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Quartett
Teil 49 - Weihnachten
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
54. Weihnachten
„Wasn nu eigentlich mit diesen Kreisen?“
Ben hatte die vierte Kerze am Adventskranz angezündet und durch den runden Kranz hatte er unweigerlich die Assoziation mit einem Thema, das fast schon in Vergessenheit geraten war.
„Och Ben, du bist ein Ignorant. Hast Du Paul nicht zugehört? Die Dinger heißen Zirkel!“
Mit einem Sprung landete Michel auf dem riesigen Sofa und packte im Landeanflug auch gleich Ben bei den Schultern und riss ihn mit aufs Sofa, um ihn dort zur Strafe gehörig durchzukitzeln.
„Diggi, hör auf!“
Eine Lachsalve nach der anderen entfuhr Ben und er konnte nicht mehr. Aber Michel ließ nicht locker, denn die weiten Skater-Klamotten von Ben waren einfach zu einladend. Ohne Schwierigkeiten konnte Michel seine Hände von unten in die Hosenbeine hinein schieben oder aber Ben durch die Ärmel des Pullovers direkt unter den Achseln kitzeln. Es schien, als sei Ben wirklich überall kitzelig und Michel steigerte sich förmlich in seinen freundschaftlichen Angriff hinein.
„Autsch! Das tat weh!“
„Hej, Ben, alles okay?“
Michel hörte abrupt auf mit seiner kleinen Foltereinheit, um herauszufinden, warum Ben Schmerzen hatte.
„Ach nix, Diggi, bei meiner Spange sind nur wieder ein paar Gummis gerissen. Und das alles nur wegen Dir!“
„Oh je, das wollte ich nicht. Deine schönen Schneeketten wollte ich nun wirklich nicht kaputt machen. Vielleicht sollte ich sie zur Sicherheit mal inspizieren?“
Da Michel nach seiner Attacke ohnehin noch auf Bens Brustkorb saß, war es ein Leichtes für ihn, sich zu dessen Gesicht herabzubeugen. Doch statt einen Blick in den Mund zu werfen, den Ben gerade bereitwillig geöffnet hatte, drückte Michel nur seine Lippen auf Bens. Zwar hatte Ben einen innigen Kuss nicht erwartet, aber er freute sich sehr über diese Überraschung.
Zunächst berührten sich ihre Lippen nur ganz vorsichtig, um den noch schnaufenden Ben etwas zur Ruhe kommen zu lassen. Auch hatte Michel etwas Angst, sich an den Brackets zu verletzen. Aber Michel konnte sich nicht länger zurück halten und startete kurzerhand die angekündigte Inspektion.
Und so bekam Bens Zunge kurz darauf Besuch von Michels. Zuerst berührten sie sich vorsichtig und dann inniger. Ben hatte so viel Metall im Mund, dass Michel mit seiner Zunge aufpassen musste, sich nicht an den Brackets zu verletzen oder in den verbleibenden Gummis zu verheddern.
Aber dieses kleine Stückchen Metall war ein lustiges Spielzeug im Mund, wie er feststellen musste. Ab und an wanderte Michels Zunge dann weiter in Bens Mund herum, spielte mit den Brackets seiner Spange und den verbleibenden Gummis. Schließlich fand seine Zunge wieder den Weg in die Mitte von Bens Mund um dort dann …
„Ach so, das versteht Ihr also unter ‘alles vorbereiten’.“
Die Tür des Apartments öffnete sich und Henne und FX traten schwer beladen herein.
„Wieso, Diggi? Kerzen sind doch an? Volle Kanne Kerzenschein! Is doch gemütlich!“
Mit hochrotem Kopf, weil er in Flagranti erwischt wurde, setzte sich Ben auf und zog sein T-Shirt wieder herunter, was ihm Michel im Laufe der Knutscherei fast ausgezogen hatte.
„Ach Ben, aber das muss Dir doch nicht peinlich sein!“
Henne hatte sich seiner Einkäufe entledigt und durchquerte mit wenigen Schritten das Wohnzimmer, um dann direkt neben dem Sofa und damit auch neben Ben zu stehen. Freundschaftlich aber bestimmt drückte er dessen Hand zur Seite und schob das T-Shirt wieder nach oben.
