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Quartett

Teil 31 - Traum

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37. Traum

„Also, was ist jetzt, gilt Euer Angebot noch?”

Es war Dienstagabend und wie so häufig im vierten Semester hatten sie alle Vor- und Nachbereitungen der Vorlesungen schon lange abgeschlossen. Die geraden Semester zeichneten sich immer durch einen sehr entspannten Lehrplan aus. Michel war gerade vom Sport wieder nach Hause gekommen und stand unternehmungslustig im Wohnzimmer und blickte seine Freunde herausfordernd an.

„Diggi, welches Angebot?”

Ben hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und räkelte sich zwischen den Kissen. Er wartete nur darauf, dass irgendjemand den Startschuss für das Abendessen geben würde.

„Hast Du irgendetwas schriftliches?”

Henne stand in der offenen Küche und machte sich an der Obstschale zu schaffen. Es erging ihm nicht anders als seinen Freunden. Er hatte nicht den leisesten Schimmer von dem, was Michel meinte.

„Hej, Junx, überlegt doch mal. Kurz bevor es… naja, ich sag mal, kurz bevor es kurzzeitig schwierig wurde mit uns, hatten wir doch immer etwas vor, oder?”

„Ach guck!”

FX war gerade aus dem Bad wieder ins Wohnzimmer gekommen und hatte nur den letzten Satz von Michel gehört. Dennoch versprach die Idee von Michel etwas Aufregung in die sonst eher langweilige Woche zu bringen.

„Ist da auf einmal jemand unternehmungslustig geworden? Okay, den größten Teil des Rückwegs hast Du ohnehin verschlafen und musstest getragen werden, wenn ich mich recht entsinne.”

FX konnte sich die Anspielung auf Michels Ohnmacht nicht verkneifen.

„Lieber FX, darf ich Dich daran erinnern, dass DU die Wurzel allen Übels warst? Du hast Dich im wahrsten Sinne des Wortes an die Wand nageln lassen!”

Michels Antwort kam viel zu schnell, als dass sie gut genug überlegt war.

„Ja, Michel, aber auch nur, weil er mir dadurch das Leben gerettet hat. Denn sonst wäre mein Kopf jetzt aufgespießt an der Wand, nicht sein Arm.”

Ben wurde heute noch ganz schlecht bei dem Gedanken, dass dieser metallene Dorn genau seine Schläfe getroffen hätte, wenn FX nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre und seinen Gipsarm dazwischen gehalten hätte.

„Hej, Junx, beruhigt Euch doch mal wieder etwas.”

Henne kam mit einem Teller frisch geschnittenem Obst aus der Küche und verteilte Apfelspalten, Erdbeeren und Kirschen.

Der volle Obstteller hatte eine Halbwertszeit von wenigen Minuten und nachdem die letzten Vitamine vertilgt waren, entspannten sich die Gemüter und die Diskussion glich mehr einer Planung.

„Also ich bin sofort dabei, Michel. Zwei Personen wären wir demnach schon.”

FX war schon ganz aufgeregt bei dem Gedanken, wieder in die geheimen Gänge der Universität zu steigen und neue Ecken in dieser unbekannten Parallelwelt zu erkunden.

„Diggi, keine Frage, dass wir alle gehen, oder Henne? Aber bitte bitte bitte, wir müssen diesmal echt vorsichtig sein! Wer weiß, was da noch für Fallen auf uns warten. Und ich lass auch mein Board hier, versprochen!”

Es kam wirklich sehr selten vor, dass Ben sein Skateboard zuhause ließ. Und so unterstrich diese Geste, wie wichtig ihm diese Expedition war.

„Okay, wir haben alles, was wir brauchen. Ich denke nicht, dass wir noch mehr an Ausrüstung brauchen, als beim letzten Mal, oder? Taschenlampen, Seil, feste Schuhe.”

Michel hatte sich offensichtlich schon länger mit dem Thema befasst, er wirkte jedenfalls bestens vorbereitet.

„Genial, Diggi, dann können wir ja gleich nach dem Abendessen loslegen.”

Ben konnte es wie immer nicht erwarten und war schon ganz aufgeregt.

„Nicht so hastig.” FX legte Ben eine Hand auf die Schulter, damit sich dieser etwas beruhigte. „Nach dem Abendessen ist noch viel zu viel los auf den Gängen. Du weißt, dass wir in die parallelen Gänge nur über die kleinen Empfangshallen vor den Apartments kommen. Das klappt zu so früher Uhrzeit nicht unauffällig.”

„Och menno, Diggi, dann müssen wir ja noch ewig warten!”

„Was haltet Ihr davon, wenn wir erst nach Mitternacht losgehen. So gegen zwei oder drei Uhr?”

Zwar hatte sich FX nicht so lange mit der Neuauflage der Expedition beschäftigt, wie Michel, war aber bekannt dafür, dass er sehr schnell denken konnte und alle möglichen Kombinationen von Ereignissen im Voraus berechnete und plante.

„Also das ist jetzt aber sehr konservativ gerechnet, oder?”

Henne war schon klar, dass man erst durch die geheimen Türen in die versteckten Gänge gehen konnte, wenn man mit Sicherheit nicht mehr beobachtet werden würde, aber jetzt im Sommer würde um drei Uhr morgens ja schon bald wieder die Sonne aufgehen.

„Ja, aber überlegt doch mal. Wo wird dieser Gang enden, wenn wir ihn denn gehen sollten? Der führt in einem Winkel von fünfundvierzig Grad von unserem Turm weg. Übrigens vermute ich, dass dasselbe für die anderen Türme auch zutrifft, so dass wir vermutlich vier Gänge haben werden, die strahlenförmig von der Burg wegführen. Hier ist doch alles immer irgendwie symmetrisch aufgebaut.”

FX blickte in erwartungsvolle Gesichter. Keiner traute sich, ihn zu unterbrechen und alle warteten nur darauf, dass er seinen Gedanken zu Ende brachte.

„Diggi nu komm zum Punkt!”

Ben konnte vor lauter Ungeduld nicht mehr still auf dem Sofa sitzen, sondern rutschte nervös hin und her.

