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Quartett

Teil 30 - Schock

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36. Schock

„Menno, nicht alles hier vollspritzen!”

Michel versuchte vergebens, sich Ben vom Leibe zu halten, der ihn daraufhin nur noch stärker ins Visier nahm und seinen Kopf mit den wasserdurchtränkten Haaren über ihm schüttelte, so dass Michel quasi in einem Sommerregen saß.

Derart inspiriert, versuchte Henne gleiches mit FX. Da Henne seinen Iro jedoch nicht unter Wasser getaucht hatte, waren seine Möglichkeiten etwas eingeschränkter und so versuchte er es mit der Ganzkörpermethode: Unerwartet sprang er zu FX auf die Decke und nahm diesen, klatschnass wie er noch war, in den Arm und rieb dessen von der Sonne aufgeheizten Körper an seinem nassen und kalten.

Allerdings hatte er nicht mit der Reaktion gerechnet, denn für FX kam diese Abkühlung mehr als gelegen. Ihm war ohnehin fast immer zu warm, weshalb der den feuchten und kühlenden Henne umso lieber an seinen Körper schmiegte. Er erwiderte die Umarmung und drückte seinen Freund fest an sich und verrieb das verbleibende Wasser über seinen Körper.

Der so überraschte Henne wusste gar nicht, wie ihm geschah. Kam er sich doch gerade wie ein nasses Tuch vor, womit sich FX gerade abrieb. Etwas enttäuscht, dass seine Überraschung im Gegensatz zu Bens leider nicht funktioniert hatte, wollte er sich von FX schon wieder trennen.

Dieser jedoch drehte den Spieß um und ließ Henne nun nicht mehr los, sondern klammerte sich umso fester, je mehr Widerstand Henne leistete. Schließlich bekam FX Hennes Kopf zu fassen und hielt ihn fest. Dann, mit einer winzig kleinen Pause in der Bewegung und schließlich einem warmen Lächeln, legte er seine Lippen vorsichtig auf die von Henne und gab ihm einen innigen Kuss.

Henne war von der freudigen Wendung seiner List ziemlich überrascht, doch er ließ diese Liebkosung sehr gerne über sich ergehen. Leicht öffnete er den Mund, um FX’ Zunge Einlass zu gewähren. Derart verschlungen knutschten die beiden nun auf ihrem Handtuch mitten auf der Liegewiese am See, umringt von vielen anderen Kommilitonen.

Henne ließ sich ganz und gar in FX’ Arme fallen und genoss es, wie dieser mit seiner langen Zunge anfing, ihn zu liebkosen. Anfangs noch vorsichtig, umfuhr FX mit seiner Zunge Hennes Lippen und stupste hier und da an seine Zähne. Doch schon nach kurzer Zeit trafen sich ihre Zungen und sie fingen an zu spielen wie zwei junge Hunde auf einer Wiese. Immer wilder wurden die Bewegungen und immer stärker pressten die beiden ihre Lippen aufeinander. Intensiver Kontakt und lautes Schmatzen von erregenden Küssen wechselten einander ab. Keiner der beiden wusste, welcher Teil als nächstes einen Schmatzer abbekommen sollte. Als kleine Abwechslung knabberte Henne vorsichtig am Ohrläppchen von FX, um kurz darauf wieder seinen Weg zu dessen Lippen zu suchen, in die er nun ganz sanft hineinbiss, bis sich wieder beide in den nächsten Zungenkuss vertieften. Wild umschlungen erschienen die Beiden auf ihrem Handtuch auf der Wiese am See wie ein menschliches Knäuel, aus dem diverse Arme und Beine herausragten.

Es war ja gar nicht so lange her, dass Henne seine Fähigkeiten als Empath entdeckt hatte, aber dank des kontinuierlichen Trainings mit FX war er mittlerweile schon sehr sensibilisiert, die Gefühle anderer wahrzunehmen. Jetzt gerade machte es FX ihm aber extrem einfach, denn er ließ seine Empfindungen gerade freien Lauf und überschüttete Henne förmlich mit lüsternen Eindrücken, die Henne seinerseits anstachelten und weiter seine Erregung zusehends aufheizten. Die beiden befanden sich in einem Zustand erotischer Rückkopplung, die sich immer weiter aufschaukelte.

Und da kam Henne plötzlich die Idee, anstatt nur die Gefühle von FX aufzusaugen, sich im Geiste auf die Suche nach FX zu begeben. Wenige Augenblicke später fand er ihn auch, weil er ohnehin physisch direkt bei ihm war, aber auch auf emotionaler Ebene wie ein Leuchtfeuer strahlte.

Vie… D…nk für dies… geil… S…!

Henne hatte den Mund nach wie vor voll mit der Zunge seines Freundes und war demnach außerstande, auch nur ein klares Wort zu artikulieren. Doch FX hatte neulich fast beiläufig erwähnt, dass er mit etwas Glück nicht nur Gefühle der anderen fühlen und beeinflussen, sondern dass er vielleicht auch telepathische Fähigkeiten haben könnte, sprich zusätzlich auch noch Gedanken lesen konnte.

Er merkte selbst, dass das, was er FX eigentlich sagen beziehungsweise als Gedanken einpflanzen wollte, etwa wie die ersten Sprechversuche eines zweijährigen Kindes klangen. Dennoch war er überrascht, dass er überhaupt irgendetwas in FX’ Kopf platzieren konnte. Es schien deutlich einfacher zu funktionieren, als er es sich vorgestellt hatte.

Ich habe zu danken für die angenehme Abkühlung und diese heiße Einlage noch dazu!

Voller Stolz platzierte FX diesen Gedanken in Hennes Kopf, begleitet von einer Salve an Glücksgefühlen ob der offensichtlichen Tatsache, dass Henne sowohl ein Empath als auch ein Telepath war. Von dem Kauderwelsch, das Henne ihm in den Kopf gesetzt hatte, hatte er natürlich überhaupt nichts verstanden. Aber dadurch, dass Henne überhaupt in der Lage war, so etwas zu tun, nahm sich FX einfach die Freiheit, nachzuschauen, was Henne eigentlich sagen wollte, bevor er ihm seine Antwort als Gedanken zurück übertragen hatte. FX war so unendlich stolz auf seinen Freund, dass er total vergaß, dass die beiden immer noch am Knutschen auf der Wiese am See waren, und dass vermutlich die halbe Uni, mindestens aber ihre Freunde dabei zuschauen würden.

Aber das war gerade auch total egal. Die Wahrscheinlichkeit, dass Henne sowohl ein Empath als auch Telepath war, war so verschwindend gering, dass die Freude darüber absolut überwog. Dieser kleine Punk schien echt extrem viel Glück zu haben.

Nur widerwillig und ganz langsam lösten sich die beiden schließlich voneinander und ernteten von den verbleibenden Vieren einen wohlwollenden Applaus.

„Mag jemand ein Getränk?”

Michel hatte seine Tasche geöffnet und reichte gekühlte Dosen mit alkoholfreiem Bier herum, was von allen dankend angenommen wurde.

„Diggi, ich hoffe, dass Du darauf nich allergisch reagierst!”

Ben prostete Emil zu, der ebenfalls sein Getränk kurz hochhielt und den Gruß erwiderte.

„Nein, ich hab kurz drauf geschaut, ist alles sauber”, bestätigte er, um nach einem kurzen Schluck fortzufahren: „Leute, ich hab mich bei Euch noch gar nicht bedankt. Also ich glaub, allen ist klar, dass Ihr mir neulich das Leben gerettet habt, oder? Ich weiß gar nicht so recht, wie ich das wieder gutmachen kann. Aber mir wird bei passender Gelegenheit schon noch etwas einfallen. Und bis es so weit ist, lade ich Euch heut Abend zu einem kleinen Essen zu uns ein, okay? Ich koche selbst, Ihr könnt also ganz entspannt kommen, es wird keinen weiteren anaphylaktischen Schock geben.”

