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Quartett

Teil 51 - Ausgelaugt

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57. Ausgelaugt

Keiner der vier Freunde hätte sich jemals träumen lassen, dass sie diesen Tag erleben würden. Aber auch dieses anstrengendes Wintersemester ging wirklich vorbei. Sie hatten tatsächlich alle Klausuren des fünften Semesters mit Bravour bestanden, obwohl gerade Henne mitunter große Probleme hatte, den Stoff in seinen Kopf zu bekommen. Aber auch er konnte am Ende mit hervorragenden Ergebnissen glänzen.

Und so hatten sie die besten Voraussetzungen, sich für das vergangene Semester mit der nächsten Party zu belohnen. Besonders Michel brannte darauf, endlich wieder feiern gehen zu können. Er stand bereits seit fast einer Stunde im Bad und versuchte, seine Haare in eine ihm genehme Form zu bringen. Wohlweißlich waren die anderen Drei zuvor bereits im Bad gewesen und waren somit allesamt fertig für die große Semesterparty in den Katakomben der Universität.

Die Kommilitonen, die die Party dieses Jahr organisiert hatten, hatten bereits im Vorfeld Großes versprochen und insofern waren alle neugierig, ob dieses Versprechen denn auch eingehalten werden würde.

Es klopfte an der Tür.

Ben zuckte kurz zusammen, weil er in Gedanken ganz woanders war, sprang dann aber sogleich auf sein Skateboard und rollte die wenigen Meter durch das Wohnzimmer zur Eingangstür um Emil und Paul zu öffnen. Sie hatten sich verabredet, um gemeinsam hinunter zu gehen.

“Nabend Diggi. Püppi is noch im Bad.”

Ben wies mit einer ausladenden Geste auf das riesige Sofa und deutete den Gästen, es sich dort bequem zu machen.

“Macht es sich immer noch die Haare?” Emil ging voran und strich sich demonstrativ durch seine nach hinten gegelten silbergrauen Haare. “Dabei hat doch definitiv Henne hier die aufwändigste Frisur.”

“Moin Junx. Henne ist aber auch mit Abstand derjenige mit der meisten Routine bei den Haaren. Insbesondere, wenn es darum geht, Farbe ins Spiel zu bringen.”

Der gerade von Emil angesprochene Henne zuckte zusammen. Nicht, weil es um seinen stets auffälligen bunten Iros ging, sondern …


“Henne, geht's Dir gut?”

Natürlich wusste FX die Antwort auf seine Frage schon, es war aber eine Sache der Höflichkeit, diese Frage dennoch zu stellen. Kurzerhand hatte er sich und seinem kleinen Freund eine Auszeit in der Universellen Vermittlung verschafft. Hier im Weiß konnten sie ungestört von Raum und Zeit sein.

“Ich weiß nicht, FX. Sag Du es mir.”

Henne wusste nicht, was ihn gerade so erstrecken ließ. Er horchte genauer in sich hinein und nutzte seine empathische Fähigkeiten für sich selber. Erstaunt stellte er fest, dass er gar nicht wirklich erschrocken war, sondern dass er Angst hatte. Angst vor Emil und Paul. Nun war er verwirrt. Zwar kannte er die beiden nicht so lange wie seine anderen drei Freunde und war auch ihr Verhältnis bei weitem nicht so intensiv wie das zu Michel, Ben und FX, aber dennoch hätte er diese beiden Kommilitonen bis gerade eben noch als Freunde betitelt. Um so überrascht war er von sich selbst, dass jetzt unterbewusst Angst und Abneigung gegenüber diesen Menschen hervorkam. Das passte nicht so Recht ins Bild.

“Nun, Du fürchtest Dich gerade sehr. Furcht ist im Gegensatz zu Angst etwas diffuses, was man nicht konkret auf eine Person, Sache oder Situation fokussieren kann. Sie ist da und man weiß nicht, warum. Es ist ein Stück weit wegen Emil und Paul. Aber Du kannst es an nichts konkretem festmachen.”

“Ich hab sie gesehen und plötzlich ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Ich weiß auch nicht, warum. Das sind doch unsere Freunde … Oder?”