„Wo soll denn der Gang Eurer Meinung nach enden? Eigentlich kann er ja nur irgendwo im Wald oder in einer Sackgasse münden. Jedenfalls im Freien. Gebäude gibt’s im Wald ja keine oder habt Ihr welche gesehen? Und dann wäre es hilfreich, wenn es nicht stockfinster wäre, oder?”

„Okay, Junx, da hat FX Recht.”

Henne war von den Argumenten sofort überzeugt und plante bereits ihre nächsten Schritte für die Expedition.

„Dann lasst uns jetzt in die Mensa was futtern gehen und dann machen wir eine gemütliche Runde mit Dösen und Kuscheln auf dem Sofa, bis wir im Morgengrauen dann losziehen!”


Obwohl sie alle zusammengekuschelt auf dem riesigen Sofa eingeschlafen waren, schlugen sie alle beim Klingeln des Weckers um drei Uhr morgens sofort ihre Augen auf und waren hellwach. Wenige Minuten später standen sie in der spärlich beleuchteten kleinen Eingangshalle der vier Apartments, von denen eines das ihre war.

Wie in allen anderen Hallen auch, standen hier ein paar Ritterrüstungen, antike Sessel, alte Kommoden. Alles spärlich beleuchtet von ein paar Fackeln, deren Inneres jedoch mit Glühlampen bestückt war. Der prunkvolle Lüster unter der Decke rundete das antike Bild der kleinen Halle ab. Lediglich zwei der Wandfackeln waren zu dieser späten Stunde erleuchtet, nämlich die, die zu den anderen Trakten führten. Die anderen, genau wie der Lüster, waren nur tagsüber eingeschaltet.

Mit einem flüchtigen Blick glich hier ein Stein dem anderen. Und selbst wenn man wusste, wo genau die geheime Tür war, konnte man sie nicht einmal erahnen. Das Mauerwerk aus fein behauenen Natursteinen war überall dermaßen exakt aufgebaut, dass man keinerlei Spalten erkennen konnte.

Nur durch Betätigen der richtigen Schalter in der korrekten Reihenfolge ließ sich die Tür öffnen.

„Und wie is nu die Kombination?”

Henne stand ratlos vor der Wand und blickte auf die Fackel, von der er wusste, dass sie zur Öffnung der Tür beitrug.

„Also Junx, so vergesslich kann man doch gar nicht sein! Die Ritterrüstung steht für die Etage. Am Lüster gibt man die Nummer des Turms ein und...”

FX rezitierte die Kombination, wurde jedoch von Ben unterbrochen.

„Diggi, wie kann man sich nur so viel Zeug merken?”

„Klar, Ben, Du hättest Hirnschmalz gespart und wärst mit Deinem Board zu einer Tür gefahren, die wir schon geöffnet hätten, was?”

Michel piekste Ben freundschaftlich in die Seite.

Nur Henne war den Ausführungen von FX gefolgt und hatte, mit Ausnahme des Kronleuchters, an den er nicht herankam, alle Hebel gedrückt, als FX sie aufgezählt hatte. Mit dem Öffnen der Schublade in der Kommode glitt sodann lautlos ein Teil der massiven Steinwand zuerst nach hinten und dann zur Seite und gab den Eingang in die geheimen Gänge frei.

Die vier Freunde vergewisserten sich ein letztes Mal, dass sie wirklich alleine waren und verschwanden lautlos in dem schwarzen Loch in der Wand. Kaum, dass der letzte von ihnen hindurch war, glitt die Tür auch wieder in ihre Ausgangsposition zurück.

Obwohl es ihnen schwerfiel, mussten sie ein paar Augenblicke warten, bis sich ihre Augen vom Halbdunkel an die absolute Dunkelheit hier gewöhnt hatten und sie dann die biolumineszenten Bakterien in den Fugen der Steinwände sehen konnten.

Zwar hatten sie das kräftig leuchtende Orange der Bakterien schon ein paar Mal gesehen, aber auch dieses Mal stockte ihnen wieder der Atem angesichts dieses Naturschauspiels. Glühwürmchen in einer Sommernacht waren nichts gegen die beleuchteten Fugen in den geheimen Gängen der Universität.

„Diggis, ich muss jedes Mal an Matrix denken, wenn wir hier sind.”

Ben konnte dieses Wunderwerk nicht unkommentiert genießen und brach als erster die Stille. Natürlich wusste er, dass er nicht alleine war und es auch keinen Grund gab, sich zu sorgen, aber seine eigene Stimme zu hören, beruhigte ihn zusehends. Ihm war die Stille einfach unheimlich.

„Ja, nur dass die Farbe nicht passt.”

Michel konnte es nicht lassen, Ben zu korrigieren.

„Hassu nich aufgepasst, Diggi. Klar gibts die auch in grün. Und rot und blau!”

„Ähm, Kinder”, Henne traute sich kaum, die beiden Streithähne zu unterbrechen, tat es aber trotzdem. „Wollt Ihr hier noch diskutieren oder sollen wir weiter gehen?”

„Na dann los, sechs Stockwerke runter. Wir müssen ins vierte Kellergeschoss.”

Der Weg war zwar einfach, aber dennoch gab FX mit seinem kartographischen Gedächtnis den Ton an.

Wie eine kleine Karawane stiegen sie durch das Treppenhaus Stockwerk um Stockwerk hinab. Dieser geheime Teil der Burg war nahezu baugleich mit dem öffentlichen, nur dass die Gänge und Treppenhäuser deutlich schmaler waren. Davon abgesehen war es wie eine parallelverschobene Kopie.

Als sie am Grund ihres Turmes im Südwesten angekommen waren, standen sie wieder vor dieser alten schweren Eichentür, die trotz unzähliger Schlösser und Riegel weit offenstand. Hier unten im allerletzten Stockwerk fanden sich fast keine biolumineszenten Bakterien mehr und es war fast stockfinster. Die Freunde wussten, dass sie für den Gang, an dessen Anfang sie nun standen, ohnehin die Taschenlampen benötigten.

