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Quartett
Teil 50 - Silvester
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
56. Silvester
„Darf der eigentlich nass werden? Was wohl die zickige Oberschwester dazu sagen würde.“
„Diggi! Emil! Paul! Da seid Ihr ja wieder!“
Nach dem ausgiebigen Essen am Silvesterabend hatten es sich die vier Freunde im Whirlpool auf dem Dach der Universität bequem gemacht. Pünktlich in der Nacht zu Heiligabend waren die Temperaturen gefallen und eine gehörige Menge Schnee hatte das Schloss und die umgebenen Wälder in eine dicke weiße Schicht gehüllt.
Der untergehende Vollmond erleuchtete die Umgebung in einem gespenstisch blassem Weiß und der Schnee dämpfte die ohnehin kaum vorhandenen Geräusche. So war auch das ständige Brodeln des Whirlpools nur schwach zu hören, hüllte die Freunde jedoch von unten her in ein angenehm warmes Klima.
Ihr Plan war es, den Jahreswechsel wieder im warmen Wasser zu verbringen, weshalb sie sich mit einer ausreichenden Menge Getränke versorgt hatten, damit niemand das dampfende, wohl temperierte Wasser vorzeitig verlassen musste.
„Nö.“
„Dann solltest Du Deinen Gipsarm vielleicht nicht ins Wasser tauchen, wenn er nicht nass werden darf, oder?“
Emil war aus dem Halbdunkeln, wo ihn Ben dennoch erspäht hatte, hervorgetreten und stellte sich hinter FX an den Rand des Whirlpools. Behutsam strich er dessen Dreads zur Seite, so dass Hals und Schultern frei lagen und griff mit seinen langen dünnen Fingern danach. Langsam und vorsichtig begann er, FX den Nacken zu massieren. Ganz zaghaft ertasteten seine Finger die Muskeln unter der Haut und sehr zielstrebig fanden sie ein paar verhärtete Bereiche, die Emil nun etwas kräftiger bearbeitete.
Eigentlich wollte FX noch etwas auf Emils Frage entgegnen, jedoch konnte er sich nicht zu mehr als einem leisen Brummen bewegen. Zu sehr genoss er gerade diese wundervolle Nackenmassage unter freiem Himmel. Emil hatte wahrlich goldene Hände, mit denen er bei FX gerade ein kleines Wunder vollbrachte. Im Schwimmtablett vor ihm stand sein Cocktail, unter ihm brodelte der temperierte Whirlpool, hinter ihm stand ein attraktiver junger Mann, der ihm gekonnt den Nacken massierte. FX war bereit, das neue Jahr zu empfangen, besser konnte der Jahresabschluss nicht werden. Wüsste er es nicht besser, würde er das hier gerade für das Paradies halten.
„Diggi, der FX kann das Wasser teilen!“
Für Ben war die Stille wie fast immer unerträglich, so dass er mit der Antwort für FX nicht hinter den Berg halten konnte.
„Interessant.“ Emils Antworten waren wir üblich absolut ohne Betonung. In Monotonie und Sprachmelodik konnte er nach wie vor jeden Sprachcomputer der 80er unterbieten. „Ich hörte davon, dass Ihr so etwas könnt, dass Ihr Eins seid mit den Elementen.“
„Das wiederum ist leider nicht ganz richtig.“
FX zögerte die Antwort so lange es ging heraus, aber da es niemand aus der Runde besser wusste, sah er sich gezwungen, diese Aussage von Emil zu korrigieren, bevor sie sich jemand merkte. Zu Recht befürchtete er, dass sich seine göttliche Massage gleich dem Ende neigen würde.
Mit großem Unwillen legte FX seinen Kopf in den Nacken und limitierte damit signifikant den Aktionsradius von Emils Händen. Dafür jedoch konnte er einen atemberaubenden Blick von unten her auf Emil erhaschen. Da er selbst weit über zwei Meter groß war, geschah es nur selten, dass er zu anderen Menschen aufblickte. Und noch dazu zu solch gut aussehenden. Von hier unten sah der kantige Unterkiefer von Emils Gesicht noch eckiger aus und die schulterlangen weißblonden glatten Haare ließen seinen Kopf noch schlanker wirken. Am Hals erkannte er im Mondschein die Ausläufer seiner Tattoos, die, wie er wusste, gar keine richtigen Tattoos sondern Runen mit ganz besonderen Kräften waren.
