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Quartett
Teil 58 - Störung
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
64. Störung
“Hej, wo kommt Ihr denn her? Was ist passiert?”
Obwohl sie von ihrem sechsten Lebensjahr an ein hartes und effektives Training unter anderem in Kampfkunst und Meditation genossen, waren sowohl Emil als auch Paul ein bisschen aufgeregt. Sie hatten mittlerweile ihre Meditation beendet und als die vier Energie-Wellen den Springbrunnen fast erreicht hatten, waren sie voller Erwartung aufgestanden, um sich keinen Moment der Entstehung des Portals entgehen zu lassen.
Es fehlten nur noch wenige Schritte und mittlerweile konnten sie die Vibrationen im Boden schon deutlich spüren, als sich plötzlich eine der vier Energiewellen blitzschnell wieder zurückzog. Ebenso wie die anderen wenige Augenblicke später ebenfalls. Und von einem Moment zum anderen war der Innenhof der Universität wieder ruhig und friedlich. Die mit Spannung überladene Stimmung war verflogen, die Vögel zwitscherten wieder und man hörte den Wind in den Bäumen rascheln.
“Ich denke, dass das Portal nicht so aussieht, oder?”
FX deutete auf den Springbrunnen, in dem wie üblich das Wasser leise plätscherte.
“Nein, eher nicht.” Emils Stimme, sonst in Perfektion monoton, zeigte tatsächlich ein kaum wahrzunehmendes Vibrato, so sehr nahm ihn die Situation gerade mit. “Es hätte fast geklappt. Es fehlten wirklich nur noch wenige Zentimeter, bis sich die Wellen aus Energie der vier Elemente hier in der Mitte getroffen hätten. Und plötzlich hat sich eine von ihnen zurückgezogen und danach gleich die anderen drei. Ist bei Euch etwas vorgefallen?”
“Ja, also bei mir gab’s ein paar …”
Verlegen kratzte sich Henne am Kopf und merkte gar nicht, dass er sich seinen perfekt frisierten Iro gerade selber zerstörte. Anscheinend hatte ihn die Situation mehr mitgenommen, als er es sich selbst eingestehen wollte, denn seine eigene Frisur hatte er, ebensowenig wie Ben, unbewusst noch nie durcheinander gebracht.
“... Komplikationen?”
Emil konnte es immer noch nicht fassen, dass sie so kurz vor ihrem Ziel wirklich scheitern sollten. Das war für einen Schattenjäger schlichtweg nicht akzeptabel, weshalb er große Mühe hatte, sich zusammenzureißen und die Antwort nicht aus Henne herauszuprügeln. Für ihn und seine Leute war gerade ein Ereignis gescheitert, das seit tausenden von Jahren niemand mehr beobachten konnte. Da er nur in Hennes traurig-leere Augen blickte, aus ihm aber anscheinend keine weiteren Informationen herausbekommen würde, drehte er sich schweigend um und ging ziellos weg von der kleinen Gruppe.
“Nicht, lass mich bitte.”
Paul wollte gerade seinem Freund folgen und ihn etwas beruhigen, doch FX hielt ihn an der Schulter fest. Paul überlegte kurz, fühlte in seinen Parabatei hinein und entschied sich schließlich dafür, FX tatsächlich den Vortritt zu lassen.
“Danke, Paul. Könnt Ihr bitte irgendwie die anderen beiden kontaktieren, dass sie hier auch herkommen sollen?”
Mit großen Schritten hatte FX den Schattenjäger schnell eingeholt und schnitt ihm kurzerhand den Weg ab.
“Weißt Du eigentlich, was dieses Portal für uns …”
FX hob nur die Hand und deutete Emil an, zu schweigen. Dieser seinerseits war es nicht gewohnt, dass ihm das Wort abgeschnitten wurde. Aber irgendwie hatte dieser lange Lulatsch gerade so viel Energie in diese eine Handbewegung gelegt, dass er, ob er wollte oder nicht, gar keine andere Wahl hatte, als seinen Satz mittendrin abzubrechen.
“Henne war bereit, sein Leben dafür zu geben, und fast wäre genau das auch passiert.”