Schnell entschied er sich für die Brustwarze von Ben, die kein Piercing hatte, um sie zunächst etwas zu küssen und danach liebevoll etwas dran zu knabbern. Mit einem leichten Brummen legte Ben den Kopf in den Nacken, um die zweite Liebkosung dieses Nachmittags zu genießen. Außerdem kitzelte sonst der Iro von Henne in seiner Nase.
„Aaahhh!!! Hej, Diggi, das war jetzt aber gemein!“
Ben kreischte auf, als plötzlich etwas Eiskaltes seine gerade eben noch zärtlich umsorgte Brustwarze quälte und ihn wieder zurück in die Realität katapultierte. Entsetzt stellte er fest, dass Henne hinterrücks etwas TK Ware ihres Einkaufs in der Hand hielt, und damit seine Brustwarze malträtierte.
„Ben, Du glaubst doch nicht etwa im Ernst, dass ich den ganzen Einkauf für unser Festessen mit FX mache und Du hier ungestraft herummachen darfst!“
Michel konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
„Und Du, lieber Michel, sei vorsichtig, Du bekommst Dein Fett auch noch weg!“
Mit einem Satz war Michel vom Sofa aufgesprungen und hatte sich in sicherer Entfernung zu dem kleinen Punk positioniert. Trotz des sicheren Abstandes schaute Henne hinterhältig dem Geflüchteten hinterher, so dass Michael lieber die Flucht antrat und FX beim Verstauen der Vorräte in der Küche unter die Arme griff, während Henne sich wieder Bens Brustwarze annahm.
„Michel, fang!“
Henne warf die Packung tiefgekühlten Spinat, mit der er gerade noch den armen Ben gequält hatte, quer durchs Wohnzimmer hinter Michel hinterher.
Der kleine grüne Quader flog durch das Wohnzimmer und drohte Michel am Hinterkopf zu treffen. Doch dieser griff ganz intuitiv mit der Hand hinter seinen Kopf und fing die Packung blind auf, bevor sie seinen Kopf berührte.
Verdutzt blieb er stehen und betrachtete die Packung Blattspinat in seiner Hand, als wüsste er nicht, wie sie dort hin gekommen war. Stille breitete sich in der Wohnung aus, denn alle hatten nach Hennes Aufforderung, die Packung aufzufangen gespannt auf Michel geblickt, ob dieser sie wirklich fangen würde. Natürlich wussten alle drei Freunde, dass die Sportskanone Michel den Spinat-Klotz aus nahezu jeder Position heraus gefangen hätte. Aber hinterrücks und ohne darauf zu achten, damit hatte niemand gerechnet.
Als erster reagierte FX und nahm ihm die Packung ab.
„Ich glaube, das muss in den Froster.“
Schweigend räumte FX die verbleibenden Lebensmittel ein. Schweigend wurde er dabei von Michel beobachtet, während die beiden anderen auf dem Sofa weiter rummachten.
Erst als FX die letzten Sachen verstaut hatte, setzte er sich auf einen der Hocker an den Tresen, der gleichzeitig als Raumteiler zum Wohnbereich hin diente und deutete Michel an, das Gleiche zu tun.
„Überrascht?“
„Du etwa nicht?“
„Sagen wir so: Es wundert mich, dass es mich wundert. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Deine Fähigkeiten sich nicht nur in Deinem Kopf, sondern auch in Deinem Handeln ausprägen.“
„Ich verstehe nicht, was Du damit meinst, FX.“
Michel fuhr sich nervös mit der Hand durch seine Haare und brachte seine Frisur gehörig durcheinander, ohne sie danach wieder zu richten. Da er für gewöhnlich sehr viel Wert auf sein Äußeres legte, geschah so etwas sehr selten.
„Hej, Michel, stell Dich nicht dümmer, als Du bist. Ich rede von Deiner Fähigkeit zur Präkognition! Vergessen? Du kannst in die Zukunft schauen!“
„Und Du meinst …“
„Genau das meine ich: Du hast gesehen, dass Dich der Eisklotz direkt am Hinterkopf treffen wird. Und anstatt Dich umzudrehen und den irgendwie aufzufangen, wusstest Du genau, wo er aufschlagen würde, ohne ihn zu sehen und hast ihn deswegen perfekt fangen können!“
„Aber das wusste ich doch alles gar nicht!“
„Zumindest nicht bewusst, aber definitiv unterbewusst, sonst hätte das so nicht geklappt.“
„Ich glaube, ich werde das nie lernen!“
Verzweifelt vergrub Michel sein Gesicht in seine Hände und stützte seine Ellenbogen auf den Tresen.
