinsen. „‚Spiel’s noch einmal, Sam’“, sage ich und imitiere eine dahinschmelzende Frauenstimme, „wie in dem Film ‚Casablanca’“.

„Genau … ‚Ich schau dir in die Augen, Kleines’“, verstellt er seine Stimme und grinst schief.

‚Besser nicht’, denke ich und fange wieder an zu spielen. Plötzlich legt Lukas seinen Kopf auf meine Schulter, was mir natürlich wieder eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagt. Wenn meine Sinne eben benebelt waren, als er sich so nah neben mich setzte, dann sind sie jetzt komplett umnachtet, was auch prompt dazu führt, dass ich mich ein paar Mal verspiele. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Lukas das überhaupt bemerkt hat.

Als ich wieder fertig bin, starrt Lukas nur ins Leere. „Warum nur?“, flüstert er nach einer Weile. „Warum tut er so was nur?“

Er schnieft.

„Bin ich ihm nicht mehr gut genug? Oder zu langweilig?“, fährt er mit brüchiger Stimme fort. Dann erhebt er sich schnell, geht zum Fenster und wischt sich über die Augen.

„Was soll das?“, schluchzt er, bevor sich die Traurigkeit ihren Weg bahnt und er richtig anfängt zu weinen.

Auch ich stehe auf und stelle mich neben ihn. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt irgendetwas tun sollte, da ich aber nicht weiß, was, lege ich einfach nur meine Hand auf seine Schulter und sage leise: „Hey …“

Er greift in seine Hosentasche und holt ein Taschentuch hervor, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und putzt sich die Nase. Dann atmet er tief durch. „Geht schon wieder …“, schnieft er, was ich ihm aber nicht so wirklich abkaufe.

„Ich habe mich fast die ganze Woche zusammengerissen. In der Schule. Zuhause. Entschuldige, aber da hat sich ein bisschen Druck aufgebaut.“

„Macht nix“, erwidere ich.

Er scheint sich aber wirklich wieder unter Kontrolle zu haben. Sein Atem wird ruhiger und seine Stimme fester.

„Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll“, fährt er schließlich fort. „Einerseits liebe ich ihn immer noch, und es waren ein paar wunderschöne Wochen, aber andererseits hat er versucht mich zu betrügen … und das tut ganz schön weh.“

Er macht eine kurze Pause.

„Er hat sich tausendmal entschuldigt und gesagt, dass es ihm leidtäte … dass er mich vermisst und auch liebt und so … aber ich kann nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert! Denn was, wenn er es noch mal tut?!“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich schulterzuckend.

Er seufzt. „Ich leider auch nicht …“

Eine Weile stehen wir wieder schweigend nebeneinander und schauen aus dem Fenster. Dann fragt Lukas: „Hast du eigentlich gerade für dein Konzert geübt, bevor ich dich unterbrochen habe?“

„Ja.“

„Was dagegen, wenn ich dir ein bisschen dabei zuhöre und Gesellschaft leiste?“, fragt er fast ein wenig schüchtern.

„Nö“, erwidere ich. „Aber ich will mir vorher noch einen Tee holen. Auch einen?“

„Gerne.“

Ich gehe schnell in die Küche und setze Tee auf. Als ich mit den dampfenden Tassen zurückkomme, sitzt Lukas am Klavier und betrachtet fasziniert die Noten, die dort aufgeschlagen lagen.

„Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass diese lustigen schwarzen Punkte nur zufällig hingemalt sind“, grinst er.

Ich stelle die Tassen auf dem Schreibtisch ab. „Na komm, so kompliziert sind die nicht“, erwidere ich und setze mich wieder neben ihn. „Sieh mal, das ist ein C, diese Note da ein E und die ein G. Wenn du die zusammen spielst, bekommst du einen C-Dur-Dreiklang.“ Ich spiele ihm die Töne erst einzeln vor, dann als Dreiklang.

Lukas blickt auf die Tasten. „Sag mal … kannst du mir den Flohwalzer beibringen? Mich nervt, dass alle den spielen können – nur ich nicht.“

Entgeistert blicke ich ihn an. „Ist das etwa dein Ernst?“

Er lächelt verlegen und wird fast ein wenig rot um die Nase. „Naja … wenn’s dir nichts ausmacht …“

„Das Stück ist zwar keine große künstlerische Herausforderung“, näsele ich mit gespielter Arroganz, „aber wir können es gerne versuchen. Danach kommt Bach dran.“

„Das glaubst auch nur du“, lacht Lukas. „Also los!“

Ab da vergeht die Zeit wie im Flug. Ich zeige ihm, welche Tasten er wann und in welcher Reihenfolge drücken muss. Das hat gleich zwei Vorteile: Wir können ganz dicht beieinander auf der Bank sitzen und ich darf nebenbei noch seine Finger berühren, um sie auf die richtigen Tasten zu lenken. Irgendwann hat er sich gemerkt, wie er das Stück spielen muss, und ich begleite ihn in verschiedenen Variationen dazu. Nach einer Stunde hört sich der Flohwalzer sogar gar nicht mal so schlecht an. Vielleicht aber habe ich ihn auch nur zu oft gehört und mein Ohr damit dauerhaft geschädigt.

Als es Abend wird, wird Lukas wieder stiller.

„Weißt du, normalerweise hätte ich mich auf den Samstagabend gefreut … Ich hätte Jannis wiedergesehen, wir wären irgendwo hingegangen und-“, er hält kurz inne, „und naja … hätten halt einen schönen Abend zusammen gehabt.“

„Nun, wenn er dir so fehlt, dann musst du ihm eben vergeben. Und er scheint ja das Gleiche zu fühlen.“

Er lacht bitter. „Zumindest sollte ich ihn erstmal ein wenig schmoren lassen.“

Wieder herrscht kurzes Schweigen.

„Ich muss langsam gehen, das Abendessen ist bestimmt bald fertig.“ Er seufzt. „Das ist auch so ein Punkt. Seit einer Woche stieren mich zuhause alle so komisch an. Die haben garantiert gemerkt, dass da was mit mir nicht stimmte in den letzten Tagen, wissen aber nicht, was es ist. Die brennen geradezu darauf, dass ich es ihnen erzähle.“

„Ich kenne zwar deine Familie nicht, aber … warum tust du es dann nicht einfach?“

Er stutzt. „Hast du es denn deinen Eltern erzählt?“

Ich muss ein wenig grinsen, als ich an den Abend vor ein paar Wochen denke, an dem ich es Mama und Papa gesagt habe. „Jepp.“

„Und?“

„Nun, wie du sehen kannst, lebe ich noch und wohne nach wie vor hier.“

„Hm.“ Lukas wirft seine Stirn in Falten und scheint zu grübeln. „Na mal schauen“, sagt er schließlich, erhebt sich und nimmt seine Jacke, die noch immer auf meinem Bett liegt.

