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Quartett

Teil 25 - Vergessen

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31. Vergessen

Als sich vier Bierflaschen in der Mitte trafen, wurde das laute Klirren mit einem erleichternden vierstimmigen Prost freudig begrüßt. Die Freunde standen im Partygewölbe um ihr eigenes Fass, was FX ein Jahr zuvor bei ihrer ersten Semesterabschlussparty markiert hatte. Es gab im großräumigen Gewölbe unter der Universität nicht viele Fässer, die als Stehtisch genutzt werden konnten, daher waren sie sehr begehrt. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Studenten die Fässer mit Messingplatten markiert, so dass klar geregelt war, welcher Jahrgang aus welchem Turm welches Fass nutzen durfte. Natürlich waren diese Tische ausschließlich den höheren Semestern vorgehalten. Genau dieser Umstand hatte vor einem Jahr zu einem kleinen Disput zwischen den Freunden und dem Abschlussjahrgang geführt, da sich die Freunde zunächst unwissend an ein Fass gestellt hatten, was ihnen gar nicht zustand.

Daraufhin hatte FX heimlich eines der Schilder verändert, was wiederum zu einem größeren Disput und schließlich der Entführung von Henne geführt hatte. Ihren Freund konnten sie zwar nach langwieriger Suche befreien, aber der Streit mit den älteren Kommilitonen verlief ungelöst im Sande, da sie mittlerweile die Universität verlassen hatten. Bis auf Nico, den Anführer der Truppe, der durch die Abschlussprüfungen gefallen war. Und da Henne genau von ihm damals entführt worden war, stieg immer, wenn er den Schurken sah, ein ungutes Gefühl in ihm auf. Nur die Plakette im Fass blieb seitdem unverändert und zeigte in schwarzen Sütterlin Buchstaben auf goldenem Messing: RESERVIERT FÜR ARSCHLÖCHER.

„Sag mal, FX, willst Du das Schild nicht langsam mal wieder korrigieren?”

Henne deutete mit seinem Zeigefinger auf die alte im Holz eingelassene Plakette.

„Will ich das? Stört Dich die Aufschrift? Immerhin haben wir einen bequemen Ort, an dem wir unsere Flaschen abstellen und spannende neue Leute treffen können. Immer für uns reserviert.”

Verwundert stellte FX seine Bierflasche auf dem Tisch ab und zog eine Augenbraue hoch, während er Henne musterte.

Sie alle hatten sich im Rahmen ihrer Bedürfnisse für die große Abschlussfeier hübsch gemacht. So leuchtete Hennes Irokesenhaarschnitt heute in allen sechs Farben der Regenbogenflagge. Zwar war Henne nicht sonderlich groß, mit dieser Frisur war er aber in jedem Falle auch im Gedränge wiederzufinden, da er wie ein buntes Huhn selbst im Zwielicht des Kellers noch weithin sichtbar leuchtete.

„Naja, also Arschlöcher sind wir ja nun nicht unbedingt, oder?”

„Diggi, nu wo Du nich mehr lernen musste, haste wieder Zeit für die unwichtigen Dinge im Leben, wa?”

Ben hatte zur Feier des Tages seine weitesten Skater-Klamotten angezogen, die er im Schrank finden konnte. Der Schritt seiner Hose hing in Höhe seiner Knie und wenn seine Freunde es nicht besser gewusst hätten, würden sie unter dem weiten Schlabberpullover ein paar Hosenträger vermuten, die die Hose in dieser unwirtlichen Höhe vor den Gesetzen der Schwerkraft bewahrten. Natürlich stand Ben, wie fast immer, auf seinem Skateboard und rollte seelenruhig halb um das Fass herum, soweit es der Platz zuließ.

„Was denkst Du denn, was besser auf die Plakette gehören sollte?”

FX war sich immer noch nicht sicher, worauf Henne eigentlich hinaus wollte. Bisher hatte sich keiner an der neuen Beschriftung des Tisches gestört. Also beugte sich FX etwas vor, um Henne genau zu mustern. Sein ohnehin knappes T-Shirt rutschte dadurch komplett aus seiner abgetragenen Jeans und legte seinen unteren Rücken frei. Die Hose war ihm ohnehin viel zu kurz und glich eher einer Hochwasserhose. Die Chucks konnten die Lücke auch nicht auffüllen, so dass FX auch unten herum eine Menge Haut zeigte. Dank seiner enormen Größe kam FX nun überraschend dicht an Henne heran und blickte ihm tief in die Augen.

„Ach, was weiß denn ich. War ja nur so eine Idee.”

Henne murmelte eher leise zu sich selbst, als dass er FX oder Ben eine Antwort gab.

„Henne, kann es sein, dass Du Dir jetzt, wo wir nicht mehr lernen müssen, Gedanken über die unwichtigen Dinge des Lebens machen kannst?”

Freundschaftlich pikste Michel ihn in die Seite, so dass dieser überrascht zusammenzuckte. Ihm war es nicht entgangen, dass Henne irgendwie geistig abwesend war, weshalb er Bens Frage stumpf wiederholte, da auch er an einer Antwort interessiert war. Nur befürchtete er, dass er von Henne keine ehrliche Antwort auf die Frage bekommen würde, wenn er sie denn überhaupt beantworten würde.

Michel trug ein weißes Hemd, was ihm fast eine Nummer zu klein war. Sowohl seine Brustmuskeln als auch seine Oberarme spannten den Stoff, so dass man seinen muskulösen Körperbau darunter problemlos erahnen konnte. Auch seine hautenge Jeans ließ keinen Zweifel daran, dass auch darin sehr durchtrainierte Beine steckten. Ein kleines aber doch auffälliges Firmenlogo verriet, dass sowohl Hemd als auch Hose keinesfalls zu klein waren, sondern dass beide genau den Zweck verfolgten, den Michel gerne hätte: Seinen sportlichen Körper bestmöglich hervorzuheben.

„Also ich glaube, Ihr langweilt Euch wirklich und wisst nicht, was ihr wollt. Ich geh dann mal tanzen. Kommt jemand mit?”

FX leerte seine Bierflasche und sah erwartungsvoll in die Runde. Nachdem jedoch niemand reagierte, verschwand er mit den Worten „Spaßbremsen” in den hinteren Teil des Gewölbes, wo die Tanzfläche war.

„Und nu?”

Ben rollte unternehmungslustig auf seinem Board hin und her.

„Trinken wir noch was?”

Henne blickte seine Freunde fragend an.

„Ich nehm noch so eins.”

„Ich auch. Und denk dran: Wer fragt, holt es!”

„Faule Socke, Ben!”

Im Spaß blickte Henne seinen Freund grimmig an, musste aber selber im gleichen Augenblick lachen.