„Eigentlich wollte ich damit noch bis übermorgen warten, aber irgendwie passt es jetzt einfach besser.“
FX stand auf, öffnete eine Schranktür in der Küche und zog eine Schachtel von der Größe eines Schuhkartons heraus. Es handelte sich dabei definitiv um ein Weihnachtsgeschenk, denn der Karton war in rot-blauem Papier eingewickelt, welches von einer weißen Schleife zusammengehalten wurde.
„Frohe Weihnachten, Michel!“
„Was ist das?“
„Ein Geschenk? Für Dich? Keine Ahnung, wonach sieht es denn aus? Das einzige, was Du damit besser nicht machen solltest ist …“
Neugierig nahm Michel das Geschenk entgegen und schüttelte es vorsichtig, um heraus zu finden, was sich in dieser unerwarteten Überraschung verbergen könnte.
„… schütteln!“
„Ups! Du meinst, es ist jetzt kaputt?“
„Kaputt nicht, aber vielleicht etwas … Durcheinander oder so.“
Das Klappern und leise Poltern in Michels Geschenk ließ besonders Ben sofort aufhorchen, der sich sogar beim Sex von allen möglichen Dingen ablenken ließ. Die offene Wohnküche trug auch nicht dazu bei, dass die Geschenkübergabe von FX geheim blieb.
„Diggi, gibt’s schon Geschenke? Ja is denn heut schon Weihnachten?“
„Natürlich nicht, Du Blödmann!“
Ben bekam einen freundschaftlichen Klapps von Henne auf seinen Hinterkopf, doch Ben stand bereits auf seinem Skateboard und nutzte diesen Schwung, damit er hinüber zu Michel und FX rollen konnte.
„Aber aber aber … Ich hab doch gar nichts für Dich!“
Michel blickte verlegen von seinem Geschenk auf und sah FX in seine Augen, die heute besonders tief und blau leuchteten, während seine Dreads munter um sein Gesicht herum wippten.
„Das will ich doch stark hoffen, Michel! Wir wollten uns ja auch nichts schenken, wenn ich mich recht entsinne. Zumindest haben wir das letztes Jahr so gesagt, oder? Es ist auch kein Geschenk in dem Sinne, sondern … Ach, mach es doch einfach auf. Vorsichtig!“
Vorsichtig öffnete Michel die Schleife des schlichten weißen Baumwollbandes. Sofort glitt das Band an der Verpackung herunter und blieb auf dem Tresen liegen. Das Geschenkpapier, mit dem der Karton eingeschlagen war, war nicht verklebt, so dass Michel es ganz einfach auffalten konnte. Und tatsächlich war darin ein Schuhkarton!
„Diggi, das ja mein Osiris-Karton! Wasn mit meinen Sneax?“
„Ben, entspann Dich. Die stehen nach wie vor unterm Bett, wo vorher der Karton war. Zusammen mit den hundert anderen Schuhen! Und ich verspreche Dir, ich hab nicht an Deinen Turnschuhen gerochen.“
„Ach schade Diggi.“
Obwohl Ben das mehr zu sich selbst als zu FX sagte, hatten es dennoch alle gehört, weshalb er erneut von Henne einen Klapps auf seinen Hinterkopf kassierte.
„Das ist mein Job, klar?“
„Diggi, was …“
Ben sah Henne an und blickte überrascht in seine funkelnden Augen. Und dann fiel es ihm plötzlich wieder ein. Ihre Aktion damals im Sommer am Strand von Tarragona, als Henne zum ersten Mal an seinen Socken geschnüffelt hatte und dabei nicht weniger erregt war als Ben.
Doch durch ein Klappern mit dem Kartondeckel - er würde dieses Geräusch problemlos aus tausend anderen heraushören können - wurde er etwas enttäuscht wieder in die Gegenwart katapultiert.