„Hej, Emil, das hätte doch jeder an unserer Stelle getan.”

Henne war ganz empört, schließlich war es doch ein jedermanns Pflicht, Erste Hilfe zu leisten.

„Leider nicht. Selbst im Idealfall, wenn ich den Pen dabeihabe und ihn mir selber geben kann, bin ich ja trotzdem für ‘ne Stunde oder so nicht wirklich optimal drauf, sondern hänge wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Glaubt mal nicht, dass da viele Leute kommen und fragen, ob es mir gut geht oder ob sie helfen können.”

Betretenes Schweigen machte sich in der Runde breit und niemand wusste so recht, was er sagen sollte. Selbst Ben, der für gewöhnlich nicht auf den Mund gefallen und um keinen Kommentar verlegen war, wusste nichts darauf zu entgegnen. Dass viele Menschen so ignorant waren, wollte sich keiner der Freunde so richtig vorstellen, waren sie doch ganz anders.

Schließlich war es Michel, der das Schweigen mit vorsichtiger und leiser Stimme brach.

„Emil und da kann man nichts dagegen tun? Gibt’s keine Behandlung? Heutzutage muss man so etwas doch irgendwie therapieren können. Das ist ja unglaublich gefährlich, wenn Du beim Essen quasi mit einem Bein im Grab stehst.”

„Leider nicht. Ich bin, wie es so schön heißt, austherapiert. Ich muss damit leben, aufpassen und meinen Lebensretter immer dabeihaben.”

Dabei fasste sich Emil zum einen an die Hosentasche, wo er vermutlich die automatische Spritze mit dem Adrenalin aufbewahrte und zum anderen blickte er mit einem sehr liebevollen Blick seinen Freund Paul an, der auf der benachbarten Decke saß.

Erneut brach das Gespräch jäh ab.

„Und was wenn doch?”

FX sorgte mit dieser provokanten Frage für das Aufsehen der ganzen Truppe.

Bevor er antwortete, nahm Emil einen großen Schluck Bier.

„Ehrlich gesagt wäre ich froh, wenn ich wieder unbeschwert leben könnte und nicht ständig alles hinterfragen und analysieren müsste, bevor ich es mir in den Mund schiebe. Aber da ich weiß, dass Deine Frage nur eine hypothetische ist, erspare ich mir einfach die Antwort.”

Wieder machte sich betretenes Schweigen breit, in dem jeder nur auf die Decke vor sich starrte oder verlegen an seinem Getränk nippte.

Aber FX gab nicht auf.

„Es ist keine hypothetische Frage. Ich habe da eine Möglichkeit…”

Noch bevor FX seinen Satz wirklich ganz ausgesprochen hatte, ließ Emil seine Getränkedose fallen, sprang mit einem Satz quer über die Decke, landete auf FX und drückte diesen mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. Das Ganze passierte derart schnell und unvorbereitet, dass niemand in der Runde es wirklich gesehen hatte, sondern alle nur voller Entsetzen das Ergebnis vor Augen hatten. Aus dem Nichts heraus war Emil mehrere Meter im Sitzen hinüber zu FX gesprungen und noch bevor einer der Freunde einen Lidschlag tun konnte, auf ihm gelandet.

FX lag hilflos auf dem Rücken und Emil saß mit seinem ganzen Gewicht auf seiner Brust. Mit seinen Knien drückte er dessen Arme auf den Boden und mit einer Hand hatte er FX’ Hals fest umschlungen und drückte diesen leicht zu, so dass FX deutliche Mühe hatte, zu atmen. Mit der noch freien Hand drohte Emil mit erhobenem Zeigefinger, den er mitunter bedrohlich nahe an FX’ Gesicht hielt.

„Jetzt hör mir mal ganz genau zu!”

Es war wieder diese typisch monotone Stimme von Emil, die so ganz ohne Betonung und Emotionen auskam. Und obwohl sich FX große Mühe gab, irgendwelche empathischen Empfindungen von Emil zu spüren, musste er feststellen, dass er von ihm Hass, Erregung und Ärger nur aus ganz weiter Entfernung und sehr schwach wahrnahm. Emil flüsterte gerade so laut, dass es nur FX und die drum herumsitzenden Freunde hören konnten. Mit zu Schlitzen zugekniffenen Augen funkelte Emil den unter ihm liegenden an, bevor er fortfuhr.

„Ich habe mich sehr viele Jahre mit meinem Problem beschäftigt, das kannst Du mir glauben. Und ich verfolge nach wie vor dieses Thema sehr genau. Ich war bei zig Ärzten und Heilern. Wenn es etwas Neues dazu gäbe, dann wüsste ich es. Und deswegen rate ich Dir jetzt, Freundchen, dass Du Dir ganz genau überlegst, was Du gleich sagst. Denn wenn es die falsche Antwort ist, dann wirst Du mich richtig kennenlernen, hast Du mich verstanden?”

Die ganze Zeit über hatte sich FX weder bewegt oder gar gewehrt. Er lag absolut still da und ertrug die Schmerzen, die ihm Emil gerade zufügte. Sowohl dessen schweres Körpergewicht auf der Brust, als auch das Knie, die sich erbarmungslos in seinen Oberarm hineinbohrten. Nach außen hin ließ er sich nichts anmerken, obwohl diese Situation gerade für ihn sehr unangenehm war. Natürlich wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, sich aus dieser Klemme zu befreien. Er hätte viele Optionen gehabt, die für seinen Widersacher ganz unterschiedliche Konsequenzen gehabt hätten.

Aber in diesem Augenblick zog es FX vor, gar nichts zu tun. So schnell, wie Emil gerade von einem Ende der Decke mehrere Meter aus dem Sitzen zu ihm hinübergesprungen war, hätte es kein normaler Mensch geschafft. Weder aus der sitzenden Position heraus, noch mit der unglaublichen Geschwindigkeit. Für FX war dieser ungewollte Zwischenfall definitiv der Beweis dafür, dass es bei Emil und Paul nicht ganz mit rechten Dingen vor sich ging und dass die beiden anscheinend eine eigene Mission im Schilde führten.

Von den anderen wagte niemand auch nur eine Regung. Der Sprung von Emil auf FX ging ohnehin viel zu schnell, als dass irgendeiner seiner Freunde etwas dagegen hätte unternehmen können. Und jetzt, wo er auf ihm saß und FX quasi auf den Boden festgenagelt hatte, waren die drei Freunde immer noch in eine Art Schockstarre verfallen.

Lediglich Paul beobachtete das Geschehen mit Sorge und seine Blicke wechselten schnell und unmerklich zwischen seinem Freund, FX und den anderen Drei. Er war sich im Augenblick überhaupt nicht sicher, wie weit sein Freund gehen würde. Innerlich hoffte er, dass Emil es bei dieser Art Verwarnung belassen würde und FX die Situation nicht noch weiter anstacheln würde. Schließlich wusste er genau, wozu sein Freund fähig war, wenn er einmal in Rage geraten war. In diesem Falle würde es definitiv nicht gut für FX ausgehen und er könnte froh sein, wenn er nur seinen zweiten Arm in Gips als Erinnerung davontragen würde.

Es waren nur wenige Augenblicke vergangen und es ging alles dermaßen blitzschnell, dass noch niemand seine Sinne wieder beisammen hatte. Gerade lief alles ab, wie in einem spannenden Film, wo man sich nicht traut zu atmen, geschweige denn irgendeine andere Bewegung zu machen, weil man Angst hatte, dass man irgendein noch so kleines Detail verpassen könnte. Allerdings war das hier kein Fernsehen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes die knallharte Realität, in der sich ein nur flüchtiger Bekannter als falscher Freund entpuppt hatte und kurz davor war, FX ernsthafte Gewalt anzutun.