„Wir sind nicht Eins mit den Elementen. Aber andere Wesen können das. Das weißt Du bestimmt besser als ich. Nein, bitte nicht aufhören, sonst kann ich das auch nicht weiter erklären.“
Emils Hände hielten für einen kurzen Augenblick inne, weil die Erklärung von FX gerade eine interessante Wendung zu nehmen schien. Und dieser kurze Moment blieb von FX nicht unbemerkt.
„Danke, mein Lieber. Wir sind nicht Eins mit den Elementen, aber wir haben einen verdammt guten Draht zu ihnen. Wir sind sozusagen beste Freunde und können uns alles von ihnen wünschen, was die Naturgesetze hergeben. Wir können die Naturgesetze verbiegen und verschieben. Aber nicht brechen. Auch wir haben Grenzen, wobei die sehr, sehr flexibel sind.“
Um das besser zu demonstrieren hob FX seinen linken Arm aus dem Wasser und deutete auf die Wasseroberfläche. Dort beschrieb er mit dem Zeigefinger einen Kreis und simultan dazu bildete sich eine faustgroße Wasserkugel aus der Wasseroberfläche heraus. Dann hob er seinen Zeigefinger und die wabernde Kugel aus Wasser folgte langsam der Bewegung seines Fingers und begann in der Luft zu schweben und der Schwerkraft zu trotzen. Vorsichtig dirigierte er die Kugel dann auf einer spiralförmigen Bahn aufwärts, bis sie wabernd über den Köpfen der Freunde schwebte.
Mit einem Fingerschnipp genau in dem Moment, als die Kugel über dem Kopf von Ben schwebte, gewann die Schwerkraft wieder die Oberhand und die Kugel sauste hinunter und zerplatze wie eine Wasserbombe auf Bens Kopf.
„Aaarg! Diggi, Du Arsch, meine Haare!“
Alle außer Ben brachen in ein schallendes Gelächter aus, als sie den halb überraschten, halb entsetzten Ben vor sich sahen. Nur Ben sah aus, als käme er gerade aus einem Regenschauer, und seine akkurat verwirbelte Surfer-Frisur klebte traurig an seinem Kopf.
„Du siehst, wir können ganz gut mit den Elementen. Wir können zum Beispiel das Wasser teilen. Aber wir können auch die Schwerkraft beeinflussen und Dinge schweben lassen.“
„Faszinierend.“
„Wird Euch da draußen eigentlich nicht kalt?“
So langsam machte sich Henne Sorgen, dass die beiden Spätankömmlinge in dem Dezemberschnee nicht erfroren.
„Da wiederum haben wir einen kleinen Heimvorteil. Wir sind wechselwarm und unser Körper funktioniert sowohl bei Kälte, als auch bei Wärme sehr gut. In gewissen Grenzen natürlich. Am Nordpol ist niemand von uns gerne besonders lange.“
„Was auch immer ‚besonders lange‘ bedeutet - in der Zwischenzeit habe ich mich an die Relativität einiger Begriffe von FX und Euch durchaus gewöhnt.“ Henne kratzte sich nachdenklich am Kinn, bevor er fortfuhr. „Ihr seid dennoch herzlich eingeladen, den Jahreswechsel mit uns hier im warmen Nass zu verbringen. Wenn Ihr denn wollt.“
Henne war von der unglaublichen Geschwindigkeit der beiden Schattenjäger komplett überrascht. Emil und Paul zogen sich dermaßen schnell aus und waren einen Augenblick später schon zu ihnen in den Whirlpool gesprungen, so dass es eine kleine Überschwemmung gab.