Erwartungsvoll hob Michel vorsichtig den Deckel. Zwar wusste er nicht, was er dort erwarten sollte, aber das, was drin war, hätte er nie im Leben erraten. Einen Augenblick hatte er ja gehofft, dass er mit Hilfe seiner Präkognition schon vorab erfahren würde, was in dem Karton war, aber diese ließ ihn gerade im Stich.
„Jo?“
In dem Karton saß in der Mitte eine kleine Figur, die aussah wie Johannes, der Ex-Freund von FX und seines Zeichens ebenfalls ein Mitglied der Zweiundvierzig. Die Miniaturausgabe von Johannes füllte fast den gesamten Karton aus und sie blickte ihn halb erfreut, halb vorwurfsvoll an.
„Ähm, ich meine Johannes?“
Michel war es etwas peinlich, dass er Johannes bei dessen Spitznamen genannt hatte, der eigentlich nur FX vorbehalten war. Aber immerhin hatte er sich schnell korrigiert. Johannes wiederum hatte noch kein Wort gesagt, sondern winkte nur mit einem Lächeln.
„Und eigentlich ist es auch gar nicht mein Geschenk“, fuhr FX seine Rechtfertigung für das Weihnachtsgeschenk fort, „sondern es ist ein Geschenk von Jo. Er möchte Dir gerne ein Training in Präkognition schenken, weil er das ohnehin viel besser kann als ich. Frohe Weihnachten, Michel! Und Jo, magst Du da jetzt endlich aus dem Karton rauskommen?“
Tränen der Freude und Rührung kullerten über Michels Wangen, während er sich etwas auf die Zehenspitzen stellte, um FX zu umarmen. Obwohl er über eins achtzig groß war, musste er sich dennoch sehr recken, um an FX heran zu kommen.
Während FX von Michel fast erdrückt wurde, wuchs Johannes zu seiner normalen Größe heran und saß schließlich auf dem Tresen zwischen Michel und FX und grinste den gerade Beschenkten immer noch schweigend an.
„Diggi, mein Karton!“
Johannes musste laut lachen als er den entsetzten Gesichtsausdruck von Ben sah, der gerade um seinen Schuhkarton fürchtete, in dem Johannes gerade noch gesessen hatte, als er ganz klein war. Der Karton lag nun vermutlich unter dessen knackigen Po und war zerstört.
„Ach Ben! Wie kann man nur so durchgeknallt sein!“
Mit einem Satz sprang Johannes vom Tresen herunter und landete auf dem Skateboard, auf dem Ben noch immer stand. Trotz dieser Überraschung hielt Ben sehr kontrolliert das Gleichgewicht, so dass sie nun zu zweit auf dem Board standen.
„Natürlich ist Dein Schuhkarton nicht kaputt.“
Hinter seinem Rücken holte Johannes den Schuhkarton hervor. War es derselbe ? Oder nur ein identischer? Ben wusste es nicht, es war auch egal, denn jetzt gerade war er diesem wunderhübschen Mann mit den unzähligen Piercings im Gesicht näher als jemals zuvor. In Windeseile überflogen seine Augen das geschmückte Gesicht seines Gegenübers und klassifizierten jedes einzelne seiner Piercings nach Größe, Art und seinem persönlichen Geschmack. So schnell konnte er gar nicht zählen und vor allem befürchtete Ben, dass sein Gegenüber alsbald wieder vom Skateboard springen könnte und ihn alleine lassen würde.
„Anstatt auf mein Bridge-Piercing zwischen meine Augen zu starren, könntest Du mir höflicherweise auch in die Augen schauen, findest Du nicht?“
„Diggi, tschuldige.“
Ben lief sofort rot an. Noch nie war er seinem neuen Idol so nahe gekommen wie jetzt auf seinem Skateboard, wo Johannes ihn eng umschlungen festhielt, und sich ihre Oberkörper jeweils etwas nach hinten lehnten.
„Ich weiß ja, dass Du meine Piercings total geil findest. Geht mir ja nicht anders, sonst hätte ich sie schließlich nicht.“
Johannes musste schmunzeln, wie sein kleiner süßer Skater, den er gerade im Arm hielt, nervös hin und her blickte. Er liebte es, mit den Jungs zu spielen, sie nervös und schamvoll in die Ecke zu drängen und dann abzuwarten, wie sie reagierten. In Ben konnte er lesen wie in einem offenen Buch. Und das sogar, ohne seine Kräfte einzusetzen. Dieser kleine Skater war so einfach zu durchschauen, dass es schon wieder verdächtig war. Aber was Piercings und Tattoos anbelangte, schien der Junge wohl echt eine Schwäche zu haben.