Nun war es FX, der kurz schlucken musste, weil er sich selbst auch gerade nicht im Klaren war, ob die beiden Schattenjäger wirklich ihre Freunde waren. Zumindest war er sich so weit im Klaren, dass sie nicht ihre Feinde waren. Wenngleich ihre Beziehung gerade einen erheblichen Kratzer bekommen hatte.

FX, der schon von Beginn an im Schneidersitz im Weiß saß, deutete an, dass sich Henne zu ihm setzen sollte. Dieser nahm die Aufforderung dankend an und setzte sich ganz selbstverständlich in den Schoß seines Freundes. FX war nur kurz überrascht und schloss den kleinen Punk sogleich in den Arm und kuschelte sich von hinten an ihn heran.

So geborgen entfleuchte Henne ein tiefer Seufzer, der selbst in der Unendlichkeit des Weiß doch ein kleines Echo zu produzieren schien.

“Henne, zwei Herzen schlagen ach in meiner Brust …”

“Du weißt also mehr als ich? Und Du darfst oder willst es mir nicht sagen?”

Jetzt war FX wirklich überrascht. Anscheinend kannte ihn sein Freund doch besser, als er gedacht hätte.

“Du kleiner süßer Punk, ich weiß nicht, wie Du es schaffst, aber Du überrascht mich immer wieder.”

“FX, ich bin ein Empath. Manchmal bist Du echt einfach zu lesen. Eigentlich sehr selten, um ehrlich zu sein, aber hier im Weiß bist Du anscheinend sehr nachlässig, ist mir aufgefallen.”

Es fühlte sich an wie ein Stich ins Herz. Er hörte sich an wie sein Lehrer Eggsy. Aber von Henne hörte er so etwas viel lieber, als von seinem Herrn und Meister. Innerlich musste er schmunzeln, ließ seine Abwehr jetzt aber absichtlich unten.

“Es gibt Orte, an denen ich mich Zuhause fühle. Paradoxerweise gehört die Sterilität der Universellen Vermittlung dazu. Und wenn ich mich Zuhause fühle, dann werde ich tatsächlich nachlässig. Danke für den Hinweis.”

Von hinten hauchte er einen Kuss an Hennes Ohr bevor er fortfuhr.

“Ja, Du hast Recht. Ich weiß mehr, als Du und ich kann es Dir noch nicht erzählen. Ich bitte Dich um etwas Geduld, das Ganze wird aufgeklärt werden, dafür werde ich persönlich sorgen. Sei Dir gewiss, ich bin mit der jetzigen Situation auch nicht einverstanden, ich bin gerade aber auch nur Zuschauer in einem Theater, werde aber bald auf die Bühne kommen und das Zepter schwingen.”

“Meine Güte, FX, nun sei mal nicht so theatralisch!”

Mit einem Satz gelang es Henne, sich aus der Umarmung von FX zu lösen, hochzuspringen und genau andersherum wieder in seinem Schoß zu landen. Jetzt sah FX das wieder vergnügt lächelnde Gesicht von Henne direkt vor seinen Augen. Er bekam einen dicken Schmatzer auf seine Lippen gedrückt.


Gespielt freudig sprang er auf und umarmte die beiden Gäste herzlich.

“Ach komm schon, FX, der erste Preis beim Thema Geschwindigkeit im Frisieren geht doch definitiv an Dich, oder hat jemand Einwände?”

Henne machte eine gute Miene zum Spiel, und beschloss, sich heute nicht von solch abstrusen Gedanken leiten zu lassen. Heute war wieder die Semesterabschlussparty angesagt und deswegen wollte er mit seinen Freunden, all seinen Freunden, Spaß haben. Um von sich selbst abzulenken deutete er auf die Dreads von FX, die wie immer lustig hin und her hüpften, als hätten sie ein Eigenleben.

“Diggi, was darfs zu trinken sein? Unser Prinzessin braucht ja bestimmt noch etwas länger und so auf dem Trockenen will ich hier auch nicht rumhocken.”

