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Quartett
Teil 48 - Skaterboy
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Informationen
- Story: Quartett
- Autor: ratte-rizzo
- Die Story gehört zu folgenden Genre: Science Fiction, Fantasy und Mystery
54. Skaterboy
„Wenn Du da runterfällst, bekommst Du von mir noch den Arsch voll dazu!“
Es war Samstagabend und die Freunde hatten beschlossen, das Lernen für diese Woche einzustellen und das Wochenende mit einem heißen Glühwein zum Feierabend zu begrüßen. Es war wieder ein ungerades Semester, das fünfte, und sie steckten wieder ein einem stressigen und intensiven Wintersemester, welches nur wenig Raum für Freizeit bot.
Umso wichtiger war es ihnen, die wenige Freizeit ganz besonders zu verbringen und zu genießen. So hatten sie es sich auf „ihrem“ Turm ganz oben warm angezogen und mit einer Thermoskanne Glühwein bequem gemacht, um der Sonne bei der Beendigung ihres Tagwerks zuzusehen. Es war ein kalter, aber windstiller Wintertag und die Freunde sehnten sich nach etwas Sonne.
Während sich Henne und Michel an je eine Zinne gelehnt hatten und ihre Gesichter von der Wärme der untergehenden Sonne streicheln ließen, hatte es sich FX auf der Zinne zwischen ihnen bequem gemacht und saß am äußersten Rand im Schneidersitz. Den Becher mit dampfendem Glühwein in seiner eingegipsten Hand haltend, den Kopf auf seine Linke gestützt blickte er in die Ferne und genoss den Zustand, endlich mal keine Gedanken wild durch seinen Kopf kreisen zu lassen, sondern einfach das Hier und Jetzt mit seinen Freunden zu genießen.
Henne war es, der seine Besorgnis geäußert hatte, als FX mit einem Schlusssprung aus dem Stand auf die meterhohe Zinne sprang und es sich dort oben bequem machte.
„Ach, ich glaube, dagegen hätte ich nichts einzuwenden.“
Ohne dass Henne seinen Freund anschauen musste, wusste er, dass dieser ein breites und freches Lächeln aufgesetzt hatte. FX wollte Henne etwas necken, was ihm durchaus gelang.
„Ich weiß ja nicht, ob Du im Streckverband dann immer noch so frech grinsen kannst. Reicht Dir ein Gipsarm nicht?“
Henne machte sich wirklich sorgen, saß FX doch mit seinem Po wirklich auf der Außenkante der Zinne und hinter ihm ging es bestimmt fünfzig Meter in Tiefe. Bei solch einem Fall nützt einem auch der mit Wasser gefüllte Burggraben wenig, vermutete er.
„Henne, Du als Empath solltest spüren, dass ich keine Angst habe.“
„FX, Du als Empath solltest spüren, dass ICH Angst um DICH habe! Nun komm da endlich runter!“
Michel schwieg, genoss die Sonne und die Diskussion zwischen seinen beiden Freunden, die zusehends interessanter wurde. Schon lange hatte er sein T-Shirt ausgezogen, damit auch sein Oberkörper ein paar Sonnenstrahlen abbekam.
„Michel, mit Deiner Präkognition weißt Du, dass ich hier nicht herunter fallen werde.“
„Lass mich bitte aus dem Spiel. Ich bin nur Zuschauer. Ich ärgere mich schon, dass ich kein Popcorn mitgenommen habe. Es wird gerade spannend zwischen Euch.“
„Ein toller Freund bist Du. Danke für nichts!“ FX schmollte demonstrativ, wenn auch nur gespielt, bevor er fortfuhr. „Überhaupt, wo ist eigentlich Ben? Er sollte wissen, dass ich hier nicht runterfallen KANN.“
Michel konnte sich ein leises Stöhnen nicht verkneifen.
„Der ist hinter diesem Skaterboy aus dem ersten Semester hinterher. Hast Du das nicht mitbekommen? Seit dieser Typ hier auf die Uni gekommen ist, und Ben ihn von Ferne, und ich meine wirklich von Ferne, gesehen hat, ist er doch ganz aus dem Häuschen.“
„Nö, ist mir nicht aufgefallen.“ FX nahm einen Schluck aus der Tasse und genoss es, wie das würzig-warme Getränk seinen Hals hinab rann. „Der ist doch ohnehin immer hektisch wie ein Eichhörnchen. Da ist mir die Steigerung ehrlich gesagt entgangen.“
„Und was hat Dein Sturz vom Burgturm jetzt mit Ben zu tun?“
Henne ertrug es einfach nicht, dass FX auf der Zinne hockte und musste das Thema wieder zu seinem Ursprung zurückführen.
„Ganz einfach. Ben beherrscht die Materieverschränkung. Und wenn man in den Atomen drin ist, gilt eines ganz gewiss nicht mehr: Die Gravitation!“
„Nun dozier hier mal nicht so geschwollen herum. Wenn ich das richtig beurteile, bist Du gerade nicht verschränkt, sondern höchstens beschränkt!“
„Ach komm, Henne, krieg Dich mal wieder ein. Wenn ich hier die fünfzig Meter runter segele, dann hab ich mehr als genug Zeit, in die achte Dimension zu wechseln.“
„Deine Zuversicht möchte ich haben. Mir ist einfach nicht wohl dabei, wenn Du da herum hockst. Wer sagt denn, dass Du das so schnell schaffst, Dich mit der Materie zu verschränken um Dich dadurch zu retten?“
„Okay, okay, okay. Ich hab zwar noch ein paar andere Tricks auf Lager, aber ich geb auf. Du hast Recht und ich meine Ruhe.“
Umständlich versuchte FX, aus dem Schneidersitz aufzustehen. Absichtlich stellte er sich dabei etwas tapsig an und ruderte mit seinen langen Armen etwas hilflos in der Luft, während er sogar ein Bein weit von sich streckte. Es passierte genau das, was er geplant hatte. Ein leiser Windhauch von vorne genügte, um ihn endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihn nach hinten überfallen zu lassen.
Henne, der der Sonne den Rücken zugewandt hatte, um FX besser im Blick zu behalten, gab vor Schreck ein lautes Quieken von sich. Als er seinen besten Freund rückwärts die Mauer hinunter fallen sah, riss er Mund und Augen weit auf. Vor Panik schlug er sich mit beiden Händen vor den Mund, seine Glühweintasse, die er gerade noch in der Hand hielt, gab er der Schwerkraft preis.
Michel hingegen, der seine Augen geschlossen hatte und nur die Sonne genoss, bekam von der Aktion überhaupt nichts mit. Der Fall von FX ging an seinem Instinkt vollkommen vorbei und erst das hässliche Geräusch, welches Henne von sich gab, ließ ihn die Augen öffnen.