„FX, pass auf, wenn du den Pool verlässt, dass du nicht ausrutschst und Dir den anderen Arm brichst, okay? Ich werde Dich dann bestimmt nicht füttern! Das übergeschwappte Wasser hat den Boden um den Whirlpool bestimmt in eine Eisbahn verwandelt.“
„Wie fürsorglich Du sein kannst, Michel. Dankeschön!“
„Ich hoffe, Du weißt, dass das nur ein Scherz war. Natürlich würde ich Dir sogar den Arsch abwischen, wenn es sein müsste. Aber da ich auch weiß, dass es so weit nicht kommen wird, kann ich mich gerade großzügig aus dem Fenster lehnen.“
„Wie? Hattest Du Dein Training mit Jo schon?“
„Neee. Das wollten wir auf das nächste Semester verschieben. Ich bin mit den Klausuren in diesem Wintersemester schon genug ausgelastet. Meine Präkognition funktioniert bei Klausuren leider überhaupt nicht. Also bleibt mir nur klassisches Lernen. Da kann ich mich nicht noch auf eine andere Sache konzentrieren. Und wenn ich schon so was geiles machen darf, wie ein Training mit Johannes, dann will ich das auch in Gänze genießen!“
„Wer sind denn Jo und Johannes? Oder ist das ein und derselbe?“
Paul hatte es sich zwischen Henne und Ben gemütlich gemacht und blickte seinen Nebenmann fragend an.
„Das ist beides der DJ von der Sommer-Party. Emil hat Dir bestimmt davon erzählt. Aber nur FX darf ihn Jo nennen, aber ...“
„Diggi, das is bestimmt so ein zwei-Buchstaben-Ding zwischen denen.“
Michel wurde unwirsch von Ben unterbrochen.
„Naja, Fakt ist zumindest, dass die beiden mal zusammen waren. Mehr wissen wir auch nicht.“
„Ähm, Junx, ich kann Euch hören. Ich bin auch noch da.“
„Na dann, mein liebster FX“, Emil, der sich neben FX in den Whirlpool gesetzt hatte, griff mit einer Hand erneut in dessen Nacken und begann wieder, ihn zu massieren, „erzähl uns doch einfach die ganze Geschichte. Wir haben schließlich den Rest des Jahres Zeit dafür.“
„Liebster Emil, so viel gibt es da nicht zu berichten. Schmutzige Wäsche werde ich in diesem Zuber bestimmt nicht mit Euch waschen. Und viel mehr, als dass wir mal eine Zeit lang ein Paar waren, gibts eigentlich nicht zu sagen.“
„Ich weiß ja, dass Zeit für Dich eine andere Rolle spielt, als für uns, aber kannst Du ‚eine Zeit lang‘ vielleicht etwas genauer definieren?“
Hennes empathische Sinne hatten sich gerade wieder gemeldet und er wusste sofort, dass FX seinerzeit eine sehr große Liebe gefunden und auch wieder verloren hatte.
„Also es waren so gut zweihundert Jahre.“
„Zweihundert Jahre? Das ist ja ein ganzes Leben lang!“
Paul nickte anerkennend.
„Dem entnehme ich, dass auch Schattenjäger älter werden als Menschen?“
Seitdem Ben die Rune der Stärkung auf Emils Brust an dessen Geburtstag am Strand bei Tarragona erneuert hatte, hätten eigentlich alle wissen sollen, dass Schatten-Jäger deutlich älter wurden als Menschen. Dennoch war es FX wichtig, das hier noch einmal in aller Deutlichkeit zu wiederholen.
„Ja, wenn wir nicht im Kampf sterben, dann ist unsere natürliche Lebenserwartung gut zweihundert Jahre.“
Paul sprach und Emil nickte.
„Demnach seid Ihr so etwa fünfzig?“
Michel hatte mehr geschätzt und geraten als gerechnet.
„Genau, das trifft es in etwa. Wir haben unsere Ausbildung absolviert und sind seit ein paar Jahrzehnten im aktiven Dienst.“
„Und das Studium hier? Wie passt das in Euren Bildungsweg?“
„Sag mal, Michel, neugierig bist Du gar nicht, oder?“
Emil mischte sich in das Gespräch ein.
„Paul? Darf ich?“
Nachdem Paul fast unmerklich genickt hatte, fuhr Emil in seiner unnachahmlich monotonen Sprechweise fort.
„Also es ist unspektakulärer als man meint. Einerseits wollten wir nochmal irgendetwas ‚normales‘ lernen. Also nicht nur den Schattenjäger-Kram. Und dann kam der Rat, also unser oberstes Gremium, auf die Idee, uns exakt in diese Uni zu schicken. Ehrlich gesagt wissen wir nicht, warum es ausgerechnet hierher gehen sollte. Naja, wussten wir zumindest anfangs nicht. Wir vermuten mittlerweile allerdings, dass irgendjemand im Rat geahnt oder gar gewusst hat, dass FX auch hier ist. Und vielleicht sollten wir die Verbindung zwischen unseren Welten wiederherstellen.“
„Mission accomplished, Diggi!“
Ben schlug mit er flachen Hand aufs Wasser, dass es spritzte.
