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Quartett

Teil 32 - Zeichen

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38. Zeichen

„Also, wo machen wir es?” Michel war wieder voller Tatendrang, nachdem er voller Energie aus dem Fitnessstudio wieder da war.

Natürlich brauchte er ein paar Tage, bis er den Tod von Ben, den er im Tunnel vorhergesehen und verhindert hatte, verarbeitet hatte. Gespräche mit FX alleine und die Diskussionen in der Gruppe halfen ihm und seinen Freunden dabei, das Erlebte zu verdauen. Schließlich sorgte FX’ Versicherung, dass solche extremen Visionen eher selten waren und der Normalfall deutlich weniger emotional sein würde, für deutliche Entspannung.

Ben hingegen steckte die Tatsache, dass sein Tod in letzter Sekunde vereitelt wurde, überhaupt nicht gut weg. Das Wissen, dass er definitiv gestorben wäre, setzte ihm enorm zu. Er hatte sich viele Tage im Zimmer eingeschlossen und wollte nur noch alleine sein. Von seiner Freude und seinem Ungestüm war nichts übriggeblieben.

Erst als FX sich nach ein paar Tagen des Respektabstandes Zugang zu Bens Zimmer verschaffte und ihn nach langem gemeinsamem Schweigen zum Reden überredete, schmolz der Berg des Entsetzens zusehends. Seine Freunde wieder in den Arm nehmen zu können, tat das Übrige, sodass Ben schließlich wieder fast der Alte war.

Natürlich hatte Henne der mögliche Tod von Ben ebenfalls sehr berührt. Aber er wusste ja, dass das eine mögliche Zukunft war, die dank des beherzten Eingreifens von Michel nicht zur Realität wurde. Viel mehr ängstigte ihn die Möglichkeit, dass er als Empath ebenfalls unvorbereitet Gefühlsausbrüche vollkommen fremder Menschen wahrnehmen und die ihn dann wiederum aus der Bahn werfen könnten.

Um den geistigen Zustand seiner Freunde weiter zu festigen und sie besser auf das Unvorhergesehene vorbereiten zu können, entschied sich FX für weitere Trainingseinheiten sowohl mit Henne als auch mit Michel. Ziel war es, dass spontane Ereignisse sie nicht mehr aus der Fassung bringen sollten, sondern dass die Freunde zukünftig in der Lage sein würden, solche extremen Eindrücke kontrolliert abzublocken und nur sehr dosiert an sich heranzulassen.

Um es anschaulich darzustellen hatte FX das Beispiel einer Party oder eines Restaurants genannt. Viele Menschen auf engem Raum und alle unterhalten sich. Dennoch ist man ja in der Lage, die meisten Gespräche auszublenden und sich lediglich auf seinen eigenen Gesprächspartner zu konzentrieren. Man hört eben nicht ständig alles mit, was um einen herum passiert, sondern ist in der Lage, selektiv das wahrzunehmen, was einen wirklich interessiert.

So saßen die vier Freunde, Ben war aus Solidarität und Langeweile mitgekommen, im riesigen Innenhof der Burg im Schatten eines Baumes und warteten, dass FX mit der ersten Trainingseinheit begann.

„Also, fühlt Ihr etwas? Seht Ihr etwas?”

FX saß im Schneidersitz frontal vor Henne und Michel, während Ben leicht abseits auf seinem Skateboard im Gras saß. Nachdem jedoch beide die Fragen verneint hatten, fuhr er fort und leitete sie für die nächsten Schritte an.

„Okay, dann macht Euch bitte auf die Suche nach etwas. Lasst Euren Geist schweifen. Ihr werdet bestimmt schnell fündig werden. Und bitte nicht erschrecken. Es könnte ‚laut’ werden.”

Sowohl Henne als auch Michel blickten etwas ratlos erst zu FX und dann umher. Hier und da auf der Wiese lagen ihre Kommilitonen und genossen die letzten ruhigen Tage der Vorlesungszeit. Man sonnte sich oder genoss den kühlen Schatten. Es waren zumeist kleine Grüppchen und einige wenige von ihnen hatten sogar ein kleines Nachmittags-Picknick organisiert.

Henne war der erste, der kurz nachdem er seine Augen geschlossen hatte, unerwartet zusammenzuckte und vor Schreck die Augen weit aufriss. Er kam sich zunächst etwas blöd vor, hier auf der Wiese zu sitzen und schweigend in die Gegend zu starren auf der Suche nach etwas, wovon er gar nicht wusste was es war. Er hatte die Leute angeschaut, überlegt, was sie machten, was sie dachten. Aber nicht passierte. Doch als er schließlich seine Augen schloss, brach es vollkommen unerwartet über ihn hinein. Die Stille, die bisher in seinem Kopf herrschte, war jäh zu Ende und er wurde von einer Welle von Gefühlen überrannt.

In seinem Kopf wirbelte es plötzlich vor Eindrücken und Gefühlen, die gar nicht seine waren: Freude über die letzte bestandene Klausur, Hass gegenüber dem Partner, der gerade die gemeinsame Beziehung beendet hatte oder die Sorge um die Aktiengeschäfte, die man gerade tätigte. Henne hatte mit solch einem Ansturm an Emotionen nicht gerechnet und war total überrascht von deren Vielfalt und teilweisen enormen Intensität.

Panisch öffnete er die Augen in der Hoffnung, dass der Schwall enden würde, noch bevor er sich im Rausch der Überwältigung verlieren würde. Doch er wurde enttäuscht. Ungebremst prasselten weiterhin die verschiedensten Empfindungen auf ihn hinein, ohne dass er sie steuern oder beeinflussen konnte. Er wusste sich nicht zu helfen, war stetig hin und her gerissen von fremden Gefühlen aus Hass, Freude, Verzweiflung oder Liebe. In kürzester Zeit schwankten dadurch seine eigenen Emotionen in einer Achterbahnfahrt zwischen himmelhochjauchzend fröhlich und nur einen Augenblick später zu Tode betrübt.

Er wollte, dass es aufhörte und legte aus lauter Verzweiflung die Hände auf seine Ohren und rollte sich klein zusammen. Doch es half nicht. Nach wie vor befand er sich mitten in einem Sturm aus Emotionen und Gefühlen, positive wie negative, leichte und sehr intensive. Es waren viele, viel zu viele.

Mit einem Fingerschnipp beendete FX die Lawine an Eindrücken und errichtete einen Filter um Henne, damit dieser wieder zur Ruhe kommen konnte. Es wurde wieder still in seinem Kopf. Vorsichtig entspannte er sich und hob langsam den Kopf. Er glaubte noch nicht wirklich, dass es vorbei war, aber es schien so. Diese fremden unendlich vielen Gefühle in seinem Kopf waren genauso plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Schließlich setzte er sich auf und blickte unsicher in die Runde.