Doch weder FX noch Hennes Tasse fielen. Vielmehr verharrten sie nahezu unbeweglich in der Luft. Nur ganz leicht bewegten sich beide auf und ab. Fast wie die kleinen Wellen an ihrem einsamen Strand vor Tarragona bei Windstille. FX hing über dem Abgrund, als läge er in einer Hängematte und starrte mit einem leichten Lächeln Henne freundlich an.
Dessen Glühweinbecher hing ebenfalls in der Luft, als würde er im Wasser vor dem besagten Strand schwimmen. Langsam bewegte sie sich auf den imaginären kleinen Wellen auf und dann wieder ab, ohne dabei das kostbare Heißgetränk zu verschütten.
Leider hatte FX seinen Freund komplett unterschätzt. Was er von Henne an Emotionen empfing, war extrem. Viel zu extrem. Er hatte mit ihm gespielt, ohne dass er die Spielregeln erklärt hatte. Er hatte Henne erschreckt, und zwar zu Tode erschreckt. Zumindest war dieser kurz davor. FX ärgerte sich tierisch, dass er so unvorsichtig war. Er überlegte kurz, einen kleinen Sprung zurück in der Zeit zu machen um das zu korrigieren, entschied sich aber dagegen. Zulässig war das ohnehin nicht, auch wenn er es unbemerkt hätte durchziehen können.
Stattdessen entschied er sich, auf der Empathie-Ebene zu arbeiten. Natürlich hätte er seinen Freund in ein zuckersüßes, rosafarbenes Wattepaket hüllen können, aber das wäre absolut übertrieben gewesen. Deswegen nahm er nur einen Tausch vor. Angst, Entsetzen und Trauer über den bevorstehenden Tod von FX nahm er seinem Freund schlichtweg ab. Allerdings nicht alles, einen klitzekleinen Rest davon ließ er bei Henne zurück.
Dabei lief ihm selbst ein Schauer über den Rücken, hatte er gar nicht so weit in die Zukunft gedacht, dass dies sein eigener Tod hätte sein können. Dafür war er viel zu routiniert in solchen Situationen. Eggsy hatte mit ihm immer und immer wieder trainiert, in jeder, wirklich jeder möglichen und unmöglichen Lebenslage reflexartig zu reagieren, um sein eigenes Leben stets zu sichern.
Im Austausch übergab FX dann eine große Portion an Vertrauen, Liebe und Zuversicht an Henne. Im gleichen Augenblick bemerkte er, wie sich die Gesichtszüge von Henne deutlich entspannten. Dennoch blieb ein kleiner Schreck übrig, denn Henne spürte in seinem Inneren jetzt, dass FX nichts passieren konnte, aber dennoch blieb der Schreck, dass er so etwas Unerwartetes getan hatte.
Alles in allem war nicht einmal eine Sekunde vergangen.
„Du Vollitdiot!“
Tatsächlich war es Henne, der zuerst seine Sprache wiedererlangte. Wieder hatte sich FX getäuscht, hätte er doch Michel als schneller eingeschätzt.
„Sag das nächste Mal gefälligst Bescheid, bevor Du so einen Scheiß machst!“
„Entschuldige, Henne, ich habe leider etwas unüberlegt gehandelt.“
„Allerdings! Dafür dann aber danach auch um so schneller.“ Vorwurfsvoll stemmte Henne seine Hände in die Hüfte und legte den Kopf schief. „Also?“
„Was also?“
„Wolltest Du mir nicht noch sagen, dass Du mich ganz nebenbei noch etwas eingelullt hast?“
„Du hast das gemerkt?“
„Hätte ich es nicht merken sollen?“
„Ich weiß nicht. So etwas merken nur die guten Empathen.“
„Oh, soll das heißen, dass ich gut bin?“
Ganz intuitiv reckte sich der kleine Henne etwas und blickte stolz zu FX hinüber, der immer noch über dem Abgrund in der Luft hing.
„Naja, das wäre nach Schulnoten etwa eine Zwei. Die Eins ist extrem selten. Die meisten, die man als begabt bezeichnet, sind bei einer Drei oder Vier. Fünf und Sechs sind dann normale Menschen oder besser gesagt unbegabte Menschen. Normal sind wir ja schließlich auch.“
„Also, FX, bevor Du Henne und mir das alles hier erklärst, würdest Du bitte wieder auf den Turm kommen? Du kannst Dich auch gerne auf die Zinne setzen, aber bitte nicht dort in der Luft fliegen. Es könnte doch etwas Aufmerksamkeit erregen.“
„Guter Hinweis, danke, Michel. Ich erkläre es Euch gerne - aber nur, wenn Ihr Euch auch auf je eine Zinne setzt.“
Henne rollte mit den Augen, kletterte danach jedoch wortlos auf die Zinne zu FX‘ Rechten. Michel trat ein paar Schritte zurück, nahm einen kurzen Anlauf und sprang dann mit einem Hüftsprung auf die linke Zinne.
„So, und nun zu Euren Fragen, die Ihr noch gar nicht gestellt habt. Erstens: Es war kein Fliegen, denn das hätte etwas mit Aerodynamik zu tun, funktioniert also nicht ohne Bewegung.“
Er deutete auf Hennes Becher mit Glühwein, der immer noch in der Luft schwebte, dort wo dieser gerade noch gestanden hatte.
„Levitation ist der Fachbegriff dafür, wobei ...“
„Du bist ein Vampir?“
Hennes Stimme klang etwas schriller, als er wollte.
„Ähm...“ FX sah an sich herunter. Die Sonne stand schon sehr tief, aber sie leuchtete nach wie vor in einem kräftigen orange-rot. Er hob sein T-Shirt und entblößte seinen unbehaarten Brustkorb. „Ich glaube nicht, sonst hätte ich mich schon lange aufgelöst.“
Dabei grinste er Henne breit an und zeigte ihm seine Zähne. Genüsslich fuhr er mit seiner Zunge über die Zähne, die ganz normal aussahen.
„Oookaaaayyy… Wundern würde mich das jetzt auch nicht mehr.“
Ganz beruhigt war Henne zwar noch nicht, aber er gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er fortfahren sollte.
„Also, was ich sagen wollte ist, dass Levitation auch nur das Resultat darstellt. Die eigentliche Ursache für die scheinbare Schwerelosigkeit kann vielerlei Grüne haben. Es kann zum Beispiel technisch hervorgerufen werden: Gleiche Pole zweier Magneten stoßen sich ab. Platziert man sie übereinander, schwebt einer.“
„Du bist aber nicht magnetisch.“
„Nein. Wir Zweiundvierzig haben auch quasi einen Deal mit dem Universum, einen Deal mit den Naturgesetzen. Ich sagte ja schon mal, dass wir sie nicht außer Kraft setzen können, aber wir dürfen sie für unsere Zwecke zeitweise verbiegen. Und Zeit ist nun einmal ein relativer Begriff. Mit anderen Worten dürfen wir die Naturgesetze für uns über fast beliebig lange Zeit nutzen.“
FX deutete mit ausgestrecktem Finger auf Hennes Glühweinbecher, durch den sofort ein kleiner Ruck ging und die leichte Auf- und Abbewegung erstarb. Wie mit einem langen unsichtbaren Stab dirigierte FX die Tasse nun langsam bis vor Henne, wo sie wieder in der Luft verharrte. FX senkte seine Hand und sofort fing die Tasse wieder mit der sanften wiegenden Bewegung an.