„Faul sind se nich unbedingt, aber ein bisschen müffeln tun die schon. Willste ma?”

Noch bevor Henne reagieren konnte, hatte Ben seinen weiß besockten Fuß aus dem breiten Skaterschuh gezogen und streckte ihn Henne entgegen.

„Doch nicht hier in aller Öffentlichkeit! Was sollen denn die Leute denken?”

Henne wehrte ab und wich etwas zurück.

„Ach komm, Euch hat das am Strand in Tarragona ja auch nicht gestört, in aller Öffentlichkeit an den Füßen rum zu machen, oder?”

Michel konnte sich noch gut an den Beginn des letzten Sommerurlaubs erinnern, als Ben und Henne auf der Treppe zum Strand ganz gedankenverloren rumgemacht, sich gegenseitig die Schuhe ausgezogen und an den Socken geschnüffelt hatten.

„Diggi, da war ja sonst auch niemand.”

„Ach, und deswegen habt Ihr Euch so gehen lassen. Verstehe!”

„Ich geh jetzt Bier holen.”

Henne wurde diese Diskussion langsam zu peinlich, weshalb er froh über einen guten Grund für sein zeitweiliges Verschwinden war.

Zurück blieben Michel und Ben, wobei es sich Michel nicht nehmen ließ, seinen Freund weiter mit den erotischen Geschehnissen am Strang aufzuziehen. Nicht, dass Michel es reizvoll gefunden hätte, an getragenen Socken zu riechen, aber was er durchaus erregend fand war, seine beiden Freunde dabei beobachten zu können.

„So, Ben, und Dir geht also einer ab, wenn man an Deinen Füßen riecht?”

Michel hatte sich frontal zu Ben umgedreht und stand mit schulterbreit geöffneten Beinen und den Fäusten in den Hüften vor Ben, der seinerseits etwas nervös auf seinem Board hin und her rollte, weil er nicht wusste, was Michel von ihm wollte. Dummerweise hatte er sich sprichwörtlich in eine Ecke manövriert, so dass er nicht einmal unter einem Vorwand ebenfalls verschwinden konnte.

„Öhm, ja, Diggi. Aber ich mach das auch gern bei anderen. Darf ich vielleicht ma’ bei Dir?”

„Untersteh Dich!” Michel stoppte Ben, der schon in seine Richtung rollte, mit der ausgestreckten flachen Hand. „Das ist so gar nicht meins.”

„Schade Diggi.”

Betreten sah Ben zu Boden und rollte langsam wieder rückwärts in seine Ecke. So bekam er viel zu spät mit, dass Michel nach ihm griff und tatsächlich seinen weiten Pullover zu fassen bekam. Wie einen Fisch an der Angel zog Michel Ben zu sich.

„Was aber nicht heißen soll, dass ich Dich nicht trotzdem total sexy finde!”

Ein strahlendes Grinsen perfekter weißer Zähne wie aus einer Zahnpasta Werbung leuchtete Ben entgegen. Verlegen erwiderte Ben das Lächeln. Statt einem lupenreinen Gebiss kam aber nur seine glitzernde Zahnspange zum Vorscheinen, die erahnen ließ, dass auch er irgendwann einen makellosen Biss haben würde.

„Diggi, kann es sein, dass Du etwas getrunken hast?”

Ben, fest im Arm von Michel, streichelte ihm vorsichtig über die geröteten Wangen. Michel schien etwas zu glühen.

„Nicht mehr, als Du. Zwei Bier. Genau die richtige Menge, um Dir endlich mal zu sagen, wie scharf ich Dich finde.”

„Du? Mich? Sexy? Nich Dein Ernst, Diggi!”

Ben lachte laut, vielleicht ein bisschen zu laut und deswegen schlug er sich verlegen mit der Hand auf den Mund.

„Doch. Ich weiß gar nicht, was es ist. Ob es manchmal Deine Naivität ist oder Dein impulsives Benehmen. Keine Ahnung. Ich steh eigentlich nicht so auf Skater, aber Du machst mich total wahnsinnig.”

Michel näherte sich mit seinem Gesicht so an Ben heran, dass beide den nervös flachen Atem des jeweiligen Gegenübers spüren konnten.

„Naja, wenn es Dich zu sehr stört, kann ich das auch ausziehen …” Bens Vorschlag kam sehr zögerlich. Eigentlich mochte er Sex mit Kleidung, besonders Skaterklamotten, viel lieber, als wenn man nackt war. Er konnte sich ohnehin nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal Sex ohne Socken gehabt hatte. Daher fügte er schnell hinzu: „Aber die ...”

„… Socken bleiben an, ich weiß.” Vollendete Michel den Satz. „Dafür fange ich mit dem Rest schon einmal an, wenn es Dir denn recht ist.”

Ohne eine Antwort abzuwarten, schob Michel eine Hand unter Bens Pullover. Erfreut stellte er fest, dass er darunter nicht einmal ein T-Shirt trug, sondern dass der flauschige Pullover seine und Bens Haut direkt schmeichelte.

Ben spürte, wie sich Michels Hand langsam und etwas ängstlich einen Weg unter seinem Pullover bahnte. Zwar ging er dabei überaus behutsam vor, jedoch konnte Ben spüren, wie kräftig und muskulös alleine die Hände seines Gegenübers waren. Er konnte es nicht länger aushalten, er musste es einfach tun. Nur durch ein bisschen Gewichtsverlagerung auf seinem Board rollte Ben den letzten Zentimeter vorwärts, der ihn noch von Michel trennte und so konnte er endlich das tun, was er schon vor vielen Monaten hätte tun wollen: Er schob Michel seine Zunge tief in den Mund hinein und küsste ihn innig.

Das Einzige, was Michel überraschte war, dass es Ben so lange hinauszögern konnte. Natürlich hatte er genau diese Reaktion vom impulsiven und spontanen Ben erhofft. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sich Ben so lange noch im Zaum hätte halten können. Jetzt, wo der Damm aber gebrochen war, erwiderte er die Küsse von ihm mit großer Leidenschaft.

Ihr Fass stand zwar nicht mitten auf dem Präsentierteller in den Katakomben, jedoch fällt es auf, wenn ein so begehrter Platz im Laufe der Zeit immer weniger stark belegt ist. Allerdings bemerkten weder Michel noch Ben, dass sich in der Zwischenzeit Besuch zu ihnen an den Tisch gesellt hatte.

Ben bemerkte den Besuch als erstes aus dem Augenwinkel und erschrak dermaßen, dass er das Gleichgewicht verlor und sein Board ins Rollen geriet. Michel hatte die Besucher zwar noch nicht bemerkt, reagierte jedoch blitzschnell und fing Ben mit einem Arm auf, bevor er rücklings auf den Boden fallen konnte.