Auf Kommando schlossen sie die Augen, schalteten die Lampen ein und öffneten danach vorsichtig wieder ihre Augen und warteten, bis sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatten.

„Wer geht voran?”

Michels Stimme klang etwas unschlüssig und dünn. Er hatte definitiv nicht vor, der erste zu sein und eventuell von einer weiteren Falle erfasst zu werden. Allerdings war er ebenfalls nicht darauf erpicht, dass einem seiner Freunde etwas zustoßen könnte.

„Da ich das sowieso nich erwarten kann, geh ich wieder vor, wenn Ihr nix dagegen habt oder Diggis?”

Ben konnte manchmal erstaunlich selbstreflektiert sein.

Auch wenn es beim letzten Mal wenig Glück gebracht hatte, reihten sich die Freunde in dieselbe Reihenfolge wie damals auf: Nach Ben folgte FX, dann Henne und Michel bildete das Schlusslicht.

Ihre starken Taschenlampen leuchteten weit in den Gang hinein. Im Gegensatz zu allen anderen geheimen Gängen in den oberen Stockwerken der Burg war dieser hier sehr dreckig und ungepflegt. Zwar war es unwahrscheinlich, dass die geheimen Hauptgänge sauber gehalten wurden, aber hier in diesem Gang, der eindeutig von der Burg wegführte, gab es Hinterlassenschaften von Tieren und jede Menge Dreck in Form von Laub und Zweigen.

Da die Freunde den ersten Abschnitt des Ganges gut kannten, kamen sie schnell voran und erreichten nach kurzer Zeit den Ort, wo FX seinen Unfall hatte, mit dem er Ben das Leben gerettet hatte.

„So, auf zu neuen Ufern.”

Ben war sehr konzentriert darauf, sich nicht ein zweites Mal zu übergeben. Mit Unbehagen betrachtete er den langen Metalldorn, der aus der Wand ragte. Im Schein der Taschenlampe konnte man noch sehr gut das getrocknete Blut von FX dran erkennen. Auch die exzessiven Spritzer an der Wand waren nicht zu übersehen. Nur hatte sich alles in der Zwischenzeit dunkelbraun verfärbt, was ihre Erinnerung aber keineswegs trübte.

„Vorsicht, Ben, hier muss irgendwo auch noch eine Spur von Dir auf dem Boden zu finden sein.”

FX leuchtete mit seiner Taschenlampe den Boden ab um die Überreste von Bens damaligem Abendessen zu finden. Die Suche blieb jedoch erfolglos.

„Ich glaube, wir oder besser gesagt Ben hatte verdammt großes Glück!”

Henne betrachtete die Stelle mit dem Dorn genauer und untersuchte auch noch die weitere Umgebung. Schließlich wies er mit seiner Lampe an eine tiefere Stelle.

„Seht Ihr dieses Loch hier? Hier würde unter normalen Umständen doch bestimmt auch noch so eine spitze Metallstange herauskommen. Und dort ebenfalls.”

Der Schein seiner Lampe fiel auf die gegenüberliegende Seite des Ganges, wo ebenfalls zwei Löcher in den Wänden waren.

„Alles Gute kommt von oben”, fügte Michel schließlich hinzu, der mit dem Schein seiner Lampe zwei weitere Löcher in der Decke umkreiste. „Anscheinend ist der Mechanismus etwas in die Jahre gekommen, was in diesem Falle echt lebensrettend war.”

„Stellt sich jetzt nur die Frage, ob das die einzige Falle in dem Gang war.”

Ben kratzte sich am Kopf und stellte fest, dass er Spinnweben in den Haaren hatte.

„Iiihhh! Das ist ja eklig!”

„Naja”, raunte FX. „Da gibt’s durchaus schlimmere Dinge. Ich glaube, wir müssen einfach verdammt vorsichtig sein und nach solchen Löchern oder anderen Dingen Ausschau halten.”

„Also dann weiter, was?”

Ben drehte sich wieder nach vorne und machten den ersten Schritt in einen unbekannten Abschnitt des Ganges.

Dadurch, dass sie nun sehr aufmerksam Wände, Decke und Boden absuchten, kamen die Vier deutlich langsamer voran, als sie es ursprünglich geplant hatten. Ben stellte sich unterdessen die Frage, wonach er denn überhaupt suchte. Irgendwelche Löcher in den unebenen Wänden? Die waren vorhin schon schwer genug zu erkennen. Schließlich bestanden diese Gänge nicht aus glatt behauenem Granit, wie weiter drinnen, sondern hier waren es nur grob behauene Steine, die alles andere als eben waren. Dort Unregelmäßigkeiten zu finden, glich der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.

Außerdem fürchtete Ben, dass hier vielleicht auch noch ganz andere Fallen auf sie warten könnten. Fallen, von deren Mechanismus sie gar keine Ahnung hätten. Es wäre ja auch etwas naiv, die gleiche Falle mehrfach einzubauen. Selbst er würde nicht auf so eine einfältige Idee kommen. Dieser Ausflug wurde mit jedem Schritt gefährlicher und er spürte, wie sich sein Magen langsam verkrampfte und ihm der kalte Schweiß von der Stirn lief.

Henne, der weiter hinten in der Schlange ging, versuchte immer wieder an Ben und FX vorbei zu blicken, um vielleicht ein Detail zu bemerken, was den anderen verborgen blieb. Aber es stellte sich heraus, dass das wenig erfolgreich war. Zu schmal war der Gang und er konnte von seiner Position aus nichts erkennen. Er mochte es sich nicht ausmalen, was passieren würde, falls wieder jemand zu Schaden kommen sollte. Sich einzig und alleine auf die Zauberkräfte von FX zu verlassen, erschien ihm als sehr gewagt und verrückt. Henne war sehr verunsichert und er spürte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen. Schnell und kräftig. Seine Atmung war sehr flach. Er versuchte, die in ihm aufkommende Panik irgendwie zu unterdrücken oder zumindest klein zu halten. Aber alleine der Gedanke daran, dass die nächste Falle schon bald zuschnappen könnte, ließ sein Gedankenkarussell sich immer schneller drehen. Sie hatten nicht gerade die besten Vorbereitungen für ihre Expedition getroffen. Sich ausschließlich darauf zu verlassen, dass die jahrhundertealte Technik einfach nicht mehr funktionierte, war definitiv keine gute Grundlage. Zumal einen die Türen ja eines Besseren belehrten. Sie funktionierten perfekt.