„Darf ich?“
Blitzschnell wanderte Pauls Blick in die Augen eines Jeden im Whirlpool und jeder der Freunde nickte mit einem breiten Grinsen.
Schon einen Atemzug später, Ben lachte immer noch darüber, dass er alle anderen nassgespritzt hatte, spürte er einen festen Handgriff auf seinem Kopf. Gerade wollte er noch wegen seiner Haare protestieren, aber dann war er auch schon mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche gedrückt und sein Aufschrei verstummte, noch bevor er gehört wurde.
„Paul, bitte halt ihn dort unten fest, so gut Du kannst!“ FX hatte plötzlich ein Leuchten in seinen blauen Augen. „Man lernt immer und ständig!“
„Da ist etwas Wahres dran. Aber was hast Du vor?“
„Warte es ab. Sieh bitte nur zu, dass sein Kopf unter Wasser bleibt. Keine Sorge, er wird nicht ertrinken. Vertrau mir bitte. Er wird nicht zu Schaden kommen. Egal was passiert, er wird sich befreien können und Du kannst es nicht verhindern. Das wird spannend!“
„Eine meiner leichtesten Übungen! Und wir werden sehen, wer gewinnt!“
Pauls Grinsen wurde umso breiter, je fester er den Kopf von Ben umfasste und ihn unter Wasser hielt. Noch hatte Ben Luft und machte das Spielchen mit, auch wenn er mittlerweile davon ausging, dass alle ihren Spaß hatten und es langsam Zeit war, wieder aufzutauchen.
„Henne, Michel? Ihr wisst, was ich vorhabe, oder?“
Das Nicken seiner Freunde zeigte FX gleich zweierlei. Erstens hatten sie sofort verstanden, dass FX die Fähigkeiten von Ben auf die Probe stellen wollte und zweitens zeigte es ihm, dass sie ihm bedingungslos vertrauten.
Henne lief jedoch ein Schauer über den Rücken. Er spürte Bens Emotionen so stark wie selten zuvor. Vermutlich lag es daran, dass er ohnehin mit seinen Freunden ein sehr enges Verhältnis hatte und er dadurch einen besonders sensiblen Draht zu deren Gefühlen hatte.
Im ersten Augenblick war es nur der Ärger, den er bei Ben spürte. Der Ärger über die nun endgültig zerstörte Frisur. Die Freude, die er noch kurz vorher hatte, war schon längst verflogen. Und nun wurde der Ärger abgelöst durch Wut. Henne spürte fast, wie Ben langsam die Luft knapp wurde und daraus resultierte jetzt die aufkeimende Wut. Wut auf Paul, der ihn berechtigterweise bei seinen Scherz Kontra gegeben hatte und dass er jetzt damit aufhören sollte. Ben hatte seine Lektion gelernt, hatte den Gegen-Spaß ertragen und war nun geläutert. Er wollte wieder auftauchen, aber Paul ließ nicht locker. Henne spürte, wie langsam aber stetig ein Quäntchen Panik in Ben aufkeimte. Seine Luft wurde immer knapper und Paul schien Ernst zu machen und ihn nicht an die Oberfläche zu lassen.
Luft!
Ben begann mit den Armen zu rudern und versuchte aufzustehen. Eigentlich sollte es ein Leichtes sein, denn der Whirlpool war nicht tief. Aber Paul war überraschend stark und hielt seinen Hinterkopf fest umklammert und drückte ihn tief unter Wasser.
Luft!
Er hatte keine Luft mehr und die Panik des Ertrinkens hatte nun eindeutig die Oberhand gewonnen. Ben versuchte sich unter Wasser an irgend jemanden zu klammern oder hoch zu ziehen, aber Paul war äußerst geschickt darin, seinen Kopf immer in einer Position zu halten, in der Ben niemanden erreichen konnte.
Luft! Luft!