„Das hat ja ganz hervorragend geklappt! Stell Dir vor, so etwas passiert Dir, wenn Du Auto fährst oder eine Klausur schreibst. Es kann immer und überall passieren.”

FX konnte sich ein Grinsen nicht vermeiden.

Henne schluckte. Dieses Mal hatte FX ihn ja mehr oder weniger darauf vorbereitet und es herausgefordert. Aber wenn ihm aus heiterem Himmel so etwas treffen würde und kein helfender FX in der Nähe war, würde er vermutlich beim nächsten Mal Amok laufen.

„Und falls so etwas passiert, wie kann man das beenden?”

Natürlich war es eine rhetorische Frage, die FX seinen Freunden zuwarf, die niemand beantworten konnte, weshalb er mit seiner Antwort auch nicht lange auf sich warten ließ.

„Ganz einfach: Man braucht einen WUMMS!”

Wie er erwartet hatte, blickte er in lauter fragende Gesichter. Selbst Ben, der eher gelangweilt am Rande saß, horchte nun auf. Alles, was ungewöhnlich, laut oder auffällig war, weckte seine Aufmerksamkeit.

„Man braucht einen Knall, ein Leuchten oder einen Schnitt. Irgendetwas, was alles erschreckt, so dass plötzlich Ruhe ist. Was das ist, liegt ganz an Euch. Es kann ein Fingerschnipp sein, wie gerade. In die Hände klatschen. Es muss aber nichts Lautes sein. Denkt an einen Blitz oder von mir aus stellt Euch auch ein lautes Donnern vor. Sucht Euch etwas aus, merkt es Euch. Es ist Euer persönlicher Rettungsanker.”

Michel fing an zu überlegen. Es klang von FX so, als sei das extrem wichtig. Und das war auch logisch. Schon diese einzelne Vorahnung von Ben im Tunnel hatte ihn nahezu komplett aus der Bahn geworfen und er wusste immer noch nicht so recht, wie er es geschafft hatte, so geistesgegenwärtig zu sein und laut zu schreien. Im Nachhinein betrachtet wäre er nicht einmal mehr im Stande gewesen, auch nur seine Lippen zu bewegen, geschweige denn Ben vor seinem Tod zu bewahren. Wenn er sich jetzt vorstellte, dutzende von solchen Visionen auf einmal zu bekommen, würde er mit Sicherheit durchdrehen. Er brauchte also diesen Rettungsanker, seinen WUMMS.

Da Sport schon immer eine bedeutende Rolle in seinem Leben gespielt hatte, musste Michel nicht lange überlegen. Der Startschuss zu einem Wettkampf mit der kleinen weißen Rauchwolke aus der Pistole, das sollte sein rettender WUMMS werden. Es sollte der Startschuss sein in eine Phase der Ruhe und Sachlichkeit, wo er das gesehene aus seiner Präkognition analysieren konnte und dann die vernünftigen nächsten Schritte einleiten konnte. Das war sein Plan.

Leider hatte der erste Test von FX bei ihm nicht funktioniert. Im Gegensatz zu Henne hatte er leider gar keine Zukunftsvisionen gehabt, so dass er nicht unter kontrollierten Bedingungen an seine Grenze herangeführt werden konnte. Dennoch war ihm klar, dass der Startschuss sein Rettungsanker sein sollte.

„Okay, bereit für die zweite Runde?”

FX wusste, dass seine beiden Freunde fertig waren. Dennoch wartete er auf ihre offizielle Freigabe. Nachdem beide nur genickt hatten, wiederholte er die Aufgabe von gerade eben.

„Dann gehts jetzt wieder los. Lasst Eure Gedanken schweifen, auf dass Ihr die anderen wahrnehmt. Wenn es so weit ist, wartet einen kleinen Augenblick. Versucht es zu ertragen. Versucht, bis an Eure Grenze des Erträglichen heranzukommen. Und wenn ihr dort seid, quasi herangeführt, lasst Euren WUMMS los.”

Ein bisschen Angst hatte Henne schon. Er war sich alles andere als sicher, ob sein Rettungsanker wirklich halten würde. Gerade eben war die Welle, die über ihn hereingebrochen war, unerwartet stark gewesen. Aber er ließ sich nicht entmutigen. Er hatte einen Plan. Er hatte seinen Rettungsanker parat.

Und da kam er, der Sturm an Emotionen. Erst waren es nur zwei oder drei Menschen. Vermutlich hier aus der näheren Umgebung. Aber schnell wurden es mehr. So schnell, dass er sie gar nicht mehr zählen konnte. Freude und Trauer wechselten einander so schnell ab, wie Ekel und Sehnsucht. Es wurden immer mehr. Viel mehr, als noch bei dem ersten Versuch.

Henne brauchte seinen Rettungsanker. Er brauchte ihn schnell, denn die Grenze seiner maximalen Belastung kam mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit näher. Und dann ließ er die Bombe hochgehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sein WUMMS war wirklich einer, denn es war diese klassische runde Bombe aus jedem Comic, mit einer Zündschnur dran, die er jetzt im Geiste anzündete. Zu seinem Bedauern stellte er fest, dass die Zündschnur lang war. Viel zu lang.

Die Anzahl der Eindrücke, die auf ihn herabstürzten, wurden immer mehr und immer intensiver. Zorn und Mut fühlte er dicht gefolgt von Lust und Eifer. Würde das denn nie aufhören? Konnte es nicht einfach mal weniger werden? Henne schwirrte der Kopf, alles begann sich zu drehen. Immer weiter im Kreis herum. Kreis? Rund? Wo war sein Anker? Die kugelrunde Bombe? Fast hätte er sie vergessen. WUMMS!

„Das war knapp, Henne.”

FX hatte seinen Freund genauestens beobachtet und ihm war nicht entgangen, dass Henne zwar seinen Rettungsanker zum richtigen Zeitpunkt gezückt hatte, aber dass dieser anscheinend etwas unpraktisch war. Fast wäre Henne erneut abgeglitten, aber irgendwie hatte er es doch geschafft, in allerletzter Sekunde seinen Rettungsanker zu aktivieren. Henne hatte sich tatsächlich aus eigener Kraft wieder aus der Affäre ziehen können und sein Anker hatte, wenn auch sehr spät, funktioniert.