Henne hielt es nicht mehr aus. Er brauchte Gewissheit, ob und wenn ja wie FX sie und besonders Ben an der Spitze schützen könnte. Denn wenn sie einfach so wie bei einem Sonntagsspaziergang unterwegs waren, war das eine sehr waghalsige und lebensgefährliche Tour. Dann sollten sie dieses Vorhaben sofort abbrechen.

„Sag mal, FX, kannst Du vielleicht...”

„STOP! Ben! STOP!”

Henne erschrak zu Tode und konnte ein leises Kreischen nicht unterdrücken. Zu angespannt war er gerade und gefangen in seinen Gedanken. Er hatte sich unendlich große Sorgen um die Gesundheit seiner Freunde gemacht. Gerade hatte er es geschafft, den Teufelskreis seiner wirren Gedanken zu durchbrechen und wollte FX fragen, ob er irgendeinen schützenden Zauber auf sie sprechen konnte oder über welche Fähigkeiten FX auch immer verfügte.

Und dann schrie ihm Michel, der ganz hinten in der Karawane lief unvermittelt ins Ohr und forderte Ben auf, sofort stehen zu bleiben. Am liebsten hätte sich Henne umgedreht und Michel eine Ohrfeige gegeben. Er hatte ihn zu Tode erschreckt. In dieser ohnehin sehr unheimlichen Umgebung kann man doch nicht einfach so losbrüllen.

„Wasn los, Diggi? Entspann Dich. Immer locker durch die Hose atmen. Ich bin ja noch da.”

Ben hatte sich zwar nicht erschreckt, blieb aber dennoch abrupt stehen und drehte sich um.

Dabei stieß er mit FX zusammen, der anscheinend gedanklich ganz woanders war und Michels Aufschrei entweder gar nicht gehört oder einfach ignoriert hatte. Durch den Rempler musste Ben zwangsläufig einen Schritt nach hinten machen, um nicht ganz das Gleichgewicht zu verlieren. Aber soweit FX in Gedanken gerade auch abgeschweift war, so schnell kehrte er wieder zurück ins Hier und Jetzt. Er reagierte prompt mit intrinsischem Reflex. Blitzschnell griff er nach Ben und bekam ihn am erstbesten Punkt zu fassen: Der weite Gürtel seiner Baggyhose. Damit riss er ihn unsanft zurück, so dass Ben seinen rückwärtigen Ausfallschritt nicht vollenden konnte.

„Diggi, was...”

Weiter kam Ben nicht, denn FX unterbrach ihn freundlich, aber bestimmt.

„’tschuldige, Ben, aber Michel hat gesagt, dass Du nicht weiter gehen sollst. Mein Fehler, ich war in Gedanken, ganz woanders. Michel, was ist los?”

FX hielt Ben immer noch am Gürtel fest, blickte sich aber um und spähte an einen leichenblassen Henne vorbei und in Michels Gesicht.

„Bitte keinen Schritt weiter. Sonst ist Ben tot.”

Michel brachte nur noch ein Flüstern zustande. Er zitterte am ganzen Körper und spürte, wie langsam seine Knie nachgaben.

„Hock Dich hin, Michel. Und ruhig atmen. Es ist nichts passiert. Ben geht’s gut.”

Mit diesen Worten vergewisserte sich FX, dass Ben wieder sicher auf beiden Füßen stand, bevor er seine Hose losließ.

„Diggi, meine Hose!”

In dem Augenblick, als FX Bens Hose freigegeben hatte, fiel diese auch prompt zu Boden, so dass Ben nur noch in Boxershorts im dunklen Gang stand. FX konnte es sich nicht verkneifen, den Lichtkegel direkt auf die bunte Unterhose zu richten. Danach wanderte der Schein der Lampe in sein Gesicht und zeigte Ben ein stummes Grinsen.

„Denk dran, Ben, keinen Schritt weiter, okay? Ich glaube, wir sollten vielleicht besser ein paar Meter zurückgehen und dann quatschen. Michel, kannst Du ein paar Schritte gehen, ohne umzufallen? Henne bekommt schon wieder Farbe im Gesicht.”

FX dirigierte seine Freunde den Gang wieder etwas zurück. Dann gingen alle in die Hocke immer abwechselnd an einer Seite des Tunnels, so dass zwei rechts und zwei links saßen. So konnte jeder jeden anschauen. Die Taschenlampen richteten sie an die Decke, damit das Licht etwas indirekter und wenigstens ein klein wenig gemütlicher erschien.

„Ich… Ich...”

Michel hatte sich immer noch nicht ganz beruhigt. Er schluckte mehrmals trocken und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Nach einem tiefen Atemzug versuchte er es erneut.

„Ich hab es ganz klar vor meinen Augen gesehen. Es war, als würde ich direkt hinter Ben gehen. Ich hab gesehen, wie er plötzlich verschwunden ist. Ein Loch im Boden. Er war einfach weg.”

„Krass, Diggi! Das ist ja ein abgefahrener Tagtraum! Gibt’s hier irgendwo halluzinogenes Gas?”

Ben schüttelte ungläubig den Kopf. So ganz glauben konnte er das nicht. Er hatte definitiv nichts gesehen. Gar nichts. Der Tunnel sah an der Stelle genauso aus, wie einen Meter zuvor. Er hatte beim Zurückgehen genau darauf geachtet.

„Alter, ich hab nicht geträumt!” Michel geriet plötzlich in Rage und seine Stimme wurde laut und überschlug sich. „Das war real! Du warst tot, Mann!” Und dann fügte er flüsternd hinzu: „Ich hab in das Loch geschaut. Ein paar Meter tiefer warst Du von ganz vielen Spießen aufgegabelt gewesen.”