„Du kannst sie jederzeit greifen. Pflück sie einfach, wie einen Apfel. Aber danach musst Du sie schon auf den Boden stellen. Dann schwebt sie nicht mehr.“
Henne tat, wie FX es sagte. Vorsichtig griff er nach dem Becher. Er hatte Angst, dass er doch herunterfallen und zerbrechen würde. Aber der Becher verhielt sich fast genau so, als würde er im Wasser schwimmen. Bei der ersten Berührung von Henne wich er leicht aus, drehte sich etwas schneller und wackelte etwas. Es war tatsächlich so, als würde man nach einem im Wasser schwimmenden Becher greifen. Nur gab es hier kein Wasser! Schließlich griff er nach der Tasse und hielt sie fest. Dann nahm er gierig einen Schluck in der Hoffnung, der Alkohol würde ihn etwas beruhigen.
„So. Das mit der Levitation wäre halbwegs geklärt, auch wenn vermutlich nicht ganz zu Eurer Zufriedenheit. Den Empathieausgleich bei Henne hat er ja selber bemerkt. Das hätten wir also auch. Fehlst dann nur noch Du, Michel.“
„Ich?“
Der so angesprochene blickte erstaunt zu FX, dann zu Henne und wieder zurück zu FX. Verlegen zog er sich sein T-Shirt über, was seine beiden Freunde sehr bedauerten, jedoch nicht erwähnten, um ihn nicht noch nervöser zu machen.
„Michel, überleg doch mal. Wie war das mit dem Tunnel und den versteckten Verteidigungsanlagen, die uns fast das Leben gekostet hätten?“
„Oh nein, erinner mich bitte nicht daran. Mir wird jetzt noch schlecht bei dem Gedanken daran.“
Wie auf Kommando wich kurzzeitig die Farbe aus Michels Gesicht, um gleich darauf wieder kräftiger denn je zu erstrahlen.
„Ja, natürlich! Ich hab den Tod vorhergesehen. Oder zumindest eine riesige Gefahr! Warum diesmal nicht?“
„Ganz einfach: Weil es keine Gefahr gab. Ich falle hier nicht runter. Es passiert einfach nicht. Also gibt es auch nichts vorherzusehen. Instinktiv funktioniert das bei Dir nur bei Gefahr. Dann meldet sich Deine Begabung automatisch. Du kannst natürlich auch absichtlich etwas in die Zukunft schauen, aber vorhin gab es einfach keinen Grund dafür, weshalb Du es nicht getan hast.“
„Krass abgefahren!“
„Hättest Du aktiv nachgeschaut, hättest Du es gesehen, aber so hat Dein Gefühl nicht Alarm geschlagen, weil alles gut war.“
„Ja, ich verstehe. Das ergibt Sinn.“
Die Sonne verschwand für diesen Tag vom Himmel.
„Jetzt müssen wir das alles nur noch Ben verklickern.“
Mit einer routinierten Handbewegung fuhr Henne an einer Seite seines aufgefächerten Iros entlang, der in der Abenddämmerung noch blauer leuchtete, als er es ohnehin schon tat.
Plötzlich zuckte er jedoch zusammen und riss ein Loch in seinen perfekt gekämmten Haarschnitt! Er wusste nicht genau, wieso. Es war fast genauso, wie der Schreck, den er vorhin hatte, als FX fast den Turm hinuntergefallen war. Aber es war anders. Es war weniger, irgendwie dumpfer, als wäre es weiter weg.
„Du hast es gespürt, nicht wahr?“ Mit leuchtenden Augen sah FX hinüber zu Henne und gleich darauf zu Michel. „Henne hat, ohne dass er sich darauf konzentriert hat, von jemand anderem die Emotionen gespürt.“
„Hej, das klingt spannend!“ Michel überlegte kurz und fuhr dann fort. „Das ergibt nur Sinn, wenn diese Emotionen von einem Menschen kommen, dem er sehr nahesteht.“
„Ben!“
Kaum hatte Michel seine Theorie geäußert, konnte Henne sie auch schon bestätigen. Das, was er gerade gefühlt hatte, kam eindeutig von Ben. Es fühlte sich an wie Ben. Es war so hektisch und abrupt, das konnte nur von Ben kommen.
„Super, Michel und Henne. Ihr habt beide Recht! Und jetzt“, FX stand auf und sprang von der Zinne hinunter auf die Plattform des Turmes, „werden wir eine weitere Übung für Euch machen, auch wenn schon Wochenende ist. Solch eine Gelegenheit kann man sich nicht entgehen lassen.“
„Aber was ist mit Ben, geht es ihm gut?“
Henne war nicht wohl in seiner Haut. Die Empfindung von Ben war so weit weg, dass er sie nicht genau einordnen konnte.
„Michel, guck doch bitte nach, was in naher Zukunft bei Ben passiert. Du wirst bestätigen können, dass es ihm gut geht, und er nicht in Gefahr ist, oder? Und bitte keine Details, das brauchen wir noch für Hennes Teil.“
„Aber ich weiß doch gar nicht, wo er ist. Wie soll ich denn dann in seine Zukunft blicken können.“
„Mach es genauso wie Henne. Auch Du bist mit ihm so eng verbunden, dass Du nicht wissen musst, wo er ist und wie es ihm geht, um seine unmittelbare Zukunft zu sehen. Wir alle sind durch unsere innige Freundschaft so auf einander fixiert, als würden wir immer beisammen sein.“
Michel schloss die Augen. Er war unsicher, wusste nicht, was er tun sollte. Wie sollte er nur den Zeitstrahl von Ben vorwärts gehen, wenn er nicht einmal sein jetzt kannte. Michel war verwirrt, drehte sich sein ganzen Training bisher doch ausschließlich darum, immer weiter in die Zukunft zu blicken. Von seinem eigenen jetzigen Standpunkt aus. Und nun sollte er plötzlich an einem Punkt in der Zeit starten, den er nicht kannte und den dann auch noch weiter gehen.
Ratlos atmete er aus. Tief aus. Ganz tief aus. Dann stellte er sich Ben vor. So, wie er ihn kannte, wie er ihn liebte. Eine viel zu große Hose, die sich über seinen breiten Schuhen aufbauschte. Sein T-Shirt, wo er selbst problemlos ebenfalls noch mit hinein gepasst hätte. Unter dem Shirt dieser winzige Ansatz eines Sixpacks und die kleinen süßen Brustwarzen. Dann noch diese lustigen Augen, die von seinem wilden Haarschopf ...