„Diggi, ich wollte Dich nich anstarren. Tschuldige. Aber Du hast so dermaßen viel Metall in Deinem schönen Gesicht, dass ich mich gar nich sattsehen kann.“
„Dann, Du kleine Bitch, verrate mir doch mal, warum Du so was nicht hast - von Deiner Zahnspange mal abgesehen.“
Kaum hatte Johannes seine Zahnspange erwähnt, erstarb auch schon das Lächeln von Ben und er versteckte seine versilberten Zähne. Sein Rotton im Gesicht wurde eine Nuance kräftiger.
„Ach, wie Süß! Schämst Du Dich etwa für Deine Zahnspange? Wieso das denn? Erstens kannst Du doch nichts dafür, zweitens rückt es Deine Zähne gerade und macht Dein Lächeln hinterher noch viel bezaubernder und drittens ...“
„Und drittens?“
Jetzt wurde Ben nahezu wagemutig, wo er so mit Komplimenten zugeschüttet wurde.
„Und drittens steht Dir dieses Silberlächeln total und ich find das echt sexy! Selbst dieser kleine Sprachfehler ist irgendwie total süß ...“
„Ich hab einen Sprachfehler?“
Mit einem Ruck befreite sich Ben aus der Umarmung von Johannes und sprang von seinem Skateboard herunter. Durch den Rückstoß rollte Johannes mit dem Board durch das halbe Wohnzimmer, vorbei an den anderen Freunden, die die Darbietung gespannt vom Sofa aus verfolgt hatten.
„Naja, Sprachfehler ist vielleicht etwas übertrieben, aber durch diese ganzen Brackets und Gummis in Deinem Mund sprichst Du schon ein kleines Bisschen undeutlich. Irgendwie eine lustige Mischung zwischen Lispeln und Nuscheln.“
„Ich möchte weder Lispeln noch Nuscheln!“
„Nein, das ist auch total unauffällig! Entspann Dich bitte, Ben. Ich bin, was Sprachen angeht, nur sehr bewandert und höre jegliche Ungereimtheit, jeden noch so kleinen Akzent oder Reste von einem Dialekt sofort heraus.“
„Ich will aber keinen Sprachfehler haben! Ich werde diese Schneeketten sofort morgen entfernen lassen!“
Ben war bockig und enttäuscht. Er wusste gar nicht so recht, von wem er nun enttäuscht war, vermutlich von sich selber. Vielleicht aber auch von diesem dahergelaufenen Johannes, der auf einmal behauptete, dass er einen Sprachfehler habe.
Er musste schwer schlucken, als sich plötzlich zwei Arme von hinten um seinen Körper schlangen. Erschrocken zuckte er zusammen, jedoch genoss er im gleichen Augenblick wieder die körperliche Nähe von wem auch immer.
Vorsichtig legte er seinen Kopf zur Seite, in der Hoffnung, dort gleich an den Kopf seines Hintermanns zu stoßen. Und tatsächlich berührten sich ihre Wangen sofort. Und im gleichen Augenblick erkannte er auch, wer sich ihm von hinten genähert hatte. Es war Johannes.
„Ach, Du ...“
„Ach, ich ... Ja. Ich wollte Dir nur noch eine Dehnungsübung zeigen, wie Du Deinen wirklich winzigen Sprachfehler wegtrainieren kannst.“
Im gleichen Augenblick hatte Johannes Ben auch schon umgedreht, so dass er ihn wieder ins Angesicht blicken konnte. Und noch bevor Ben überhaupt etwas erwidern konnte, hatte Johannes seine Lippen schon auf seine Eigenen gedrückt. Eigentlich war Ben jetzt gar nicht nach Knutschen zumute. Und schon gar nicht mit Johannes, nachdem dieser ihm solch einen Vorwurf gemacht hatte. Aber seine aufsteigende Geilheit war viel schneller, als sein Verstand. Reflexartig öffnete er langsam seine Lippen und spürte sogleich, wie vorsichtig die Zunge von Johannes in seinen Mund eindrang und behutsam das neue Terrain ertastete.