„Danke jedenfalls“, sagt er und lächelt mich ein wenig schüchtern an.

„Wofür?“

„Naja … für’s Zuhören und so … Wir sehen uns Montag in der Schule.“ Dann geht er.


„Two o’clock in the morning
Something’s on my mind
Can’t get no rest
Keep walking around
If I pretend that nothing ever went wrong
I can get to my sleep
I can think that we just carried on“

Mika: „Happy Ending“ *


So ziehen die nächsten Wochen ins Land. Lukas und ich reden wieder wie früher miteinander, machen zusammen Hausaufgaben, daddeln und so weiter. Nur sein Umgang mit Jannis ist nach wie vor auf das Nötigste beschränkt.

Der April kommt und geht, und mit dem Mai ist der Frühling endgültig angekommen. Die Tage werden wieder länger, die Luft wird wärmer und trägt diesen unnachahmlichen Duft mit sich, den eben nur der Frühling bringt.

Aber leider bringt diese Jahreszeit auch die berühmt-berüchtigten Frühlingsgefühle mit sich. Jetzt sogar umso mehr, da ich weiß, dass Lukas auch schwul und Single ist und wir uns wieder häufiger sehen.

Wenn da nicht die dumme Sache mit Jannis wäre …!

„Leute, ich kenn’ ’nen geilen Witz!“, blökt Jörg und reißt mich aus meinen Gedanken. Wie üblich stehen wir wieder auf dem Schulhof.

„Also hört zu! Was machen drei Schwule mit einer schönen jungen Frau im Wald?“, fragt er und schaut erwartungsfroh in die Runde. Keiner kennt die Antwort.

„Na, is’ doch glasklaa! Zwei haltense fest und der dritte macht ihr die Haare!“, brüllt er lachend und haut sich auf die Schenkel. Alle anderen lachen kräftig mit, auch Lukas, und sogar ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der Einzige, der nicht mitlacht, ist Jannis. Aber vielleicht hat er den Witz auch einfach nicht kapiert.

„Da fällt mir auch einer von ein!“, meldet sich Thomas zu Wort. „Ein Schwuler sitzt in der Badewanne. Auf einmal kommt sein Freund ins Bad und schöpft mit einer Kaffeetasse Wasser aus der Wanne und geht wieder, während er dazu säuselt: ‚Tatü, Tatü’.“ Dazu imitiert Thomas das dazugehörige abgeknickte Handgelenk sowie eine tuntige Stimme und tänzelt mit dem Arsch wackelnd durch die Runde. „Kurz darauf das Gleiche noch mal: der Freund kommt ins Bad, schöpft etwas Wasser mit der Tasse ab, säuselt: ‚Tatü, Tatü!’ und verschwindet wieder. Als das Gleiche wieder passiert, fragt ihn sein Freund: ‚Sag mal, hast du’n Schatten?’ Daraufhin der erste: ‚Nein, mein Schatz, die Küche brennt. Tatü, Tatü.’“

Wieder bricht schallendes Gelächter aus. Diesmal muss ich auch mitlachen, denn wenn Thomas einen auf Tunte macht, sieht das einfach nur zum Weglachen aus.

Jannis lacht wieder nicht mit. Eigentlich sieht er sogar noch bedröppelter aus als nach Jörgs Witz. Dieser bemerkt das auch prompt und blökt mit seiner Reibeisenstimme: „Ey, Jannis, warum lachst’n nich’?“

Der Angesprochene guckt nur etwas gequält und nuschelt: „Find ich nicht so witzig.“

„Wieso nicht? Bist du etwa schwul oder was?“

Da Jannis diese Behauptung nicht sofort und vehement abstreitet, legt sich plötzlich eine angespannte Stille über uns. Er sieht wie ein in die Ecke getriebenes Tier aus, während Lukas und ich nervös beobachten, was als Nächstes passiert.

Jannis atmet einmal tief durch, wirft Lukas einen sehr schnellen, kurzen Blick zu und sagt: „Ja, bin ich. Was soll’s! Und bis vor ein paar Wochen war ich auch noch glücklich damit, denn ich hatte einen wunderbaren, lieben Freund. Aber leider habe ich einen Fehler gemacht und alles verbockt. Jetzt wisst ihr’s also. Die Sportskanone ist schwul. Und wenn ihr damit ein Problem habt, ist mir das wirklich scheißegal.“

Daraufhin dreht er sich prompt auf dem Absatz um und verschwindet in der Schule.

Zurück bleibt eine Gruppe verunsicherter Teenager, die nicht wissen, was sie sagen sollen. Lukas und ich sind mindestens genauso überrascht wie alle anderen. Mit Herzklopfen warte ich ab, wie sie reagieren. Jetzt wird sich zeigen, wie sie drauf sind.

Thomas ist der Erste, der etwas dazu sagt. „War doch nur’n Witz …“, nuschelt er schließlich entschuldigend. „Braucht er doch nicht gleich persönlich zu nehmen …“

„Also, mir is’ das ja gehupft wie gesprungen“, sagt Jörg, „aber wisst ihr, was mich mal brennend interessieren würde?“

„Was denn?“

„Ich frag’ mich, wer sein Freund war? Ob das einer aus der Schule war?“, fragt er in die Runde.

Zustimmendes Gemurmel macht sich breit. Alle zucken mit den Schultern und Lukas scheint etwas angespannt zu sein, um es mal vorsichtig auszudrücken.

„Ey, Lukas!“, ruft auf einmal jemand, woraufhin dieser zusammenzuckt. Es ist Thomas. „Du hast doch immer so viel mit ihm rumgehangen. Weißt du, mit wem er zusammen war?“

Alle sehen gespannt Lukas an. Der ist sich der vollen Aufmerksamkeit bewusst, die ihm jetzt zuteil wird, räuspert sich kurz und grinst geheimnisvoll.

„Ja, ich weiß es.“

Erstaunte Blicke ruhen auf ihm. Auch ich stehe ungläubig daneben und frage mich, was er nun vorhat?

„Und? Wer ist es?“, fragt Jörg.

„Ich“, antwortet Lukas seelenruhig.

Ungläubiges Schweigen. Dann: „Haha, sehr witzig“, meint Thomas sarkastisch. „Jetzt mal im Ernst, ja? Wer war sein Freund? Kennen wir ihn?“

„Ihr könnt mir ruhig glauben, dass ich es war“, fährt er fort, zieht sein Portemonnaie aus der Hose und fischt ein kleines Foto heraus, das offenbar aus einem Passbildautomaten stammt. Es zeigt Lukas und Jannis bei einem Kuss, der nicht mehr viel der Interpretation übrig lässt.