Aus dem einen Bier wurden dann doch noch zwei, bis Michel endlich aus dem Bad kam. Seine hautenge Hose endete eine Hand breit über den Knöcheln und brachte damit sowohl seine leicht gebräunte Haut als auch seine trainierten Waden gleichermaßen zur Geltung. Als Oberteil trug er ein weißes Hemd, welches er fast bis zum Bauchnabel hin aufgeknöpft hatte.

“Diggi, und Du bist sicher, dass Du nich das Hemd von Henne erwischt hast? Das is Dir ja um zwei Nummern zu klein!”

“Ben, ich bin fast geneigt, Dir da recht zu geben, allerdings habe ich keine weißen Hemden. Aber mal im Ernst, Michel, bist Du jetzt fertig aufgebrezelt? Wir haben hier schon mal vorgeglüht, weil Du einen Augenblick länger gebraucht hast, als erwartet.”

Michel schritt wortlos an seinen Freunden vorbei und würdigte sie keines Blickes. Stattdessen ging er zielstrebig zu Emil und Paul hinüber und drückte beide herzlich.

“Können wir endlich los?”, war auch das Einzige, was er von sich gab.

Er öffnete die Tür und die kleine Gruppe machte sich auf den Weg ins Untergeschoss, wo die große Party in einem riesigen Gewölbe schon im Gange war.

Es war eine unglaublich große unterirdische Halle, die anscheinend allen Gesetzen der Statik trotzte und dennoch der dröhnenden Musik und den Vibrationen der tanzenden Studenten standhielt. Michel stürzte sich sofort in das Gemenge auf der Tanzfläche. Er hatte das ausgelassene Tanzen in den letzten Monaten sehr vermisst.

“Also ich kann nicht tanzen, ich bin krank!” Mit einem breiten Grinsen winkte FX mit seinem Gipsarm. “Dafür würde ich als Ausgleich allerdings die erste Runde spendieren. Hilft wer tragen?”

Emil machte einen Schritt auf FX zu und deutete mit einem Kopfnicken zur Bar. Die anderen Drei blickten kurz in die Runde und warfen einen prüfenden Blick auf die kleinen Nischen, die sich in regelmäßigen Abständen in der Wand befanden.

“Es müsste dort drüben stehen.”

Ben deutete auf eine der letzten Nischen und setzte sich langsam rollend in Bewegung. Die anderen folgten ihm, wobei Paul etwas fragend auf Henne blickte. Dieser bedeutete ihm mit einer Geste, kurz abzuwarten.

Kaum hatte Ben die vorletzte Nische erreicht, hatte er auch schon die vier uralten Holzfässer gesehen, die alle gut belagert waren mit Kommilitonen aus den höheren Semestern. Doch als die ersten seiner Mitstudenten den blonden Skater neben dem kleinen Punk mit dem regenbogenfarbenen Iro sahen, machten sie schnell einen Schritt zurück und gaben das Fass, welches in der Ecke der Nische stand, sofort frei.

“Den Trick müsst Ihr mir gleich noch verraten.”

Paul hatte sich insgeheim den ganzen Abend schon etwas geärgert, dass Michel so unglaublich lange im Bad brauchte, denn er wusste, dass zu dieser späten Stunde alle Stehtische und vor allem die heißbegehrten Fässer belegt waren. Natürlich wusste er, dass die Fässer ausschließlich dem Abschlussjahrgang vorbehalten waren, aber selbst die waren natürlich schon voll belegt. Umso überraschter war er, als jetzt plötzlich wie auf Knopfdruck alle ein für sie reserviertes Fass frei machten.

“Diggi, also die Details musst Du schon FX fragen, aber er hat definitiv am Ende des ersten Semesters hier eine ordentliche Duftmarke hinterlassen.”

Ben deutete auf die antike Messingplatte, die in dem uralten Holz des Weinfasses eingelassen war: RESERVIERT FÜR ARSCHLÖCHER.

“Oh, Ihr habt einen freien Platz gefunden?”

In Emils Stimme, die sonst immer sehr monoton und ausdruckslos klang, schwang ein Hauch der Verwunderung mit, als er die Biere auf den Tisch stellte.