Da war er plötzlich, der Zeitstrahl von Ben! Ganz klar sah er ihn jetzt vor Augen und es kostete ihn überhaupt keine Mühe, in die nahe Zukunft seines Freunden hinein zu sehen. Es war, als stünde Ben direkt neben ihm und er konnte alles glasklar sehen.
„Es geht ihm gut. Es wird ihm gut gehen. Es ist alles in Ordnung.“
Michel öffnete die Augen und konnte sich ein triumphales Grinsen nicht verkneifen.
„Aber da ist noch ...“
„Stopp! Ich weiß.“ FX unterbrach Michel. „Das hab ich unter Kontrolle. Wir haben alle Zeit, die wir benötigen.“
Anerkennend klopfte FX ihm auf die Schulter, griff in seinen Nacken und zog seinen Kopf ganz dicht zu ihm heran.
„Saubere Arbeit! Ich wusste, dass Du weißt, wie es geht!“
FX große Hand ließ keinen Ausweg zu, nur zu gerne ließ sich Michel zu den Lippen seines Gegenübers leiten, die in Erwartung eines Kusses zur Belohnung erfreut zuckten. Ihre beiden Lippen trafen und vereinten sich sogleich. Ihre Zungen konnten es ihrerseits nicht erwarten, bis sie sich berühren durften. Es folgte eine wilde Spielerei in ihren beider Münder.
Ein Räuspern von Henne unterbrach jedoch das rege Treiben und brachte sie in die Gegenwart zurück.
„Schade ... Du solltest ab sofort jede erfolgreiche Lektion so belohnen, FX!“
„Nichts lieber als das! Und nun zu Dir, lieber Henne. Deine Aufgabe wird es nun sein, herauszufinden, wo Ben steckt. Michel weiß es vielleicht schon, er hat ja Teile der Umgebung gesehen. Und nun bist Du dran.“
„Wie soll ich das denn ...?“
„Ich erkläre Dir, wie es funktioniert. Es ist ganz einfach. Im Prinzip.“
Natürlich wusste FX, dass es sich viel einfacher anhörte als es war. Besonders für Henne, der alles andere als einen ausgeprägten Orientierungssinn hatte. Aber nun war es für ihn an der Zeit, seine Fähigkeit durch ein paar einfache Tricks sinnvoll zu erweitern.
„Grob gesagt verhält es sich folgendermaßen: Du hast ein Brotmesser und kannst damit prima umgehen. Brot schneiden, Butter schmieren. Alles super, gratuliere. Aber mit diesem Messer kann man auch eine Bierflasche öffnen, obwohl es nicht dafür gemacht ist.“
„Ja, klar. Aber hä?“
Die Erinnerungen an seine Ausbildung mit Eggsy kam ihm spontan wieder in den Sinn. Genauso hatte auch er dagestanden, als Eggsy seinerzeit versucht hatte, ihm neue Tricks beizubringen.
„Du musst über den Tellerrand hinausschauen, FX, sonst bleibt Dein Leben beschränkt!“
Es war keine Zeitreise, sondern nur eine Erinnerung, die plötzlich durch FX’ Kopf schoss. Eine Erinnerung an einen Satz, den er sich unzählige Male von seinem Mentor Eggsy anhören musste. Er hasste dieses Bild so sehr, aber es hatte sich unauslöschlich in seine Erinnerungen eingebrannt. Und was noch viel schlimmer war: Eggsy hatte Recht! Nur wenn man einen Schritt auf unbekanntes Terrain wagte, konnte man sich weiterentwickeln. Schritt für Schritt hatte sich FX zu dem Besten der Zweiundvierzig empor gearbeitet. Und ähnliches hatte er nun auch mit seinen Freunden vor. Auch sie sollten sich nach und nach weiter entwickeln und über sich selbst hinaus wachsen, stets neues und spannendes Gelände betreten.
Also erklärte er Henne, was er gleich tun sollte. Zunächst wies er ihn an, sich flach auf den Boden zu legen. Am besten immer mit dem Kopf nach Norden und den Füßen gen Süden.
„Woher soll ich wissen, wo Norden und Süden ist? Ich kann ja nicht einmal zuverlässig rechts von links unterscheiden!“
Innerlich rollte FX mit den Augen, ließ sich jedoch nach Außen nichts anmerken. Nur kurz musste er überlegen, ob das wirklich so wichtig war. Eigentlich spielte es keine große Rolle, sondern war eher ein Ritual. Vielmehr kam es eigentlich nur darauf an, einen festen Bezugspunkt zu haben, was Henne auch sofort verstand.
Er sah sich kurz um und legte sich dann in Richtung der Längsachse der Burg auf den Boden. FX freute sich, dass sowohl er selbst, als auch Henne so schnell dazu gelernt hatten. Dann kam der nächste Schritt für seinen Schützling. Auf der Gefühlsebene sollte Henne nun seine empathischen Fähigkeiten freien Lauf lassen und in die Ferne schweifen.
Zwar verschwand in dieser Welt jegliche tote Materie und es blieben nur Lebewesen, also Menschen und Tiere übrig. Jedoch mussten sich diese natürlich an die physischen Gegebenheiten halten.
„FX, Du sprichst in Rätseln!“
Wieder musste FX etwas schmunzeln. Auch er hatte damals nicht verstanden, was Eggsy da von ihm wollte. Da Henne nun die gleichen Fragezeichen im Gesicht hatte, wie er seinerzeit, muss es also daran gelegen haben, dass Eggsy nicht der beste Erklärbär war.
Daher versuchte FX es etwas anschaulicher. Henne würde, wenn er durch seine Empathie-Welt schritt, vielen Menschen, beziehungsweise deren Gefühlszuständen, begegnen. All diese Menschen konnten aber nicht beliebig im Raum verteilt sein, sondern mussten nach wie vor in den Gängen und Räumen der Universität sein. So würde er also indirekt ein Abbild des Gebäudes erhalten, wenn er die sich darin befindlichen Menschen betrachtete.
Henne blickte FX skeptisch an und schüttelte den Kopf.
„Du meinst also, wenn ich unzählige Emotionswolken sehe oder besser gesagt spüre, kann ich mich anhand dieser vorwärts angeln, bis ich bei Ben angekommen bin, den ich ja ohnehin schon von Ferne aus sehe?“
„Exakt!“
„Dann sag das doch!!!“
„Wenn Du es Dir nicht selbst zurechtgelegt hättest, dann hättest Du mir das eh nicht geglaubt.“
„Stimmt.“
Henne schloss die Augen. Er spürte, wie sein Körper schwerer wurde und dann verschwand. Übrig blieb nur das Gefühl seines Körpers. Er hatte mittlerweile gelernt, seine eigenen Emotionen für die Zeit seiner empathischen Exkursionen säuberlich verpackt zurückzulassen, um sich durch sie nicht verwirren zu lassen.