Henne spürte eindeutig die Verzweiflung in Ben. Er hatte es fast aufgegeben zu kämpfen und Ben war kurz davor, seinen Mund zu öffnen. Nur mit äußerster Mühe hatte sein Geist immer noch die Kontrolle über Teile seines Körper, der so sehr danach schrie, den Mund zu öffnen und Luft einzuatmen. Aber Bens Geist wusste, dass wenn er jetzt den Mund öffnen würde, sich seine Lugen nicht mit der ersehnten Luft füllen würden, sondern mit dem warmen Wasser aus dem Whirlpool.
Luft! Luft! Luft!
Ben war geliefert. Er würde jetzt den Mund öffnen und ertrinken. Henne spürte den inneren Kampf seines Freundes und nur unter Aufbringung seiner ganzen Kraft schaffte er es, nicht einzuschreiten und Ben zu Hilfe zu eilen. Henne spürte ein letztes Aufbäumen, spürte, wie sich Ben auf einmal sehr stark konzentrierte. Aber er schien seinen Fokus auf etwas anderes gerichtet zu haben als noch einen Augenblick zuvor. Ben richtete nun seine gesamte Willenskraft auf eine einzige Aktion.
Das Platschen und Spritzen verstarb ganz plötzlich.
Paul, der mit großer Kraft Bens Kopf nach wie vor unter Wasser gehalten hatte, verspürte plötzlich keinen Gegendruck mehr, so dass er selber komplett untertauchte, als sei er abgerutscht. Sofort tauchte er wieder auf und beobachtete die neue unbekannte Situation.
Ben war verschwunden.
FX war es nahezu im gleichen Augenblick ebenfalls. Emil, der nach wie vor seine Hand in dessen Nacken gelegt hatte, griff plötzlich ins Leere.
In letzter Sekunde hatte Ben zum Sprung nach Links angesetzt und war in die achte Dimension zwischen die Atome gesprungen. In eine Welt, in der er leben konnte, wo er nicht zu atmen brauchte, wo es nahezu keine Gefahren gab. Eine Dimension, in der er sicher war. Genau darauf hatte FX gewartet. Genau das hatte FX bezweckt. Er sprang hinterher, fing den halb ohnmächtigen Ben dort auf und sprang dann mit Ben im Arm wieder zurück in die drei Dimensionen.
FX saß wieder im Pool, hatten Ben auf seinem Schoß und umklammerte ihn fest. Er wusste, dass Ben bei Bewusstsein war. Sein Körper war zwar total erschöpft, aber sein Geist war wach und bereit, alles aufzunehmen. Leise, für die anderen nicht hörbar, flüsterte FX seinem Freund etwas ins Ohr. Zwar zeigte Ben keinerlei Reaktion, aber er hatte gehört und verstanden, was FX ihm gesagt hatte. Ein weiteres Mal drückte FX vorsichtig Bens Ohr zu seinem Mund und erneut sprach er nur für ihn hörbar. Diesmal nickte Ben langsam. Sein Atem hatte sich mittlerweile wieder beruhigt und war fast regelmäßig.
„Trotzdem Du Arsch, Diggi!“
Ben konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er wusste, dass FX Recht hatte. Er wusste, dass Gefahren immer und überall lauern konnten und dass man deswegen jederzeit im Stande sein muss, seine Fähigkeiten einzusetzen.
„Diggi, immerhin hab ich Dich mit meinem Übergang in die Achte Dimension auch etwas überrascht!“
Mit einem breiten Grinsen deutete Ben auf die komplett nassen Haare von Paul.
„Henne, Diggi, Du warst bei mir, oder? Du hast gefühlt, was ich gefühlt habe, oder, Diggi?“
Bens Blick wanderte einen Platz weiter zu Henne, der nur stumm nickte und erst jetzt wieder etwas Farbe ins Gesicht bekam.
„Voll krass, wie sehr Du Dich unter Kontrolle haben musstest. Wenn Du das gefühlt hast, was ich durchgemacht habe, war das kein Spaziergang, oder Diggi?“
Diesmal schüttelte Henne nur den Kopf. Noch immer war er nicht im Stande, etwas zu sagen, so tief saß sein Schock, den er gerade gemeinsam mit Ben durchlebt hatte.