„Ob Du mich verstanden hast?”

Emil wiederholte seine Frage nach einer kurzen Pause. Da FX aber nur sehr schwer atmen konnte und nichts weiter als ein Röcheln von sich gab, nickte er kaum merklich.

Genauso schnell, wie Emil auf FX drauf gesprungen war, war er auch wieder an seinem Platz zurück. Wieder war es ein Sprung aus ruhender Position, ohne jeden Anlauf. Und dieser Sprung hatte sich wieder durch nichts vorher angekündigt. Als sei nichts gewesen, lag Emil nun seitwärts mit halb angezogenen Beinen auf seiner Decke und hielt die Bierdose in der Hand.

FX hingegen lag nach wie vor unbeweglich rücklings auf seinem Handtuch, als würde er immer noch von Emil so festgehalten. Er hatte sich kein Stück weit bewegt, als traute er sich nicht, seine wiedergewonnene Freiheit zu nutzen.

Niemand der Anwesenden wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben. Mittlerweile hatten die Freunde realisiert und auch verarbeitet, was da gerade passiert war. Natürlich konnten sie die Reaktion von Emil ein kleines Bisschen verstehen. Wenn man über viele Jahre auf der Suche nach Heilung war und immer wieder enttäuscht wurde, dann ist die Frust-Schwelle irgendwann sehr niedrig. Und die Aussicht, dass man von anderen verarscht würde, trägt auch nicht zur Entspannung bei.

Andersherum war die Art und Weise, wie Emil seinen Unmut kundgetan hat, maßlos übertrieben. Dadurch, dass er FX aus heiterem Himmel so hart körperlich angegriffen hatte, war er weit über das vertretbare Maß hinaus gegangen. Gewalt war bekanntlich nie eine Lösung, sondern höchstens die Quelle für noch mehr Gewalt.

Allerdings hatte FX es auch ein bisschen provoziert. Immer wieder hatte er das gleiche Thema von vorne angeschnitten, hatte Emil langsam aber sicher in die Enge getrieben. Emil hatte ja ein paar Mal gesagt, dass er das Thema für sich als beendet erklärt hatte und dennoch konnte FX es nicht lassen, es wieder und wieder anzuschneiden. Seine Verhaltensweise ergab für seine Freunde daher nur begrenzt Sinn.

Umso erstaunlicher war es, dass FX es erneut nicht lassen konnte und zu einer ähnlichen Frage ansetzte. Anscheinend setzte er viel daran, seine gerade gewonnene Freiheit wieder aufs Spiel zu setzen und versuchte, Emil wieder mit kleinen Sticheleien zu dem Thema herauszufordern.

„Auf einer Skala von Eins bis Zehn, wobei Zehn das Schlimmste ist: Wie hat sich das neulich angefühlt?”

Seine Frage aus heiterem Himmel zerschnitt die Stille wie ein scharfes Messer. Und dieses Messer war auch kurz davor, noch nicht verheilte Wunden neu zu öffnen.

„Anfangs Acht, später als Paul und Michel dann da waren, war es eine Neun.”

Obwohl Emil dieses Thema langsam sehr auf die Nerven ging, antwortete er in preußischem Gehorsam. Innerlich rollte er sehr deutlich mit den Augen, allerdings ließ er sich nach außen wie üblich nichts anmerken und so kam seine Antwort in der typisch langweilig-monotonen Stimme.

Die Stimmung zwischen Emil und FX war geladen. Die Spannung zwischen den beiden konnte man fast greifen und es fühlte sich für die Freunde fast so an, als wenn jeden Augenblick Blitze zwischen den beiden hin und her zucken könnten und sich der blaue Sommerhimmel zu einem fiesen schwarzen Gewitter verwandeln würde.

„Wenn Du eine Dreizehn oder Vierzehn auf der Skala durchlebst, wird es das letzte Mal gewesen sein.”

FX hatte sich aufgerichtet und wieder in den Schneidersitz gesetzt. Er blickte Emil direkt in die Augen und musste sich sehr zusammenreißen, dem eisigen Blick seines Gegenübers Stand zu halten. So einem mächtigen Blick war er schon seit längerem nicht mehr ausgesetzt gewesen und er musste sich an diese neue Situation erst wieder gewöhnen.

Emils Blick war in der Tat sehr durchdringend und dieser war sich seiner Macht und Kraft durchaus bewusst, das konnte FX spüren. Aber auch er wusste, dass er stärker war, als dieser unbekannte Mensch vor ihm, der so viele Geheimnisse zu verbergen schien. FX konnte sich nur schwer zügeln, alle auf einen Schlag zu ergründen.

Die Stille um sie herum war ohrenbetäubend. Obwohl die Liegewiese um den See komplett besetzt war und man überall Geräusche von jungen Menschen hören müsste, drang kein einziger Laut in die Nähe der kleinen Sechsergruppe. Die Jungs saßen wie unter einer Käseglocke in absoluter Stille und maximaler Anspannung, doch niemand bemerkte es.

„Felix, was willst Du von mir?”

Passend zu seinem Gesichtsausdruck klang auch seine Stimme eisig. FX gelang es jedoch, den Schauer zu unterdrücken, den Emil bei jedem anderen hervorgerufen hätte. Viel mehr schmerzte ihn die Tatsache, dass er mit seinem Geburtsnamen angesprochen wurde, obwohl er seiner neuen Bekanntschaft seinen Spitznamen angeboten hatte, was er nicht bei jedem tat.

„Was ich von Dir will?”

Langsam und wohl bedacht wählte FX seine Worte. Es war wichtig, dass Emil jetzt genau verstand, was FX ihm gleich konkret vorschlagen wollte.

„Ich möchte eine Antwort von Dir. Eine Antwort auf das Angebot, was ich Dir gleich unterbreiten werde. Bitte bedenke, dass es ein seriöses Angebot ist und dass ich genau weiß, wovon ich rede und was ich tue. Du wirst dieses Angebot nur ein einziges Mal von mir bekommen. Jetzt, hier und heute. Es gibt keine zweite Chance, solltest Du es Dir anders überlegen.”

Auch wenn er äußerlich keinen Muskel bewegte und nach wie vor FX tief in die Augen starrte, war Emil total verwirrt. Das, was sein Gegenüber, den er kaum kannte, gerade gesagt hatte, klang etwas verwirrend. Aber FX hatte es mit solch einer Bestimmtheit und Sicherheit gesagt, dass selbst er keinen Zweifel hatte, dass das, was er sagte, nicht der Wahrheit entspräche. Emil musste sich selbst gestehen, dass er sehr überrascht war, von der Kraft, die gerade in der Stimme seines Kontrahenten lag. Solch eine Energie hatte er selten in der Stimme eines Fremden wahrgenommen.

Dennoch konnte er es nicht glauben. Natürlich hatte Emil alles gehört und verstanden, was FX gesagt hatte. Er hatte gerade ein anscheinend sehr ernst gemeintes Angebot erhalten, seine Allergie wirklich zu heilen. Dieser lange Lulatsch, den er einfach so in der Mitte hätte durchbrechen können, hatte ihm wirklich gerade gesagt, dass er ihn heilen könnte. Er hatte ein Angebot gemacht, was er all die Jahrzehnte zuvor vergebens gesucht und nie gefunden hatte. Kein Arzt auf der Welt, nicht einmal die Besten aus seiner erstklassigen Umgebung hatte eine Lösung gehabt. So viel hatte er unternommen und so viele hatten sich die Zähne an ihm ausgebissen. Weder mit klassischen Methoden, noch mithilfe anderer Tricks war es jemandem gelungen, ihn zu heilen. Und jetzt kam hier ein ahnungsloser Student aus dem vierten Semester daher, der nicht einmal Medizin studierte und behauptet, ihn heilen zu können. Dieses Angebot war so unseriös wie verlockend zugleich.