Weiter kam Michel nicht. Er vergrub sein Gesicht in beide Hände und man hörte nur noch ein leises Schluchzen. Henne, der ihm am nächsten saß, legte ihm eine Hand auf die Schulter und beugte sich vor, um ihm leise ins Ohr zu flüstern.

„Michel, beruhig Dich. Es ist nichts passiert. Ben geht es gut. Und das verdanken wir ausschließlich Dir!”

„Sorry, Diggi, ich...”

Ben wurde von Hennes durchbohrendem Blick zum Schweigen gebracht. Ganz unbewusst setzte Henne noch mit seinen kognitiven Fähigkeiten eins drauf und ließ Ben spüren, wie sehr Michel gerade Angst um ihn hatte. Ein Schauer lief Ben den Rücken hinunter. In diesem Augenblick erkannte er, was gerade wirklich hätte passieren sollen. Ben spürte förmlich den Schmerz. Er spürte den Schmerz wie er selbst aufgespießt wurde, aber er spürte auch den Schmerz seiner Freunde, die mit ansehen mussten, wie er gerade starb.

Ihm wurde schlecht. Das Zucken in seinem Magen kam so plötzlich und unangekündigt, dass er es nicht mehr unter Kontrolle halten konnte. Er schaffte es nur noch, sich zur Seite zu drehen und etwas von der Gruppe weg zu krabbeln, bevor sein Magen sich durchsetzte und das Abendessen hinausbeförderte.

Wortlos reichte FX, der Ben am nächsten saß, ein Taschentuch, damit er sich den Mund sauber machen konnte. Um ihn etwas zu beruhigen, legte er seine Hand auf Bens Bein. Instinktiv griff Ben danach. Er brauchte jetzt dringend körperliche Nähe, um sich zu beruhigen. Etwas enttäuscht stellte er fest, dass FX auf der falschen Seite von ihm saß und er deswegen den Gipsarm seines Freundes erwischt hatte. Seine Finger wanderten das harte Ding entlang, bis sie schließlich fündig wurden und Ben die langen Finger von FX spürte, die vorne aus dem Gips herausguckten. Seine Haut berührte die von FX. Sein Puls verlangsamte sich deutlich und er entspannte sich.

„Ich glaube”, versuchte FX besonders leise und ruhig zu sprechen, aber in der Stille des dunklen Tunnels wirkte es dennoch fast wie ein Rufen: „Wir müssen alle noch viel lernen, was unsere Kräfte angeht. Ich glaube, ich bin echt total aus der Übung. Das Leben ist, anders als es meine Hoffnung und mein Wunsch waren, auch hier offensichtlich kein Kinderspielplatz.”

FX seufzte. Er war enttäuscht von sich. Selbstverständlich hätte er alles, was geschehen wäre, mit einer kurzen Zeitreise wieder korrigieren können. Aber das wäre alles mehr als unnötig gewesen, wenn er nur etwas aufmerksamer gewesen wäre. Stattdessen war er in Gedanken schon in den Sommerferien am Strand von Tarragona, wo Eggsy ihm eine geniale Sommerparty am Strand versprochen hatte. Vermutlich wäre es besser, wenn er nicht Eggsys Party genießen, sondern zunächst erstmal sein Training absolvieren würde.

„Henne, das war etwas viel und unkontrolliert, hast Du selbst gemerkt, oder? Du hättest den Ben fast zerlegt. Der Arme kann ja hier nicht alle hundert Meter ein Häufchen hochwürgen.”

FX entschied sich, alle offenen Fragen sofort zu klären. Die Expedition war für heute ohnehin zu Ende, so viel stand fest. In der jetzigen Verfassung konnte keiner weiter gehen. Dafür war gerade zu viel passiert. Aber bevor es zurückging, musste sich die Aufregung etwas legen, weshalb FX auf klare Worte setzte und das nächste Geheimnis enthüllte.

„Michel?” FX blickte ihn an und wartete, bis dieser seinen Blick erwiderte. „Willkommen im Club!”

„Hä?”

„Präkognition.”

„Hä?”

„Das, was Du gerade gesehen hast, das nennt man Präkognition. Genauer gesagt war es eine spontane Präkognition, worauf Du keinen Einfluss hattest, weshalb sie auch sehr überraschend kam. Oder auf Deutsch gesagt: Du kannst in die nahe Zukunft blicken. Willkommen im Club der Mutanten, X-Men oder was auch immer.”

Während Michel noch nicht ganz verstanden hatte, was FX gerade gesagt hatte, wurde er von Henne schon in den Arm genommen und kräftig geknuddelt. Auch von Ben am anderen Ende der Sitzgruppe kam ein lautes Jauchzen und Jubeln.

„Also Du willst mir gerade sagen…”

Michel kratzte sich unschlüssig am Kopf und machte eine lange Pause. Er versuchte den Satz zu vollenden, aber traute sich nicht so recht, weil er Angst hatte, dass es wahr werden würde, wenn er es aussprach.

„…dass ich auch besondere Kräfte habe? Wie Ihr alle auch?”

„Korrekt!”

„Unglaublich!”

Michel konnte es nicht fassen. Er schüttelte ungläubig den Kopf und blickte immer wieder zu FX, der zur Bestätigung ein ums andere Mal nickte.

„Junx, da Ihr nicht so neugierig auf Michels Fähigkeiten seid, wie ich es befürchtet habe, was haltet Ihr davon, wenn wir erst zurück gehen und ich dann etwas darüber erzähle. Oder erst erzählen und dann zurückgehen? Aber so gemütlich ist es hier auch wieder nicht.”


Nach einer Dusche fanden sich alle im Wohnzimmer am Esstisch zu einem ausgiebigen Frühstück wieder. Wie erwartet, war in der Zwischenzeit die Sonne aufgegangen, so dass Henne es für passend hielt, den bisher schon aufregenden Tag mit einem leckeren Frühstück aus Pfannkuchen mit Früchten sowie frischen Spiegeleiern und kross gebratenem Schinken zu beginnen.

„Diggi, wie machst Du das nur immer? Du hast so viele leckere Sachen in so kurzer Zeit gezaubert! Ich glaub Dir ja nie, dass das vorher alles in unserem Kühlschrank war.”