Johannes fuhr ganz zaghaft mit seiner Zungenspitze über die Zähne von Ben und ertastete einzeln die installierte Zahnspange. Als seine Zunge zufällig die Bekanntschaft mit der von Ben machte, zuckte dieser zurück.
„Du hast ja auch ein Zungenpiercing!“
Johannes öffnete die Augen, suchte den Blickkontakt mit Ben und verdrehte dann seine eigenen demonstrativ nach oben, so dass Ben nur noch das weiße sehen konnte. Wortlos drückte Johannes Bens Kopf wieder gegen den seinen, um weiter mit ihm knutschen zu können. Johannes verstand diesen verrückten Struwwelkopf einfach nicht, warum er nur eine so dermaßen kurze Aufmerksamkeitsspanne hatte.
Ben hingegen hatte ein neues Spielzeug in seinem Mund entdeckt. Die Zunge seines Gegenüber, mit dem er gefühlt schon seit Stunden in der Ecke des Wohnzimmers an der Wand gelehnt stand und herumknutschte. Dieses Piercing von Johannes mitten in seiner Zunge war unglaublich faszinierend. Ein einfacher Stab mit einer Kugel an jedem Ende und doch so spannend. Er versuchte, den Stab mit seiner Zunge zu greifen, ihn irgendwie festzuhalten und gegen seine Zähne zu drücken, damit er Johannes am Fortgehen hindern konnte.
Aber Johannes war schneller und gewandter mit seiner Zunge, als Ben dachte. Immer wieder gelang es ihm, sich aus seinen Griffen und Zwängen zu befreien. Doch halt! Etwas stimmte gerade nicht. Dieser Stab fühlte sich plötzlich komisch an. Er war anders, als noch Augenblicke zuvor. Es fühlte sich irgendwie an, als wenn es nicht mehr nur ein Stab war, sondern als wenn plötzlich zwei davon in seinem Mund waren!
Und als sich Johannes vorsichtig von Ben zurückzog und den leidenschaftlichen Kuss langsam beendete, verblieb dieser eine zusätzliche Stab in seinem, Bens Mund! Plötzlich hatte er einen Piercing-Stab im Mund, obwohl er sich sicher war, dass Johannes seinen nach wie vor noch trug, denn beim Herausziehen seiner Zunge aus seinem Mund spürte er ihn ganz deutlich noch an seinen Lippen und es gab auch noch ein leichtes metallisches Klappern, als Johannes damit vermutlich absichtlich an die Brackets seiner Zahnspange kam.
„Frohe Weihnachten, Ben!“
Frohe Weihnachten? Hatte Johannes ihm gerade Frohe Weihnachten gewünscht? Ben traute seinen Ohren kaum und vor Schreck verschluckte er sich. Ein böser Hustenanfall erschütterte ihn und er krümmte sich vorwärts. Sofort stand Johannes auch schon hinter ihm und schlug ihm in dem Augenblick einmal zielgenau zwischen die Schulterblätter, als Ben erneut krampfhaft versuchte, auszuhusten.
Mit einem leisen klirren fiel ein kleiner silberner Stab auf den Boden, der an jedem Ende eine kleine Kugel hatte. Ben, noch mit geöffneten Mund nach vorn gebeugt, erholte sich sehr schnell von dem Verschlucker, denn sofort erkannte er, woran er sich verschluckt hatte: Es war ein Piercing-Stab und vermutlich genau er gleiche, wie Johannes ihn auch in seiner Zunge hatte.
Vorsichtig und voller Ehrfurcht hob Ben das Corpus Delicti auf, drehte es zwischen zwei Fingern um die Längsachse und spielte gedankenverloren damit. Ohne ein Wort von sich zu geben, schaute er auf und fiel Johannes um den Hals.
„Dankeschön, was für ein wundervolles Geschenk von Dir!“
Er hauchte die Worte so leise in Johannes Ohr, dass niemand anders im Raum sie hören konnte. Allerdings war Ben auch dermaßen gerührt, dass er ohnehin nicht viel lauter sprechen konnte, ohne dass es peinlich geworden wäre.