Henne atmete tief durch. Er war vollkommen durchgeschwitzt und außer Atem. Fast hätte er es selbst vermasselt. Dabei hatte alles so gut begonnen. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass er einen anderen Rettungsanker brauchte. Etwas praktischeres vielleicht. Er hatte gespürt, wie er kurz vor der Ohnmacht stand und hatte sich nur zufällig ein weiteres Mal an seine Comic-Bombe erinnert. Wie es sich für einen guten Comic gehörte, ist sie dann auch mit dem gezackten Feuerschwall vorschriftsmäßig explodiert. Dennoch war sich Henne sicher, dass das nicht der sicherste Rettungsanker war. Er benötigte dringend einen neuen, besseren.

„Behalte Deinen Rettungsanker bei, er war gut, er hat funktioniert. Er scheint nur etwas unpraktisch oder langsam zu sein. Da kannst Du noch etwas optimieren, aber sonst ist er gut. Wirklich gut!”

FX strahlte Henne an. Seine Augen funkelten im Sonnenlicht, welches sich vereinzelt den Weg durch das Blätterdach bahnte und seine Dreads wippten freudig mit.

Hennes Freude über seinen eigenen Erfolg wurde etwas getrübt von einem Verdacht, den er gegen FX hegte. Er war sich gerade nicht sicher, ob FX nicht einen Einblick in seine Gedanken- und Gefühlswelt gehabt haben könnte. Nicht, dass er es ihm verübelt hätte. Ganz im Gegenteil. So ganz ungefährlich war seine Situation gerade nicht gewesen und das Ganze hätte mit Leichtigkeit in die Hose gehen können. Dennoch hätte FX vorher oder hinterher auch kurz Bescheid geben können.

„Ich weiß nicht, was Dein WUMMS ist, ich habe nicht nachgeschaut. Das macht man ja auch nicht. Aber was ich von außen gesehen und gespürt habe, war alles sehr gut. Etwas nacharbeiten noch und dann passt das schon, Henne.”

Jetzt konnte sich Henne ein breites Grinsen vor lauter Freude nicht mehr verkneifen. Er hatte es quasi geschafft. Im Geiste schnitt er die Lunte seiner Bombe noch ab, so dass da nur noch ein ganz kurzer Stummel aus der Stahlkugel herausschaute. Er war sehr zufrieden mit sich und seinem neuen hochexplosiven Rettungsanker.

„Michel, nicht frustriert sein. Du hast Deinen Rettungsanker ebenfalls. Und beim nächsten Training bist Du an der Reihe. Ich hab auch schon eine Idee für einen passenden Sparringspartner für Dich.”

FX war die Enttäuschung von Michel nicht entgangen, dass er sowohl beim ersten als auch zweiten Anlauf keine Visionen aus der Zukunft hatte. So etwas konnte durchaus vorkommen in dieser undefinierten Trainingsumgebung. Aber FX fand den weitläufigen Innenhof ihrer Burg viel gemütlicher zum Trainieren, als das sterile und neutrale Weiß, wo Eggsy ihn so lange ausgebildet hatte.

„Diggis, ich misch mich ja nich gern ein, aber ich hab Kohldampf. Is zwar noch hell draußen aber guckt mal auf die Uhr. Die Mensa macht bald zu.”

Ben, der die ganze Zeit ruhig dagesessen und das Geschehen wortlos beobachtet hatte, wurde zusehends unruhiger.

„Recht hast Du”, pflichtete Henne ihm bei. „Lasst uns etwas essen gehen und dann lassen wir den Abend hier auf der Wiese wieder gemütlich ausklingen.”

„Genialer Gedanke!” Michel war aus dem Sitzen heraus aufgesprungen und reichte Henne die Hand zum Aufstehen. „Bei dem herrlichen Wetter können wir noch suuuper lange auf der Wiese abhängen.”


Kurz darauf versammelten sich die vier Freunde in der Mensa wieder an ihrem Stammtisch unter dem kleinen Bäumchen. Wegen der sommerlichen Hitze fiel das Abendessen bei allen eher leicht aus. Salatvariationen dominierten die Tabletts der Vier.

Obwohl die Gebäude der Universität durch die meterdicken Wände auch im Hochsommer angenehm kühl waren, konnte es keiner der Freunde erwarten, endlich wieder draußen auf der Wiese zu liegen und den lauen Sommerabend unter freiem Himmel zu genießen.

Während sie an ihrem Salat knabberten, kamen Paul und Emil an ihrem Tisch vorbei. Offensichtlich waren sie mit dem Essen schon fertig und wollten gerade ihr Tablett abgeben, als sie durch Zufall am Bäumchen-Tisch vorbeikamen und auf die vier Freunde stießen.

„Hej, Junx, das ist ja ein schöner Zufall! Wir haben uns ja lange nicht gesehen.”

Michel hatte die Beiden als erster bemerkt.

„Ja, wo habt Ihr denn die letzten Tage gesteckt? Zum Lernen gab es ja wohl kaum etwas oder seid Ihr etwa die Mega-Streber?”

Paul stellte sein Tablett auf dem Tisch ab und blickte Michel herausfordernd an.

„Streber? Ach quatsch, natürlich nicht. Naturtalente halt. Selbstverständlich haben wir alles bestanden! Wir sind meist auf der Wiese im Hof oder halt unten am See und warten, dass das Semester endlich zu Ende geht.”

„Der See, gutes Stichwort. Die Glühwürmchen-Saison beginnt. Wenn Ihr wollt können wir uns demnächst mal mit ein paar Getränken bewaffnen und auf Glühwürmchen-Jagd gehen. Dieses Leuchten ist immer sehr beeindruckend.”

„Biolumineszenz, Diggi!” Bevor sich Ben verplappern konnte, bekam er zielsicher einen Fußtritt mit den Springerstiefeln von Henne an sein Schienbein. „Autschn! Ich meinte halt, die Viecher leuchten wegen Biolumineszenz.”

„Ach setzt Euch doch einen Augenblick, bis wir fertig sind oder habt Ihr es eilig?”

Michel rutschte zur Seite und bot Paul, der ihm am nächsten stand, einen Platz auf der runden Bank an.

FX, der auf der anderen Seite des runden Tisches am Eingang saß, weil er dort so gut seine Beine ausstrecken konnte, rutschte ebenfalls weiter hinein, um Emil Platz zu machen.

Während die vier Freunde noch ihr Abendessen verspeisten, holte Paul eine weitere Runde Getränke für alle. Dadurch, dass die Mensa viele kleine Bereiche hatte, die durch große Pflanzen abgetrennte waren, kam hier und dort tatsächlich etwas Gemütlichkeit auf und lud zum Verweilen ein. Die Bar an einer Seite der Mensa hatte auch deutlich länger geöffnet als die Essensausgabe an sich.

„Nur noch eine Woche”, seufze FX. „Ich kann es schon nicht mehr erwarten!”