Alle starren verdutzt auf das Foto, manche kriegen ihre Münder nicht mehr zu. Dann packt Lukas das Bild wieder weg und sagt: „So, und jetzt werde ich mal nach meinem Ex sehen.“

Er dreht sich um und verschwindet seelenruhig ins Schulgebäude.

Ratloses Schweigen macht sich breit. Wieder weiß keiner, was er sagen soll. Ich kann buchstäblich die Fragezeichen über den Köpfen schweben sehen.

„Krass“, meint Jörg schließlich. Mehr scheint auch ihm nicht einzufallen. Das ist in der Tat sehr selten.

Dann ist die Pause vorbei, und wir alle bewegen uns in Richtung Eingang. Thema Nummer eins sind für den Rest des Tages natürlich Lukas und Jannis. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht in unserem Jahrgang. Aber das Interessanteste ist, dass es niemanden so richtig zu stören scheint.

Das ist in der Tat ein beruhigender Gedanke.

Allerdings setzt mich das jetzt ein wenig unter Druck: Was soll ich denn jetzt machen? Ich bin mal wieder völlig unsicher. Klassischer Fall von Engelchen und Teufelchen. Das Teufelchen auf meiner einen Schulter macht Dampf: „Na los! Er ist jetzt noch zu haben, also ran an den Speck! Wenn du jetzt zu lange zögerst, bekommt Jannis ihn zurück, und du schaust wieder nur in die Röhre!“

Das ist allerdings ein gutes Argument. Andererseits hält das Engelchen auf meiner anderen Schulter mit selig-sanfter Stimme dagegen: „Gib ihm noch etwas Zeit. Er ist noch unsicher und leidet unter der Trennung. Du solltest ihm jetzt einfach nur ein guter Freund sein.“

Das sind die beiden Möglichkeiten, zwischen denen ich schwanke. Und ich finde beide plausibel. Aber ich frage mich, ob Lukas sich nicht vielleicht schon entschieden hat? Immerhin sagte er damals, als er den Samstagnachmittag bei mir verbracht hat, dass er Jannis erstmal noch ein wenig schmoren lassen wolle. Das hört sich so an, als ob Lukas ihn schon gerne wiederhaben möchte. Aber dass er eben noch ein bisschen leiden darf.

Und dann die Sache mit dem Foto! Ich wusste nicht einmal, dass so ein Bild überhaupt existierte! Geschweige denn, dass Lukas es immer noch in seinem Portemonnaie mit sich trug!

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr reift in mir der Entschluss, dass ich handeln muss. Und zwar schnell.

Das Engelchen verschwindet mit einem empörten „Puff!“ von meiner linken Schulter, während das Teufelchen triumphierend lacht.

„Und wie gehe ich das jetzt an?“, frage ich das Teufelchen ratlos.

Es lacht hämisch. „Sorry, Kleiner, für die Details bin ich nicht zuständig!“

Und mit einem „Puff!“ ist es ebenfalls verschwunden.

Das hat man nun davon, wenn man auf die Stimmen in seinem Kopf hört. Also fange ich an, mir einen Plan zurechtzulegen.


Ein paar Tage später steht der Plan, und ich beginne, ihn in die Tat umzusetzen: Lukas und ich gehen am Samstagabend ins Bizarre. Und so wie Lukas geschaut hat, muss er zunächst gedacht haben, ich hätte einen Knall, als ich ihm den Vorschlag dazu gemacht habe. Aber nachdem er sich vergewissert hat, dass ich nicht scherze, hat er zugesagt.

Ansonsten ist erstaunlicherweise in den letzten Wochen nicht viel passiert. Lukas hat sich noch am Abend nach der Szene auf dem Schulhof mit seinen Eltern unterhalten. Danach rief er bei mir an und erzählte mir, dass alles gut verlaufen sei und seine Eltern ihn nicht enterbt oder umgebracht hätten.

Seitdem scheint er richtig aufzublühen, denn nun braucht er sich nicht mehr zu verstecken, weder in der Schule, noch zuhause. Ich ärgere mich sogar fast ein wenig, dass ich damals nicht auch gleich die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und reinen Tisch gemacht habe, als Lukas und Jannis es taten.

Aber in zwei Wochen fahre ich zum Finale von „Jugend musiziert“, und somit habe ich mehr als genug um die Ohren. Ich bin froh, wenn ich mich überhaupt noch auf die Schule konzentrieren kann.

Allerdings ist das im Moment meine geringste Sorge, denn es ist Freitagabend, morgen geht’s ins Bizarre, und ich befinde mich bei Tine, die gerade auf ihrem Bett liegt und vor Lachen kaum noch atmen kann. Ich habe nämlich versucht ihr zu zeigen, wie ich tanze.

„WAA-HAA-HAA!!!“, wiehert sie mit Tränen in den Augen, „so was habe ich ja noch nie gesehen!!!“

Ich grummele leise vor mich hin, vergrabe die Hände in den Hosentaschen und stehe hochrot und mit eingezogenem Kopf wie der letzte Depp in ihrem Zimmer.

„HAHAHA!!! Als ob dir jemand einen Besenstiel in den Arsch geschoben hat!!!“

Ich beginne, diesen Teil meines Planes gründlich zu bereuen. Ich hatte mir überlegt, dass es sinnvoll wäre, wenn ich mit Lukas im Bizarre tanzen würde. Das würde bestimmt besser wirken, als wenn er sich auf der Tanzfläche amüsiert – vielleicht sogar noch mit irgendeinem gut aussehenden Typen! – und ich stehe wieder nur draußen an der Seite und schaue doof zu. Daher habe ich Tine heute in der Schule gefragt, ob sie mir heute Abend zeigen kann, wie man in einer Disko tanzt. Das Resultat davon war, dass sie mich vorhin genauso ratlos angesehen hat wie Lukas, als ich ihn um dieses Date im Bizarre bat, und nun lachend, prustend und wiehernd auf ihrem Bett liegt.

„…duweißtdochdassichnichttanzenkann…“, murmele ich gleichzeitig ärgerlich und verschämt.

„Nicht tanzen zu können, ist eine Sache“, lacht Tine immer noch, „aber das, was du da machst …“

Ich bin froh, dass ich mir meine erbärmlichen Tanzversuche nicht anzusehen brauche. Es ist halt einfach ungewohntes Terrain für mich, ich mag so etwas nicht. Nein, ich hasse es. Ich komme mir beobachtet vor, ausgeliefert, begutachtet und abgeschätzt. Sicherlich, wenn ich auf der Bühne Klavier spiele, werde ich auch beobachtet, begutachtet und abgeschätzt. Aber der Unterschied ist, dass ich weiß, dass ich Klavier spielen kann.