„Ich glaube, Ihr seid uns eine Erklärung schuldig. Aber, wenn ich es mir recht überlege, dann vielleicht auch nicht. Ich kann mir das schon halbwegs denken. Wir waren damals auf einer Mission, so dass wir die Geschichte nur vom Hörensagen kannten. Namen sind damals nie gefallen, aber jetzt ergibt das alles deutlich mehr Sinn!”

Mit einem Augenzwinkern blickte Emil zu FX hinüber, der nur unschuldig mit den Schultern zuckte, zum Glas griff und seinen Freunden zuprostete.

Die Gläser waren schnell geleert und die nächste Runde musste her. Diesmal meldeten sich Paul und Henne freiwillig für das Getränke-Taxi und schon waren sie in der Menge verschwunden. Dann und wann konnte man Hennes bunten Iro noch durch die Massen leuchten sehen, aber als sie in Richtung Tanzfläche steuerten, versank auch dieser Farbklecks im Flackerlicht der Scheinwerfer.

Nur wenige Augenblicke später zuckte FX zusammen, als er von einer Angstwelle seines Freundes Henne überrollt wurde. Da Henne ein Empath war, und durch unaufhörliches Üben auch in der Klausurenzeit seine Fähigkeiten kontinuierlich verbessert hatte, war die Bindung zwischen den Beiden immer besser geworden.

„Mist, da ist etwas passiert. Kommt, wir müssen zu den anderen!”

Ohne sich weiter umzudrehen, ging FX zielstrebig durch das feiernde Volk hindurch in Richtung Tanzfläche und Bar. In diesem Augenblick strahlte er alleine schon durch seine Größe eine solche Dominanz aus, dass die Menschen ihm und seinen nachfolgenden Freunden ganz automatisch aus dem Weg gingen.

Am Rande der Tanzfläche hatte er seine Freunde schnell gefunden: Paul und Henne hockten über Michel gebeugt, der bewusstlos am Boden lag. In FX schrillten alle Alarmglocken, denn hier stimmte offensichtlich etwas nicht.

„Los, raus hier! Sofort!”

Henne und Emil, die Michel immer noch am nächsten waren, griffen ihn sofort unter den Armen und zogen ihren bewusstlosen Freund hinter FX hinterher. Bei Michel regte sich gar nichts mehr, seine Füße schleiften am Boden, als er von seinen Freunden mehr gezogen denn getragen wurde. Paul und Ben bildeten die Nachhut und schirmten den armen Michel so gut es ging vor neugierigen Blicken ab. Jedoch mussten sie feststellen, dass hier auf dieser Party von jemandem, der augenscheinlich viel zu viel getrunken hatte, niemand genau Notiz nahm, denn an diesem Abend hatten alle mindestens ein Getränk zu viel gehabt.

Nachdem FX zweimal abgebogen war, landeten sie in einem verlasseneren Nebengang, in dem nur wenige Paare im Halbdunkel standen und im unschuldigsten Falle knutschten. Doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Es würde ohnehin nur einen Augenblick dauern. FX öffnete die nächstbeste Tür und ein strahlend weißes Licht ergoss sich in den Gang. Jedoch reichte die gleißende Helligkeit nicht, wie man vermuten mochte, bis ans andere Ende des Ganges, sondern erstarb bereits nach nicht einmal einem Meter.

Er deutete seine Freunde, besonders Emil und Paul, durch die Tür zu treten und folgte ihnen als Letzter. Er schloss die Tür in die Universelle Vermittlung wieder und der Gang in den Gewölben der Burg war wieder in einem ungestörten Schummerlicht.

Vorsichtig legten Paul und Henne ihren Freund auf den Boden, der genauso weiß war wie die Wände und die Decke. Alles hier war gleißend hell und unendlich weit. Sie waren gefühlt seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen.

Paul spürte, wie sich sein Magen erst langsam und dann immer stärker krampfartig zusammenzog. Er wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war, hatte vollkommen die Orientierung verloren. Alles begann sich zu drehen und zu verschwimmen. Er glaubte noch, dass er sich umdrehte, bevor sein Magen den Kampf gegenüber dem Schluckreflex gewann und er sich übergeben musste.