„Hej, nicht aufgeben auf der Zielgeraden. Das schaffst Du doch spielend mit Deinen langen Beinen!” Emil hatte Mühe, unter dem Tisch den Beinen von FX auszuweichen. „Was habt Ihr denn Spannendes vor in den Ferien?”

„Wir fahren an die Costa Brava zum Campen. Da waren wir letztes Jahr schon und ich glaube es war ziemlich cool, oder?”

FX blickte vorsichtig zu seinen Freunden in die Runde, die mit heftigem Nicken seine Aussage noch unterstrichen.

„Zelten? Oh ha!” Emil schüttelte sich demonstrativ. „Ich glaube, dafür bin ich zu alt.”

„Ach komm, Schätzelein, so alt bist Du nun auch wieder nicht.”

FX konnte es nicht lassen, Emil zu foppen.

„Na, wenn Du Dich da mal nicht täuschst.”

Und da war es wieder, dieses absolut Neutrale in Emils Stimme, wo er nicht eine Gefühlsregung durchblicken ließ.

„Lehn Dich nicht zu weit aus dem Fenster!”

FX’ Augen funkelten wieder so geheimnisvoll, dass selbst Emil für die Dauer eines Wimpernschlags seine steife Haltung verlor.

„Wieso hat eigentlich noch niemand auf Deinem Gipsarm unterschrieben? Du hast das Ding ja nicht erst seit gestern.”

Emil konnte die Antwort von FX bezüglich seines und dessen Alter so gar nicht einschätzen. Entweder wollte ihn FX nur etwas freundschaftlich provozieren oder aber es steckte mehr dahinter, als er es erahnte. Besonders gut kannten sie sich noch nicht, dennoch tendierte Emil eher zur zweiten Möglichkeit. Dieser schlaksige Unbekannte hatte definitiv mehr auf dem Kerbholz, als er zugeben wollte. Um seine Unsicherheit zu kaschieren, wechselte Emil lieber abrupt das Thema.

„Diggi, stimmt überhaupt. Klar, da will ich auch gerne drauf unterschreiben! Darf ich was malen?”

Ben hatte sich schon wieder einen Floh ins Ohr setzen lassen und arbeitete im Kopf bereits an einer kleinen Zeichnung für den Gips.

„Ich möchte auch gerne.”

„Ich auch, bitte.”

„Ja, also ich weiß auch nicht.”

Ganz behaglich war es FX nicht bei dem Gedanken, dass sein Gips jetzt verziert werden sollte. Er lief schon eine ganze Weile damit herum und hatte sich sehr daran gewöhnt, so schlicht wie er war. Um vom Thema abzulenken, versuchte er vergeblich seinen Gips mit seinem linken Arm zu verdecken.

„Ach komm schon, FX. Ich mal da auch keinen Schweinkram drauf, versprochen!”

Entweder führte Emil etwas im Schilde oder er meinte es wirklich ernst mit dem Verschönern und Verzieren. FX traute sich nicht, seine Fühler auszustrecken und bei Emil nachzuforschen, was denn sein wirklicher Beweggrund war. Okay, der Themenwechsel war ja noch zu verstehen, nachdem er ihm genauso geheimnisvoll Kontra gegeben hatte, wie Emil angefangen hatte. Dennoch spürte FX, dass die Unsicherheit ob des Alters nicht der einzige Grund dafür war, das Thema auf seinen Gipsarm zu lenken.

„Okay, ich geb mich geschlagen. Ihr dürft malen.”

FX seufzte und legte seinen rechten Arm demonstrativ auf die Tischplatte. Etwas zu schwungvoll, denn es krachte ziemlich laut, als der Gipsarm auf den Tisch knallte.

„Ups, das tat bestimmt weh.”

Emil wich nicht erschrocken, sondern vielmehr ehrfurchtsvoll zurück.

„Nein, mach Dir keine Sorgen. Genau dafür ist das Ding ja gemacht. So, und nun fang an, bevor ich es mir anders überlege.”

Während Emil einen dicken Stift aus dem Nichts hervor holte und zu zeichnen anfing, rollte FX demonstrativ mit den Augen und fuhr gespielt genervt fort.

„Und der Rest muss sich gedulden, bis wir draußen sind. Wir sollten das schöne Wetter schließlich nutzen!”

Während Emil sich kunstvoll in der Mitte von FX’ Gipsarm zu schaffen machte, versuchte Henne die Urlaubspläne der beiden Kommilitonen herauszubekommen.

„Also Zelten kommt nicht in Frage bei Euch. Was steht dann auf dem Zettel?”

„Wir werden dieses Jahr nicht so weit reisen. Es geht nach Rumänien.”

Da Emil sehr konzentriert auf dem Gips zeichnete, antwortete Paul an seiner statt.

„Rumänien? Ist jetzt nicht das klassische Urlaubsland, oder?” Henne kratzte sich am Kopf, dass sein Iro nur so wackelte. „Haben die überhaupt ein Meer?”

„Kommt drauf an, was man möchte. Es muss ja nicht immer Meer sein, oder?”

„Aber mehr, Diggi!”

Ben konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.

„Blödmann, Ben. Aber Rumänien hat halt den Vorteil, dass es schön nah dran ist von hier aus.”

„Ja, das ist natürlich ein Vorteil. Wobei Ihr doch bestimmt mit Reisen auch keine Probleme habt, oder? Welcher Schlitten im Keller gehört denn Euch, wenn ich mal so indiskret fragen darf?”

Jetzt war Hennes Neugierde vollends geweckt.

„Voila, das wäre es also. Ich präsentiere: Schwarze Farbe auf weißem Gips auf FX Grundierung!”

Emil war fast fertig und setzte zum letzten Strich an. Beim Ellenbogen hatte er ein verschnörkeltes kleines ‚h‘ gezeichnet, welches jedoch nicht auf beiden Beinen stand, sondern leicht nach rechtes gekippt auf dem vorderen Fuß stehend.

Irritiert blickte Michel quer über den Tisch. Ein einzelner verschnörkelter Buchstabe h war eine mehr als untypische Signatur für einen Gips. Weder Emil noch Paul noch FX hatten diesen Buchstaben im Namen. Für eine Unterschrift schon etwas merkwürdig. Der Wunsch nach guter Besserung enthielt ebenfalls kein h. Zwar sah dieser Buchstabe sehr kunstvoll aus, aber so richtige Begeisterung kam bei Michel nicht auf.