Sein Körper lag nun leblos auf dem Boden. Seine Atmung war sehr flach und selten. Auch sein Herzschlag war weit unterhalb eines normalen Ruhepulses. Tiere im Winterschlaf gehen in einen ähnlichen Energiesparmodus. Empathen auf Reisen nutzen das instinktiv, um ihren Aufenthalt in der Welt der Emotionen und Gefühle zu verlängern. Zu seinem Erstaunen musste Henne das nicht lernen. Sein Körper hatte das automatisch gemacht, als er das erste Mal von FX im Rahmen des Trainings komplexere Aufgaben lösen musste.
Was er als nächstes fühlte, waren FX und Michel. Michel war viel aufgeregter, als er selber. Er spürte seine Nervosität wie eine pulsierende Gewitterwolke. FX hingegen erschien ihm, wie fast immer, als eine Kugel, die in Regenbogenfarben leicht pulsierte.
Henne kannte den Startpunkt. Sie waren oben auf ihrem Turm. So oder so konnte es nur runter gehen. Ein Stockwerk tiefer also befanden sich in den vier Apartments insgesamt ein Dutzend Menschen. Zwar ließ Hennes Orientierungssinn oft zu wünschen übrig, dennoch konnte er sich halbwegs sicher in der Universität orientieren, was gerade sehr von Vorteil war.
Das kartographische Gedächtnis von FX war für solch einen Blindflug sicherlich viel vorteilhafter, nur war Hennes Orientierungssinn eher spärlich bis gar nicht vorhanden. Er spürte ungefähr, wo Ben war, aber den Weg dorthin, den kannte er nicht. Noch nicht.
Aber er war halbwegs zuversichtlich, dass er es schaffen würde. Hatte er doch mittlerweile alle Ebenen mit Wohnungen ihres Turmes passiert. Jetzt müsste er eigentlich im Sockelgeschoss angekommen sein. Also den langen Gang entlang hinüber zum nächsten Turm. Dort vermutete er Ben und wenn er erst einmal dort war, würde er ihn genauer erspüren können.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Hier, wo auch immer sein ‚hier‘ gerade war, war niemand. Er hatte erwartet, dass er im Sockelgeschoss viele Menschen spüren würde. Aber in seiner unmittelbaren Umgebung war niemand. Mehr Menschen waren weiter weg.
Aus dem Päckchen seiner eigenen Emotionen versuchte gerade die Panik heraus zu krabbeln. Jedoch gab Henne dem Paket einen gedanklichen Stoß, so dass sich die Panik quasi vor Schreck wieder zurückzog. Henne wusste, dass er sich nicht verlaufen haben konnte. Er musste noch in der Uni sein. Er war vermutlich nur falsch abgebogen.
Ein Blick zurück zu sich, seinem Körper, sein Päckchen mit seinen eigenen Emotionen verriet ihm seinen Fehler. Sein Körper lag nach wie vor oben auf dem Turm, genau dort konnte er auch FX und Michel ausmachen. Dazwischen dann diverse Etagen mit vielen Menschen unterschiedlichster Gemütsverfassung. Der Wohnbereich.
Und dann war er hier. Ein Stockwerk zu weit oben. Er war gerade auf der Ebene Lehrerzimmer. Kein Wunder, dass er hier keinerlei Gefühle spüren konnte. Es war niemand da. Es war ja Samstagabend!
Vorsichtig glitt Henne weiter hinab, bis es wieder vor Gefühlseindrücken nur so wimmelte. Das Sockelgeschoss. Weiter Geradeaus, nächster Turm, links, rechts, rechts.
Mit jedem Abbiegen wurde die Zahl der Menschen weniger. Nur ein Mal kam er an zwei Personen vorbei. Unter normalen Umständen hätte er aus Scham weggeschaut. Ganz offensichtlich hatten die beiden Sex, anders ließ sich das Leuchten an Gefühlsausbrüchen von Liebe und Erregung nicht erklären.
Noch ein Stück weiter und eine links-rechts-Kombination und dann war er bei Ben angekommen. Aber Ben war nicht allein. Eine weitere Person war bei ihm, jedoch empfing Henne nur ganz schwache Signale von ihm. Ben hingegen schien es tatsächlich gut zu gehen, auch wenn er sehr aufgeregt und etwas verängstigt war.
Henne war sich sicher, dass er bis auf das einmalige falsche Abbiegen in den Trakt der Lehrer nicht weiter vertan hatte. Alles andere war schlüssig gewesen, einschließlich des Pärchens mit dem Sex, was in einem der Kaminzimmer gewesen sein muss. Er hatte Ben gefunden!
„Sie sind bei der Zugbrücke!“
Wie ein Ertrinkender, der nach Luft schnappt, schnellte Henne aus seiner leblosen Lage hoch und richtete sich auf! Freude über seinen Erfolg und ein gehöriger Schwindel lösten einander schnell ab. So war er froh, dass ihn Michel in den Arm nahm und er sich in dessen muskulösen Oberarme fallen lassen konnte.
„Saubere Arbeit, Henne! Ich wusste, dass Du das schaffst.“ FX war stolz auf seinen kleinen Freund und erkundigte sich sodann besorgt: „Sag Bescheid, sobald Du wieder fit genug bist zum Aufstehen. Dann gehen wir sofort los.“
Wenige Minuten später waren sie auf dem Weg hinunter zum Haupteingang der Universität. Auf ihrem Weg schilderte Henne, was rechts und links in den Zimmern und Räumen vermutlich vor sich ging. Besonders das Pärchen, welches in einem der Kaminzimmer sehr intimen Verkehr hatte, ließ er nicht unerwähnt.
„Aber Ben ist nicht alleine. Es ist noch jemand bei ihm. Und dem geht es irgendwie nicht so gut“, schloss Henne seine Schilderung, während sie sich dem Hauptportal näherten.
„Ja, das hast Du auch gesehen, Michel, nicht wahr? Und genau deswegen sind wir hier.“
Sie erreichten Ben, der neben einem am Boden liegenden jungen Mann hockte, der auch sein Bruder hätte sein können. Soweit man sehen konnte, waren sich beide sowohl vom Körperbau als auch bei der Kleidung sehr ähnlich.
„Diggi, gut, dass Ihr da seid!“ Ben hatte seine Freunde kommen sehen und sprang ihnen sofort entgegen. „Ich wollte den neuen Skaterboy hier gerade anquatschen, als zwei Typen aus einem Versteck herauskamen und die arme Sau hier komplett zusammengeschlagen haben.“
„Na, die sind ja mutig! Hier mitten am Hauptdurchgang jemanden zu verprügeln. Das grenzt ja schon an ein Wunder, dass niemand zur Hilfe geeilt ist.“
Michel sah sich um. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und die ganzen Ausflügler waren auf dem Rückweg zurück in die Burg. Der zusammengeschlagene Kommilitone lag in einer Ecke am Rande des Eingangsportals und Ben saß wie ein kleines Häufchen Elend auf seinem Skateboard und hatte sein Gesicht in beide Hände vergraben.