Emil hingegen ignorierte gekonnt die Irritation der weißen Unendlichkeit und trat an seinen Freund heran. Als er ihn vorsichtig an der Stirn berührte stöhnte Paul lauter auf als zuvor und krampfte erneut und sein ohnehin schon leerer Magen versuchte sich ein weiteres Mal im unendlichen Weiß zu entleeren. Emil hingegen hauchte ihm einen liebevollen Kuss in den Nacken, was ein weiteres Stöhnen hervorrief. Er flüsterte seinem Mann etwas ins Ohr, bevor sich Emil fragend an FX wandt.

„Entschuldigt, dass ich Euch hier so unvorbereitet mitgenommen habe. Das unendliche Weiß der Universellen Vermittlung ist anfangs immer etwas irritierend.”

FX sah betreten zu Boden.

„Gelinde gesagt.”

Emils Gesichtsausdruck war, wie fast immer, neutral und nahezu nichtssagend.

„Aber irgendetwas stimmt mit Michel überhaupt nicht, und dieser Nicht-Ort ist der Einzige, wo wir etwas Ruhe haben.”

„Diggi, was hat Michel denn?”

Ben, der mit dem Weiß keine Probleme mehr hatte, da er schon wusste, was ihn erwarten würde, als sich die Tür öffnete, hatte sich über seinen Freund gebeugt.

„Michel is komplett ausgemergelt! Diggi, guck ihn Dir doch mal an. Der is ja nur noch Haut und Knochen!”

Ohne dass sich FX hinunter beugen musste, sah er sofort, dass ihr Freund, der bewusstlos wie ein Häufchen Elend auf dem reinweißen Boden lag, komplett abgemagert war und buchstäblich nur noch aus Haut und Knochen bestand.

„FX, ich will ja nicht drängen, schon gar nicht wegen Paul, der hält das aus, aber Michel sieht wirklich aus, als würde er mit mehr als einem Bein im Grab stehen. Ich glaube, wir sollten uns beeilen, denn viel Zeit bleibt uns nicht mehr, sonst stirbt er.”

„Emil, keine Sorge, wir haben hier alle Zeit der Welt. Im Weiß existieren weder Zeit noch Raum. Das ist jetzt gerade ganz praktisch, sonst aber fürchterlich langweilig. Naja, und für Paul ist es leider etwas blöde, weil sich sein Zustand vermutlich nicht mehr bessern wird. Unserer Erfahrung nach klappt es entweder nach einmal kotzen oder gar nicht.”

„Wie gesagt, mach Dir keine Sorgen um ihn. Ich erkläre Dir das später, wenn wir Michel wieder fit bekommen haben.”

Im Schneidersitz neben seinem Freund sitzend, musterte er ihn zunächst von oben bis unten. Das weiße Hemd, das er sich am Abend angezogen hatte, und so eng und figurbetont seinem muskulösen Körper schmeichelte, hing nun viel zu weit an ihm herunter. Seine Beine waren dünn wie Streichhölzer, auf den Rippen hätte man Xylophon spielen können und Michels Gesicht sah alt und eingefallen aus. Seine Augen lagen tief in den Höhlen drin und waren halb geschlossen. Er atmete nur noch flach und unregelmäßig.

Vorsichtig berührte FX den ohnmächtigen Michel mit zwei Fingern an dessen Schläfe, zuckte jedoch sofort wieder zurück.

„Was für ein hinterhältiges Arschloch!”

Eigentlich wollte FX das gar nicht aussprechen, aber anscheinend hatte er doch leise vor sich hin geflüstert, was jedoch im Weiß glasklar verständlich war.

„Was? Wer? Diggi, gib mir nen Namen und ich mach Hackfleisch aus ihm!”

Ben war aus der Hocke aufgesprungen und ballte seine Hände zu Fäusten. Das Weiße trat aus seinen Knöcheln bereits hervor, als er mit der Faust in seine eigene Hand schlug.

„Ben, ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber der Trick ist so einfach, wie genial. Wir hätten Michel keine Sekunde später finden dürfen.”

Mit seinen langen Fingern tastete FX Michels Nacken ab, bis er an einer Stelle schließlich fündig wurde. Vorsichtig zog er dort und schon hatte er einen dunkelgrünen schleimigen Streifen in der Hand.