Ben hatte nicht gesehen, was Emil gemalt hatte. Leider. War er doch so neugierig, nach all den genialen Tattoos, die er auf seinem Oberkörper trug, musste die Malerei auf FX’ Arm sicherlich ein ähnlich abgefahrenes Kaliber sein. Gerade wollte er sich hinüberbeugen und das Kunstwerk begutachten, als FX plötzlich mit dem Vollenden der Verzierung durch Emil komplett ausrastete. Aus heiterem Himmel schrie sein bester Freund nach Leibeskräften und so schrill, dass es Ben in den Ohren weh tat.

Ängstlich blickte er ihn ins Gesicht, doch dort, wo sonst diese leuchtend blauen Augen waren, die einem unweigerlich ein Lächeln auf die Lippen zauberte, war jetzt nichts als weiß, soweit hatte FX die Augen nach hinten verdreht. Ben bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Ihm war es unerklärlich, wie sein Freund so schnell komplett wahnsinnig werden konnte.

Als Emil den letzten Schnörkel an seine Verzierung setzte, schrie FX plötzlich schrill vor Schmerzen auf. Es war nicht der Schmerz, den er sonst und ständig in seinem Arm spürte. Auch war es nicht das Stechen von dem Metallspieß damals im Tunnel. Es war eine Kombination aus allem, was er jemals gespürt hatte. Ein Stechen, ein Brennen, ein Reißen. Es war, als würde sein Arm plötzlich zu Brei zerquetscht werden und gleichzeitig verbrennen. Es kam von innen aus seinem Arm und zugleich fraß es sich auch von außen vor.

Niemals zuvor in seinem Leben hatte FX auch nur im Ansatz solch eine Art von Schmerzen verspürt, geschweige denn in solch einer Intensität. In seinem langen Leben hatte er schon oft schwere Verletzungen erlitten und heftige Schmerzen ertragen müssen, jedoch durchlitt er jetzt plötzlich unendliche Qualen, wie noch nie zuvor. Er wusste, dass er jeden Augenblick die Kontrolle über sich und sein Bewusstsein verlieren würde. Jetzt ging alles unglaublich schnell vor sich. Er merkte, wie seine Sinne und sein Urteilsvermögen rapide schwanden.

Er hatte sich und seinen Körper kaum mehr unter Kontrolle. Fast seine gesamte Aufmerksamkeit und Energie verwendete FX jetzt darauf, seine Freunde hier am Tisch nicht zu verletzen. Er musste raus aus dieser Situation, gleich wie sie auch zustande gekommen war. Der Drang, den Verursacher seiner Pein zu finden und zu liquidieren wurde gerade unermesslich und dennoch wollte er seine Freunde schützen. Er spürte, dass er selbst jeden Augenblick explodieren und seine Kräfte nicht mehr kontrollieren konnte. Er schrie.

Vor lauter Schreck durch das durchdringende Kreischen von FX hatte Michel sein Glas fallen gelassen. Dass sich sein Getränk nun über seine Hose ausbreitete, bekam er jedoch gar nicht mit. Offensichtlich hatte FX unendliche Schmerzen. Er war nicht einmal mehr in der Lage, zu sprechen oder irgendwelche anderen Signale von sich zu geben. Schließlich wurde aus dem Kreischen ein Stöhnen, was die Situation für die unbeteiligten Zuschauer nicht klarer erschienen ließ. Ihr Glück war lediglich, dass die Mensa schon lange geschlossen und daher fast menschenleer war.

Und dann, urplötzlich schnellte der Oberkörper von FX vor und sein Kopf traf den auf dem Tisch liegenden Gipsarm. Mit der Stirn schlug er genau darauf auf.

Stille.

Der weiße Gips wurde befleckt von einem Rinnsal tiefroten Blutes, was ganz offensichtlich von FX’ Stirn hinunterfloss.

Stille.

Die Mensa war nahezu leergefegt. Die meisten Kommilitonen hatten ihr Abendessen beendet und waren bereits wieder draußen an der frischen Luft. Aber die verbleibenden Menschen dort waren mucksmäuschenstill. Die Luft knisterte förmlich vor Anspannung. Niemand traute sich nach dem Kreischen von FX auch nur leicht zu bewegen. Es musste etwas so Schlimmes passiert sein, dass selbst der Neugierigste Angst davor hatte, nachzuschauen.

Plötzlich öffnete sich am nächstgelegenen Ende des Raumes gleich neben der Bar eine Tür, die eigentlich nur dem Personal vorbehalten war. Anscheinend hatten die markdurchdringenden Schreie von FX doch noch Hilfe herbeigerufen. Vermutlich war es einer vom Küchenpersonal, der jetzt mit einem Erste-Hilfe-Koffer herübereilte, um sich dieser dramatischen Situation anzunehmen. Die Zeit schien still zu stehen. Niemand konnte sagen, ob nur Sekunden, Minuten oder Stunden vergangen waren.

Aus der geöffneten Tür drang Licht hervor. Gleißend weißes Licht, was definitiv nicht aus der Küche kam. Es war viel zu intensiv, die Augen schmerzen, versuchte man hineinzuschauen. Es ließ sich nicht einmal erahnen, was im Raum auf der anderen Seite war. Man war einfach nur geblendet, versuchte man auch nur in die Richtung der Tür zu schauen. Der Schein durch die Tür erhellte den gesamten Speisesaal, so hell und kalt war das Licht.

Dann erschien eine Silhouette in dem weiß erleuchteten Türrahmen. Kurz verharrte sie dort, als musterte sie die Lage in der Mensa. Dann trat die Gestalt ein und die Tür schloss sich wieder. Die Augen aller Anwesenden benötigten einen Augenblick, bis sie sich wieder an die normale Helligkeit gewöhnt hatten, die allen ziemlich dunkel vorkam.

Eggsy schritt zielgerichtet mit großen Schritten auf die Sitzgruppe der vier Freunde zu.

„Henne, großartig gemacht! Lauter und detaillierter konntest Du nicht Bescheid geben! Das war perfekt, großartige Arbeit, danke!”

Eggsy hatte die Mensa in Windeseile durchquert und noch während er sein Lob an Henne richtete, verschaffte er sich einen Überblick über das Geschehen.

Anstatt wie alle anderen wegen FX’ Schmerzensschreie in Panik oder Schockstarre zu verfallen, hatte Henne das einzige getan, was ihm sinnvoll und in seiner Macht erschien: Er rief um Hilfe.

Aber auf seine eigene Art, indem er den Hilferuf als Empath an Eggsy schickte. Die Angst um das Wohlergehen seines Freundes FX war so groß, dass Henne ungewollt ein sehr starkes Signal an Eggsy sandte, was dieser problemlos verstehen und zurückverfolgen konnte.