“Oh heilige Scheiße!”
Emil entglitt die Fassung total. Seine Knie gaben nach und er sackte zu Boden. FX konnte ihn noch schnell genug auffangen und wieder hochziehen, um ihn danach fest in den Arm zu halten. Er wusste nicht, wie lange sie so verharrten, aber es war auch unwichtig. Für beide fühlte es sich wie eine Ewigkeit an.
Erst als FX spürte, dass sich Emil wieder halbwegs beruhigt hatte, erklärte er ihm in knappen Sätzen, was gerade bei Henne im Zirkel des Feuers passiert war und wie knapp nur er dem Tod durch Verbrennen entgangen war.
Emil konnte es immer noch nicht fassen, ihm standen die Tränen in den Augen. Die Aufgabe der Schattenjäger war es, die Menschen zu beschützen, nicht sie in den Tod zu schicken. Er hatte diese Aktion vollkommen falsch eingeschätzt. Nur dem beherzten Eingreifen von FX hatte Henne sein Leben zu verdanken. Wäre er nicht gewesen, dann wäre jede Hilfe zu spät gekommen, wenn es denn überhaupt aufgefallen wäre. Denn weder er noch Paul hatten es bemerkt, dass einer der vier Freunde in Schwierigkeiten steckte.
“Ich …”
Emil rang nach wie vor nach Worten, aber FX ließ ihm keine Zeit, sich wieder zu besinnen. Er zog ihn quer über den Innenhof zurück zu der kleinen Gruppe, die in der Zwischenzeit wieder komplett war. Henne hatte ihnen mental eine kurze Nachricht geschickt und Ben hatte Michel durch die verschränkte Materie genauso abgeholt, wie die Freunde zuvor in die Zirkel gekommen waren.
Kaum dass FX mit Emil im Schlepptau wieder bei der Gruppe war, bildete sich ganz automatisch ein Korridor zwischen den Freunden, der Henne in die Mitte stellte. Emil befreite sich von FX’ Griff und ließ diesen am Rande der Gruppe zurück. Mit entschlossenen Schritten trat er Henne entgegen und blieb nur wenige Zentimeter vor ihm stehen. Zu keinem Zeitpunkt hatte er ihn in die Augen geschaut, sein Blick klebte förmlich am Boden.
Emil machte einen Ausfallschritt zurück und kniete in einer geschmeidig fließenden Bewegung vor Henne nieder, als sei dieser der König seines Reiches. Nach wie vor den Augenkontakt meidend, griff er sich an den Hals und nahm eine filigrane Kette mit einem kleinen blauen Stein ab, hielt sie mit beiden Händen hoch zu Henne und starrte unverändert auf den Boden.
Keiner der vier Freunde konnte diese Geste der Unterwerfung in ihrer Vollständigkeit deuten, aber alleine die Tatsache, dass Emil, der Krieger, schon vor Henne, dem kleinen Punk, kniete, war für alle bereits eindeutig genug. Nur Paul wusste mehr als alle anderen und hielt vor Schreck und Ehrfurcht die Luft an. Er hielt sich das Herz, nur um auch ganz sicher zu gehen, dass es weiter schlagen würde.
Hennes Kopf war leer. Er wusste gar nichts mehr. Vermutlich wäre ihm nicht einmal mehr sein eigener Name eingefallen, hätte ihn jemand in diesem Augenblick danach gefragt. Stattdessen handelte er ganz intuitiv: Statt nach der Kette zu greifen, fasste er vorsichtig die beiden Hände von Emil an und führte diese hoch, damit Emil ihm unter seiner Führung die Kette umlegen konnte.
Es kostete Emil ein bisschen Überwindung, war dies doch total gegen ihr Gesetz, dass er dem Menschen die Kette umlegte. Andererseits war es genauso gegen ihr Gesetz, diese Reliquie einem Menschen zu geben. Es sah vor, dass der Mensch die Kette verweigerte.