Diese Verlockung war so enorm, da FX es so unglaublich überzeugend hervorgebracht hatte, wie kein Quacksalber es je hätte schaffen können. Diese Bestimmtheit, mit der FX sprach, diese Exklusivität des Angebotes und diese Dominanz der Stimme waren außergewöhnlich. So einen Menschen hatte Emil noch nie vor sich gehabt. Er wusste nicht, was dieser Mensch wirklich vorhatte, traute ihm aber zu, dass er nicht der war, für den er sich gab.

Innerlich stellte Emil sich darauf ein, dass FX ihn gleich mit einer komplett abgefahrenen Geschichte auf den Arm nehmen würde. Er hatte sich entschieden, gegen das Außergewöhnliche und dafür, dass der Typ ein verdammt guter Schauspieler war. Es konnte sich dabei nur um eine Ente handeln. Er hoffte für FX, dass die Geschichte gleich sehr gut oder sehr lustig sein würde. Denn wenn nicht, konnte Emil für nichts garantieren. Langsam merkte er die Wut in ihm aufsteigen. Wut darüber, dass er verarscht wurde. Und so etwas mochte Emil ganz und gar nicht.

Nicht mehr imstande, etwas zu sagen, nickte Emil nur und gab FX damit das Zeichen, sein Angebot vorzutragen.

„Also, pass auf.”

FX machte eine kurze Pause um sicher zu sein, dass er die volle Aufmerksamkeit von Emil hatte. Zwar war es unnötig, denn er wusste, dass alle fünf Anwesenden hier schon seit geraumer Zeit an seinen Lippen hingen, aber er fand die Dramatik ganz passend.

„Das Angebot ist ganz einfach: Ich kann dafür sorgen, dass Du nie wieder einen anaphylaktischen Schock haben wirst. Ganz gleich, gegen was Du allergisch bist.”

In Anbetracht dieser beeindrucken Aussage wartete FX erneut ein paar Augenblicke. Im Augenwinkel bemerkte er, wie sowohl seine drei Freunde als auch Paul überrascht zumindest die Augen aufrissen, wenn nicht sogar beeindruckt nickten.

Auch Emil konnte seine Anspannung nicht unterdrücken und FX sah, wie er kurz davor war, zu explodieren und hier am helllichten Tag mindestens eine Straftat begehen würde. Daher hob er die Hand und wies Emil an, abzuwarten und zu schweigen.

„Das Ganze gibt es aber nicht umsonst. Der Preis dafür ist nämlich nicht ohne: Du wirst Deinen letzten allergischen Schock haben. Und auf einer Skala von Eins bis Zehn ist es definitiv mindestens eine Vierzehn. Mit anderen Worten, es wird ein Horrortrip. Ein Kampf ums nackte Überleben. Ich kann Dir das Ende jetzt schon verraten: Es ist ein Happy End, Du wirst es natürlich überleben. Aber eine Vierzehn oder mehr auf der Skala ist definitiv kein Spaziergang durch ein Blumenmeer. Es wird das schlimmste und schmerzhafteste sein, was Du je erlebt hast. Eine Agonie, die genau eine Minute dauern wird. Sechzig Sekunden. Nicht mehr. Nicht weniger.”

Um allen die Chance zu geben, das gerade Gehörte auch zu verstehen, wartete FX erneut etwas. Er wusste, dass diese krasse Information erst einmal durch alle Hirnwindungen hindurch sickern musste, bevor die Konsequenzen von allen, besonders von Emil, wirklich verstanden worden waren. Er bemerkte, wie Ben unruhig hin und her rutschte, weil er offensichtlich etwas sagen wollte, aber genau wusste, dass das zurzeit überhaupt nicht angebracht war.

„Es ist nur eine einzige Minute. Aber eines sei Dir gewiss: Sie wird Dir ewig vorkommen. Sie wird die längste Minute Deines Lebens werden. Und auch als Warnung an alle anderen hier: Auch für Euch wird es eine verdammt lange Minute werde. Und, Emil, es wird ein Horrortrip für Dich werden, schlimmer als jemals zuvor.”

Auch Paul überlegte sehr angestrengt und analysierte das Angebot. Er war zwar bei weitem nicht so entspannt wie Emil, aber er ließ sich fast nicht anmerken, dass er unglaublich aufgeregt war. FX musste ihn schon sehr genau aus dem Augenwinkel beobachten, um eine Regung in Paul festzustellen.

„Aber dafür kann ich Dir zwei Dinge versprechen: Das Ergebnis kennst Du ja bereits. Keine Allergieprobleme mehr. Gar keine. Nie wieder. Und zweitens: Auch wenn es sich anders anfühlen wird, nach den sechzig Sekunden wirst Du keine bleibenden Schäden davontragen. Es wird scheiße sein, definitiv. Aber hinterher ist alles gut. Definitiv!”

Es kostete Emil enorm viel Kraft, in der jetzigen Situation seine eiskalte Fassade aufrecht zu halten. Dadurch konnte er sich nicht so sehr auf das Gesagte konzentrieren, wie er eigentlich wollte. Er überlegte langsamer, als es ihm eigentlich lieb war. Aber im Augenblick war es ihm wichtiger, der Außenwelt einen tiefenentspannten Emil zu präsentieren, als einen, der hin- und hergerissen ist. Und um den Schein zu wahren nahm er es auch in Kauf, dass er sich mehr auf seine Fassade konzentrieren musste, anstatt über das Angebot nachzudenken. Natürlich hatte Paul diese Fassade schon lange durchdrungen. Die Beiden waren schon viel zu lange ein Paar und zutiefst miteinander verbunden, als dass sie sich gegenseitig etwas vormachen konnten. Aber gegenüber seinen neuen Bekannten wollte Emil diesen Anschein des coolen Typen aufrechterhalten, solange es irgendwie ging.

Emil war sich immer noch nicht sicher, ob er das alles richtig verstanden hatte. Der schlaksige Typ klang so dermaßen selbstsicher, als hätte er so etwas schon viele Male zuvor gemacht. Emil hatte den Eindruck, als hätte FX ihm gerade erklärt, wie einfach man eine Sauce Hollandaise macht. Es klang wirklich alles so unglaublich simpel. Es klang so logisch. Er sollte eine Minute leiden und dann für den Rest seines hoffentlich langen Lebens nie wieder. Das klang viel zu verrückt, um wahr zu sein.

Er überlegt lange, was er denn zu verlieren hatte. Seinen Pen hatte er dabei, das wusste er, ohne danach zu tasten. Paul hatte ebenfalls einen in seiner Tasche. Würde er hier wieder einen Schock bekommen, so wäre er auf jeden Fall bestens gerüstet. Daher konnte eigentlich gar nichts passieren. Und wenn es wirklich nur eine Minute war, dann war es sogar relativ unkritisch. Neulich, das war gefährlich. Lebensgefährlich. Als er da lag wusste er, dass er keine fünf Sekunden länger durchgehalten hätte. Aber da waren auch etliche Minuten vergangen. Eine Minute. Jetzt. So schlimm konnte es ja nicht sein. Es war ja nur eine Minute.

„...”

Emil wurde noch beim Luftholen durch FX erneut gehobene Hand unterbrochen.

„Eine Sache noch, bevor Du antwortest. Es wird schlimm für Dich, glaub mir. Es wird Dir ewig lang vorkommen. Aber was vielleicht noch schlimmer ist: gleiches gilt auch für Euch.”

FX ließ seinen Blick das erste Mal von Emil ab und blickte in die Runde. Zunächst schaute er seine Freunde an und danach blickte er hinüber zu Paul.