Mit einem Sprung ins Weiß und durch eine Tür zur Mensa war Eggsy schließlich innerhalb eines Augenblicks von der Costa Brava zur Universität gesprungen und hatte sich in Windeseile einen Überblick über die Situation verschafft. FX lag bewusstlos und am Kopf blutend auf dem Tisch. Sonst schien niemand verletzt zu sein. Auch ein Kampf hatte anscheinend nicht stattgefunden. Insofern war die Situation für Eggsy etwas ungewöhnlich und verwirrend, erklärte sie doch nicht, was passiert war und warum sein Schüler ohnmächtig und stark blutend auf dem Tisch lag.

Eggsy hatte ihn höchstpersönlich ausgebildet. Hatte ihn etliche Jahre durch eine harte Schule geschickt. Er wusste, dieser Kerl war zäh. Er hielt eine Menge aus und hat während seiner Arbeit weit mehr einstecken müssen, als manch anderer seiner Kollegen. Eggsy würde es niemals offen zugeben, aber er war sehr stolz auf seinen Zögling und er hatte aus ihm den Besten der Zweiundvierzig gemacht. Das war ein Fakt.

Umso erstaunlicher war es, dass der beste Mann der Temporalen Fänger jetzt bewusstlos hier in friedlicher Umgebung lag. Selbstverständlich hatte Eggsy während seiner extrem schnellen Reise hierher ausführlich recherchiert: Das Hier und Jetzt war absolut sicher. Es gab keine Anomalien und auch keine flüchtigen Verbrecher. Das machte die Suche nach der Ursache für FX’ Kollaps aber nicht einfacher.

Er bezweifelte, dass er von irgendjemandem in diesem Raum eine Antwort bekommen würde. Niemand hier erweckte den Eindruck, als habe er verstanden, was gerade vor sich gegangen war. Weder die drei anderen Freunde noch die beiden neuen Typen, die er bisher noch nie gesehen hatte.

Allerdings hatte er eine Ahnung. Das letzte Gespräch mit FX fiel ihm ein.

„Henne, erzähl mir bitte, was passiert ist.”

„Eggsy, ich bin froh, dass Du so schnell gekommen bist. Also, erst war FX total normal und dann...”

„Nein, entschuldige, so habe ich das nicht gemeint. Darf ich selber schauen? Ich hätte die Informationen gerne aus erster Hand.”

Henne wusste erst gar nicht, was Eggsy von ihm wollte. Henne war sich sehr sicher, dass er den Hergang lückenlos berichten konnte. Was also wollte Eggsy selber nachgucken? Und dann fiel es ihm ein. FX hatte es so oft gesagt: Man schaut nicht bei anderen einfach so in den Kopf hinein. Zumindest nicht ohne nachzufragen. Klar, Eggsy war FX’ Lehrmeister. Natürlich musste auch Eggsy ausgeprägte empathische und telepathische Fähigkeiten haben. In dem Augenblick, als Henne verstanden hatte, was Eggsy von ihm wollte war ihm sofort klar, dass es keinerlei Gründe gab, ihm diesen Wunsch zu verweigern. Selbstverständlich hätte Eggsy auch ohne zu fragen und ohne, dass er es bemerkt hätte, in seinem Kopf nachschauen können. Aber Eggsy war korrekt und ein Mann der alten Schule.

Henne nickte.

Und fast im selben Augenblick hörte er in seinem Kopf die Stimme von Eggsy.

‚Danke.’

Eggsy hatte gesehen, was es zu sehen gab. Viel schlauer war er auch nicht, es ergab alles keinen Sinn. FX war aus heiterem Himmel eine Agonie abgedriftet, die ihn so schnell außer Gefecht gesetzt hatte, dass er nicht einmal in der Lage gewesen war, irgendetwas dagegen zu unternehmen.

Unterm Strich gab es nur einen Anhaltspunkt und das war der ihm Unbekannte Emil, der bis kurz vor dem Zwischenfall noch an dem Gipsarm herum gemalt hatte. Eggsy startete genau dort. Freundlich aber bestimmt forderte er Emil auf, ihm Platz zu machen um dann vorsichtig FX aufzurichten.

Kaum hatte er FX aufgerichtet, lief das Blut umso stärker von seiner Stirn über sein Gesicht. Schon kurz darauf waren sowohl sein T-Shirt als auch seine Hose über und über mit Blut beschmiert. Doch Eggsy ignorierte diese Verletzung und betrachtete den Gips seines Lehrlings.

„Sollten wir nicht vielleicht erst die Blutung…“

„Nein.“

Auf Höflichkeiten konnte Eggsy derzeit keine Rücksicht nehmen. Eggsy hatte nicht einmal mitbekommen, wer genau gefragt hatte. Aber es tat auch nichts zur Sache. Natürlich sah FX schlimm aus. Sehr schlimm sogar. Aber seine Lage war nicht lebensbedrohlich. Zumindest noch nicht. Daher wollte er die Zeit nutzen, und die Ursache für den Vorfall ergründen, solange er noch Zeit dazu hatte. FX wiederherzustellen sollte danach sehr schnell gehen, würde aber sämtliche Beweise vernichten.

FX’ Arm war verpackt in einem vormals weißen Gipsverband, der durch das lange Tragen zwar kaum Flecken, aber eine generelle Patina aufwies. Das Ding machte den Eindruck, als sei es aus einem Stück gegossen und für ihn maßgeschneidert worden. Die Oberfläche glänzte etwas, als sei sie frisch poliert worden. Nur das viele Blut störte die Optik enorm. Und dann war da die gerade fertiggestellte Malerei von dem unbekannten Kommilitonen. Sie sah aus wie eine kunstvoll gestaltete Initiale, wenn auch verdreht und als kleiner Buchstabe dargestellt. Ungewöhnlich, aber unterm Strich passte es zu FX, der seinerseits alles andere als gewöhnlich war.

Eggsy überlegte kurz. Es schien, als habe alles mit dieser Initiale begonnen. Daher lag es nahe, diese zu entfernen. Er sammelte seine Gedanken und konzentrierte sich. Mit einem tiefen Atemzug holte er Luft und blies geräuschvoll auf eben diese Stelle am Ellenbogen. Als sei die schwarze Farbe nur als Pulver aufgestreut, verschwand das Symbol.

Erwartungsvoll blickte er in FX’ Augen und ignorierte die umstehenden Menschen, die teils erstaunt, teils überrascht das Geschehen verfolgten. Doch FX zeigte keine Regung, er war weiterhin bewusstlos und auch die Blutung hatte nicht im Geringsten nachgelassen. Zu Eggsys Überraschung war die einzige Veränderung, dass das Zeichen auf dem Gips wieder auftauchte!