„Nicht so stürmisch, kleiner Skaterboy”, grinste Michel den gerade aufgefangenen und vollkommen überraschten Ben an. In tiefer Inbrunst fügte er noch hinzu: „Dann war das ganze Training ja nicht umsonst gewesen, wenn es für das Auffangen eines Traummannes gereicht hat.”

„Diggi, wir haben Besuch.”

Die beiden Standen tief gebückt hinter dem Fass, Michel hielt Ben immer noch mit nur einer Hand kurz über dem Boden als Ben ihm mit einem Blick in die entsprechende Richtung zu verstehen gab, dass sich Gäste zu ihnen gesellt hatten.

Michel richtete sich auf und zog Ben mit Leichtigkeit ebenfalls nach oben, so dass sie wieder am Tisch standen, als sei nichts gewesen und lächelte Ben süffisant an: „Du magst Knutschen in der Öffentlichkeit wohl nicht, was?”

Ben, der es in der Tat gerade viel lieber etwas privater und kuscheliger gehabt hätte, wollte sich unbedingt um eine Antwort drücken: „Mist, wo is mein Board abgeblieben, Diggi?”

„Ihr müsst meinen Freund entschuldigen”, Michel lächelte die Neuankömmlinge an und nickte nur in Richtung Ben, der auf der Suche nach seinem Skateboard abgetaucht war. „Er geniert sich manchmal gegenüber Fremden etwas, auch wenn er sonst nicht diesen Eindruck vermittelt.”

„Eine sexy Show habt Ihr da gerade abgeliefert!”

Der etwas Kleinere der beiden Unbekannten lächelte Michel direkt an und blickte ihn ungeniert in die Augen, als könne er in ihnen lesen, was gerade Michel vor sich ging.

Michel hingegen lächelte mit seinem Zahnpastalächeln zurück. Die beiden Neuen schienen sympathisch und mysteriös zugleich zu sein. Er war neugierig und streckte seine Hand über den Tisch aus.

„Danke. Ich bin Michel. Und was seid Ihr für Arschlöcher?”

Der so angesprochene verharrte in seiner Bewegung mit halb ausgestreckter Hand und starrte Michel irritiert an. Dieser hatte mittlerweile sein Lächeln versteckt und gegen einen neutralen Gesichtsausdruck ausgetauscht. Nun wartete er schlichtweg ebenfalls mit ausgestreckter Hand, und haderte der Dinge, die da kommen mochten. Er hatte den Unbekannten eine Aufgabe gestellt und war neugierig, wie er sie lösen würde. Und abhängig von dieser Lösung würde Michel wiederum entscheiden, ob die beiden wirklich interessant waren, oder einfach nur wichtig taten.

Der kleinere der beiden Neuen ließ sich eigentlich nicht so leicht irritieren und Sprachlosigkeit gehörte für Gewöhnlich nicht zu seinen Eigenschaften. Aber Michel hatte bei ihn anscheinend den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Hatte der Typ sie gerade Arschlöcher genannt? Paul hatte bis vor wenigen Augenblicken noch gedacht, dass die beiden schwulen Jungs auf der anderen Seite des Fasses ganz sympathisch waren. So kann man sich täuschen. Diese arroganten Schwuppen. Sein Freund und er hatten zuvor sehr emotional diskutiert, ob sie die Vierergruppe Ansprechen sollten oder nicht. Immerhin kam es selten vor, dass eine gleichgesinnte Truppe von gleich vier Personen noch dazu im selben Jahrgang hier an der Uni waren. Aber anscheinend hatte sich Paul geirrt. Es war ein Fehler gewesen, sie anzusprechen. Es schienen tatsächlich arrogante Arschlöcher zu sein.

„Michel, das war jetzt aber nicht sehr nett!”

Mit einem lauten Klirren stellte Henne drei Flaschen Bier auf den Tisch ab. Er kam gerade rechtzeitig in Hörweite, um den Grund des gegenseitigen Anschweigens zu kennen. Nachdem er seine kühle Fracht losgeworden war, griff er sich mit seinen von den Flaschen noch feucht-kalten Händen, sowohl eine Hand von Michel als auch von dem Fremden und führte beide Hände unter leichtem Zwang zum Handschlag zusammen.

„Sagt bloß, diese Geschichte ist letztes Jahr an Euch vorbeigegangen? Ich dachte, der ganze Campus hat darüber gesprochen.”

„Was? Welche Story?”

Paul war verwirrter als noch ein paar Augenblicke zuvor und seine Blicke wanderten unschlüssig zwischen Henne und Michel hin und her. Zwischendrin blickte er immer wieder auf seine eigene Hand, die Michels jetzt gegriffen hatte, obwohl er das gar nicht wollte. Dieser Typ mit dem regenbogenfarbenen Irokesenschnitt schien irgendwie eine ungeheure Sympathie und Freude auszustrahlen, dass sich Paul gar nicht dagegen wehren konnte und seinen Gegenüber doch die Hand gegeben hatte.

„Hase, na die Aktion mit der Plakette im Fass. Die heimlich ausgetauscht wurde.”

Erstmals zeigte der Freund von Paul überhaupt eine Regung. Bisher hatte er das Geschehen lediglich halb hinter seinem Freund stehend verfolgt und dabei überhaupt keine Regung erkennen lassen. Er hatte weder gelächelt noch war er erstaunt. Er hatte das Geschehen bisher regungslos verfolgt. Und auch jetzt, als er sprach, schien er nur die allernötigsten Muskeln zu bewegen. Selbst seine Stimme klang langweilig monoton.

„Ach, das wart Ihr? Echt jetzt?”

So langsam reifte in Paul die Erkenntnis und die Gerüchte und Spinnereien der letzten Semesterparty traten wieder in sein Gedächtnis. Abenteuerliche Beschreibungen, wie die Ersis als Scherz schon Tage zuvor das alte Schild gegen ein anderes ausgetauscht hatten und wie sie es dann auf alt getrimmt hatten. Nur leider konnte selbst im Nachhinein nüchtern und bei Tageslicht betrachtet keine dieser Behauptungen als wahr angesehen werden. Dieses Schild war so anscheinend schon immer im Holz versenkt gewesen und genauso uralt, wie die anderen Schilder auch. Niemand konnte auch nur einen Unterschied zwischen ihnen feststellen. Es war definitiv nicht ausgetauscht worden und doch war es ein anderes, weil dieser Text garantiert vorher nicht darauf gestanden hat.

„Ja, wir waren das. Guck”

Michel zog seine Hand ein Stück zurück und gab nun den ungehinderten Blick auf das Schild frei.