„Ein Teufelszeug ist das. Eine Art Salbe, die den Stoffwechsel des Körpers fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, bis sich der Mensch selbst komplett verzehrt hat. Man kann gar nicht so viel Energie aufnehmen, wie der Körper damit verbrennt. Michel wäre wenige Augenblicke später verhungert oder verdurstet.”

„Wer …”

Bens Halsschlagader pochte wie wild.

„Wie …”

Henne war immer noch über Michel gebeugt und betrachtete die Stelle, an der zuvor noch der grüne Ekelstreifen geklebt hatte.

„Ja, Ruhe bewahren, Junx. Wir werden herausfinden, wer Michel das angetan hat und ich weiß auch schon, wie wir Michel helfen werden.”

FX stand auf und zog Henne ebenfalls mit hoch, so dass er den verbleibenden Freunden in die Augen blicken konnte, um ihnen seinen Plan zu erklären.

„Zuallererst das Wichtigste: Michel ist hier sicher! Es kann ihm hier nichts passieren.”

Nacheinander blickte er Ben, Henne und Emil in die Augen, die ihrerseits den Blickkontakt erwiderten und nahezu unmerklich nickten. Nachdem sich alle etwas beruhigt hatten, fuhr er fort.

„Emil und Henne, Ihr geht gleich durch eine Tür zurück auf die Party, und zwar etwa zwei Stunden, bevor das hier passiert ist!”

„Eine Zeitreise?”

Emils Frage klang eher wie eine Feststellung.

„Naja, Zeitreise ist übertrieben. Die Universelle Vermittlung erlaub jedem, der sich hier aufhält, durch die Zeit zu reisen, wenn man denn weiß, wie es geht. Aber bei einem Sprung von wenigen Stunden sprechen wir noch nicht von Zeitreisen, da es dann in der Regel noch zu keinen Verwerfungen kommen kann. In der Regel!”

„Diggi, ich will auch Zeitreisen!”

Ben stemmte seine Fäuste in die Hüften und trat breitbeinig vor FX.

„Nein, Ben, tut mir leid, Du nicht. Emil und Henne werden Michel genauestens beobachten und herausfinden, wer ihm das Zeug in den Nacken geschmiert hat. Danach kommen sie wieder zurück. Das ist der Auftrag. Nicht mehr. Nicht weniger. Ich weiß genau, wenn ich Dich dahin schicke, dann machst Du aus dem Kerl Hackfleisch und dann ist auch ein kleiner Hüpfer in der Zeit kein ‚in der Regel’ mehr. Verstanden?”

Henne und Emil nickten, während Ben schmollend seine Unterlippe vorschob.

„Wie kommen wir wieder zurück ins Weiß?”

„Ihr nehmt dieselbe Tür wie gerade eben. Sie wird Euch erkennen und sich öffnen. Trödelt nicht mit dem Durchgehen. Noch Fragen?”

„Was ist, wenn wir uns selbst sehen sollten?”

Emil schien die möglichen Auswirkungen einer Zeitreise mit dem Kontakt zu sich selbst aus der Zukunft oder Vergangenheit sofort durchschaut zu haben.

„Ein weiterer Vorteil von kurzen Zeithüpfern. Jedes Ich wird Euch erkennen und sofort akzeptieren. Ihr werdet Euch bitte wortlos kurz zunicken. Und Ihr werdet es auch erwidern. Es funktioniert, glaubt mir. Solange man weniger als einen Tag springt, ist es unkompliziert.”

„Wir sind bereit!”

Ohne, dass sie sich abgesprochen hätten, verschränkten Henne und Emil gleichzeitig ihre Arme vor der Brust.

„Dort ist Eure Tür.”

FX deutete auf einen weißen Bereich hinter den Beiden, wo sich plötzlich im Weiß die Umrisse einer Tür abzeichneten, und diese plötzlich einen Spalt weit offen stand.

Die beiden drehten sich um, durchschritten die Tür in die Dunkelheit und als sie sich wieder geräuschlos schloss, war sie im gleichen Augenblick auch schon verschwunden. Zurück blieb das unendliche Weiß.