„Henne, magst Du Dich bitte etwas um Ben kümmern? Ich werde den armen Kerl hier versorgen.“
„Und ich passe auf, dass uns keiner dabei stört. Hier bleiben bestimmt gleich unzählige Gaffer stehen.“
Mit breiten Schultern stellte sich Michel schützend vor das Opfer und war bereit, die Leute zu vertreiben, sobald sie auch nur den Anschein machten, stehen zu bleiben.
„Das ist lieb, Michel, aber nicht nötig. Das hab‘ ich anders geregelt.“
FX sah ihn mit einem Zwinkern an.
„Wieder so ein Trick?“
Auffordernd zeigte Michel mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seinen Freund, der sich schon zum Opfer hinunter gebeugt hatte.
„Klar, Du kennst mich doch. Geh mal ein paar Schritte zurück. Was siehst Du dann?“
Michel folgte der Aufforderung von FX und ging langsam zurück. Er traute seinen Augen nicht, denn nach nur zwei Schritten verschwanden die kleine Szenerie von Menschen am Rande der Eingangshalle. Er trat wieder einen Schritt vor und schon waren sie wieder da. Zurück. Weg. Er konzentrierte sich, starrte genau auf den Punkt, von dem er wusste, dass sie dort waren. Aber es war nichts zu erkennen. Michel wechselte die Perspektive nach rechts und links, doch von keinem Punkt aus konnte er seine Freunde sehen.
„Faszinierend!“ Er war wieder näher an die Gruppe herangetreten. „Ist das ein Kraftfeld oder so?“
„Ja, so ähnlich. Es ist ein PAL-Feld. Also ein …“
„Jetzt verarscht Du mich aber, oder? Der Anhalter ist doch Science-Fiction!“
„Naja, Handys gabs früher auch nur bei Startrek. Was erwartest Du jetzt für eine Antwort von mir? Jetzt komm her, sonst sieht Dich noch jemand. Ich muss mich jetzt um den armen Kerl hier kümmern.“
FX faltete seine langen Beine zusammen in den Schneidersitz und betrachtete den bewusstlosen jungen Mann vor ihm. Er sah böse zugerichtet aus und blutete aus mehreren Wunden.
„Könnt Ihr ihn bitte auf den Rücken drehen?“
Nachdem er auf dem Rücken lag, schob FX vorsichtig das weite T-Shirt mit einem wilden Graffiti drauf nach oben, um dessen Brustkorb freizulegen. Behutsam legte FX seine Hand auf die Mitte des Brustkorbs und schloss seine Augen.
Sein Körper verschmolz mit dem Fremden, sie wurden eins. FX und sein Puls synchronisierten sich nach wenigen Schlägen und auch ihre Atmung war absolut gleich. Jetzt wanderte er durch den neuen unbekannten Körper und sah sich um. Wer auch immer ihm verprügelt hatte, er hatte sich nicht zurückgehalten. FX entdeckte mehrere gebrochene Rippen, ein gebrochenes Handgelenk, eine angerissene Milz und eine schwere Gehirnerschütterung. Es war klar, dass dieser Mensch ohne Hilfe nicht lange überleben würde, da er starke innere Blutungen hatte. Und selbst bei mit einer klassischen medizinischen Behandlung wäre er über Monate beeinträchtigt.
Aber FX würde ihm helfen, wie er es schon oft bei anderen getan hatte. Umgehend machte er sich daran, den geschundenen Körper wieder herzustellen. Flickte Gefäße und heilte Knochen. Genau wie damals bei Henne kurierte er alles, was seine Peiniger zerstört hatten.
Aber auch jetzt galt, was FX seinen Freunden schon mehrfach erklärt hatte. Die Naturgesetze ließen sich nicht brechen, sondern nur verbiegen oder verschieben, also mussten die Verletzungen an anderer Stelle gelagert werden. FX nahm sie auf sich, wie er es immer tat.
„Du bist zu gut für diese Welt! Was könntest Du alles machen, wenn Du zwei gesunde Arme hättest, und nicht immer mit diesem blöden Gipsarm durch die Weltgeschichte laufen müsstest!“
Immer, wenn er jemanden heilte, hatte er Eggsys Stimme im Ohr. Dennoch genoss er sowohl bei Eggsy, als auch bei allen anderen der Zweiundvierzig die höchste Anerkennung, war er trotz seines Handicaps dennoch der mit Abstand Beste von allen.
Die drei Freunde beobachteten FX und den Bekannten von Ben sehr genau. Anfangs gab es nicht viel zu sehen, weder FX noch der andere bewegten sich auch nur einen Millimeter. Doch plötzlich begannen sich seine Wunden zu schließen, die Hämatome auf seiner Haut wurden zusehends kleiner und verschwanden. Nach nur wenigen Augenblicken sah er aus, als würde er nur friedlich schlafen, nichts erinnerte mehr an die Prügel, die er eingesteckt hatte.
Plötzlich schnauften sowohl FX als auch der andere einmal laut auf. FX öffnete die Augen, nahm seine linke Hand von dem Opfer und hielt damit seinen rechten gebrochenen Arm kurz fest. Er verdrehte die Augen und atmete langsam wieder aus.
„FX, alles gut bei Dir? Hast Du Schmerzen?“
Michel, der ihm am nächsten stand, fasste ihn behutsam bei den Schultern und sah seinen Freund in die Augen, die gerade irgendwie nicht so blau leuchteten, wie sie es sonst taten.
„Ja …“ Die ersten Worte klangen etwas gequält, doch schon bald war FX wieder fast wie der alte. „Ich glaube, ich hatte das schon einmal erwähnt. Wenn ich jemanden heile, dann müssen die Verletzungen ja irgendwo hin. Das kommt dann immer wie eine Dampframme auf mich zu, ist aber schnell wieder vorbei oder besser gesagt so, dass man es aushalten kann.“
„Klingt irgendwie nicht so beruhigend.“
„Wenn es Dich beruhigt: Ich mache das schon ziemlich lange so.“
„Und mit ‚ziemlich lange‘ meinst Du vermutlich verdammt lange.“
„Jup. Selbst Eggsy und Jo haben sich dran gewöhnt.“ FX konnte sich ein Zwinkern nicht verkneifen. „Ich lasse ihn noch etwas schlafen, wir sind hier noch nicht fertig. Er ist aber außer Lebensgefahr. Ben, was ist mit Dir?“
„Diggi, das war total krass!“
Ben saß immer noch auf seinem Skateboard und hatte alles mit etwas Abstand verfolgt. Aber mittlerweile hatte er sich soweit von seinem Schock erholt, dass er wieder ganz der Alte war.