„Für Dich, Paul, wird es besonders schwer. Niemand, ich wiederhole, niemand wird Dir helfen. Dafür werde ich sorgen. Diese eine lange Minute wirst Du ganz alleine durchstehen. Es wird vermutlich die einsamste und schrecklichste Minute Deines Lebens werden.”

Jetzt verlor Emil doch die Fassung. Er schluckte trocken. Das war die einzige Gefühlsregung, die er zuließ, bevor er seine Antwort gab.

„Dann los.”

Für ein drittes Wort reichte seine Beherrschung nicht mehr aus. Diesen kurzen Satz brachte er ohne zu Zittern über die Lippen. Jedes weitere Wort hätte jedoch seine Nervosität verraten.

FX stand auf und machte einen Ausfallschritt hinüber zu Emils Decke. Emil, der ebenfalls aufstehen wollte, wurde von FX freundlich aber bestimmt wieder hinuntergedrückt.

„Bleib besser sitzen, Du kippst eh gleich um. Ich bin auch gleich wieder weg. Bereit?”

Emil war ganz und gar nicht bereit, wollte das hier in dieser Runde jedoch keinesfalls kundtun. Er war nervös. So nervös wie selten zuvor in seinem Leben, obwohl er schon so manches durchgemacht hatte in seiner Vergangenheit. Aber bisher hatte er immer halbwegs gewusst, was ihn erwartete. Okay, das wusste er in diesem Falle auch, aber irgendwie war ihm dieser FX unheimlich. Nicht unsympathisch, nein, im Gegenteil. Es war nur die Art und Weise, wie der Typ redete. Diese Selbstsicherheit. Diese Freude und Zuversicht die er dabei ausstrahlte. Diese leuchtend blauen Augen, die ihm ständig sagten, dass sie nicht lügen würden, nicht lügen könnten.

„Auf Drei geht’s los. Eins… Zwei...”

Mit dem Wort Zwei drückte FX dem vollkommen überraschten Emil die linke Handfläche auf die Stirn.

Im Geiste vervollständigte FX seine Aufzählung: ‚Drei’.

Dann gab er dem Körper von Emil das Kommando. Jeder einzelnen Zelle im Körper des Menschen, den er gerade berührte, gab er den Befehl, den einen, den letzten anaphylaktischen Schock zu exerzieren. Und sie alle gehorchten. Sie gehorchten alle auf einmal und taten das, was sie in solch einem Falle immer taten. Gleichzeitig. Von null auf Lichtgeschwindigkeit im Bruchteil eines Wimpernschlags.

Emil kippte lautlos zurück. Noch im Fallen begann sein Gesicht rot zu glühen und schwoll so schnell zu, dass seine Augen bereits komplett zugedrückt waren, noch bevor er vollständig umgekippt war. Instinktiv versuchte er nach Luft zu schnappen, doch auch sein Hals und vor allem seine Zunge waren bereits dermaßen angeschwollen, dass er keine Luft mehr bekam. Die von FX initiierte Attacke kam so schnell und unvermittelt, er hatte innerhalb dieser kurzen Zeit nicht einen einzigen Atemzug machen können.

Als er im Umfallen schließlich mit dem Kopf die Decke berührte, war sein Kopf komplett zugeschwollen. Weder konnte er seine Augen auch nur einen winzigen Spalt weit öffnen, noch war er in der Lage, auch nur ein Bisschen Luft in seine Lungen zu saugen. Sein Kopf war schlichtweg eine unförmige hochrote Kugel. Solch einen Zustand hatte er noch nie erlebt in seinem Leben. Und schon gar nicht in so kurzer Zeit. Ihm wurde klar, er war dem Tode geweiht.

Sonst fing es immer mit einem leichten Kratzen im Hals an. Dann wurde daraus eher ein Widerstand beim Atmen, als müsste er die Luft durch einen Strohhalm saugen. Dann ging es immer schwerer, Luft in die Lungen zu ziehen, aber es ging immer irgendwie. Es wurde normalerweise immer nur langsam weniger und schwieriger.

Dieses Mal war es komplett anders. Gerade hatte noch ganz normal geatmet und der nächste Atemzug war schon unmöglich. Hätte er gewusst, dass der Atemzug gerade sein letzter hätte sein sollen, hätte er viel tiefer eingeatmet. Aber jetzt war es, als hielte ihm jemand Mund und Nase zu. Nicht ein Bisschen Luft konnte er in seine Lungen bekommen. Nichts.

Er versuchte mit den Händen sein Gesicht zu berühren, aber seine Handflächen brannten wie Feuer. Auch sie waren leuchtend rot, waren heiß und sehr stark angeschwollen. Selbst sein eigentlich ganz locker sitzendes Hemd war mittlerweile gespannt, dass die Knöpfe drohten abzufliegen. Sein ganzer Körper schien auf das doppelte Volumen geschwollen zu sein.

Emil wollte nur atmen. Er brauchte Luft! Er wusste, nein, er erinnerte sich nur noch ganz vage daran, dass er vor wenigen Sekunden noch dagesessen und normal geatmet hatte. Es kam ihm so unendlich lange her vor. Wie lange bekam er schon keine Luft mehr? Eine Minute? Zwei? Oder gar drei Minuten? Er wusste, dass er gleich bewusstlos werden würde. Drei Minuten ohne Sauerstoff waren lebensbedrohlich. Aus ganzer Kraft versuchte er noch einmal, Luft zu holen, aber vergebens. Es fühlte sich an, als hätte ein Lastwagen direkt auf seinem Hals geparkt und würde ihm die Luft zuschnüren. Aber auch seine Zunge fühlte sich an, als würde sie jeden Augenblick platzen. Sein Mund war voll, sein Hals zugeschnürt. Luft!

Und dann war da noch das Jucken. Nein, es war kein Jucken mehr. Es war ein Brennen. Er wollte sich kratzen. Am ganzen Körper. Seine Handflächen brannten, seine Brust wollte er aufkratzen, so stark war der Schmerz. Er wollte seine Haut loswerden. Es war nicht auszuhalten. Er versuchte, sich das Hemd vom Leibe zu reißen, damit er endlich dem immensen Juckreiz nachgeben konnte, aber seine Finger gehorchten ihm nicht mehr. Sie fühlten sich an wie Würste im siedenden Wasser. So heiß waren sie und sie waren kurz vor dem Platzen.

Hätte er gekonnt, würde er schreien. Er würde die ganze Welt zusammenschreien! Aber sein Mund brachte nicht einen Laut heraus. Er war alleine. Die Welt ahnte nichts von seinem Schmerz.

Nur einen Augenblick, nachdem Emil hintenübergekippt war, wollte Paul aufspringen und seinem Partner zu Hilfe eilen. Er hatte schon den Pen in der Hand und versuchte gerade die Kappe zu öffnen, um seinem Mann die rettende Dosis Adrenalin zu verabreichen

„Bleib.”

Es war nur ein einziges Wort von FX.

Aber es klang, als hätte es Emil gesagt, nicht dieser lange schlaksige Fremde, der gerade dabei war, seinen Freund umzubringen. Es war diese typische absolut neutrale und tonlose Aussprache, wie sein Partner sie immer verwendete. Aber es kam von FX. Und es war noch mehr darin. Es war kein Befehl. Es war eher wie eine unverrückbare Festlegung. Paul stellte fest, dass er genau das tat, was er zuvor gehört hatte. Er blieb an Ort und Stelle. Er wusste nicht, warum er diesem Menschen gehorchte, wollte er doch seinem Freund helfen, ihm die lebensrettende Injektion verabreichen. Aber nein, er gehorchte. Paul war verwirrt.