Nun hatte Eggsy zwar noch keine Lösung, aber immerhin hatte er die Ursache des Problems gefunden. Nur kurz drehte er sich um und musterte den Unbekannten, der ihn wiederum reglos anstarrte und sich nicht hinter die Kulissen blicken ließ. Mit ihm würde er später noch ein Hühnchen rupfen, aber erst einmal musste er FX retten.

Ein weiteres Mal konzentrierte sich Eggsy und sammelte seine ganze Energie. Er war sich nicht sicher, ob es funktionieren würde. Und noch unsicherer war er, ob er sich an der Rune verbrennen würde oder was auch sonst noch passieren könnte, wenn er sie berührte. Noch nie hatte Eggsy eine echte Rune gesehen, geschweige denn war mit ihrer Kraft in Berührung gekommen. Jetzt sollte er dieses geheimnisvolle Zeichen, was seinen Schützling k.o. gesetzt hatte berühren. Wohl war ihm nicht dabei, jedoch spürte er auch keinerlei Angst. Er fokussierte seine Gedanken erneut und sandte seine gesamte Energie in die Hand und strich über die Rune und wischte sie damit weg.

Er spürte nichts. Nichts außer den glatten Gips an der Stelle, wo seine Hand ohne jeden Widerstand drüber hinweg glitt. Überrascht stellte er fest, dass dieses harte Material die Körpertemperatur von FX hatte und somit erstaunlich warm war. Schon immer war FX jemand, dem immer zu warm war, das spürte Eggsy nach langer Zeit wieder sehr deutlich.

Die Rune war weg und erwartungsvoll blickte er in FX’ Augen. Doch außer einem zusätzlichen kleinen Rinnsal frischen Blutes von seiner Schläfe veränderte sich nichts bei ihm.

Eggsy traute sich nicht, wieder nach unten zu schauen, denn er wusste jetzt schon, dass die Rune wieder da war.

Abrupt drehte er sich um. Seine Augen waren zu kleinen Schlitzen zusammengekniffen und wütend blickte er zu dem unbekannten Typen, der seinem Ziehsohn solches Leid hinzugefügt hatte. Erschrocken wich dieser zurück und setzte einer Entschuldigung an, doch soweit kam er gar nicht, denn Eggsy hatte sich wieder FX zugewandt.

Langsam gingen ihm die Ideen aus. Irgendwie musste er diese verteufelte Rune loswerden. Und plötzlich kam ihm der naheliegendste und hoffentlich rettende Einfall! Eggsy ärgerte sich, dass er nicht eher darauf gekommen war, aber letzten Endes kannte er FX sehr viel länger mit Gips, als ohne, weshalb ihm die triviale Lösung gar nicht eingefallen war.

Es war ein paar Jahre nach dem Beginn seiner Ausbildung. FX war vermutlich sechzehn Jahre alt, als er abends nach Hause kam und einen Entschluss gefasst hatte. Aus für Eggsy unerfindlichen Gründen hatte er darauf bestanden, wenn er andere Menschen heilte, dieses negative Potential auf sich zu nehmen. Eggsy hatte ihm unzählige Male vorgerechnet, dass er dann bis an sein fernes Lebensende selber irgendein Leiden haben würde, was er nie loswerden würde. Er redete sich den Mund fusselig, dass es gute Gründe gab, warum die anderen Zweiundvierzig das negative Potential stattdessen bei einer Heilung auf viele Menschen verteilten. Eine Behinderung würde ihn in seiner Arbeit unnötig beeinträchtigen und somit die Qualität seiner Arbeit und die der Zweiundvierzig unnötig schmälern.

Sie alle, die Zweiundvierzig, waren zwar in der Lage, die Naturgesetze sehr weit zu verbiegen, zu verschieben oder auszutricksen. Aber brechen konnten sie sie nicht. Dieses Gießkannenprinzip der Verschiebung negativen Potenzials wie beispielsweise Krankheiten war daher der allgemeinen Meinung nach das sinnvollste, denn verteilte man es nur breit genug, bekam der einzelne davon nichts mit.

Irgendwann hatte Eggsy dann aufgegeben und dem störrischen FX seinen Willen gelassen. Den Rest seiner Ausbildung absolvierte dieser dann auch mit einem Arm und zu Eggsys erstaunen musste er eingestehen, dass FX einarmig weitaus besser und schneller war, als alle anderen, die er kannte. Es ärgerte ihn umso mehr, denn wenn FX mit beiden Armen arbeiten würde, wäre seine Kraft vermutlich noch viel stärker, als sie es ohnehin schon war. Dennoch war FX schon vor Abschluss seiner Ausbildung der beste der Zweiundvierzig.

Dieser Gipsarm musste weg. Schnell. Eggsy spürte, dass sich der Zustand von FX verschlechterte, je länger er wartete. Es war die einzige Chance. Hoffentlich war die Rune nicht durch den Gips hindurch gegangen und hatte sich in FX eingebrannt. Wenn sie nur in diesem unnützen Accessoire war, hatte er eine reelle Chance, ihn zu retten.

Es blieb ihm keine Zeit, die anderen vorzuwarnen. Da mussten jetzt alle Anwesenden in der Mensa durch. Es konnte nicht schlimmer sein, als das Schreien von FX zuvor. Aber er durfte jetzt keine Zeit mehr vergeuden.

Eine einzige leichte Berührung mit seiner Fingerspitze reichte aus, dass der Gips mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte. Sofort breitete sich eine Staubwolke aus feinem Gipspulver im ganzen Raum aus und ließ sich auf allen Flächen und in jeder Ecke nieder.

Alles war weiß von einer dünnen Schicht aus Gipsstaub überzogen. Eggsy und FX, aber auch seine Freunde und die beiden Unbekannten. Die Tische und Stühle in der Mensa und auch die ganzen Pflanzen waren mit weißem Puder überzogen. Der ganze Raum wirkte dadurch eine Spur heller, aber nicht unbedingt gemütlicher.

Eggsy merkte, wie er auch Staub im Mund hatte. Es knirschte zwischen seinen Zähnen, als er vor lauter Anspannung den Kiefer zusammenpresste. Er hoffte, dass er mit diesem Schachzug erfolgreich war und blickte in FX’ Augen, die nach wie vor geschlossen waren. Aber es gab einen kleinen Hoffnungsschimmer, denn die mit Gipspulver bedeckten Rinnsale aus der Blutung an FX’ Kopf hatten aufgehört zu fließen.

Zuversichtlich blickte Eggsy nach unten, um den Arm zu untersuchen. Sehnlichst hoffte er, dass die Rune nun verschwunden war und dass sie sich zuvor nicht durch den Gips hindurch in FX hineingebohrt hatte.