Ben drehte sich zu FX herum, drückte ihm einen langen Kuss auf den Mund und hauchte ihm ein „Danke“ ins Ohr, bevor er sich aus dessen Umarmung löste und sich auf den kurzen Weg zu Henne durch den Whirlpool begab.
Nun war es Ben, der Henne in den Arm und auf den Schoß nahm und ihn fest drückte. Und wie zuvor FX, so flüsterte nun Ben etwas in Hennes Ohr, was nur für ihn bestimmt war. Dass eine Träne an Hennes Wange herunter rollte, konnte man dank des spritzenden Wassers vom Whirlpool kaum sehen. Aber nach kurzer Zeit konnte Henne schon wieder lächeln und gab Ben einen ausgiebigen Kuss.
„Also bevor einer von Euch uns nun erzählt, was hier gerade passiert ist und wie sich Ben aus dem Klammergriff von Paul lösen konnte, hätte ich aber auch gerne noch einen fetten Kuss!“
Mit gespielter Entrüstung stemmte Emil die Fäuste in seine Hüften.
FX ließ es sich nicht ein zweites Mal sagen. Schon immer wollte er diesen schlanken hochgewachsenen jungen Mann so richtig abknutschen.
Michel schließlich schnappte sich Paul, der als Einziger noch keinen Partner für einen hemmungslosen Zungenkuss hatte.
-.-
„Diggi, wasn nu mit diesen Kreisen?“
Ben griff seine Frage von Weihnachten wieder auf, nachdem er schon in der Woche zuvor keine Antwort bekommen hatte. Immerhin waren nun Emil und Paul wieder zugegen, die anscheinend mehr wussten als die vier Freunde.
„Du meinst die vier Zirkel.“
Emil wusste genau, was Ben meinte und was er wissen wollte. Aber er liebte es auch, andere auf die Folter zu spannen und etwas zappeln zu lassen.
„Nu machs nich so spannend, Diggi!“
„Geduld ist nicht so seine Stärke, oder?“
„Nein, war es noch nie. Das hast Du absolut richtig erkannt. Aber findest Du nicht, dass wir ihn für dieses Jahr genug gefoppt haben?“
„In Anbetracht der Tatsache, dass das Jahr nur noch eine knappe Stunde lang währt, gebe ich Dir Recht. Also, wir haben uns mal erkundigt und damit eine Menge Unruhe bei unseren Leuten ausgelöst.“
„Emil, jetzt übertreibst Du aber. Was mein Mann damit sagen möchte ist, dass es keine hundertprozentige Sicherheit über den Sinn der Zirkel gibt, aber diese theoretisch nur einen eindeutigen Schluss zulassen.“
Paul nippte an seinem Getränk, stellte es auf das schwimmende Tablett in der Mitte des Whirlpools zurück und deutete Emil an, fortzufahren.
„Also, um es kurz zu machen, glaubt unser Rat, dass die Zirkel ein Portal aktivieren würden. Und ...“
„Diggi, Dein Ernst? Warum machen wir das denn nich gleich? Das wäre doch ein amtliches Highlight im neuen Jahr!“
„Ben, nun lass ihn doch mal ausreden!“
„‘tschuldige.“
Betreten blickte Ben aufs unruhig blubbernde warme Wasser, konnte sich aber dennoch ein breites Grinsen nicht verkneifen. Der Jahreswechsel schien mehr als aufregend zu werden.
„Naja, mit der Aktivierung ist das so eine Sache. Erst einmal gilt die Sache als ziemlich sicher. Denn alle sechs Hauptportale wurden der Geschichte nach immer durch vier Zirkel aktiviert, die ihrerseits die vier Elemente darstellen. Wie das mit der Aktivierung genau geht, weiß allerdings keiner so recht. Entweder sind die Hauptportale schon aktiv oder aber zerstört. Die sekundären, also kleineren Portale hingegen haben keinen vergleichbaren Aktivierungsmechanismus. Sie entstehen im Laufe der Jahrhunderte und verschwinden auch wieder - oder werden zerstört.“
„Würde mein heißgeliebter Mann bitte auch erklären, was genau der Unterschied zwischen einem Haupt- und einem sekundären Portal ist?“
„Selbstverständlich. Wie gesagt, die sekundären Portale sind wie Ableger. Sie entstehen und verschwinden. Entweder durch Zufall, können aber auch mit etwas Übung z.B. von uns erschaffen werden. Die Hauptportale hingegen sind statisch und einzigartig. Es gibt exakt sechs davon. Und zwar paarweise antipodisch und orthogonal angeordnet.“
Emil konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und wartete ab, wer sich in der Gruppe zuerst die Blöße geben würde.