Er fühlte den Schmerz, den sein Freund fühlte, so sehr waren sie miteinander verbunden. Er fühlte, wie Emil keine Luft bekam, wie er darum rang, auch nur etwas atmen zu könne. Wie die Panik in ihm aufstieg. Er spürte, wie Emils haut brannte und musste auf seine eigenen Hände blicken, um wirklich sicher zu gehen, dass sie in Ordnung waren. Der Schmerz, den Paul fühlte, war schrecklich. Für Emil musste es die schlimmste Agonie überhaupt sein und er war sich nicht sicher, ob er das überleben würde.

Stattdessen musste Paul mit ansehen, wie sein Freund sich vor Schmerzen am Boden hin und her wälzte und vergeblich nach Luft rang. Aber er blieb. Blieb dort, wo er war. Weil das Wort quasi in die Luft geschrieben stand und Gesetz wurde.

Vor vielen Jahren, nach dem bisher schwersten anaphylaktischen Schock, den Emil jemals hatte und der auch mit einem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt endete, hatte Emil seinem Freund erzählt, wie es sich anfühlte. Natürlich wusste Paul, wie es sich anfühlte, weil er immer mit Emil fühlte. Aber mit einer unglaublichen Präzision beschrieb er dennoch jede Sekunde, die er auf den Rettungswagen warten musste. Diese Präzision gepaart mit dem gleichgültigen und monotonen Erzählstil von Emil ließ es Paul damals kalt den Rücken hinunterlaufen.

Damals übergab er sich.

Die Erinnerung an diese Erzählung kam wieder in ihm hoch. Paul spürte, wie sich erst sein Hals zusammenschnürte und dann sein Magen das Zucken begann. FX hatte gesagt, es würde nur eine Minute dauern. Es musste gleich vorbei sein. Das würde er schaffen. Pauls Blick traf wieder das zugeschwollene Gesicht seines Partners. Sein Kopf glich einem roten Fußball. Paul konnte nicht mehr, der Magen gewann gegenüber dem Hals.

Er musste sich übergeben. Heute wie damals.

FX’ Blick traf erneut Paul.

Bleib.

Paul erstarrte. Selbst sein Magen gehorchte diesem Befehl, der gar keiner war. Es war nur das Wort. Die Feststellung. Er übergab sich nicht.

Das machte die Situation nicht unbedingt einfacher.

Michel, Ben und Henne waren außer sich. Ständig wechselten ihre Blicke zwischen Emil, Paul und natürlich FX hin und her. Während man Paul und vor allem Emil das Leiden buchstäblich ansehen konnte, wirkte FX in der ganzen Szenerie eher wie ein Dirigent, der dafür sorgte, dass alles im Takt und in geordneten Bahnen ablief. Nach Ordnung sah das jedoch nicht aus. Emil, der gleich zu platzen schien und sich vor Schmerzen auf seiner Decke hin und her wälzte und auf der anderen Seite Paul, der aus welchen Gründen auch immer seinem Freund nicht zu Hilfe eilte, obwohl ihm der Drang danach geradezu auf der Stirn stand.

Die Drei nahmen jede Bewegung, jede Reaktion, jedes Wimmern wahr. Aber sie verstanden nichts von dem. All das ergab keinen Sinn. Es erschien ihnen einfach nur wie eine grausame Quälerei.

Zu klaren Gedanken war Emil nicht mehr fähig, um so verwunderter war er, dass er in der Agonie noch daran dachte, dass er eigentlich schon lange ohnmächtig sein müsste. Er wusste nicht mehr, welches Körperteil am wenigsten weh tat. Wenn er könnte, würde er hier und jetzt mit einem lauten Knall explodieren und diesem Horrortrip ein für alle Mal ein Ende bereiten.

Irgendwie gelang es ihm dennoch, mit seinen aufgedunsenen Fingern sein Hemd aufzureißen in der Hoffnung, dass der Wind ein bisschen Kühlung verschaffen würde. Aber jeder noch so leise Lufthauch fühlte sich auf seiner Brust an, als würde jemand einen Flammenwerfer direkt auf ihn richten. Das war definitiv nicht die Erleichterung, die er sich erhofft hatte. Im Gegenteil, es war schlimmer als je zuvor. Es fühlte sich an, als würde er bei lebendigem Leibe verbrennen.

Er wollte schreien, aber sein Körper versagte ihm den Dienst.

Er spürte, nein er wusste, dass er gleich sterben würde. Dieser Typ, der ihm das angetan hatte, er sollte Recht behalten. Es war der schlimmste Schock, den er jemals erlebt hatte. Und egal, wie das hier ausgehen würde, es war auch der letzte. Emil konnte nicht mehr. Er war fix und fertig. Er sehnte sich danach, endlich das Bewusstsein zu verlieren, damit all das endlich ein Ende hatte. Notfalls auch ein richtiges, das war ihm jetzt auch egal. Es sollte nur aufhören. Bitte!

Und es hörte auf. Es hörte genauso schnell auf, wie es begonnen hatte.

Emil lag auf dem Rücken, öffnete seine Augen und blickte durch die Bäume in den wolkenlosen blauen Sommerhimmel. Luft! Ihm war, als müsste er Luft holen. Als wäre er kurz vor dem Ersticken. Luft! Aber sein Körper atmete einfach nur ein. Ganz normal, ohne Hast. Ohne Widerstand. Dieser Atemzug fühlte sich prächtig an. Es roch nach feuchtem Moos, nach würzigem Baumharz und nach einer ganz leichten Note sauberen Schweiß von den Sonnenanbetern um ihm herum.

Seine Hände! Das Jucken, das Brennen - vorbei! Er spürte einen sanften Windhauch über seine Haut wehen. Das bisschen Flaum auf seinem Handrücken bewegte sich leicht in der Brise. Die sommerliche Luft umspielte seine Finger. Wohlige Wärme.

Vorsichtig richtete er sich auf. Sonst war er nach einem allergischen Schock im besten Falle müde wie nach einem Dauerlauf. Meist fehlte ihm die Kraft, nach Hause zu gehen. Für gewöhnlich war er danach schlapp und kaputt, schlief mindestens einen ganzen Tag durch.

Von Müdigkeit keine Spur. Die Agonie, in der er sich gerade noch befand, hatte er nach wie vor sehr klar vor seinen Augen. Er wusste, dass er nach solch einem Anfall definitiv nicht aus eigener Kraft sitzen, geschweige denn gehen konnte. Aber da saß er nun. Aufrecht auf seinem Handtuch in der Sonne am See, als sei nichts gewesen.

„Das war’s?”

Tatsächlich hob Emils seine Stimme zum Ende der Frage. Einer der seltenen Momente, in der sich die Klangfarbe änderte, zeugte von tiefer Verwunderung.

„Das war’s.”

FX fand es durchaus passend, in diesem Falle den monotonen Klang von Emils Stimme nachzuahmen.

Emil schaute seinen Freund an. Dieser saß wie versteinert auf seiner Decke, den Pen in einer Hand und die andere vor dem Mund. Sein Gesicht war von Tränen überströmt.

Er rutschte hinüber zu seinem Freund und nahm ihn in den Arm. Als Paul die erste Berührung seines Partners spürte, verpuffte all seine Muskelanspannung und er versank schluchzend in Emils Armen.

FX musste bei Ben sofort intervenieren. Es war keine Sekunde zu spät, denn Ben hatte bereits den Mund geöffnet und wies mit dem Finger auf Emil, der gerade noch im zerrissenen Hemd mit halbfreiem Oberkörper vor ihnen saß, ihnen jetzt aber den Rücken zuwandte, weil er seinen vor Erregung weinenden Freund im Arm hatte.

Mit einem Satz war FX direkt vor Ben gesprungen und legte ihm seinen Zeigefinger auf den Mund. Natürlich hatte Ben den reichlich tätowierten Oberkörper von Emil gesehen, der mit zahllosen Runen übersät war.