„Ich bin mir sicher, dass Du einen angemessenen Platz dafür finden wirst.“ Johannes konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wusste er doch, dass dieser Stab an diverse Stellen in Bens Gesicht passen würde. „Halte ihn bitte in Ehren, er ist etwas ganz besonderes!“
„Wie, Diggi? Was meinst Du mit ‚etwas ganz besonderes‘?“ Ben hatte seine Emotionen wieder weitestgehend unter Kontrolle, so dass er sich traute, wieder mit normaler Lautstärke zu sprechen.
„Naja, er ist immerhin von mir. Und alles weitere wird sich zeigen, okay?“
Zwar ließ sich Ben nur sehr ungern mit solchen Zweideutigkeiten abspeisen, allerdings wusste er auch, dass er von Johannes keine weiteren Details erfahren würde.
Kitschiger hätte es kaum sein können, aber in der Nacht zu Heiligabend hatte es tatsächlich kräftig zu schneien begonnen, so dass am Heiligen Vormittag die Burg und die Landschaft drum herum in ein glitzerndes Weiß gehüllt waren und sich eine unheimliche Ruhe über das Land gelegt hatte. Die Burg war nahezu verwaist und auch hier herrschte eine gespenstige Stille.
“Ich glaube, das ist hier gerade an Kitsch nicht zu überbieten, oder was haltet Ihr davon?”
Michel war schon länger auf und brachte vier Pötte dampfenden Kaffees ins Schlafzimmer.
“Endlich! Ich hab ja nicht mehr dran geglaubt, wenn ich ehrlich sein soll. Ein ums andere Jahr, wenn Weihnachten kein Schnee liegt, macht mich das irgendwie immer etwas traurig.”
“Als wenn Du Dir nicht aussuchen könntest, wann und wo Du Weihnachten feierst, FX.”
“Ah, ich sehe schon, langsam verstehst Du, wie wir ticken.”
“Naja, wir kennen uns ja jetzt schon ein Bisschen länger, oder?”
“Diggi, sach ma, gibt's den Weihnachtsmann jetzt wirklich? Hast Du den mal kenngelernt?”
“Ach Ben, wie blöd stellst Du Dich eigentlich? Ja, Deine Haare sind straßenköterblond, aber das musst Du ja nicht auch noch so plakativ zur Schau stellen!”
Henne war sichtlich genervt und schleuderte ein Kissen in Bens Richtung, verfehlte ihn jedoch deutlich.
“Ach, lass mal, Henne, so ganz abwegig ist die Frage nicht.”
“Moment!” Nun mischte sich Michel ein, der bis zu dem Zeitpunkt nur stumm auf der Bettkante gesessen hatte und die Diskussion verfolgte. “Du willst uns jetzt nicht sagen, dass es wirklich einen dicken alten Mann mit weißem Bart im roten Mantel gibt, oder?”
“Nein, der Typ ist eine Erfindung der Brause-Industrie. Aber es gibt tatsächlich einen Menschen, auf den die Tätigkeitsbeschreibung zutreffen würde.”
“Du meinst, jemanden, der heute alleine den ganzen Tag auf einem Rentierschlitten um den Globus fliegt und innerhalb von 24 Stunden alle Kinder der Welt glücklich macht?”
“Naja, Zeit ist ja relativ, das weißt Du ja. Für diesen Menschen verhält es sich etwas anders, aber prinzipiell hast Du schon Recht. Allerdings ist die Zeit seines Jahres quasi invertiert.“
“Hä?”
“Also, folgendes: Für uns ist ein Tag im Jahr Weihnachten. Den Rest des Jahres ist nichts. Soweit klar?”
Allgemeines Nicken.
“Gut. Für dieses Wesen ist es genau anders herum: Ein Tag im Jahr ist nix los, den Rest der Zeit macht es kleine Kinder auf der ganzen Welt glücklich. Die Zeit dieses Wesens macht quasi eine Punktspiegelung an Weihnachten. Und deswegen ist es problemlos möglich, alle Kinder der Welt an Weihnachten glücklich zu machen. Von unserer Seite der Spiegelung ausgesehen. Und von der anderen Seite aus betrachtet gibt's ausreichend Zeit zur Durchführung.”
“FX, die Sonne ist gerade erst aufgegangen, Du hast noch keinen Alkohol getrunken, laberst aber jetzt schon so einen Stuss! Wie soll denn das erst heute Abend werden, wenn wir die erste Flasche Wein aufmachen?”
“Diggi, heute Abend erst?”
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