„Also Du meinst damit, dass jeweils zwei gegenüber auf den drei Hauptachsen im dreidimensionalen Raum liegen?“
Michel kratzte sich geistesabwesend am Kopf und dachte mehr laut nach, als dass er eine Frage gestellt hätte.
„Donnerwetter, Michel! Nicht schlecht! Das ist absolut korrekt. Oder anders gesagt: Stellt Euch ein dreidimensionales Koordinatensystem vor. Dann liegen die Portale jeweils auf x gleich minus einhundert und plus einhundert. Und außerdem noch auf y gleich minus einhundert und plus einhundert. Und ...“
„z gleich minus einhundert und plus einhundert. Diggi, nu hat’s auch der letzte verstanden.“
Bens war stolz auf sich, dass er endlich einmal eine mathematische Aufgabe so schnell verstanden hatte.
„Genau richtig. Das mit dem Plus und Minus sind die sogenannten Antipoden. Das bedeutet, dass auf beiden Seiten der Weltkugel Land sein muss. Denn ein Portal unter Wasser nützt uns sehr wenig. Jedenfalls gibt es auf der Welt nicht besonders viele Antipoden, also Land, wo man mit einem extrem langen Bohrer einmal durch die ganze Welt hindurch bohren könnte und wieder an Land heraus kommen würde.“
„Und wenn diese paarweisen Orte auch noch alle rechtwinklig wie die Achsen eines Koordinatensystems liegen sollen, dann wird die Auswahl schnell klein“, ergänzte Paul.
„Also sitzen wir hier an einem strategisch extrem wichtigen Punkt?“
FX war wie üblich extrem schnell im Denken und Kombinieren. Er hatte sich etwas tiefer ins Wasser gleiten lassen, so dass auch seine Schultern im warmen Nass verschwunden waren. Leider hatte Emil mit Beginn seines Vortrags aufgehört, seinen Nacken zu massieren, weshalb FX jetzt anderweitig nach Wärme suchte.
„Und die nächste Frage wäre dann: Was können diese Portale denn?“
„Du hast definitiv Recht, FX.“ Emil nickte seinem Nebenmann zustimmend zu. „Generell sind Portale strategisch extrem wichtig. Besonders die Hauptportale, da sie über deutlich mehr Kapazität verfügen als die Sekundären.“
„Emil, nun spann doch unsere Freunde nicht so sehr auf die Folter. Und Ben hier neben mir explodiert ohnehin gleich vor Neugierde. Ich will den Dreck nicht weg machen, wenn er platzt.“
Mit einer Geste ermunterte Paul seinen Mann, dass er schneller fortfahren sollte.
„Mit einem Portal kann man sich zu jedem beliebigen Punkt portieren.“
„Diggi, wie geil is das denn bitte?“
„Ja, Ben, das ist schon extrem geil, da gebe ich Dir Recht. Und es ist auch extrem gefährlich. Man kann sich damit an jeden Ort portieren, den man sich vorstellen kann. Und genau das birgt auch die Gefahr. Dafür ist viel Übung und Konzentration nötig, damit man seine Gedanken korrekt fokussieren kann. Würde man sich auf den Mond portieren, wäre das nicht einmal das Schlimmste, was passieren könnte.“
„Die Sonne wäre schlimmer, Diggi.“
„Jein. In beiden Fällen bist Du ziemlich schnell ziemlich tot und dann ist es auch egal. Erstens muss man im Hinterkopf behalten, dass es am Zielort in der Regel kein Portal für den Rücksprung gibt. Und zweitens kann man sich mit einem Portal auch problemlos in die Unendlichkeit irgendeiner Traumwelt katapultieren. Und da so eine Traumwelt nun einmal nur im eigenen Kopf existiert, wird ein möglicher Suchtrupp nie fündig werden!“
„Das klingt mehr als logisch.“ FX nickte zustimmend, konnte er der Ausführung von Emil doch problemlos folgen. „Aus großer Macht folgt große Verantwortung. Solch ein Portal wird dann vermutlich auch gut bewacht werden müssen, oder?“
„Korrekt.“ Paul stimmte seinem Gegenüber zu und fuhr fort: „Und das ist auch der Grund, warum sich unser Rat mit der Aktivierung etwas schwer tut. Zum einen weiß niemand so hundertprozentig, wie das überhaupt geht. Und zum anderen, wenn wir das Portal denn erstmal aktiviert haben, muss es auch beschützt und bewacht werden. Und das ist hier in der Uni an solch einem quasi-öffentlichen Ort nicht ganz so einfach.“
„Weiß man denn, wo genau sich dieses Portal auftun wird und wie groß es in etwa ist?“
FX überlegte, ob man es nicht vielleicht irgendwie schützen oder tarnen könnte.