Paul näherte sich ganz vorsichtig mit den Fingern dem Schild und hielt ehrfürchtig zur davor inne. So ganz traute er sich nicht, das Schild zu berühren.

“In welchem Semester seid Ihr eigentlich? Im sechsten, oder? Ich dachte, Ihr habt da schon Tische.”

Henne kratzte sich am Hinterkopf, wobei er es gekonnt vermied, dabei seinen Iro durcheinander zu bringen.

„Nein”, kam ihm Pauls Freund entgegen, „die gibt es nur für den höchsten Jahrgang. Also das achte Semester. Außerdem sind wir im selben Semester. Die Drei haben wir gerade geschafft. Das vierte Semester startet bald.”

„Naja, muss man nicht verstehen. Eine altehrwürdige Elite-Uni halt. Man muss sich das anscheinend wirklich erst erarbeiten. Aber hej, wieso haben wir uns denn bisher noch nie gesehen? In der Mensa oder so? Irgendeine Vorlesung müssen wir doch zusammen gehabt haben.”

Irgendwie kam es Henne komisch vor. Gerade der schweigsame große Typ im Hintergrund mit seinen platinblond gebleichten Haaren hätte ihm eigentlich auffallen müssen. Auch wenn der Kerl immer auffallend unauffällig und still war, hätte er ihn mit Sicherheit bemerkt.

“Ach, weißt Du, in der Regel vermeiden wir es, uns in den Vordergrund zu spielen. Das entspricht nicht unserem Naturell. Und natürlich knutschen wir auch nicht in der Öffentlichkeit herum. Irgendwie bin ich mir nie ganz sicher, ob das bei dem einen oder anderen Kommilitonen hier nicht etwas sauer aufstoßen könnte.”

“Ja, da geb ich Dir Recht. Viele sind doch eher … sagen wir mal konservativ.”

Michel nickte, weil er diese Antwort durchaus nachvollziehen konnte. Für Henne hingegen schwang ein klitzekleines Bisschen Unaufrichtigkeit mit in der Antwort. Er konnte nicht benennen, was es genau war und woran er es festmachen sollte. Und je länger er darüber nachdachte, desto stärker verblasste dieses Gefühl, bis es schließlich ganz verschwunden war.

“Also, zurück auf los: Michel hat sich ja schon vorgestellt. Ich bin der Henne, Du bist Hase und wer ist Dein Freund?”

„Emil. Aber ich bin nicht Hase. Ich heiße Paul.”

„Hallo Emil, hallo Paul. Klingt auch irgendwie netter, als Hase. Und woher ...”

Henne wurde jäh von Ben unterbrochen, der die Suche nach seinem Skateboard erfolgreich beendet hatte und sich nun wieder in die Arme von Michel begeben wollte. Frustriert stellte er jedoch fest, dass ihr bis vor kurzem ruhiger Tisch mittlerweile von dem fremden Pärchen belagert wurde, was sie so abrupt in ihrem Tun unterbrochen hatte. Und dann war da auch noch Henne, der sich offensichtlich gut mit ihnen unterhielt.

„Kommst Du mit, Diggi?”

Ben hatte Michels Kopf herangezogen und flüsterte ihm leise ins Ohr, während er mit ganz einer Hand unter Michels Hemd fuhr und zaghaft dessen Sixpack streichelte.

„Ja, aber willst Du Dich denn nicht wenigstens kurz vorstellen?”

Michels Antwort zwar nur halblaut, aber dennoch für alle am Tisch gut verständlich. Er genoss es gerade sehr, wie Ben gerade an ihm hing und nicht wusste, welches Körperteil er zuerst streicheln sollte.

„Neee, ich will Dich. Jetzt.”

Wieder flüsterte Ben nur ganz leise und zerknirscht in Michels Ohr.

„Entschuldigt, unser kleiner unhöflicher Skaterboy hier heißt Ben und ist heute irgendwie sehr anhänglich. Normalerweise ist er immer der Coolste auf dem Campus, aber heute braucht er anscheinend dringend ein paar Streicheleinheiten.”

Michel wandte sich zum Gehen um und wurde sofort von Ben mitgezogen.

„Und vielleicht ein bisschen mehr!”

Winkend verschwanden beide in der Menge der Party.

„Also eigentlich geniert sich Ben nicht so unter Fremden. Der ist alles andere als auf die Klappe gefallen. Aber da hat jemand wohl gerade sehr viel Nachholbedarf nach dem Klausurenstress.”

„Ja, wem geht das nicht so ...”

Emil seufzte und das war gerade seine erste emotionale Regung überhaupt, seitdem die Beiden hier standen.

„So, Jungs, ich hab drei Flaschen Bier mitgebracht und wir sind zu dritt. Ich sag also mal: Prost!”

Drei Flaschen stießen in der Mitte des Tisches zusammen.

„So, und wie habt Ihr das jetzt mit der Plakette gemacht?”

Emil konnte sich offensichtlich noch an alle möglichen Theorien aus dem letzten Jahr erinnern, weshalb er an der Wahrheit umso interessierter war.

„Da musst Du FX fragen.”

„Wen?”

„Na, unseren Freund. Da hinten der lange Lulatsch auf der Tanzfläche mit dem komischen Tanzstil und mit der nicht minder komischen Frisur.”

Henne zeigte grob in Richtung Tanzfläche, wo die Musik lauter war und die Lichtblitze bunter. Eine wabernde Menge bewegte sich im Rhythmus der Musik auf und ab. Es sah sehr koordiniert und doch unberechenbar aus. Nur FX überragte alle anderen um mehr als eine Kopflänge. Dazu kamen noch seine Dreads, die ebenfalls im Takte der Musik am Schwingen waren.

„Komische Frisur? Das sagt der Richtige” kam es von Paul halblaut und dann wieder mit normaler Stimme: „Ach, Du meinst den Typen mit dem Gipsarm!”

„Hej, hast Du was gegen meine Haare oder was? Kann ja nicht jeder so einfallslos rumlaufen.”

Henne deutete auf Pauls glatt rasierten Kopf in dem sich tatsächlich die Lichtblitze der Tanzfläche spiegelten.

„Naja, das ist auch nur die Flucht nach vorne. Alles andere sieht bei mir mittlerweile einfach scheiße aus. Und deswegen habe ich mir gedacht ...”

„Jetzt weiß ich endlich, woher ich Deine Stimme kenne! Damals, letzten Sommer auf der Wiese im Hof, mitten in der Nacht haben wir alle zusammen dagesessen und gekuschelt und irgendein anderes schwules Pärchen ist da vorbeigekommen und hat nur ‚süß’ oder so gesagt. Das warst Du, oder? Ihr seid da an uns vorbei, oder?”