Ben war außer sich, als er den reich gedeckten Frühstückstisch sah.

„Faszinierend, in der Tat.”

FX kaute bereits auf einem Stück gebratenem Speck herum.

„Und dabei hat Henne auch geduscht und er hat zweifellos die aufwändigste Frisur. Und die steht wie eine Eins.”

„Wohl eher wie eine elftausendeinhundertundelf.” Korrigierte Michel und zählte für alle sichtbar die fünf Haarspitzen von Hennes Iro durch.

„Also, Diggi, nu sach schon, was es mit Michels Zauberkräften auf sich hat. Sind wir jetzt reich, weil er die Lottozahlen vorhersehen kann?”

Ben konnte es natürlich wieder nicht erwarten, so dass er zwischen zwei Bissen Pfannkuchen mit halbvollem Mund seiner Neugier freien Lauf ließ.

„Präkognition.”

FX machte es spannend und kaute absichtlich langsam auf seinen Speck herum, während er ungeschickt mit einer Hand versuchte, das Spiegelei zu zerteilen.

„Komm zur Sache, FX!”

Henne war auch schon ganz gespannt, so dass er kurzerhand FX den Teller wegzog, Ei und Speck in mundgerechte Stücke zerteilte und ihm den Teller wieder zurückgab.

„Spielverderber. Ich wollte es etwas spannend machen.“

„Du wolltest einfach nur Zeit schinden und uns an der langen Leine verhungern lassen.“

„Das ist Eure Sichtweise, aber wie dem auch sei, es funktioniert bei Euch immer hervorragend. Denn wir reden schon wieder über ganz was anderes als das, was Euch wirklich interessiert.“

Genüsslich spießte FX etwas Ei und Schinken auf und führe es demonstrativ zu Munde, wo er nicht minder übertrieben darauf herumkaute und jedem seiner Freunde zunickte.

„Also, Präkognition ist die Fähigkeit, die nähere Zukunft vorherzusagen. Meistens ist es die eigene Zukunft, das ist für diejenigen immer am einfachsten. Je fremder der Mensch oder je weiter weg das Ereignis, desto schwieriger wird es für diejenigen, die das können. Auch Dinge vorherzusehen, die weiter in der Zukunft liegen, ist schwieriger, als Sachen die bald passieren. Man kann das natürlich in gewissem Umfang trainieren.”

FX nutzte die kurze Denkpause für die Anderen, um etwas Frühstück von seinem Teller in den Mund zu schaufeln. Er wollte noch unbedingt einen der Pfannkuchen probieren, bevor sie alle aufgegessen waren.

„Was wir auf jeden Fall trainieren müssen, lieber Michel, ist, dass das nicht so spontan und überraschend passiert, denn das nervt total. Ziel sollte sein, dass Du es kontrollieren und gezielt einsetzen kannst. Aber ich kann Dir jetzt schon sagen, dass bedeutende Ereignisse sich trotzdem oft ungefragt in den Vordergrund drängen werden. Daher wirst Du auch lernen müssen, mit solchen, naja, Eingebungen, zu leben beziehungsweise sie zumindest kurz vorher zu bemerken, dass sie nicht ganz aus heiterem Himmel kommen.”

Mit Genugtuung angelte sich FX den letzten Pfannkuchen und schob seinen Teller wortlos zu Henne hinüber. Da dieser ihn nur fragend anschaute, drückte FX ihm noch sein Messer in die Hand um ihm klar zu machen, dass Henne auch den Pfannkuchen wir zuvor schon das Ei zerteilen sollte. Henne quittierte dieses wortlose Frage- und Antwortspiel mit einem Augenrollen und Kopfschütteln, bevor er sich an die Arbeit machte.

„Einiges von dem, was Du sehen wirst, kannst Du auch beeinflussen. Wie gerade eben kannst Du Leben retten. Vieles jedoch wirst Du nicht beeinflussen können, sondern wirst akzeptieren müssen, dass Du es einfach nur vorher weißt als andere. Stell Dir vor, Du würdest drei Minuten vorher das Attentat auf Kennedy sehen. Keine Chance, das zu verhindern.”

Genüsslich aß FX den halben Pfannkuchen mit Blaubeeren auf, bevor er fortfuhr.

„Präkognition klingt ziemlich cool und das ist sie auch. Aber manchmal kann es eine sehr große Bürde sein. Aber mach Dir keine Sorgen, wir schaffen das. Zusammen. Ist noch Kaffee da?”

Michel wusste immer noch nicht ganz, was er davon halten sollte. Er konnte jetzt in die Zukunft blicken. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er das auch wollte. Und das, was FX mit den Worten ‚große Bürde’ meinte, hatte er auch nicht so ganz verstanden. In jedem Falle klang es aber sehr beruhigend, dass diese Fähigkeiten kontrollierbar sein würden. Das, was er unten im Tunnel miterlebt hatte, war alles andere als ‚cool’. So etwas wollte er nicht wieder mitmachen müssen. Er hatte gesehen, wie sein bester Freund gestorben war. Auch wenn es jetzt im Nachhinein nur eine der möglichen Zukünfte war, es war für ihn definitiv real gewesen. Zumindest in dem Augenblick. Und das bedeutete, dass er all den Schmerz und die Trauer real durchlebt hatte. Und wenn das, wie FX behauptet, öfter vorkommen könnte, dann wollte Michel diese Fähigkeit nicht haben. In Michel stieg langsam etwas Furcht auf. Wenn er noch öfter Freunde oder andere Menschen sterben sehen würde, dann wusste er, dass er dem nicht gewachsen wäre. So viel Leid und Trauer in so kurzer Zeit wollte und konnte er nicht noch einmal ertragen. Michel hatte jetzt wirklich Angst. Ihm war der Appetit vergangen. Er ließ die Mundwinkel hängen und starrte auf seinen Teller, ohne diesen wirklich wahr zu nehmen.