„Jein. Die Position ist einfach. Das Zentrum des Portals wird in der Kreuzung der Verbindungslinien aller vier Zirkel liegen.“
„Also genau in der Mitte der Universität, das ist dann wohl ...“
FX dachte mehr laut, als dass er sich mit seinen Freunden austauschte.
„... der Brunnen hier im Innenhof. Genau! Was die Größe anbelangt, können wir nur raten. Sekundäre Portale haben einen Durchmesser von gut zwei Metern. Die Hauptportale sind in der Regel fünf bis zehn Meter groß. Eines haben sie allerdings stets gemeinsam: Sie sind immer rund.“
„Was den Brunnen als Portal wirklich in Betracht kommen lässt. Er scheint sowohl von er Position her, als auch von der Größe prädestiniert dafür. Oder was sagt Euer Rat dazu?“
FX Blick pendelte fragend zwischen Emil und Paul.
„Der Rat schließt sich Deiner Vermutung an.“
Emils Aussage klang mehr als vorsichtig und obwohl er nach wie vor in seiner monotonen Art sprach, konnte man eine leichte Verunsicherung in seiner Stimme erahnen.
„Diggis! FROHES NEUES JAHR!!!“
“Dir ist schon bewusst, dass das alles gestern Abend absolut gegen die Regeln des Rates verstoßen hat, oder?”
“Schatz …”
“Nein, nicht Schatz!” Paul war außer sich und hatte Mühe, seine Stimme gegenüber Emil nicht zu sehr zu erheben. “In diesem Falle gibt es keine Graustufen. Es ist entweder schwarz oder weiß. Und wir beide haben gestern in Champagner-Laune ganz offensichtlich gegen die Richtlinien des Rates verstoßen. Das wird jede Jury so sehen, da gibt's kein Vertun. Oder sehe nur ich das so verbissen?”
“Nein, Du hast natürlich schon Recht, aber …”
“Nein, kein Aber. Es gibt nur schwarz oder weiß. Richtig oder falsch. Und das hier war nicht richtig. Also, das können wir so nicht lassen, Emil! Das bricht uns das Genick. Eher früher denn später. Du weißt, was auf Geheimnisverrat steht.”
“Sollen wir die Vier jetzt deswegen liquidieren? Das ist jetzt nicht Dein Ernst, oder? Das glaube ich Dir nicht. Du magst sie genauso sehr wie ich. Sie sind unsere neuen Freunde. Menschen-Freunde. Endlich mal keine Schattenjäger. Und Du musst zugeben, dass unsere neuen Freunde durchaus auch interessante spezielle Fähigkeiten haben. Du willst unsere Freunde nicht umbringen, oder?”
“Du weißt genau, dass ich selbst das tun würde, wenn es keinen anderen Ausweg gäbe.”
“Dann sollten wir schleunigst nach einem anderen Ausweg suchen. Denn dabei wirst Du Dir mit Sicherheit eine blutige Nase holen … Ich bin mir sicher, dass spätestens FX eine verdammt harte Nuss ist! Und auch bei den anderen sollten wir uns nicht verschätzen.”
“Glücklicherweise steht das aber gar nicht zur Debatte, denn wir haben einen wunderschönen Plan B, der genauer gesagt sogar Plan A ist.”
“So? Haben wir?”
“Klar, wir löschen einfach ihr Gedächtnis und gut ist.”
“Und Du meinst, dass das so einfach ist.”
“Es gibt nur eine Möglichkeit, es heraus zu finden!”
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