Ben hatte endlich ein halbwegs ruhiges Plätzchen irgendwo zwischen Tanzfläche und Bar gefunden, wo er Michel nun voller Vorfreude in eine Nische zog.

„Meine Güte, Ben, Du musst aber echt Druck auf dem Kessel ha...”

Weiter kam er nicht, denn schon spürte er die Lippen den quirligen Skaterboys auf seinen und einen Atemzug später auch schon eine Zunge auf der Suche nach Ihresgleichen.

Eigentlich hatte Ben gar nicht so viel getrunken, aber es war offensichtlich genau die richtige Menge, um Hemmungen abzubauen und seinen Wunsch immer noch nachgehen zu können. Wie oft hatte er davon geträumt, diesen so genial durchtrainierten Körper berühren zu können. Er hatte es sich vorgestellt, wie er mit dem Finger jeden einzelnen Muskel auf Michels Bauch abfahren würde und danach den selben Weg noch einmal mit der Zunge machen würde.

Michels knackiger Hintern, der sich so aufdringlich durch die hautenge Jeans abzeichnete, als grenzte es schon an Pornografie, hatte sich so in Bens Gedächtnis eingebrannt, dass er so manches Mal im vergangenen Semester nachts unter die Dusche steigen musste, um sich wieder zu beruhigen und die Sache langsamer angehen zu lassen.

Wobei er heute Abend auch nicht sonderlich ruhig und durchdacht vorgegangen war. Schon gar nicht, als das andere schwule Pärchen zu Besuch kam. Er wusste, dass er nicht sonderlich höflich gewesen war. Aber Ben hatte diesen Abend als DEN Abend, als SEINEN Abend oder noch besser, als IHREN Abend auserkoren und so einfach wollte er sich diesen Abend nicht kaputt machen lassen. Zwar wusste Michel noch nichts davon, aber es schien ganz so, als würde er diesen Abend ebenfalls zu ihrem Abend machen würde.

„Oh, tschuldigung, ist wohl schon besetzt.”

„Wer war das denn?”

Michel streckte irritiert den Kopf aus der Nische um hinter die Störenfriede hinterher zu blicken.

„Egal, die wollten nur das Selbe machen, wie wir auch. Aber wir waren schneller.”

Ben versuchte, das Hemd von Michel aufknöpfen, was ihm mit seinen vor Nervosität zitternden Fingern nur mäßig gut gelang.

„Ben, entspann Dich!” Ben war immer noch beim zweiten Knopf und kam nicht so recht voran. „Wir haben doch alle Zeit der Welt. Pass auf, ich helf Dir.”

Michel griff sich mit beiden Händen ans Revers und riss sein Hemd ruckartig auf. Ein paar Mal hörte man das Reißen und Knacken des Garns und dann das leise klirren der Knöpfe, wie sie zu Boden fielen. Und dann stand Michel mit geöffnetem Hemd vor Ben und grinste von einem Ohr zum anderen.

„Wollte ich schon immer mal machen. Was sagst Du jetzt?”

„Nix, Diggi.”

Die wenigen Worte, die Ben aus sich herauspressen konnte, klangen sehr heiser. Vorsichtig näherte er sich einer der beiden Brustwarzen, die wie ein kleines Krönchen auf dem Brustmuskel saß, den Michel sehr gekonnt ganz langsam im Takte der Musik anspannte und wieder lockerließ.

Es war perfekt aufeinander abgestimmt: Die Musik, die entfernten Lichteffekte und das rhythmische Zucken von Michels Brust. Wie hypnotisiert starrte Ben mit halb offenem Mund auf dieses Menschliche Kunstwerk und traute sich nicht, noch näher zu kommen. Andererseits verzehrte er sich danach, endlich an diesen Brustwarzen knabbern zu dürfen, sahen sie doch so hart und knusprig aus. Den Tropfen Speichel, der sich von Bens Unterlippe löste und der geräuschlos zu Boden fiel, bemerkte er gar nicht.

„Shit, da ist auch schon wer. Oh, Du siehst ja sexy aus!” – „Komm Isa, wir finden schon was.”

Ben war wieder zurück auf dem Boden der Tatsachen und frustriert wegen der erneuten Störung. Irgendwie hatte er sich das Ganze etwas anders vorgestellt. Romantischer, ruhiger.

Aber Michel verstand es um so besser, Ben wieder in ihre eigene kleine Liebeswelt zu ziehen. Mit einem bisschen Bestimmtheit drückte er Bens Mund schlichtweg gegen seine Brust und gab Ben somit unmissverständlich das Signal, dass er sich jetzt gerne mit seinen Brustwarzen beschäftigen dürfte.

Natürlich ließ sich Ben das kein zweites Mal sagen. Vergessen waren die Störenfriede. Ganz vorsichtig umkreiste Ben mit seiner Zunge das Objekt der Begierde um es dann unerwartet zu überfahren und abzulecken. Dann entfernte sich Ben vorsichtig etwas von Michels Brust blies vorsichtig gegen die angefeuchtete Brustwarze. Sofort wurde sie noch härter und stellte sich ein bisschen mehr auf, als sie es ohnehin schon tat. Eine Gänsehaut breitete sich kreisförmig davon aus und lief Michel einmal komplett über den Oberkörper.

Ben kam wieder ganz nah heran, öffnete seinen Mund weit, um nun die Brustwarze komplett mit seinen Lippen zu umschließen. Vorsichtig streckte er seine Zunge aus, um den Kontakt wieder herzustellen.

Trotz der Musik hörte Michel zweimal unmittelbar hintereinander ein leises Flutschen gefolgt von einem unterdrückten Fluchen.

„Autsch! Wie ich diese verdammte Scheißspange hasse!”

Vor lauter Aufregung hatte Ben vergessen, die Gummis seiner Zahnspange für diese oralen Aktivitäten herauszunehmen. Dass ein paar von ihnen der Beanspruchung nicht mehr standhielten, war zwar prinzipiell nicht schlimm, für die Erotik und Bens Stimmung jedoch nicht gerade förderlich.

Als sie dann ein drittes Mal von einem Pärchen auf der Suche nach einer ungestörten Ecke gestört wurden, lagen bei Ben die Nerven blank. Unter normalen Umständen hätte Michel einfach nur laut losgelacht, weil man so viel Pech wie Ben einfach nicht haben konnte, aber der arme Skaterboy tat ihm jetzt so unendlich leid. Man hatte ihm die Freude vorhin schon angemerkt, als er am Tisch an seinem Ohrläppchen geknabbert hatte und jetzt sollte es so jämmerlich scheitern?