„Jetzt reg dich wieder ab“, maule ich. „Wenn du dich da wiehernd auf dem Bett wälzt, hilft mir das auch nicht weiter.“

Immerhin scheint sie sich langsam wieder zu beruhigen. Sie steht auf und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Das muss man gesehen haben“, keucht sie immer noch ein wenig kichernd. „Okay, ich denke, wir müssen das anders angehen …“

Sie steht nachdenklich vor ihrem CD-Regal und denkt nach. Dann nimmt sie eine CD und legt sie in ihren CD-Player.

„Das ist jetzt ‚Travel to Romantis’ von Ace of Base“, erklärt sie fachmännisch.

„Das ist ja schon uralt. Meinst du, das hört heute noch einer?“ frage ich skeptisch.

„Es geht nicht um das Lied, es geht um den Text. Vielleicht kapierst du dann, worauf du achten musst.“

„Soso“, erwidere ich trocken.

„Genau. Und jetzt hör mir gut zu“, fährt sie in ihrem strengen Tonfall fort, den ich in letzter Zeit öfters von ihr hören musste. „Mach einfach die Augen zu.“

„Warum …?“, frage ich dümmlich.

„Frag nicht, tu’s einfach“, befiehlt sie.

Also schließe ich die Augen. „Und nun?“

„Nun achtest du nur noch auf die Musik. Vergiss alles andere um dich herum. Stell dir vor, du stehst auf einem einsamen Sandstrand irgendwo in der Karibik. Es ist warm, weißer Sand, türkisgrünes Wasser. Keine Menschenseele weit und breit.“

Das ist in der Tat eine sehr angenehme Vorstellung.

„Gut“, fährt sie fort. „Konzentrier dich nur auf die Musik. Achte besonders auf den Text!“

„I travel to Romantis
Where nothing but the blue skies
Will tell me that the time flies
I travel to Romantis“

(Ace of Base: „Travel to Romantis“) **

‚Nicht schlecht’, denke ich. Automatisch beginne ich, mit dem Fuß zu wippen.

„Sehr gut“, sagt Tine leise, „und jetzt stell dir vor, dass auf einmal Lukas direkt neben dir steht, mit nacktem Oberkörper, nur in enger Badeshorts.“

Ein Lächeln umspielt meine Lippen, als sich dieses Bild vor meinen geschlossenen Augen aufbaut.

„Und jetzt achte auf den Rhythmus vom Lied … auf den Takt, die Geschwindigkeit … stell dir vor, wie Lukas mit seinem gebräunten, schlanken Körper ganz nah neben dir zur Musik tanzt“, flüstert sie in mein Ohr, „und dann tanz einfach mit …“

Vor meinem geistigen Auge sehe ich Lukas und mich auf dem Strand stehen. Dann beginnt er zu tanzen. Ganz geschmeidig, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht, bewegt sich sein Körper zur Musik. Aufmunternd lächelt er mich an, seine blauen Augen leuchten dabei mit der Karibik um die Wette.

„I don’t want to be here, I’m much too tired
So I close my eyes and, ‘snap’, I’m with you
We are on vacation, you and me together
Lying in the sunshine“

(Ace of Base: „Travel to Romantis“) **

Plötzlich beginne auch ich mich zu bewegen. Zuerst langsam, zögernd, vorsichtig. Aber dann spüre ich den Rhythmus, lasse mich von ihm tragen. Und auf einmal weiß ich, wie ich meine Arme und Beine, meinen ganzen Körper bewegen muss.

„I travel to Romantis
Every time I think of you
You’re giving me my life back
I travel to Romantis“

(Ace of Base: „Travel to Romantis“) **

Es funktioniert tatsächlich! Ich tanze! Es ist kaum zu glauben!

„Na also, geht doch!“, kichert Tine und tanzt mit. „Und das sieht auch nicht mehr so bescheuert aus wie vorhin!“

Dann kann ja im Prinzip nichts mehr schief gehen. Zur Sicherheit probieren wir noch ein paar andere Lieder aus, und Tine scheint mit dem Ergebnis insgesamt ganz zufrieden zu sein.

„Tine, du bist wunderbar!“, sage ich dankbar und nehme sie fest in die Arme, als ich mich verabschiede.

„Ich weiß“, grinst sie verschwörerisch. „Dann wünsche ich dir viel Spaß morgen Abend und vor allem eins: viel Glück!“

„Das kann ich gebrauchen …“, murmele ich wieder etwas verunsichert.

„Kopf hoch. Konzentriere dich einfach auf die Musik und auf ihn. Sei ein bisschen forscher als sonst und achte drauf, wie er reagiert. Sei aber nicht zu aufdringlich, sondern taste dich ran – und das meine ich wortwörtlich so. Irgendwann wird er dir schon ein Zeichen geben: entweder blockt er ab oder er lässt es zu und macht mit. Sei aber auf beides vorbereitet, okay?“, beendet sie ihre Erklärung vorsichtig.

Ich nicke stumm.

„Und ich erwarte einen detaillierten Bericht!“, zwinkert sie mir zu.

Ich verspreche es. Danach verabschiede ich mich und gehe nach Hause, um da noch mal zu üben.


All meine guten Vorsätze, Pläne und Absichten fangen in der Sekunde an zu wanken, als Lukas und ich durch die Tür vom Bizarre treten. Es ist die gleiche Atmosphäre wie bei meinen ersten beiden Besuchen: stickige, verrauchte Luft, viel zu laute und viel zu schlechte Musik, zu viele Leute. Außerdem sind meine bisherigen Erfahrungen mit diesem Laden alles andere als gut gewesen: Beim ersten Mal lief ich Kevin über den Weg, und beim zweiten Mal hat dieser widerliche Typ auf dem Klo erst sich, dann mich befummelt. Und ich hoffe, dass ich dieses Mal weder dem einen, noch dem anderen über den Weg laufen werde.

Aber tapfer schlucke ich meine Bedenken runter und folge Lukas in den großen Innenraum, nachdem wir unsere Jacken abgegeben haben. Dann besorgen wir uns etwas zu trinken und suchen uns einen Platz nicht zu weit von der Tanzfläche.

Ich war den ganzen Tag über äußerst angespannt. Ich konnte mich nicht einmal auf das Klavier konzentrieren. Es ging einfach nicht. Stattdessen habe ich im Prinzip den ganzen Tag vorm Fernseher verbracht und bin von der ARD bis zu QVC durch alle Kanäle und zurück gezappt. Dann noch einmal. Zwischendurch habe ich noch einmal zu tanzen geübt.