„Hej, Diggi, das is ja voll cool!” Ben konnte seine Freude nicht unterdrücken. „Nu hast Du auch eine tolle Fähigkeit, wie wir alle auch. Das wolltest Du doch immer haben, oder Diggi?”

Doch Michel machte keine Anstalten, auch nur irgendwie auf Bens Freudenausbruch zu reagieren. Er hatte ihn noch nicht einmal gehört, sondern war nach wie vor in seine Gedanken vertieft.

„Ben, schalt bitte einen Gang runter.”

FX wusste genau, was in Michels Kopf vor sich ging. Er musste gar nicht erst nachschauen, denn auch er hatte genau dasselbe durchgemacht, was jetzt in Michel vor sich ging.

„Was’n los? Wieso freut er sich denn nich? Neulich isser ausgetickt, weil er normal is und nu isses auch wieder nich richtig? Versteh ich nich, Diggi.”

Manchmal mangelte es Ben offensichtlich etwas an Einfühlungsvermögen.

Schweigend kratzte sich FX am Kopf. Wie sollte er Ben am besten klar machen, was für ein Chaos gerade in Michels Kopf herrschte, bis ihm die zündende Idee kam.

„Okay, Ben, ich weiß, wie ich es Dir am anschaulichsten erkläre.”

„Ja, schieß los, Diggi!”

Ben konnte es gar nicht erwarten.

„Naja, es ist nicht so einfach. Wobei, einfach ist es schon, aber es ist sehr direkt und deswegen sehr krass.”

FX druckste etwas herum, weil er sich nicht hundertprozentig sicher war, ob die Idee wirklich so gut war.

„Ach komm schon, Diggi, ich will es doch nur verstehen. Los, erklär es mir.”

„Es ist kein erklären, sondern ich würde es Dir am liebsten zeigen. Ich möchte, Dein und Michels Einverständnis vorausgesetzt, Dir zeigen, was Michel im Tunnel gesehen und vor allem was er gefühlt hat.”

Ben schaute FX mit halboffenem Mund ratlos an. Er hatte nichts verstanden. Henne hingegen ahnte, was sein Freund vorhatte.

„Du meinst also, FX, dass Du die Gedanken und Gefühle von Michel in Bens Kopf beamen willst?”

„Ja, Henne, genau. Wenn es für Michel okay ist, würde ich sein Erlebnis aus dem Tunnel nehmen und in Bens Gedächtnis einpflanzen. Er weiß, dass es nicht seine Gedanken sind, aber das Gefühl wird trotzdem so sein, als wäre es real, weil es für Michel real war. Und es ist nicht wie Fernsehen!”

FX’ letzter Satz klang etwas wie eine Drohung.

„Darf…” Henne wusste nicht, ob er es wirklich wollte, aber irgendwie war sein Mund schneller, als sein Gehirn. „Darf ich das auch erleben?”

„Hej, Leute, das ist NICHT wie im Fernsehen, wo man sich einen Film anschaut und dann ist das Programm zu Ende und alles ist gut. Naja, vielleicht doch ein bisschen wie Fernsehen. Stellt Euch vor, bei einem Horrorfilm erschreckt Ihr Euch. Ihr wisst, dass es ein Film ist und erschreckt euch trotzdem real. Nur ist das hier eine Nummer härter. Ihr wisst nicht, dass es ein Film ist, denn es fühlt sich an wie die Realität!”

„Okay, Diggi, ich will das.” Ben hatte einen Entschluss gefasst. „Ich hab Michel auf der Party ungefragt durch die Wand mitgenommen. Er weiß, wie sich das anfühlt. Jetzt ist es nur richtig, wenn wir das umgekehrt machen.”

„Vielleicht sollten wir erstmal Michel fragen, ob es ihm überhaupt recht ist.”

FX stand auf und ging um den Tisch herum und hockte sich neben Michel, der immer noch ausdruckslos auf den Teller starrte.

Vorsichtig legte FX Michel den Arm um die Schulter und drückte ihn leicht, um die Aufmerksamkeit seines Freundes zu erlangen. Ganz langsam, als sei er eingeschlafen, kam Michel wieder zu sich. Er blinzelte ein paar Mal und blickte in FX’ Gesicht, welches seinem ganz nah war.

„Hej”, flüsterte FX leise.

Das ‚hej’, was Michel antworten wollte, brachte er nicht heraus, weil er immer noch einen riesigen Kloß im Hals hatte. Er musste ein paar Mal schlucken, bevor seine Stimme wieder brauchbar war.

„Hej.”

„Michel, ich weiß, dass es bei Dir da oben gerade ordentlich am Arbeiten ist.” Durch seinen Gipsarm sah es etwas umständlich aus, als er mit dem Zeigefinger auf Michels Stirn zeigte. „Aber bitte vertrau mir, das ist am Anfang alles schlimmer und beunruhigender, als es im Endeffekt ist. Das ist ein bisschen wie Radfahren. Am Anfang legt man sich ein paar Mal auf die Fresse und es tut weh, aber irgendwann hat man den Bogen raus und dann flutscht es!”

Michel brachte nur ein müdes Lächeln zustande. FX’ Worte waren sicherlich wohl gemeint, aber so richtig glauben konnte er das nicht. Sein Freund hatte gut reden. Er steckte ja nicht in seiner Haut.

„Ich weiß”, fuhr FX fort, „Du siehst jetzt kein Licht am Ende des Tunnels, sondern es ist alles nur verwirrend, unheimlich und beängstigend. Das ging mir damals auch so. Ich kenne das Gefühl, das ist wirklich Scheiße.”

Michel schaute auf und direkt in FX’ leuchtend blaue Augen. Jetzt gerade hatte es den Anschein, dass FX genau wusste, wovon er sprach und dass es keine allgemeinen Floskeln waren, die auf jede unangenehme Situation passten. Irgendwie klang es so, als ob FX auch schon einmal so etwas ähnliches durch gemacht hatte. Konnte er auch in die Zukunft blicken?

„Nur falls Du Dich gleich fragen solltest, ob ich Deine Gedanken lese: Nein, das tue ich nicht. Und das macht man auch nicht unter Freunden. Zumindest nicht, ohne vorher zu fragen.” FX konnte sich einen kurzen Blick zu Henne nicht verkneifen, bevor er fortfuhr: „Ich beherrsche auch die Präkognition.”