Aber das war jetzt auch egal. Er, Emil, war derjenige, der sich unterworfen hatte. Er hatte in dieser Situation keine Meinung zu haben. Dass der Mensch nicht nach ihren Gesetzen handelte, konnte man ihm nicht vorwerfen, er kannte sie ja nicht. Daher ließ er Henne gewähren, stand langsam auf, wobei er weiterhin zu Boden schaute und sich jeglichen Blickkontakt verbat. Er spürte, wie Henne seine Hände hob und die Kette um seinen Hals legte.
Henne platzierte Emils Hände auf seinen Schultern und deutete ihm mit einem leichten Druck auf den Handrücken an, dass er sie doch belassen sollte. Und dann passierte erneut etwas, was nicht hätte passieren dürfen. Henne fasste Emil mit beiden Händen an die Wangen und drehte seinen Kopf hoch, damit er ihm in die Augen schauen sollte.
Aber Emil wusste, dass er das nicht durfte. Nicht jetzt, nicht hier. Er hatte das Leben von Henne leichtsinnig riskiert, weshalb er definitiv nicht das Recht hatte, ihm jetzt in die Augen zu schauen. Und wieder setzte sich Henne durch. Emil wusste nicht, wie der kleine Mann vor ihm das fertigbrachte, woher er die mentale Kraft nahm, ihm seinen Willen zu verbiegen, aber er ließ es geschehen. Er blickte ihn an und starrte voller Überraschung in ein mit Tränen überströmtes Gesicht. Nun erkannte Henne seinerseits durch einen Schleier aus Tränen, dass es auch Emil nicht anders erging und auch dieser seinen Emotionen freien Lauf ließ.
Eine unheimliche Stille lag über dem Innenhof der Universität, als sich Henne und Emil immer noch schweigend in den Arm nahmen. Emil sehr zögerlich, Henne umso herzlicher und intensiver.
Erst als die Schatten länger wurden, realisierten die Freunde, wie viel Zeit tatsächlich schon verstrichen war. Besonders Paul tat einen tiefen Seufzer und schnappte erleichtert nach Luft. Diese Szene, so ungewöhnlich und bewegend sie war, hatte besonders ihn mitgenommen, hatte er doch die Gefühle seines Freundes direkt miterlebt.
“Diggi, woll’n wa uns nich vielleicht setzen?”
Ben ertrug das Schweigen einfach nicht mehr. Jetzt, wo der Höhepunkt dieser Show, die weder er noch seine Freunde richtig verstanden hatten, vorbei war, musste er einfach etwas sagen um ein Ventil für seine Verwirrung zu finden.
Und sein Vorschlag wurde von allen mit großer Begeisterung angenommen. Irgendjemand hatte plötzlich einen Picknick-Korb in der Hand und sogleich saßen sie neben dem Springbrunnen im Gras und stießen mehr als erleichtert mit einem Glas Rotwein auf sich selbst und das Leben an.
“Diggi, was’n da nu bei Euch passiert? Was’n hier passiert?”
Nachdem die erste Ladung Baguette und Käse verspeist war, fing Henne an zu erzählen, wie es ihm ergangen war. Erst ganz leise und zögerlich, so dass sich die Freunde sehr auf seine dünne Stimme konzentrieren mussten. Aber je länger er erzählte, wie er zuerst alleine versuchte, dass sich ausbreitende Feuer zu bekämpfen um wenig später dann aufzugeben und vergebens einen Fluchtweg zu suchen. Er beendete seine Zusammenfassung mit der Rettung von FX durch das Weiß. Dessen philosophischen Exkurs und Ausblick in die Zukunft spülte er mit einem großzügigen Schluck Rotwein hinunter. Zu seinem Bedauern musste er feststellen, dass er sehr bitter schmeckte, obwohl er seinem Gaumen bisher geschmeichelt hatte.
Paul nickte seinem Freund aufmunternd zu, jetzt seinen Teil der Geschickte zu erzählen, doch Emil war noch immer nicht wieder ganz bei sich selbst. Es bedurfte eines Augenzwinkerns von Henne und einer Prise Glück, die er ihm schickte, bis er endlich aus der Sicht der Schattenjäger den zweiten Teil der Geschichte mit dem Fast-Portal erzählte. Emils Teil endete mit dem Augenblick, als FX ihm offenbarte, dass Henne fast gestorben wäre und dem Erscheinen der restlichen Freunde kurz darauf.