„Diggi, ich …”

Bens Stimme zitterte vor Aufregung. Schließlich wollte er ebenfalls zur Rettung seines Freundes beitragen.

„Ben, ich weiß, Du willst helfen. Und Du willst auch einen Zeitsprung machen. Deine Aufgabe ist aber eine Andere.”

„Diggi, machs nich so spannend. Du weißt, dass ich alles für Euch tun würde. Und Michel braucht gerade all unsere Hilfe! Ich kann nich warten und nix tun!”

„Du könntest Dich um Paul kümmern?” Bevor FX von Bens Blicken vollends durchbohrt wurde, fuhr er fort: „Also, pass auf. Auch Du gehst gleich zurück zur Party. Und auch für Dich gibts einen kleinen Rückschritt in der Zeit, auch wenn es nicht nötig ist.”

„Du weißt schon, dass mir das gerade egal is mit der Zeit, Diggi, oder?”

„Ja. Deine Aufgabe ist auch, etwas Futter für Michel zu besorgen.”

„Futter? Diggi, ich weiß nich ob jetzt die richtige Zeit zum Essen is …”

„Nein, anders. Mit Essen werden wir Michel nicht retten. Du musst Dich einfach nur durchs Partyvolk schleichen, und zwar während Du mit der Materie verschränkt bist! Ein Job, den niemand außer Dir übernehmen kann. Und während Du durch die Menschen hindurch schwebst, wirst Du von jedem Partygast ein wenig Fett und Muskelgewebe mitnehmen. Nicht viel von jedem, maximal ein Kilo, eher ein halbes. Wir brauchen etwa fünfzig Kilo, um Michel wieder flott zu bekommen.”

„Okay, klingt eigenartig, müsste aber theoretisch wohl funktionieren, Diggi.”

Ben legte seine Stirn in Falten und überlegte sich Schritt für Schritt, wie er Teile von Menschen in die Materieverschränkung mitnehmen sollte. Plötzlich wurde ihm etwas klar und vor Schreck riss er seine Augen auf und starrte FX an.

„Ja. So ziemlich jede Fähigkeit kann im Guten wie im Bösen verwendet werden. So auch Deine Fähigkeit zur Materieverschränkung. Du kannst damit auch Menschen töten. Sehr schnell und unauffällig. Setze Deine Fähigkeit also immer wohlbedacht und im Guten ein!”

Ben schluckte trocken. Zu mehr als einem Nicken war er gerade nicht im Stande. Die unendliche Verantwortung, die innerhalb des letzten Augenblicks auf seine Schultern gelegt wurde, machte ihn sprachlos. Was, wenn er einen Fehler machen würde? Was, wenn er jemanden auf der Party verletzen würde? Was, wenn er jemand umbringen würde? Wenn er ein lebenswichtiges Organ aus seinem Körper herausreißen würde, ohne dass er es wollte? Was, wenn er es nicht einmal bemerkte? Vor seinem inneren Auge drehte sich alles und seine Kommilitonen auf der Party fielen einer nach dem anderen um, als er ihnen kaltblütig in Gedanken das Herz heraus gerissen hatte.

Schnipp.

FX musste mehrfach vor Bens glasigen Augen mit den Fingern schnippen, bevor Ben wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.

„Ben, entspann Dich. Alleine die Tatsache, dass gerade ein schlechter Horrorfilm vor Deinem inneren Auge abgelaufen ist, zeigt, dass Du mit dem nötigen Respekt und der besten Vorsicht überhaupt an die Sache herangehen wirst.”

Wieder brachte Ben nur ein stummes Nicken hervor.

„Willst Du starten oder brauchst Du noch einen Augenblick. Du weißt, wir haben hier unendlich viel Zeit.”

„Nein, Diggi, das würde es weder besser noch schlechter machen. Es würde einfach nur länger dauern. Der Rückweg ist vermutlich genauso wie bei Emil und Henne? Wo ist meine Tür?”

Wortlos zeigte FX auf die gerade erscheinende Tür hinter Ben, der sich nur umdrehte und hindurch schritt.

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