Das durfte Michel nicht zulassen. Behutsam beugte er sich vor und flüsterte Ben leise ins Ohr.

„Ignorier sie einfach. Es ist egal, ob da draußen jemand ist. Was zählt sind nur Du und ich. Wir beide. Wir konzentrieren uns nur auf uns selbst. Okay?”

Ben war dem Heulen nahe, denn so hatte er sich diesen Abend bestimmt nicht vorgestellt. So, wie es jetzt zu werden schien, war es nur der katastrophale Abschluss für ein arbeitsreiches Semesters, was in einem großen Krach enden sollte.

Was sagte Michel gerade? Wir konzentrieren uns nur auf uns selbst? Natürlich! Dass er da nicht gleich drauf gekommen ist. Das war doch für ihn das Naheliegendste. Und wenn er FX Glauben schenkte, dann sollte es auch gar nicht so schwer sein.

Ben richtete sich auf, nahm Michel in den Arm und legte den Kopf dicht an seinen. Im Stehen kuschelten sie etwas und Ben strich vorsichtig mit seinen Händen über Michels Rücken. Er hatte es zwar erst ein einziges Mal erfolgreich gemacht, aber FX sagte, er sei ein Naturtalent und es ist angeboren. Also setzte er alles auf eine Karte. Er erfasste zunächst seinen eigenen Körper. Das ging erstaunlich schnell. So schnell, dass er sich noch zwei weitere Male vergewisserte, ob er wirklich alles von sich und seinen Accessoires erwischt hatte. Aber er war sich absolut sicher, es war komplett.

Dann machte er das Gleiche mit Michel. Auch seinen Körper erfasste er. Er begann von den Punkten aus, wo sich ihre beiden Körper berührten. Im Gesicht, am Rücken, wo Ben seine Hände hatte und an Michels Beinen, wo Ben ebenfalls ein Bein zwischen seine gestellt hatte. Von dort aus breitete er sein Bewusstsein in Michel weiter aus, erfasste Muskeln, Haut und Haare. Die Arme, Beine und schließlich noch die Kleidung. Irgendetwas schien Michel in der Hosentasche zu haben. Er spürte es sowohl an seinem Oberschenkel als auch beim Erfassen. Aber für letzteres musste er nicht wissen, was es war, sondern nur, dass es da war. Auch dieses Ding in der Hose erfasste er.

Zwar hatte ihm FX gesagt, dass nichts passieren kann, wenn man nicht komplett alles erfasst und verschoben hat, aber es musste klappen. Es musste einfach auf Anhieb klappen, sonst war der gesamte Abend definitiv gescheitert. Ganze drei Mal überprüfte Ben, ob er alles von Michel erwischt hatte. Und dann noch ein weiterer Check, ob er sich oder Teile davon in der Zwischenzeit nicht vergessen hatte. Aber er war sich sicher. Er hatte alles. Wirklich alles.

Und dann machte Ben für sich und Michel zusammen den Sprung nach Links.


„FELIX!!!”

Gerade noch war er auf der Tanzfläche und er hatte sich fast in Trance getanzt. Er hatte die ganzen Strapazen des vergangenen Semesters aus sich heraus gezappelt und den Frust über die eine oder andere vergeigte Aufgabe auf der Tanzfläche heraus geschwitzt, als er das spürte, was eigentlich nicht hätte passieren dürfen. Aber es war klar, dass es passieren würde. Zumal er Ben noch nicht einmal darauf hingewiesen hatte, dass er seine Fähigkeiten nicht öffentlich einsetzen durfte. Anfängerfehler als Lehrer. Aber andersherum war er ja auch gar kein Lehrer, sondern hatte eher durch Zufall die Fähigkeiten seines Freundes entdeckt. Okay, dem Protokoll nach hätte er es im Club melden müssen.

Und genau da war er jetzt, wenn auch nicht ganz freiwillig. Er war zu Gast im Club of Rome.

„Euer Ernst? Eine U-Bahn-Station?”

FX fasste sich an den Kopf und schüttelte sich. Seinen Namen hatte er schon so lange nicht mehr gehört, dass es ihm fast so vorkam, als sprächen die beiden über einen Dritten, der zur Zeit gar nicht anwesend war.

„Felix, Dein Ernst? Wir sind der Meinung, es ist der ganzen Situation sehr angemessen, da Du gerade wieder bewiesen hast, wie tief Dein Niveau beim Thema Verantwortung sinken kann. Außerdem, um den Horizont eines Kunstbanausen zu weiten, ist das hier ...”

„… die Moskauer Metro. Eine der tiefsten und meist benutzten U-Bahnen der Welt. Und mit Sicherheit auch einer der schönsten. Ich weiß. Ich kenne sie. Ich war beim Bau dabei. Aber das war vor Deiner Zeit, liebe Chefin.”

Sie befanden sich in einer riesigen Halle. Die Böden waren mit buntem Marmor-Mosaik ausgelegt, die Wände reichhaltig mit Stuck und goldenen Ornamenten verziert. Von den Decken hingen in regelmäßigen Abständen riesige Lüster und tauchten die ganze Station in ein warmes und wohliges Licht. Würden nicht die Wagons mit geöffneten Türen an den Gleisen stehen, oder Rolltreppen über hundert Meter in die Tiefe gehen, könnte man denken, man stünde in einer Kirche oder einer Empfangshalle zum Staatsempfang.

Das Einzige, was hier fehlte, waren die Menschen. Statt dem pulsierenden Lärm einer lebendigen Großstadt herrschte hier eine Stille, als sei die Zeit stehengeblieben. Im Grunde genommen war Zeit hier, ähnlich wie im Weiß, nicht von Bedeutung. Nur war es hier ganz im Gegensatz zum Weiß, alles andere als steril und langweilig.

FX schritt vom Ende der Rolltreppe aus sieben Schritte geradeaus, drehte sich dann um neunzig Grad nach links und tat wieder zwei Schritte vorwärts. Dann drehte er sich zurück in die ursprüngliche Richtung Er blickte nach rechts zwischen zwei mächtige Säulen hindurch und betrachtete den Fußboden. Und da sah er es: Ein im Mosaik des Fußbodens eingelassenes großes X. Im Schnittpunkt der beiden Geraden wiederum befand sich der senkrechte Strich des Buchstaben F, jedoch in einer leicht anderen Farbe, als das X. Er schmunzelte kurz, musste er doch an die Zeit denken, als hier noch eine chaotische Baustelle herrschte und man das Ende der Arbeiten noch gar nicht erahnen konnte. Damals war die Gelegenheit günstig gewesen, sich hier im Mosaik verewigen zu können, noch dazu so ganz heimlich und nahezu unsichtbar. Es gab nur einen einzigen Punkt in dieser riesigen Halle, an dem man die beiden Buchstaben erkennen konnte. Nur wenige Zentimeter weiter würden die Buchstaben verschwinden und in dem allgemeinen Muster untergehen, welches den gesamten Boden hier verzierte.