„Hast Du gesehen, wer das getan hat?“
„Diggi, leider nich. Ich wollte ihn gerade von hinten ansprechen als die beiden Typen aus dem Schatten hervorgesprungen sind. Das ging alles so dermaßen schnell. Die waren mega brutal. So schnell konnte ich gar nich dazwischen gehen. Dann waren sie wieder weg. Die waren derbe fix bei der Sache!“
„Komisch …“ FX kratzte sich nachdenklich an seine rasierten Schläfen und ließ seine Dreads dabei langsam wippen. „Und Du hast wirklich nichts gesehen? Gesicht? Gestalt? Kleidung?“
„Nix. Das waren nur schwarze Schatten.“
„Schwarze Schatten?“ FX sah zu Ben auf und wiederholte seine Frage: „Schwarze Schatten? Bist Du Dir sicher?“
„Naja, Diggi, ich weiß nich …“
„Ben, ich frag das nur ungern, aber: Darf ich nachschauen?“
„Wie jetzt, Diggi?“
„Darf ich bei Dir nachschauen? In Deinem Kopf? In Deinen Gedanken, Deinen Erinnerungen?“
„Klar!“ Die Antwort von Ben kam wie aus der Pistole geschossen und er rollte im Sitzen auf seinem Skateboard hinüber zu FX, der immer noch im Schneidersitz auf dem Boden saß. „Sieh Dich ruhig um, ich hab keine Geheimnisse vor Dir!“
„Ich verspreche Dir, nur in die letzten Augenblicke zu schauen. Nichts weiter.“
„Diggi, wenn ich jemandem vertraue, dann Dir und Euch!“ Nacheinander blickte er seine Freunde an. „Ich vertraue Euch komplett. Mein Leben, meine Gedanken. Alles.“
Seine Augen leuchteten wieder in einem tiefen Blau als sei nichts gewesen, als FX zu Ben sah. Vorsichtig legte er seine linke Hand an dessen Stirn: Daumen auf die Nasenwurzel, Zeigefinger oberhalb der Augenbraue auf die Stirn und die folgenden Finger weiter zur Seite hin, bis sein kleiner Finger irgendwo über oder hinter dem Ohr Bens Kopf berührte.
Ein bisschen erschreckte sich FX, konnte jedoch mit etwas Selbstbeherrschung ein Zusammenzucken vermeiden. Ben war total aufgeregt und auch sexuell gerade sehr erregt. Seine Gedanken waren ein wildes Durcheinander aus Skateboard, Kleidung aber auch er selbst, FX war gerade Thema bei Ben. Langsam wurde es ihm selber unangenehm und so beeilte sich FX, etwas tiefer in Bens Erinnerungen abzutauchen und ihn die Ereignisse von vor wenigen Minuten vor Augen zu bringen.
Das Resultat war etwas erfreulich, aber leider überwiegend enttäuschend. Erfreulich, weil Bens Beschreibung der Vorkommnisse sehr exakt waren. Und damit war das auch schon die Enttäuschung, denn die Schlägerei ging wirklich erstaunlich schnell vonstatten und Ben hatte auch im Unterbewusstsein nur schwarze Schatten gesehen.
Unzufrieden nahm FX seine Hand aus Bens Gesicht.
„Diggi, Du musst echt an Deinem Klamottenstyle arbeiten!“
„Wie? Das hast Du absichtlich gemacht?“
„Klar!“
„Arsch! Du hast mich damit komplett überrumpelt!“
„Botschaft angekommen, Diggi?“
„Ja, und abgelehnt. Ich find meine Klamotten ganz okay so.“
„Ja. Okay. Mehr aber auch nich, Diggi!“
„Und was ist nun mit den Typen?“
Henne hatte gerade keine Lust auf eine Stilberatung, noch dazu nicht in dieser Situation, weshalb er die Diskussion gerne wieder auf das ursprüngliche Thema zurückbringen wollte.
„Ben hat wirklich nichts gesehen. Auch nicht unterbewusst.“
„Kannst Du nicht bei dem da nachschauen?“
Henne zeigte auf den schlafenden und geheilten Skater.
„Jein. Ich mache das nur ungern, ohne vorher zu fragen. Aber ich werde ohnehin seine Erinnerung an die vergangenen Minuten löschen. Diese schwarzen Schatten sind mir zu suspekt.“
„Du wirst was?“
Ein Kanon der drei Freunde aus der gleichen Frage erklang in FX‘ Ohren.
„Glaubt mir, ich mache das bestimmt nicht gerne, aber manchmal ist es besser für alle Beteiligten. Ich werde gerade das Gefühl nicht los, dass dieser Angriff nicht dem armen Tropf hier gegolten hat, sondern unserem lieben Ben. Die beiden sehen sich ja gerade in dem Zwielicht hier ziemlich ähnlich. Und der Skater hier ist neu und eigentlich ein unbeschriebenes Blatt.“
FX wusste nicht genau, ob ihn seine Freunde anstarrten, weil er die Gedanken des Opfers gleich löschen wollte, oder weil er die Vermutung geäußert hatte, dass der Anschlag ihrem Freund hätte gelten sollen.
„Hast Du damals bei mir …“
Henne war der Erste, der seine Sprache wieder erlangte.
„Nein, Henne, ich habe damals, als ich Dich geheilt habe, Dein Gedächtnis nicht manipuliert. Zugegebenermaßen habe ich einen winzigen Augenblick daran gedacht, um Dir das Trauma zu ersparen. Aber ich habe es nicht getan. Warum? Ganz einfach. Ihr seid meine Freunde. Meine besten Freunde, innige Freunde. Da macht man das nicht. Das würde ich niemals tun, selbst wenn man mich dazu zwänge. Und außerdem: Du hättest es bemerkt, Henne. Gerade Du als überdurchschnittlicher Empath wärst über kurz oder lang dahintergekommen, glaub mir.“
Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah FX seine Freunde der Reihe nach an und stellte ohne Worte die Frage, ob jemand von ihnen noch Fragen hatte. Da eine weitere Reaktion jedoch ausblieb, widmete er sich wieder dem schlafenden jungen Mann.
Erneut legte er seinen linken Daumen auf die Nasenwurzel des Opfers und die übrigen Finger der Reihe nach mit Abstand auf Stirn und Schläfe. Er schloss die Augen und versuchte, sich in den Verstand des anderen hinüber gleiten zu lassen.
„Oh.“ FX öffnete erstaunt die Augen und murmelte mehr zu sich selbst, denn zu seinen Freunden. „Da ist ja weniger los, als ich gedacht habe.“
Er veränderte seine Sitzposition, um besser an den Kopf des Skaters heran zu kommen. Erneut legte er seine linke Hand an, um danach mit der rechten ebenfalls nachzufassen. Doch mit seinem Gipsarm kam er nicht so an den Kopf heran, wie er es brauchte. Noch dazu steckte sein Daumen seit kurzem ebenfalls in dem grünen Verband, so dass sein Vorhaben ohnehin zum Scheitern verurteilt war.