Es waren definitiv Runen, echte Runen. Keine Tattoos, wie Ben es glaubte. Jedoch kannte Ben den Unterschied nicht. FX kannte sich damit zwar auch nicht sonderlich aus, aber irgendetwas in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass diese Zeichnungen auf der Haut von Emil echt waren, nur nicht einem Tattoostudio entstammten. Zwar war das Zerreißen seines Hemdes nicht von FX beabsichtigt worden, jedoch ein willkommener zufälliger Effekt des letzten anaphylaktischen Schocks. Das war nahezu ein im wahrsten Sinne des Wortes stichfester Beweis dafür, dass Emil ein Schattenjäger war. Und genau deswegen sollte Ben jetzt erst einmal die Klappe halten, bis FX mit Eggsys Unterstützung das diplomatische Grundgerüst dieses ersten Kontakts geschmiedet hatten.

„Und was war das jetzt genau? Das war ja wohl sehr extrem, oder?”

Henne, der sich noch gut an Emils letzten Schock erinnerte, konnte das überhaupt nicht einordnen.

„Junx, ist es okay, wenn wir heute Abend darüber reden? Ich glaube, dieser Nachmittag gehört erstmal Emil. Dann sehen wir weiter. Versprochen. Also falls die Einladung noch steht natürlich nur.”

Selbstverständlich hatten FX’ Freunde mal wieder eine Menge Fragen. Und gerne sollten sie auch alle Antworten bekommen, die sie brauchten. Aber jetzt drehte sich die Welt erst einmal um Emil und er sollte Geschwindigkeit und Richtung angeben, in der es weitergehen sollte.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich Paul und Emil voneinander trennten. Verlegen wischte sich Paul die verbleibenden Tränen aus dem Gesicht während Emil erschrocken feststellte, dass er sein Hemd zerrissen und ein jeder freien Blick auf seinen sehr muskulösen und üppig tätowierten Oberkörper hatte. Offensichtlich war es ihm unangenehm, so entblößt in der Öffentlichkeit zu sein.

„Diggi, is zwar nich ganz Dein Stil, aber doch irgendwie besser als nix.”

Ben warf dem vollkommen überraschten Emil sein T-Shirt rüber, welches mit schwer lesbaren großen Buchstaben bedruckt war und eines seiner Lieblings-Skater-T-Shirts war. Ihm war es nicht entgangen, dass Emil die halbnackte Situation gerade etwas unangenehm war, auch wenn er das nicht ganz nachvollziehen konnte. Dieser Emil mit seinem bemalten Adonis-Körper war so ziemlich das Schärfste, was Ben je gesehen hatte und er hätte sich diesen Anblick noch stundenlang weiter aussetzen können. Dennoch konnte er es nicht ertragen, wie unglücklich Emil seinerseits gerade ausschaute.

Etwas überrascht, aber dennoch reaktionssicher fing Emil das Kleidungsstück auf und zog es über sein zerrissenes Hemd. Die kurzen Ärmel des T-Shirts hätten seine vermutlich ebenfalls bemalten Arme nicht ausreichend abgedeckt, vermutete FX, weshalb Emil sein Hemd wohl angelassen hatte.

„Und nun?”

Emil gelang es noch nicht hundertprozentig, seiner Stimme den typisch monotonen Klang zu geben, aber er war auf dem besten Wege dahin. Aber er traute sich dennoch nicht, längere Sätze als nötig zu sprechen.

„Nun? Nun kommt die Feuerprobe. Und die ist ein kleines Bisschen wörtlich zu nehmen.”

FX griff in seine Tasche und holte eine kleine Packung von der Soße heraus, die bei Emil vor ein paar Tagen den sehr unerwarteten allergischen Schock ausgelöst hatte.

Wie ein Vampir vor dem Weihwasser wich Emil instinktiv etwas zurück und betrachtete das Döschen mit Argwohn.

„Paprika oder Gurke dazu?”

„Pa… Pa...” Als würde alleine die Aussprache des Wortes schon eine Reaktion hervorrufen, brachte er es nur mit Mühe über seine Lippen. „Paprika. Dagegen bin ich auch allergisch.”

„Nicht schlecht! Du willst es jetzt wohl ganz genau wissen, was? Gefällt mir!”

FX stellte einen Becher mit Paprikastreifen neben dem anderen mit der Tunke.

„Und falls es Dir hilft: Für den Fall, dass es mit der Immunisierung nicht geklappt hat: Es kann nicht schlimmer werden als das, was Du gerade durchgemacht hast. Aber entspann Dich, es wird nichts passieren. Nie wieder.”

Emil nickte stumm, griff nach einem Stück Paprika und tauchte es in die Curry-Tunke. Langsam führte er dann den Happen zum Mund, hielt jedoch kurz vorher inne.

Noch nie in seinem Leben war er sich so unsicher, wie jetzt. Bisher ist alles eingetroffen, was FX ihm prophezeit hatte. Der anaphylaktische Schock war definitiv der allerschlimmste, den er jemals hatte. Er war sich nicht einmal sicher, ob es dazu eine Steigerung gab und eigentlich hätte er schon nach wenigen Sekunden ohnmächtig sein müssen, so unerträglich war dieser Trip. Auch bei der Dauer hatte FX sich nicht geirrt. Zwar kam es ihm vor, als seien es zig Minuten gewesen, die er derart leiden musste, aber ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es deutlich kürzer gewesen sein musste.

Dennoch zögerte er. Noch nie zuvor hatte er mit voller Absicht etwas gegessen, was er eigentlich nicht vertrug. Und jetzt sollte er genau das tun, was er sich so viele Jahre lang mühevoll abtrainiert hatte. Das grenzte schon an totalen Irrsinn.

Aber andersherum war er bestens ausgerüstet. Sowohl er als auch Paul hatten beide einen Pen mit. Er wusste, würde er sich das Adrenalin bereits beim ersten Anzeichen verabreichen, hatte er gute Chancen, glimpflich aus der Nummer wieder herauszukommen. Je früher er mit Medikamenten gegensteuerte, desto milder war der Verlauf so eines Schocks.

Instinktiv griff er mit seiner freien Hand in seine Hosentasche und zog den Pen heraus. Er legte ihn auf die Decke vor sich und tauschte die Hand, mit der er das Stück Paprika mit Soße hielt. Jetzt nahm er den Pen in seine dominante Hand. Er fühlte sich deutlich sicherer.

Sein erster Blick wanderte zu Paul. Mit einem kurzen Blick nach unten gab er ihm zu verstehen, dass auch er den Pen in der Hand hielt und bereit war, sollte es nötig sein. Dann blickte er FX in die Augen.

„Emil, Du weißt, dass ich Recht habe. Außerdem hältst Du schon seit einer gefühlten Ewigkeit die Paprika mit der Soße zwischen den Fingern, alles läuft an Deiner Hand herunter. Deine Haut hätte längst das Jucken anfangen müssen. Tut sie aber nicht. Also: Guten Appetit!”

FX machte eine einladende Geste und streckte seine geöffnete Hand in Richtung Emil.

Langsam, sehr langsam führte Emil die Paprika zum Mund, öffnete ihn und berührte vorsichtig mit der Zunge die Tunke. Curry, schoss es ihm durch den Kopf. Keine europäische Standardmischung. Die vertrug er nämlich, weshalb er neulich so unbeschwert zugelangt hatte. Es war irgendeine Art Nuss noch mit enthalten. Keine Erdnuss oder Haselnuss. Irgendetwas exotischeres. Aber er merkte deutlich, dass sein Körper eine Erinnerung an Nüsse hatte. Eine blasse Erinnerung. Nichts weiter. Kein Kribbeln auf der Zunge. Nichts.