Er verlagerte das Gewicht auf einen Fuß und bewegte so seinen Kopf etwas zur Seite. Die verschachtelten Buchstaben waren tatsächlich verschwunden und zurück blieb lediglich das wirre Muster im Boden, welches alltäglichen Dreck und Hinterlassenschaften so unglaublich gut kaschierte.

„Felix, um es kurz zu machen, Du weißt, wir haben im Gegensatz zu Euch nicht ewig Zeit: Du weißt, worum es geht?”

„Selbstverständlich.”

FX’ Stimme klang genervt. Ein bisschen war er es auch. Denn eigentlich wollte er auf seiner Semesterabschlussparty tanzen und Spaß haben. Er wollte mit seinen Freunden ausgelassen feiern und den Stress der vergangenen Wochen und Monate hinter sich lassen. Er wollte nicht an Arbeiten und Lernen denken, sondern einfach nur Spaß haben. Eigentlich wollte er gar nicht hier sein, sondern im Gewölbe der Universität, seiner Uni.

Aber andersherum freute er sich auch etwas, mal wieder hier sein zu können. Sein letzter Besuch war schon sehr lange her und so vieles war in der Zwischenzeit passiert in seinem Leben. So viel Schönes, so viel Aufregendes. Früher war er häufig hier zu Gast im Club of Rome, der Runde der 42 Menschen, die die Integrität der Zeitlinie überwachten und wiederherstellten, während FX und seine Mitstreiter auf der Jagd nach temporalen Sündern waren.

„Also gut. Fürs Protokoll: Ben hat in aller Öffentlichkeit ungeschützt seine Kräfte benutzt, was er nicht hätte tun dürfen.” Wie auswendig gelernt leierte FX den Satz in monotoner Stimmlage herunter. „Ich als sein Lehrer hätte dafür Sorge tragen müssen, dass das nicht passiert. Eigentlich hätte ich seine Kräfte sogar schon viel früher melden müssen, weshalb mich doppelte Schuld trifft.”

„Felix, was ist los mit Dir? So einsichtig kenne ich Dich gar nicht. Dein Sabbatjahr scheint dir definitiv gut zu tun!”

„Chefin, ich will das hier nur so schnell wie möglich hinter mich bringen und wieder dorthin zurück, wo Ihr mich weggeholt habt.”

„Wobei habe ich Dich denn gestört?”

„Unsere Semesterabschlussparty.”

„Oh, Feiernde soll man nicht aufhalten. Derselbe Deal wie beim letzten Mal?”

„Geht klar. Ich räume bei uns auf und ich schulde Euch einen Gefallen.”

„Zwei!”

„Zwei? Nicht Dein Ernst, oder?”

FX war schon wieder am Gehen und auf dem Weg zur Rolltreppe, als er sich entsetzt umdrehte und die Schultern hochzog. Als habe er gar nichts anzubieten, streckte er seine beide leeren Handflächen vor und zeigte sie seiner Chefin. Diese Haltung sah mit seinem eingegipsten Arm sehr unbequem aus, unterstrich jedoch seinen Beweis, dass er eigentlich gar nichts als Gefallen anzubieten hatte.

„Du hast selbst gesagt, dass Du Ben hättest melden müssen.”

Die Dame mittleren Alters verschränkte ihrerseits die Arme um ihm anzudeuten, dass sein Verhandlungsspielraum nicht besonders groß war.

„Okay, ein Gefallen und ein kleiner Gefallen.”

Noch bevor FX seinen Satz zu Ende gesprochen hatte, saß er bereits auf dem Handlauf der Rolltreppe und rutschte ihn hinunter. Mit über 120 Metern Länge war dies eine der längsten Rolltreppen der Welt und sie bot FX beim Hinunterrutschen etwas Zeit, um zu grübeln. Dass er dem Club jetzt wieder eineinhalb Gefallen schuldete, war zu verschmerzen. Immerhin war das ja ohnehin sonst auch mehr oder weniger sein Arbeitgeber. Solange es nicht überhand nahm, was das vollkommen akzeptabel.

Vielmehr kreisten seine Gedanken um Ben. Er war sehr stolz auf seinen Schüler, denn es hatte sich nicht so angefühlt, als sei Ben gerade alleine nach links gesprungen. Er muss definitiv noch jemanden dabei gehabt haben. Und das fand FX richtig genial. Denn in so kurzer Zeit sich selbst und auch noch eine weitere Person mit Materie zu verschränken war definitiv etwas, was viel Übung und Können erforderten. Anscheinend hatte Ben ein richtiges Talent, dass er das so schnell und Problemlos erreicht hatte.

Aber warum macht er so etwas auf einer Party? Da sollte man doch eigentlich feiern und Spaß haben. Durch Wände zu gehen ist für eine Halloween Party vielleicht ganz passend, aber als Attraktion auf einer Abschlussfeier war es eher unpassend. Noch dazu, wenn man das zu zweit machte. Ein Bisschen Sorge machte sich bei FX breit, dass Ben eventuell eine Show abziehen würde und seine Fähigkeiten offen zur Schau stellen könnte. Aber glücklicherweise hatte FX nur einen einzigen Sprung registriert. Daher war er zuversichtlich, dass Ben eher eigennützig gehandelt hatte und keine große Aufführung in den Katakomben veranstaltete.

FX sah das untere Ende der Rolltreppe schnell näher kommen. Er machte sich bereit um vom Geländer der Treppe herunter- und wieder in das Partygeschehen hinein zu springen, denn es gehörte eine Menge Übung dazu, Zeitsprünge in belebten Bereichen zu vollführen. Die Gefahr war groß, dass ein Unbeteiligter einen Sprung in der Zeit bemerkte. Und für den Springer selbst musste natürlich der Landeplatz zum entsprechenden Zeitpunkt auch frei sein. Aber für FX war genau das mehr ein Grund mehr, aus der Zeit hinaus und wieder hinein zu springen. Er liebte es, sich nahtlos und vor allem unbemerkt durch die Zeit zu bewegen. Jedoch war er gerade etwas aus der Übung, hatte jetzt aber ironischerweise keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen.