Erstaunlicherweise war doch nicht alles mit weißem Staub bedeckt. Nur FX’ Arm, der gerade noch in dem Gips steckte, war sauber geblieben. Zwar war seine Haut etwas käsig blass, aber sie war sauber. Auf dem Tisch lag nun ein Arm, der so gar nicht zu dem Menschen passte, den er seit so vielen Jahren schon kannte. Es war nur noch ein dünnes Gerippe aus Haut und Knochen. Muskeln waren fast keine zu sehen. Es erinnerte Eggsy an jemanden, der kurz vor dem Verhungern war. Innerlich schüttelte er sich, blieb nach außen hin jedoch vollkommen gelassen.

Glücklicherweise kam er schnell auf andere Gedanken, denn die Rune war wirklich fort. FX’ Arm war zumindest was das anging unversehrt geblieben. Eigentlich, so Eggsys Theorie, müsste FX jetzt gerettet sein und hoffentlich gleich wieder das Bewusstsein erlangen. Ein zuversichtliches Lächeln huschte über sein markantes und von der Sonne gebräuntes Gesicht.

Langsam öffnete FX ein Auge. Und sofort schien es wieder durch das halboffene Lid hindurch, das leuchtende Blau seiner Augen. Er hob die linke Hand und wischte sich Blut und Gipsstaub aus dem Gesicht. Als er das andere Auge öffnete, bemerkte er den breit grinsenden Eggsy vor sich.

„Wie geht’s Dir?”

Eggsy hob eine Augenbraue und blickte fragend zu FX. Seine Erleichterung über die geglückte Rettung ließ er sich nicht anmerken.

„Alles cremig.”

FX’ Antwort kam sehr spontan. Er kannte Eggsy sehr gut, so dass er sofort bemerkte, wie sehr sich sein Ziehvater Sorgen um ihn gemacht hatte und wie knapp es anscheinend um ihn gestanden hatte.

„Du kommst klar ab hier?”

Eggsy war mit seinem Latein am Ende gewesen. Vor solch einem Problem hatte er bisher nie gestanden, weshalb ihm nur das wilde Raten geblieben war. Wenn das nicht funktioniert hätte, dann hätte der unbekannte Jüngling herhalten müssen. Aber Eggsy bezweifelte, dass er eine große Hilfe bei der Rettung von FX gewesen wäre. Der Typ wirkte genauso überrascht, wie alle anderen auch.

„Läuft.”

Die zweite Antwort von FX hatte Eggsy nur noch aus der Ferne gehört. Die Tür, durch die er gekommen war, hatte sich kurz geöffnet, ein weißer greller Schein erhellte blitzartig die Gipspulver-Szenerie und war auch schon wieder erloschen.


„Eigentlich müssten wir jetzt reden”, FX’ Augen leuchteten nach wie vor, jedoch klang seine Stimme matt und müde, „aber ich bin irgendwie fix und fertig.”

„Ich… Ich wollte doch nur...”

Emil traute sich nicht, FX in die Augen zu sehen, sondern sprach stattdessen mit der Tischplatte.

„Emil, lass gut sein. Morgen, okay?”

FX versuchte aufzustehen, aber seine Beine wollten ihm nicht so recht gehorchen. Mit zitternden Knien hielt er sich mit der linken Hand am Tisch fest, während sein rechter, jetzt befreiter Arm nutzlos herumhing. Nur mühsam schaffte er ein paar kleine Schritte.

„Lass mich Dir wenigstens ins Zimmer helfen!”

Emil stand am dichtesten bei FX, so dass er ihm schneller unter die Arme greifen konnte, als seine Freunde. Michel stellte sich dann auf die andere Seite und zu zweit geleiteten sie FX zurück ins Zimmer.

Während die kleine Prozession durch die Gänge der Universität schritt, diskutierten Henne, Ben und Paul leise war passiert war. Das Erscheinen von Eggsy war für Paul zunächst kein Thema, auch ihn interessierte vielmehr, warum FX so allergisch auf die Malerei seines Freundes reagiert hatte.

Schließlich erreichten sie den südwestlichen Turm, wo sich ihr Apartment befand. Emil und Paul verabschiedeten sich noch an der Tür und ließen die Freunde zurück. Kaum waren die beiden verschwunden, entbrannte eine kleine Diskussion, denn Henne und Michel insistierten darauf, dass alle wie so häufig gemeinsam auf dem riesigen Sofa im Wohnzimmer schlaffen sollten. FX benötigte gerade deutlich mehr Ruhe und bestand daher darauf, in seinem eigenen Bett zu schlafen. Prinzipiell wäre das kein Problem gewesen, denn die beiden Schlafzimmer waren ja jeweils für zwei Personen ausgelegt, so dass FX auch in dem Falle nicht alleine hätte schlafen müssen. Jedoch zwar derzeit Ben der Zimmernachbar von FX und dieser war für seinen Tiefschlaf bekannt. Man hätte das ganze Haus um ihn herum abreißen können, ohne dass er davon wach geworden wäre. Demnach fanden Michel und Henne es als denkbar ungünstig, dass Ben mit FX zusammen schlafen sollte, denn im Falle, dass es einen Rückfall oder sonstige Komplikationen bei ihm gegeben hätte, würde niemand davon Notiz nehmen.

„Ich koche mir jetzt einen Hallo-Wach-Kaffee und dann werde ich mich auf mein Board setzen und Nachtwache halten. Ende der Diskussion.”

Ben fütterte bereits die Kaffeemaschine mit einer ordentlichen Portion Pulver und schaffte somit Tatsachen. Er sah überhaupt kein Problem darin, für seinen besten Freund die Nacht wach zu bleiben und aufzupassen, dass es ihm gut ging. Dieser Tag war ohnehin aufregend genug gewesen, als dass er hätte schlafen können. Sein Herz pochte nach wie vor lautstark, so viel Adrenalin schoss noch durch seinen Körper. An Schlaf war für ihn gerade nicht zu denken. Und alleine der Gedanke daran, dass der Zustand seines Freundes und Mentors sich über Nacht wieder spontan verschlechtern könnte, war Ansporn genug, die Nacht wach zu bleiben.

Die anderen gaben sich geschlagen und brachten FX in sein Bett, nicht ohne ihn vorher etwas von dem Gipsstaub zu befreien. Als Ben schließlich mit einer riesig großen Tasse dampfenden Kaffees in sein und FX’ Zimmer trat, hörte er das regelmäßige und flache Atmen seines Freundes. Er war schon eingeschlafen. Wie versprochen angelte sich Ben mit dem Fuß sein Longboard und machte es sich auf dem federnden Holzbrett gemütlich für die Nacht.

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