Irgendwann wurde es mir zu blöd und ich habe mein Fahrrad aus dem Keller geholt und bin drei Stunden durch das Umland geradelt. Ziellos, mal hier lang, mal da abgebogen. Das hatte zwar den Vorteil, dass sehr schnell sehr viel Zeit verstrichen ist, aber auch den Nachteil, dass ich einen heftigen Muskelkater in den Beinen bekam.

Dennoch konnte ich aufspringen, als Lukas gegen 22 Uhr bei mir klingelte, um mich abzuholen.

„Warum läufst du denn so breitbeinig wie John Wayne?“ fragte er verwundert, als er mich sah.

„Ich glaube, ich hab’s wohl heute Nachmittag ein wenig mit dem Fahrradfahren übertrieben“, grummelte ich.

„Das glaube ich auch“, lachte er los. „Na los, lass uns gehen.“

Und nun stehen wir wieder hier im Bizarre. Er sieht wieder umwerfend aus. Am liebsten würde ich jetzt gleich meine Arme um ihn legen. Aber das wäre wahrscheinlich zu aufdringlich.

„Lass uns tanzen gehen, das Lied ist geil!“, rufe ich daher, als das nächste Lied beginnt. Ich habe zwar keine Ahnung, wie es heißt, denn ich höre es zum ersten Mal, aber darum geht es nicht. Ich will endlich mit Lukas tanzen.

Er schaut mich überrascht, aber mit einem Grinsen an und folgt mir auf die Tanzfläche. Ich stelle mir wieder den Strand in der Karibik und Lukas in Badehose vor und fange an, mich zu tanzen. Es funktioniert wieder.

„Sag mal, hast du etwa geübt?“, brüllt mir Lukas ins Ohr, während wir weiterhin unsere Körper zur Musik bewegen.

Ich nicke nur und grinse verlegen. Lukas gibt mir das „Daumen hoch“-Zeichen. Dann kann es ja nicht so schlecht aussehen.

Es scheint tatsächlich zu laufen. Lukas und ich tanzen ein paar Lieder, dann gehen wir wieder etwas trinken und unterhalten uns. Dabei versuche ich, alle Regeln der Flirtkunst zu beachten: hin und wieder ein kurzer Hautkontakt, ein direkter Blick in die Augen, ein Lächeln. Es macht richtig Spaß, und ich habe auch nicht den Eindruck, dass Lukas sich unwohl fühlt. So pendeln wir eine Weile zwischen Tanzfläche und Stehtisch hin und her, das zweite, dritte, vierte Bier folgt.

Ich stehe an unserem Stehtisch und lasse meinen Blick über die Leute schweifen. Lukas ist gerade zur Toilette gegangen.

Das ist mit Abstand der beste Abend, den ich je mit Lukas verbracht habe. Ich habe beschlossen, dass ich gleich meinen Arm auf seine Schulter legen werde, um zu sehen, wie er reagiert. Wenn er nichts sagt, werde ich ihn nicht wegnehmen.

„Hi“, sagt auf einmal eine unbekannte Stimme neben mir. Es ist ein Junge, der in meinem Alter zu sein scheint, mit großen braunen Augen und blonden Haaren. Sein Anblick gefällt mir auf Anhieb.

„Hi“, erwidere ich freundlich.

„Bist du zum ersten Mal hier? Ich habe dich und deinen Begleiter noch nie hier gesehen“, fragt er etwas verlegen und lächelt mich an.

„Ich bin erst zum dritten Mal hier, aber Lukas war wohl schon öfters hier“, antworte ich ebenfalls lächelnd.

„Ach so.“ Er nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. „Ich heiße übrigens Marc.“

„Tim“, stelle auch ich mich vor und schüttele seine Hand. Irgendetwas scheint er auf dem Herzen zu haben, denn er sieht mich die ganze Zeit verstohlen von der Seite an.

„Und … ähm … du und Lukas … seid ihr … äh … zusammen?“

Daher weht also der Wind.

„Nein“, sage ich und schüttele mit dem Kopf, „ wieso?“

„Nur so“, erwidert Marc und sieht verlegen zur Seite.

Mir dämmert, dass er sich für einen von uns interessieren könnte. Immerhin scheint er uns ja eine Weile beobachtet zu haben, wenn er fragt, ob wir zusammen sind. Und da er mich genau in dem Moment anspricht, als Lukas zur Toilette ist, keimt in mir der Verdacht auf, dass er vielleicht etwas von mir will.

Ich beschließe daher, mal ein wenig das Terrain zu erkunden. Vielleicht kann ich ja Lukas ein wenig eifersüchtig machen.

„Und du? Bist du öfters hier?“, frage ich ihn und schaue ihm dabei direkt in die Augen.

„So ein-, zweimal im Monat“, antwortet er und sieht immer noch verlegen aus.

„Und glücklich vergeben oder noch zu haben?“, bohre ich weiter.

„Naja, wenn ich einen Freund hätte, hätte ich wohl nicht gefragt, ob ihr zusammen seid, oder?“, kontert er und schaut mich belustigt an.

„Stimmt.“ War eigentlich eine blöde Frage. Um von meiner Verlegenheit abzulenken, trinke ich einen Schluck Bier.

„Hat denn …“, beginnt Marc schließlich etwas zögernd, „ist Lukas denn vergeben …?“

Lukas?! Wieso denn Lu-

In dem Moment wird mir klar, dass Marc mitnichten an mir interessiert ist. Beziehungsweise bin ich nur interessant genug, um nach Lukas ausgefragt zu werden, denn offenbar ist er derjenige, der Marcs Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.

„Ich finde ihn nämlich echt zum Anbeißen …“, setzt er noch einen drauf und grinst.

Jetzt bekommen sowohl mein Ego als auch mein Plan einen Knacks ab. Okay, dass ich kein Traumtyp bin, wusste ich bereits. Aber dass man mich nur anspricht, um an meine Freunde heranzukommen, wurmt mich doch sehr.

Das ist aber noch das geringere Problem. Er kommt mir bei meiner Absicht in die Quere, mich gleich an Lukas ranzumachen! Und das ist nicht gut.

Also bleibt mir nur eins.

„Nein, er hat sich gerade von seinem Freund getrennt. War eine traurige Geschichte“, erwidere ich in der Hoffnung, dass Marc erstmal von Lukas ablässt.

„Oh“, antwortet er nur knapp.

In dem Moment taucht Lukas wieder auf. „Oha, störe ich etwa?“, fragt er und zwinkert mir zu.

„Nicht im geringsten“, antwortet Marc schnell, bevor ich etwas sagen kann. „Ich bin übrigens Marc.“

„Lukas“, stellt sich dieser vor. „Und worüber habt ihr gerade geredet?“

„Nichts Besonderes“, erwidere ich.