Er schob die Paprika ganz in den Mund und begann vorsichtig zu kauen. Sein Gaumen fing nicht an zu kribbeln, wie es für gewöhnlich anfing. Seine Zunge hingegen vollführte wahre Freudensprünge, als sie die einzelnen Geschmacksrichtungen und Zutaten herausfand. So eine Geschmackskomposition hatte er noch nie gehabt. Alleine die Paprika. So knackig und süß. Wie lange hatte er so etwas nicht gegessen.

Mutig und zuversichtlich schluckte er alles herunter. Er leckte sich die Lippen und wollte lächeln, aber das gelang ihm noch nicht so richtig. Er war nur zu einer schiefen Grimasse fähig und wartete ab.

Reihum blickte er in die Augen der Anwesenden. Paul konnte sich ein erleichtertes Lächeln nicht verkneifen. Er wusste bereits, dass alles überstanden war. Beim letzten Mal hatte Emil zu diesem Zeitpunkt schon einen hochroten Kopf und die erste Atemnot setzte ein.

Ben war ganz hin und her gerissen. Einerseits war er fasziniert, dass es anscheinend geklappt hatte mit der Heilung von Emil, andererseits war er total enttäuscht, dass er so schnell seinen Oberkörper bedecken wollte. Gerne hätte er sich diese spannenden Tattoos noch etwas länger angeschaut. Er hatte versucht, sie zu zählen, war allerdings bei sieben jäh unterbrochen worden. Sein einziger Trost war, dass eines seiner Lieblings-T-Shirts jetzt auf der Haut seines neuen Idols lag. Er würde es garantiert nicht mehr waschen.

Michel und Henne beobachteten Emil sehr genau. Verfolgten jedes Zucken seiner Muskel und erwiderten seinen fragenden Blick mit einem leichten Nicken und einem Lächeln auf den Lippen. Keiner der beiden traute sich jedoch ein Wort zu sagen.

Als letztes wanderte Emils Blick zu FX. Er musste sich eingestehen, dass er nicht wusste, was er sagen oder denken sollte. Er war verwirrt. Ganz offensichtlich hatte dieser verrückte Typ Recht gehabt. Das erste Mal in seinem Leben hatte er etwas gegessen, was ihn zuvor mit Sicherheit umgebracht hätte. Und nun waren schon Minuten vergangen, ohne dass sein Körper irgendeine Reaktion gezeigt hatte; von einem Verlangen nach Mehr abgesehen.

Emil war verwirrt. Er konnte FX in keine Schublade einsortieren, wusste nicht, wer er war oder woher er kam. Er kannte seine Mission nicht und wusste ebenso wenig, was er noch konnte oder im Schilde führte. Und schlussendlich die wichtigste Frage: Wieso hatte er ausgerechnet ihn, Emil geheilt. Das ergab in seinen Augen überhaupt keinen Sinn.

Er musste heute Abend, wenn wieder Ruhe nach diesem aufregenden Tag eingekehrt war, unbedingt mit Paul darüber sprechen. Dieser Kerl war nicht normal. Nur wusste er nicht, ob er zu den Guten oder Bösen gehörte. Bisher hatte ihn sein Instinkt nie getäuscht. Immer, wenn Gefahr drohte, ahnten er oder Paul das halbwegs rechtzeitig. Dieses Mal war jedoch nichts. Nicht die kleinsten Anzeichen dafür, dass dieser verrückte lange Lulatsch etwas Böses im Schilde führte. Jedoch blieb ein leicht bitterer Nachgeschmack wegen seines Könnens. Denn wenn er heilen konnte, konnte er wahrscheinlich auch andere Menschen krank machen.

FX konnte nur erahnen, was im Kopf von Emil vor sich ging. Er traute sich nicht, nachzuschauen. Er wusste nicht, ob er das unbemerkt tun konnte. Dafür gab es zu wenig Informationen über Schattenjäger, sollte er denn wirklich einer sein. Er hatte sich, im Einklang mit Eggsy, jedoch vorgenommen, keine potenziell kränkenden Manöver zu vollführen. Also blieb erst einmal nur abzuwarten. FX schenkte seinem Gegenüber ein breites freundliches Lächeln und zog eine Augenbraue hoch, um zu verdeutlichen, dass Emil jetzt am Zuge war und er auf eine Antwort wartete.

„Danke.”

Es klang mehr als ein Krächzen, denn als ein Danke, aber FX interpretierte richtig. Emil war emotional dermaßen geladen, dass er zu mehr gerade nicht fähig war. Im selben Augenblick öffneten sich auch die Schleusen und Tränen rannen über Emils Gesicht.

Er stand auf, warf fast den Becher mit der Tunke um, krabbelte auf FX zu und nahm diesen in den Arm. FX bekam fast keine Luft mehr, so fest wurde er umklammert aber voller Zufriedenheit erwiderte er die Umarmung und streichelte Emil über den Rücken und den Hinterkopf.

Normalerweise war er immer sehr eigen, was das Berühren anderer Frisuren anbelangte. Besonders Ben mit seiner wüsten Skater-Frisur war da sehr empfindlich. Bei Emil wusste er es nicht, ahnte aber, dass die sonst so streng nach hinten gegelten wasserstoffblonden Haaren bestimmt ungern angefasst wurden. Da Emil derzeit aber weit entfernt von einer perfekten Frisur war, sollte das in Ordnung gehen.

„Danke.”

Ein leises Wort glitt über Emils Lippen, mehr konnte er nicht aus sich herauspressen, als er die Umarmung langsam löste. Er flüsterte es direkt in FX’ Ohr, so dass niemand anders etwas davon mitbekam.

„Ich weiß gar nicht, wie ich Dir dafür danken soll!”

FX genoss noch einen Augenblick die Nähe dieses Menschen. Er liebte den innigen Körperkontakt viel zu sehr, als dass er diesen Moment nicht auskosten wollte. Emils Körper war intensiv geladen mit einer Energie, die aber ein Stück weit unbekannt war. Es war eine aufregende Mischung verschiedener Signaturen, die er noch nicht kannte, sie aber gerne länger in Augenschein genommen hätte. Bevor es jedoch für die Außenstehenden zu unangenehm oder offensichtlich werden konnte, schob er Emil ein Stück weit zurück, so dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.

„Du hast Dich gerade bei mir bedankt. Es ist also alle in Ordnung. Mehr bedarf es nicht.”

FX nickte ganz leicht, um das gesagte noch etwas zu unterstreichen.

„Solltest Du das Bedürfnis haben, mehr zu tun, lieber Emil, dann würde ich mich über eine Freundschaft mit Dir beziehungsweise Euch sehr freuen. Ich weiß, dass man das weder planen noch erzwingen kann, aber dennoch würden meine Freunde und ich uns darüber wirklich sehr freuen!”

Er wusste nicht, wie ihm geschah, aber Emil nahm FX erneut in eine feste Umarmung und verweilte ein paar Augenblicke so. Es war seine Art, den Wunsch von FX zu bestätigen.

Schließlich trennten sich die beiden und schlossen den Sitzkreis auf der Wiese wieder. FX gab seinen Freunden ein Zeichen und sie fingen an, ihre Taschen auszupacken und erneut ein kleines Picknick vorzubereiten.

„Erdbeeren!” Emil war ganz aus dem Häuschen. „Mein ganzes Leben lang habe ich nur Erdbeeraroma gegessen! Ich fang schon mal an, wenn das okay ist.”

„Nur, wenn Du auch ein Glas Weißwein dazu nimmst.”

Henne reichte ein Glas an seinen Nachbarn, was unmittelbar nach dem Einschenken schon beschlug und die ersten Tropfen liefen schon am Glas hinunter. Emil nahm einen tiefen Schluck und schloss die Augen.

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