“Diggi, ich hab’s gehört, aber ich raff’s immer noch nich!”
Ben sprach aus, was seine drei Freunde ebenfalls dachten. Zwar waren nun alle auf demselben Stand der Geschehnisse, jedoch die letzte Szene hatten sie immer noch nicht verstanden.
“Euch fehlt jetzt aber noch ein bisschen Hintergrundwissen aus der Welt der Schattenjäger.”
Paul räusperte sich und blickte zu Emil, weil es eigentlich an ihm war, auch den Rest der Erklärungen zu liefern. Aber dieser schüttelte nur den Kopf und schluckte trocken. Er versuchte aufzustehen und die kleine Gruppe zu verlassen, aber Henne war schneller. Noch bevor sich Emils Hintern vom Boden löste, drückte Henne ihn freundschaftlich aber bestimmt wieder nach unten. Er unterstrich seinen Wunsch mit einem fast nicht merklichen Nicken, erst in Emils Richtung, dann zu Paul, der den Freunden nun seinerseits ein neues Kapitel der Schattenjäger eröffnete.
So stellte sich heraus, dass die Schattenjäger ihr eigenes Leben immer über das der Menschen stellten, um sie vor der dunklen Welt zu beschützen. Dies war ihr höchstes Ziel und somit absolut konträr dazu, dass Emil leichtsinnig das Leben von Henne aufs Spiel gesetzt hatte. Natürlich hatte er das nicht direkt, zumal der Plan für den Einsatz auch gar nicht von ihm kam, aber er hätte erahnen müssen, dass es Schwierigkeiten geben könnte beim Versuch, die Zirkel zu aktivieren. Erst Recht, da das Feuer stets ein unberechenbares Element war.
Und das war schließlich der Grund, warum Emil hinterher bei Henne um Verzeihung gebeten hatte. Paul unterstrich, dass es in der Geschichte der Schattenjäger bisher nur zwei Mal vorgekommen war, dass ein Kämpfer bei einem Menschen um Vergebung bat und bitten konnte.
“Diggi, und was, wenn er nein gesagt hätte?”
“Naja, genau das ist bei den letzten beiden Malen passiert. Ihr Gesetz sieht vor, dass der Schattenjäger in diesem Fall sein Leben für den Menschen beendet.” Emil war wieder da, war wieder der Alte. Mit seiner monotonen Stimme, die gerade deswegen so aufregend klang, sprach er gerade davon, dass Henne soeben über sein Leben und Tod entschieden hatte. “Aber das ist bisher ja auch nur zwei mal passiert.”
“Moment!”, schaltete sich Henne in die Unterhaltung ein. “Du meinst, diese Nummer gabs in den letzten hundert Jahren schon zwei Mal und beide Male hat ein Mensch die Bitte verwehrt?”
“Bis auf die einhundert Jahre vollkommen korrekt. Unsere Geschichte reicht deutlich weiter zurück, aber darum geht’s hier ja gerade nicht.”
Instinktiv fasste sich Henne an den Hals und danach rutschte seine Hand tiefer runter zu dem Anhänger, den er von Emil umgehängt bekommen hatte.
“Oh, das ist übrigens ein Arkanum. Eine sehr mächtige Reliquie, die es nur in wenigen Ausführungen gibt. Halte sie in Ehren, wenn Du sie brauchen solltest, wird sie Dir helfen.”
Henne konnte sich nur ein stummes Nicken abringen, so sehr war er von dem Geschenk beeindruckt. Um wenigstens irgendeine Reaktion von sich zu geben, hob er sein Glas und sprach erneut einen Toast aus.
“Auf die Schattenjäger, auf die Zweiundvierzig, auf die Freundschaft und auf das Leben!”
Mit großer Freude stellte Henne fest, dass dieser Schluck Rotwein sogleich eine wahre Geschmacksexplosion in seinem Mund verursachte. Weggespült waren all seine schlechten Gedanken und er blickte glücklich in eine Runde sehr guter Freunde.
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