„Über die Musik“, fällt mir Marc wieder in den Rücken. „Hast du Lust zu tanzen?“

Mit seinen langen Wimpern und den großen braunen Augen deutet er zwinkernd in Richtung der Tanzfläche.

„Na klar!“, antwortet Lukas. Er stellt schnell sein Bier ab und schon befinden sie sich mitten im Gewühl auf der Tanzfläche.

Fassungslos stehe ich am Rand und frage mich, was da gerade passiert. Offensichtlich ist ihm dieser Marc auch sehr sympathisch, sonst wäre er nicht so schnell mit ihm auf die Tanzfläche gerannt. Und so, wie er verstohlen auf Marcs Hintern starrt, der direkt vor ihm hin und her wackelt, scheint er auch dafür einige Sympathien entdeckt zu haben.

Ich überlege fieberhaft, was ich jetzt tun soll. Soll ich mich einfach zu den beiden stellen und mittanzen? Oder hier abwarten, was passiert?

Es könnte ja immerhin sein, dass sie wirklich nur tanzen wollen …

In diesem Moment sagt Marc Lukas etwas ins Ohr und schaut ihn voller Erwartung an. Lukas überlegt kurz, grinst und nickt. Dann verlassen sie die Tanzfläche und kommen wieder auf mich zu.

„Hey, Timmi“, setzt Lukas an, „Marc und ich wollen uns vom Acker machen. Wir sehen uns Montag in der Schule, okay?“

Pure Resignation. „Äh … ja klar“, antworte ich knapp. „Bis Montag.“

„Alles klar bei dir?“ Er sieht mich forschend an.

„Jaja, alles in Ordnung. Ich werde nur noch austrinken, dann gehe ich auch“, wiegele ich schnell ab.

„Okay, dann bis Montag.“

Das Letzte, was ich von den beiden sehe, ist Marcs triumphierender Blick in meine Richtung, als sie gehen.

Na super. Ich merke, dass meine Abneigung gegen diesen Laden anfängt, in Hass umzuschlagen.

„Das war ja wohl ein Schuss in den Ofen“, sagt plötzlich eine bekannte Stimme neben mir. Kevin. Natürlich. Auch das noch.

„Das kannst du laut sagen“, erwidere ich matt. „Beobachtest du mich schon lange?“

„Lange genug, um zu wissen, dass du alles Mögliche getan hast, um dich an Lukas ranzumachen, bis dir Marc in die Parade gefahren ist.“

„Du kennst ihn?“

„Naja … entfernt“, antwortet er mit einem zweideutigen Grinsen.

„Verstehe …“ Ich seufze. Dann schweigen wir einen Moment, bevor mir einfällt, dass ich ihn noch etwas fragen wollte. „Was sollte eigentlich die Aktion mit Jannis damals?“

Sein breites Grinsen wird noch ein bisschen breiter. „Ich dachte, dass du dich vielleicht eher zu einem Dreier überreden ließest, wenn du alle Teilnehmer kennst, nicht nur mich. Aber offensichtlich lag ich damit falsch.“

„Allerdings“, kommentiere ich seine Erklärungen trocken.

„Betrachten wir es von der guten Seite“, fährt er fort, „Lukas ist jetzt wieder zu haben … oder besser gesagt: ist bis eben zu haben gewesen.“

Ich seufze genervt. „Tu mir einen Gefallen, ja? Lass mich einfach in Ruhe. Frag nie wieder, ob ich Bock auf einen Dreier habe. Oder auf etwas Spaß nur mit dir. Ich habe von dieser ganzen Drecksszene die Schnauze gestrichen voll. Kapiert?!“

„Is’ klar“, antwortet Kevin ohne irgendeine Gefühlsregung zu zeigen.

„Ciao.“

Ich drehe mich um und gehe. Aber kurz bevor ich den Ausgang erreichen kann, baut sich noch ein Bekannter vor mir auf.

„Na, schon auf dem Weg nach Hause? Soll ich mitkommen?“ Es ist der Widerling, der letztes Mal seine Finger nicht von mir lassen konnte. Er grinst mich lüstern an und leckt sich über die Lippen.

Ohne lange darüber nachzudenken, nehme ich das volle Glas Bier eines mir völlig unbekannten Gastes von dem Tisch, neben dem ich gerade stehe, und schütte es dem Schleimbeutel ins Gesicht, bevor der überhaupt erahnen kann, was ich vorhabe. Während er prustend wie ein begossener Pudel vor mir steht und noch zu keiner Reaktion fähig ist, habe ich mein Portemonnaie aus meiner Hosentasche hervorgeholt, einen Fünf-Euro-Schein herausgenommen und dem verdutzten Gast auf den Tisch geknallt.

„Für das Bier“, sage ich knapp und gehe.

Was für ein Drecksladen. Der hat mich heute garantiert zum letzten Mal gesehen.


„This is the hardest story that I have ever told
No hope, or love, or glory
Happy endings gone forever more
I feel as if I’m wasted
And I’m wasting everyday.“

Mika: „Happy Ending“ *


„Du hast waaas?“

Am darauffolgenden Montagmorgen stehen Tine und Lukas mit ungläubigem Gesichtsausdruck vor mir und kriegen den Mund nicht mehr zu.

„Wie ich bereits sagte: Ich habe dem Kerl das Bier ins Gesicht geschüttet und dann dem Typen, dem es gehörte, fünf Euro gegeben und bin gegangen.“

Die beiden scheinen mir noch nicht so richtig zu glauben.

„Glaubt es oder lasst es“, sage ich daher genervt. Ich bin sowieso noch angefressen wegen dieses Abends.

„Zu schade, dass ich das nicht gesehen habe“, sagt Lukas kopfschüttelnd.

„Wieso eigentlich nicht?“, fragt Tine und ihre Augen verengen sich misstrauisch.

„Nun ja …“, setzt er verlegen zu einer Erklärung an, „… äh …“

„Monsieur hatte das Gebäude leider bereits mit seiner Begleitung verlassen.“ Diesen giftigen Seitenhieb kann ich mir nicht verkneifen.

Lukas steigt die Röte ins Gesicht.

„Soso. Und wer war der Glückliche?“, bohrt Tine eiskalt weiter.

„Kennstdunicht…“, nuschelt er anstelle einer Antwort.

„Du gestattest doch sicherlich, oder?“, frage ich ihn sarkastisch. Dann wende ich mich an Tine: „Er hieß Marc und die beiden hatten sich erst ein paar Minuten vorher kennengelernt.“

In dieser Sekunde kapiert Tine, warum ich etwas angefressen bin wegen dieses Abends.

„Ich verstehe.“ Säuerlich sieht sie Lukas an.