Überrascht starrte Michel FX an. Er öffnete den Mund, um unzählige Fragen zu stellen, aber er brachte immer noch kein Wort heraus. Aber auch die beiden anderen Freunde waren überrascht, dass FX ebenfalls über diese Fähigkeit verfügte. Niemand traute sich jetzt, die Stille zu unterbrechen.

„Naja, wobei ‚beherrschen’ absolut übertrieben ist.” FX lachte kurz laut auf. „Eggsy hätte mir bestimmt wieder die Leviten gelesen. Nein, also ganz ehrlich, ich bin echt nicht gut darin. Das Einzige, worin ich wirklich gut bin, ist, diese Erscheinungen zu unterdrücken und im Zaum zu halten. Nutzen kann ich diese Fähigkeit aber sehr selten. Ich kann andere Dinge besser und deutlich effektiver.”

Ein Seufzer entglitt FX und er musste sich zusammenreißen, um nicht auch so trübsinnig dreinzuschauen, wie Michel gerade. Aber die harten Übungsstunden mit Eggsy zu dem Thema waren überwiegend vergebens gewesen. Eggsy schloss diesen Trainingsabschnitte damals mit den resignierten Worten: „Theorie sehr gut, Praxis ungenügend.”

„Ich bin halt manchmal einfach nur faul. Warum sollte ich mir die Mühe machen, eine mögliche Zukunft herauszufiltern, wenn ich sie nicht auch fast absolut sicher berechnen kann? Das erspart mir viele Emotionen und vor allem Zeit. Und selbst wenn ich mich mal irren sollte, reise ich als Einer von Zweiundvierzig kurz zurück und korrigiere es einfach.”

FX musste über sich selber lachen. Kein Mensch konnte in allen Disziplinen gut sein. Und seine Achillesferse war ganz offensichtlich die Präkognition. Er hatte sich damit abgefunden; schneller sogar, als Eggsy es getan hatte. Aber das lag daran, dass FX diesen Teil seiner Zukunft bereits kannte.

„Also, Michel, um es kurz zu machen.”

FX rückte etwas von seinem Freund weg, griff mit beiden Händen Michels Gesicht und drehte es so, dass sie sich direkt in die Augen blickten.

„Ich verspreche Dir hoch und heilig, dass wir beide das in den Griff bekommen werden! Dein erstes Mal ist scheiße gelaufen. Es wird nicht das letzte Mal sein. Aber es wird besser werden. Und am Ende wird es perfekt! Das weiß ich mit Sicherheit.”

Die Augen von FX leuchteten in einem so intensiven Blau, dass man sich darin verlieren konnte. Man mochte gar nicht mehr woanders hinblicken. Erst als FX mit seinen langen Wimpern zu blinzeln anfing, wurde Michel bewusst, dass er ihm irgendwie eine Antwort schuldete. Für alle anderen unmerklich, aber für FX deutlich zu spüren, da er immer noch Michels Kopf festhielt, nickte dieser ganz leicht.

„Herrlich, da sprüht doch einer vor Zuversicht!”

FX konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.

„Und jetzt habe ich noch eine Bitte oder Frage: Unser neugieriger Skater-Freund hier am Tisch versteht nicht, warum Du nicht vor Freude über Deine Fähigkeit unter die Decke springst. Ich würde ihm zur Erklärung gerne zeigen, was Du vorhin gesehen und gefühlt hast. Mit anderen Worten: Ich möchte gerne in Deinen Kopf rein, Dein Gedächtnis vom Tunnel auslesen und bei Ben hineinkopieren. Naja, und Henne würde das auch ganz gern erleben.”

„Sie wissen nicht, worauf sie sich einlassen.”

Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte Michel kein Wort mehr gesprochen. Umso erleichterter waren alle, als sie seine Stimme wieder hörten.

„Nein, das wissen sie wirklich nicht. Aber vielleicht ist es mal ganz gut. Und Henne als Empath wird es früher oder später ähnlich wie Dir ergehen, daher passt das schon, denke ich.”

„Und was ist mit mir?”

Michel war sich unsicher wie es sein würde, wenn jemand in seinem Kopf herumgeistert und nach Erinnerungen sucht.

„Wie Du möchtest. Ich kann es so machen, dass Du nichts merkst. Aber wir können uns auch bei Dir im Kopf treffen, uns nett dort unterhalten und gemeinsam auf die Suche nach dieser Erinnerung gehen.”

Schon bei dem Gedanken daran, dass jemand anders in seinem Kopf war, drehte ich bei Michel der Magen um. Das war definitiv zu viel der Aufregung und neuer Dinge für ihn.

„Ich glaube, ich hätte es gerne so unauffällig wie möglich. Ich brauche jetzt etwas Ruhe.”

FX nickte und verharrte kurz.

„Fertig, ich hab es gefunden.”

„Wie? Schon? So schnell?”

Michel zuckte überrascht zurück und richtete sich kerzengerade auf. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, wie es sich anfühlen würde. Auch hatte er überhaupt keine Vorstellung, wie lange das dauern würde. Aber dass es so schnell und heimlich ging, wie gerade eben, damit hatte er nicht gerechnet.

„Ich sagte doch: Ich bin verdammt schlecht in Präkognition. Aber dafür sehr gut in vielen anderen Dingen.”

FX konnte sich ein hinterhältiges Lächeln nicht verkneifen.

„So, meine Herren.” Zu den anderen gewandt wurde sein Blick sofort ernst, seine Augenbrauen trafen sich fast in der Mitte der in Falten gelegten Stirn. „Ihr erinnert Euch, wie aufgelöst Michel im Tunnel war. Gleiches wird Euch widerfahren. Letzte Chance für ein ‚nein’.”

Nachdem FX einen Atemzug abgewartet hatte und keinerlei Ablehnung seiner Freunde vernommen hatte, pflanzte er Ben und Henne die Erinnerung von Michel ein.

Die Erinnerung an den Tod von Ben.

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