„Verdammte Oberschwester Hildegard!“
Nur zu gut erinnerte sich Ben daran, wie er FX in die Krankenstation begleitet hatte, als er einen neuen Gips angelegt bekommen hatte. Die dortige Frau Doktor zeichnete sich damals durch wenig Freundlichkeit aus und war eher eine resolute Ärztin, die keinen Widerspruch duldete. Auch nicht, als der Gips größer ausgefallen war als der vorherige. Vielleicht hätte FX sie aber auch nicht ärgern sollen.
Zwar versuchte Ben, einen Lachanfall zu unterdrücken, so ganz gelingen wollte es ihm aber nicht, denn ein impulsives Prusten entglitt ihm dennoch. Und in der Stille des Abends klang es noch viel lauter als es eigentlich war. Natürlich wusste FX sofort, warum Ben gerade so aus dem Häuschen war. Ein paar vernichtende Blicke brachten ihn auch gleich zum Schweigen.
„Dann halt die Holzhammer-Methode. Tut mir leid, Kleiner.“
Mit einem leichten Schwung drückte FX seine riesige Handfläche mittig auf die Stirn des Schlafenden. Es gab einen kleinen Klatscher, als sich die beiden Hautflächen trafen und schon war FX drin in den Gedanken und Erinnerungen des Fremden.
Es war durchaus normal, dass schlafende oder bewusstlose Menschen eine gewisse Leere im Kopf hatten, aber das, was sich FX hier darbot, war selbst dafür weit unter dem, was er erwartet hatte. Hier gab es nichts, aber auch rein gar nichts zu sehen, beziehungsweise hatte dieser Mensch nahezu keine Erinnerungen.
Gewissenhaft prüfte FX, ob sich jemand an den Erinnerungen zu Schaffen gemacht hatte und etwas manipuliert oder gelöscht hatte. Aber dem war definitiv nicht so. Dieser Mensch hatte einfach nahezu keinerlei Interessen und demnach auch wenig Ambitionen, sich irgendwelche Dinge zu merken und abzuspeichern. Die Erinnerungen der letzten Stunden waren absolute Nebensächlichkeiten, die auch schon fast wieder verblasst waren.
Im Geiste legte FX seine Stirn in Falten. Wie konnte ein Mensch nur so desinteressiert sein. Und noch dazu: Um hier an dieser Uni zu studieren, musste man einen gewissen Intelligenzquotienten haben. Aber selbst dabei kamen FX ein paar Zweifel auf.
Schließlich fiel ihm noch eine Möglichkeit ein: Bei einem plötzlichen traumatischen Ereignis gefolgt von einer Bewusstlosigkeit wird das Kurzzeitgedächtnis nicht geleert, sondern quasi eingefroren. Es bestand also noch eine geringe Möglichkeit, dass es dort etwas zu sehen gab.
Und tatsächlich wurde er fündig. Das Kurzzeitgedächtnis war noch intakt und mit flüchtigen Erinnerungen gefüllt. Mit einem Schmunzeln musste FX feststellen, dass der Kerl sogar Notiz von Ben genommen hatte. Wenn auch nicht so, wie dieser sich das vielleicht gewünscht hätte. Überproportional deutlich in seinen Erinnerungen war Bens viel zu große Hose, seine breiten Schuhe und das Skateboard. Dazu spürte FX noch einen bitteren Beigeschmack, dass der Mensch, in dessen Gedanken er sich gerade befand, gar kein Skateboard fahren konnte! FX war enttäuscht und traurig, dass Ben in diesem Menschen bestimmt nicht das finden würde, was er erhofft hatte. Zwar wusste FX nicht, was genau Ben von dem Neuling erwartete, jedoch war er sich sicher, dass er nicht auf seine Kleidung und sein Board reduziert werden wollte.
Also stöberte er weiter und konnte tatsächlich einen Blick auf die Peiniger erhaschen. Selbst die Gesichter der beiden Typen hatte er abgespeichert. Aber sie waren sehr undeutlich und noch dazu viel zu dunkel. FX überlegte kurz. Undeutlich klingt logisch. Dieser Mensch legt definitiv keinen Wert auf Mitmenschen und deren Wesen. Daher hat er sich auch nicht besonders deren Gesichter eingeprägt.
Aber dunkel? Das ergab keinen Sinn. Wieso waren die fremden Gesichter dunkler als erwartet? Das Wort ‚Schatten‘, was Ben gerade benutzt hatte, geisterte erneut durch seinen Kopf. Ben sollte vermutlich Recht behalten. Irgendetwas war faul an der Sache. Dennoch konnte FX einen der beiden eindeutig zuordnen. Es war einer der Hiwis aus dem letzten Jahrgang. Ein Hiwi, der definitiv bei Nico arbeitet! Und damit war auch klar, wer der andere Kerl war und dass auch dieser als Hiwi bei Hennes ehemaligen Peinigern unter Vertrag stand. Und nun war sich FX auch sicher, dass die beiden nicht nur in Forschung und Lehre für Nico arbeiteten, sondern auch noch andere Aufgaben für ihn erfüllten.
Und schlussendlich war FX somit auch klar, dass dieser Anschlag definitiv nicht dem Erstsemester galt, sondern Ben!
Als letzte Amtshandlung musste FX jetzt noch die Erinnerungen korrigieren und die letzten Ereignisse löschen. Viel Mühe musste er sich damit nicht geben. Vermutlich hätte dieser Mensch das alles ohnehin nicht abgespeichert und sich somit nie daran erinnert. Aber dennoch sorgte FX für einen sauberen Abgang seinerseits und einen reinen Tisch in den Erinnerungen dieses Opfers.
FX verließ das langweilige Gedächtnis von Bens Idol und kehrte in die Realität zurück. In Wirklichkeit hatte sein Ausflug nur wenige Sekunden gedauert. Ihm selbst kam es, wie so häufig, wie eine halbe Weltreise vor.
„Schlechte Nachrichten, Ben.“
„Wasn, Diggi?“
„Die beiden haben es auf Dich abgesehen. Warum weiß ich nicht, das haben sie natürlich nicht gesagt. Aber sie arbeiten definitiv für Nico und damit waren die Prügel auch mit Sicherheit nicht für den hier bestimmt, sondern für Dich.“
„Mist.“
„Ach, und Ben …“
„Jo, Diggi?“
„Der Typ ist nichts für Dich. Der mag in Deinen Augen vielleicht cool aussehen, aber glaub mir, da steckt nichts dahinter.“
„Diggi, wieso sachst Du das? Was hast Du sonst noch in seinem Kopp gesehen?“
„Nichts.“
„Wie? Nix? Diggi, sach schon!“
„Nein, Ben. Du weißt, dass ich das nicht mache. Und nun lass gut sein. Wenn er aufwacht, wird er denken, dass er gestolpert ist und kurz ohnmächtig war. Er wird etwas Kopfschmerzen haben. Das wars. Lasst uns verschwinden.“
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