„Was denn?!“, ruft dieser ärgerlich. „Wenn Jannis seinen Spaß haben darf, darf ich das doch wohl auch, oder?! Immerhin habe ich niemanden hintergangen.“

Glücklicherweise klingelt es in diesem Moment zur ersten Stunde.


Die letzten zwei Wochen vor dem Finale verbringe ich eigentlich nur an zwei Orten: in der Schule und vor dem Klavier. Dennoch behalte ich Lukas und Jannis im Auge. Ich will ja schließlich wissen, wenn sich da etwas tut – was ich aber nicht hoffe. Auch wenn sich das egoistisch anhört, muss ich leider zugeben, dass ich glücklicherweise nichts entdecke, was auf engeren Kontakt zwischen den beiden hindeutet.

Da muss dringend etwas geschehen.

Es ist überraschend schnell Freitag geworden. Meine Eltern sollten mich jetzt eigentlich vor der Schule abholen, da wir direkt nach Berlin fahren. Aber so wie ich Mama kenne, ist sie wahrscheinlich beim Packen in Panik gefallen, weshalb sie sich verspäten.

Der Schulhof ist schon verwaist. Nur Lukas steht noch neben mir und wartet, bis meine Eltern auftauchen.

„Und? Nervös?“, fragt er.

„Und wie …“, antworte ich.

„Hehe… wird schon schiefgehen“, grinst er und klopft mir aufmunternd auf die Schulter. „Immerhin bist du der beste Klavierspieler, den ich kenne.“

„Ich bin auch der einzige Klavierspieler, den du kennst“, frotzele ich.

Auf diese Bemerkung hin streckt mir Lukas seine Zunge raus. „Jedenfalls musst du mir Sonntag alles erzählen, wenn du wieder da bist, ja?“

In diesem Moment biegt ein Auto mit quietschenden Reifen auf den großen Parkplatz von unserer Schule ein. Meine Eltern.

„Mach ich“, antworte ich knapp.

Jetzt heißt es Abschied nehmen.

„Viel Erfolg! Ich drück dir die Daumen!“, sagt Lukas und klopft mir noch mal auf die Schulter.

„Danke.“ Ohne viel darüber nachzudenken, gebe ich ihm schnell einen Kuss auf die Lippen. Dann steige ich ins Auto und ab geht die Fahrt.

Als ich noch einmal kurz nach draußen schaue, steht Lukas mit einem verwunderten Gesichtsausdruck noch immer an der Stelle, wo er eben stand, und schaut uns hinterher. Meine Eltern haben zum Glück genug Anstand, nicht weiter auf den Kuss einzugehen. Aber vielleicht haben sie ihn auch einfach in ihrer Hektik nicht gesehen.


„Auf dich, Tim!“

Wir sitzen im Restaurant von unserem Hotel und feiern. Ich habe beim Wettbewerb 22 Punkte erreicht und damit einen 2. Preis gewonnen – worauf ich, alle Bescheidenheit in den Wind jagend, verdammt stolz bin. Meine Eltern natürlich auch.

Ich habe mich selten so erleichtert gefühlt wie heute. Im Prinzip könnte ich wunschlos glücklich sein – wenn da nicht der leere Platz neben mir wäre, auf dem Lukas hätte sitzen sollen, wenn es nach mir ginge. Rückblickend wundere ich mich, warum ich ihn nicht einfach gefragt habe, ob er mitkommen will.

Neben meinem Teller steht der kleine Pokal, den man mir bei der Siegerehrung überreicht hat. Davor liegt die Visitenkarte, die mir der Direktor der Berliner Hochschule für Musik mitgegeben hat.

„Melden Sie sich unbedingt bei mir!“, sagte er mir freundlich nach der Preisverleihung. „Jemand mit Ihrer Begabung sollte sein Talent nicht vergeuden! Und eine Förderung sollte bei Ihrem Ergebnis hier auch kein Problem sein.“

Das war die größte Überraschung des Tages. Eigentlich hatte ich noch nicht so wirklich darüber nachgedacht, was ich nach dem Abitur machen wollte, zumal bis dahin ja noch einige Zeit vergehen wird. Aber reizen würde es mich schon.

Ich frage mich, was Lukas dazu sagen wird? Der hat sich heute den ganzen Tag noch nicht gemeldet. Nur Tine hat auf meine SMS reagiert.

Um zehn Uhr sinke ich völlig erschöpft ins Bett. Das war ein anstrengender Tag.

Und morgen Abend, wenn ich wieder zuhause bin, werde ich endlich ein offenes Wort mit Lukas reden.


„Heeeeeyyyyy!“, ruft Lukas lachend und nimmt mich in den Arm. „Glückwunsch zu deinem Sieg gestern!“

Er hat heute endlich auf meine SMS reagiert und angerufen und gesagt, dass ich heute Abend zu ihm kommen solle. Und nun bin ich hier.

„Hehe… eigentlich war es kein Sieg, aber trotzdem danke“, nuschele ich verlegen und ziehe meine Jacke und die Schuhe aus, nachdem er mich endlich losgelassen hat.

„Komm mit, du musst mir unbedingt erzählen, wie es war“, sagt er ungeduldig und springt die Treppe rauf.

Artig folge ich ihm und wundere mich, warum er so aufgedreht ist. Naja, vielleicht ist es ja wirklich nur die Freude über mein Ergebnis bei „Jugend musiziert“.

In seinem Zimmer setze ich mich auf den Boden vor seinem Bett, Lukas sitzt mit dem Rücken an den Kleiderschrank gelehnt mir gegenüber. Im Hintergrund läuft irgendwelche Musik, die ich nicht kenne.

„Nun? Ich höre? War Kevin auch da?“, fragt er ungeduldig.

„Ja klar, Kevin hat den Länderwettbewerb ja auch gewonnen.“

„Und?“

„Nix und. Wir haben uns nur kurz zur Begrüßung zugenickt. Ansonsten haben wir nicht weiter miteinander geredet.“

Dann will er alles genau wissen. Welches Stück ich gespielt habe, wie viele Punkte der Sieger erreicht hat und so weiter. Artig beantworte ich seine Fragen und genieße richtig die Aufmerksamkeit, die er mir widmet.

„Schade, dass du nicht dabei warst“, beende ich meinen Bericht schließlich.

„Och“, winkt er grinsend ab, „ich hätte mich doch eh nur gelangweilt.“

Wir sind für einen kurzen Moment still, denn niemand sagt etwas. Lukas blickt gedankenverloren aus dem Fenster. Und urplötzlich weiß ich, dass jetzt der Moment gekommen ist, ihm das zu sagen, was ich ihm eigentlich schon seit unserer Jahrgangsfahrt nach Paris sagen will.

Ich schlucke die Nervosität, die sich schnell in mir breitmacht, so gut es geht runter.

„Weißt du, Lukas, da ist noch etwas, das ich dir erzählen möchte …“, setze ich vorsichtig an.

Lukas sieht mich überrascht an. „Was denn?“

„Nun-“

Mit einem lauten DING DONG unterbricht mich die Türklingel. Sofort springt Lukas auf und sagt: „Behalte den Gedanken mal im Kopf, ich muss eben die Tür aufmachen!“

Ich frage mich, wer das sein kann, und ärgere mich gleichzeitig darüber, dass diese Person mir ausgerechnet jetzt dazwischenfunken muss.

Auf einmal höre ich, wie vier Füße die Treppe wieder hoch kommen. Ich höre Lukas’ Stimme – und eine weitere, die ich erkenne, kurz bevor sie ins Zimmer kommen.

Es ist-

„Hi Jannis“, sage ich und sehe überrascht ihn und Lukas an.

„Hey Timmi“, begrüßt er mich gut gelaunt und reicht mir die Hand. „Glückwunsch erstmal zu deinem Sieg gestern! Grandiose Leistung!“

„D-danke!“, stottere ich verdattert und sehe, wie die zwei sich nebeneinander vor dem Kleiderschrank niederlassen.

Und dabei Händchen halten.

Meine Stimmung, die bis eben eigentlich noch ganz gut war, sackt auf einmal im Sturzflug ab und schlägt mir buchstäblich auf den Magen. Verzweifelt versuche ich, die Fassung zu wahren. Dazu habe ich ein paar Sekunden Zeit, denn Jannis und Lukas sind gerade damit beschäftigt, mit ihrer Zunge die Mundhöhle des jeweils anderen zu erkunden.

Nachdem ich meine Gesichtszüge wieder eingerenkt und unter Kontrolle habe, räuspere ich mich vernehmlich.

„Gibt es da vielleicht irgendetwas, das ihr mir erzählen möchtet?“, frage ich mit einem deutlichen Hauch von Sarkasmus in meiner Stimme.

„Naja“, setzt Lukas langsam zu einer Erklärung an, „wir haben beide gemerkt, dass es uns seit unserer Trennung ziemlich dreckig ging … und so hat Jannis gestern vorgeschlagen, dass wir uns in einem Café treffen und mal alles klären.“

„Oh“, entfährt es mir.

„Ja, und dann haben wir uns unterhalten. Über das, was so passiert ist zwischen uns und so weiter. Ich will jetzt nicht allzu sehr ins Detail gehen, aber wie du siehst, hat es sich gelohnt“, grinst Lukas.

„Genau“, kichert Jannis und rückt noch ein Stückchen näher an Lukas ran.

„Das … ist … schön für euch“, sage ich matt und beobachte, wie Jannis’ Hand zärtlich über Lukas’ Handrücken fährt.

„War es denn schön in Berlin?“, fragt Jannis und lenkt damit die Aufmerksamkeit wieder auf mich.

Ich würde ja am liebsten schreiend rausrennen. Aber das ist nicht meine Art.

„Ja, war nett“, erwidere ich und lächele etwas matt.

„Was wolltest du eigentlich eben noch sagen?“, fragt Lukas.

‚Das hat sich offensichtlich erledigt’, denke ich. Aber das kann und werde ich nicht sagen. Stattdessen fällt mir zum Glück schnell eine andere Ausrede ein.

„Die haben mir ein Stipendium für die Berliner Hochschule für Musik angeboten.“

„Ja klasse! Das ist ja super!“, ruft Lukas. Dann wendet er sich wieder Jannis zu: „Siehst du, Schatz? Aus dem wird noch mal ein richtiger Star!“

„Jau“, grinst Jannis. „Coole Sache! Nimmst du das denn an?“

„Weiß ich noch nicht, immerhin dauert es ja noch ein bisschen bis zum Abitur“, antworte ich ausweichend.

Während Jannis und Lukas miteinander kuschelnd vor dem Kleiderschrank sitzen, schreit jede Zelle in mir danach zu gehen. Ich erhebe mich daher von meinem Platz vor dem Bett, das gleich wahrscheinlich noch für ganz andere Dinge genutzt wird, und sage: „So, ich will denn auch mal wieder los.“

Lukas blickt überrascht zu mir hoch. „Echt?“

„Ja, ich bin noch ziemlich erschlagen von dem ganzen Stress der letzten Tage und der langen Fahrt. Immerhin ist morgen wieder Schule …“, erwidere ich monoton. Keine Ahnung, ob sie mir die Müdigkeit auch glauben, und es ist mir eigentlich auch scheißegal.

„Okay“, sagt Lukas und versucht nicht mal, mich zum Bleiben überreden.

„Ciao Jannis.“

„Ciao.“

Dann bringt mich Lukas zur Tür.

Als ich gerade gehen will, sagt er leise: „Sorry, Tim … ich weiß, was du fühlst … was du für mich empfindest … und ich will, dass du weißt, dass du ein unheimlich lieber Typ und wahnsinnig toller Freund bist … aber … ich liebe Jannis, und daran haben auch die letzten zwei Monate nichts geändert…“

Dann nimmt er mich noch einmal kräftig in den Arm.

„Passt schon“, flüstere ich leise, bevor ich mich auf den Weg mache. „Charmanten Abend noch.“

„Danke“, sagt Lukas lächelnd.

Dann drehe ich mich um und gehe.

Langsam schlendere ich die Straßen entlang. Die Abenddämmerung färbt die wenigen Wolkentupfen in einer Mischung aus Rosa, Rot und Orange, dazwischen leuchtet das satte Blau des Himmels. Ein paar Sterne sind schon zu erkennen, während eine warme Frühlingsbrise sanft mein Gesicht streichelt, über das ein paar Tränen laufen. Vögel zwitschern in den Bäumen, die in prächtiger Blüte stehen. Zu zweit wäre das alles bestimmt ein wunderschöner, romantischer Anblick. Aber das ist mir an diesem Abend leider nicht vergönnt.


„This is the way you left me
I’m not pretending
No hope, no love, no glory
No happy ending
This is the way that we love
Like it’s forever
Then live the rest of our life
But not together”

Mika: „Happy Ending“ *


Ende



*

Mika – Happy Ending

Komponist: MIKA, Lindsay, Chris, Mayo, Aimee
Textdichter: MIKA
Originalverleger: Universal Music
Originalverleger: Universal Music

**

Ace of Base – Travel to Romantis

Komponist: Jonas Petter Berggren
Textdichter: Jonas Petter Berggren
Originalverleger: Megasong Publishing
Sub-Verleger: Neue Welt Musikverlag GmbH Co KG
Sub-Verleger: Warner/Chappell Music Denmark

Lesemodus deaktivieren (?)