Mit dem letzten Akkord von Madonna landete FX wieder im Partygewölbe der Universität auf der Tanzfläche. Nur einen Bruchteil einer Sekunde zuvor war er genau von dort verschwunden. Zufrieden war er mit seiner Ankunft nicht, das hatte er schon genauer geschafft. Es gab einen winzigen Augenblick auf der Tanzfläche, an dem dort, wo er gerade gestanden hatte und jetzt auch wieder stand, ein Loch gewesen war. Es war weit weniger als eine zehntel Sekunde, aber selbst das war für seine persönlichem Maßstäbe zu viel. Er ärgerte sich über sich selbst und seine mangelnde Fitness und Übung im Springen. Aber dank des bunten Flackerlichtes war das hier niemandem aufgefallen. Betrübt stellte er zudem fest, dass er wieder vollkommen nüchtern war.

Er zog sich an den Rand der Bühne zurück und ließ seinen Blick schweifen. Wie viele Personen hatten gerade gesehen, und sei es auch nur im Augenwinkel oder in einer Reflektion, dass Ben hier in der Wand verschwunden war. Nachdem er alle Menschen im Raum gesehen hatte, schloss er die Augen. In seiner Vorstellung schob er die Menschen auf die Position, wo sie zum Zeitpunkt von Bens verschwinden standen.

Erfreut stellte FX fest, dass er Glück im Unglück hatte. Gerade einmal ein Dutzend Leute kamen als mögliche Augenzeugen in Frage. Und löschen musste er nur die Erinnerung von wenigen Sekunden, das fragliche Zeitfenster war sehr klein und klar definiert, denn Bens Verschwinden ging glücklicherweise schnell und routiniert von statten. Die Erinnerungen der wenigen Menschen zu löschen, die in Frage kamen, war schnell erledigt, das konnte er im wahrsten Sinne des Wortes fast im Vorbeigehen erledigen.

Zu seiner Freude stellte er fest, dass einer der Kandidaten auf seiner Liste bei Henne am Tisch stand und dass sie sich sehr angeregt unterhielten. FX war neugierig, wer das wohl sein könnte. Sie hatten, von wenig tiefgründigen Gesprächen bei Vorlesungen oder in der Mensa, noch keine weiteren Kontakte geschlossen. Zu vertieft waren sie im Lernen und Arbeiten für die Klausuren. Und immerhin waren sie schon ganze drei Semester an der Uni. Aber so richtig vermisst hatte offensichtlich niemand eine weitere Freundschaft. In ihrer kleinen Welt zu viert waren die Freunde offensichtlich mehr als glücklich. Doch was noch nicht war, konnte ja werden. FX jedenfalls freute sich schon darauf, neue Menschen kennen zu lernen.

FX beschloss, all seine Kandidaten im Keller, bei denen ein kleiner Gedanke vergessen werden musste, abzuklappern und dann einen Schlenker an der Bar zu machen. Sein Plan war dann, mit vier Bier bewaffnet zu seiner Gruppe dazu zu stoßen und dann bei dem letzten möglichen Zeugen die paar Sekunden Erinnerung zu löschen und sich gleich in deren Gespräch einzuklinken.

Das Vergessen von wenigen Sekunden war weder gefährlich für denjenigen, den es betraf noch aufwändig für den, der es durchführen musste. FX musste die Person lediglich kurz am Kopf berühren und schon waren die fraglichen zwei Sekunden aus der Erinnerung verschwunden. Und bei dem Gedränge hier auf der Party war es ein Leichtes, einen anscheinend ungewollten Körperkontakt zu realisieren. Sein Gipsarm und dessen unhandliche Handhabung waren ihm dabei sogar sehr hilfreich.


Henne unterdessen fand Gefallen an den Beiden. Im Gegensatz zu ihm und seinen Freunden waren sie jedoch nicht mit einem Stipendium an dieser Uni, sondern bezahlten die Studienbeiträge ganz regulär. Oder besser gesagt ließen sie durch ihre Eltern bezahlen. Sowohl Emil als auch Paul kamen aus gutem Hause, wie sie selbst ironisch zu betonen pflegten. Ihre Familien waren ziemlich wohlhabend, konnten auf eine lange Tradition und einen großen Stammbaum zurückblicken. Es war ein auffälliger Zufall, dass sowohl Emil als auch Paul jeweils das Nesthäkchen in der Familie waren. So konnten sie sich vieles erlauben, was sie mitunter auch schamlos ausnutzten.

Erstaunlicherweise hatten sie vieles gemeinsam und sie waren sich auch ziemlich ähnlich. Leider auch in der Hinsicht, dass sie beide in ihnen Familien nicht geoutet waren und dieses Vorhaben beide auch als ‚unmöglich’ eingestuft hatten. Dieser traditionsreiche Stammbaum hatte offensichtlich einen gigantischen Nachteil für manche.

Sie kannten sich schon seit der Oberstufe, konnten ihre Beziehung am Internat jedoch noch gut verheimlichen. Jetzt, an der Uni und fern ab von ihren Familien wollten sie jedoch ein bisschen offener leben und waren immer noch ganz berauscht von dieser neu erworbenen Freiheit.

„Was ich ja immer noch nicht verstanden habe …”

Henne machte eine etwas ausladende Geste, als er eigentlich vor hatte und stieß ein paar Flaschen auf dem Tisch um. Die Anzahl leerer Flaschen auf dem Tisch hatte deutlich zugenommen, dafür ebenfalls das Gewicht seiner Zunge. Zwar war noch keiner der Drei besoffen, jedoch hatten sie mittlerweile eine sehr gute Partystimmung erreicht und mittlerweile bereit, alle Probleme der Welt zu lösen.

„Was ICH ja immer noch nicht verstanden habe ist”, Emil unterbrach Henne, der gerade dabei war das Flaschen-Domino wieder herzustellen. „Wie halten eigentlich Deine Haare? Und wie lange stehst Du denn morgens vor dem Spiegel?”

„Tjaaa, das hättest Du wohl gerne gewusst, was? Also, das ist ganz einfach. Es braucht natürlich etwas Übung, aber wenn man das mal drauf hat, dann braucht man für die Frisur von heute Abend etwa … uuuhhh… uuufff...”

Henne fasste sich an den Kopf. Zunächst nur mit einer Hand und massierte seine Schläfe, aber als das keine Besserung brachte, drückte er beide Handflächen gegen seinen Kopf, als wolle er vermeiden, dass dieser platzte.

„Henne, alles klar?”

Paul bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, zumal ihn das Thema Haare auch nicht sonderlich interessierte.

„Ja, nein … ooohhh... aaauuu… ich weiß nicht, ich habe nur plötzlich ... uuuaaa… so krasse ... puuuhhh… Kopfschmerzen.”

„Wie? Einfach so? Sollen wir vor die Tür gehen? In den Gängen ist die Luft besser, als hier im vollen Gewölbe.”

„Keine … ooohhh... Ahnung … uuuooo… Es fing auf ein Mal ... pfff… ganz plötzlich an … uuuhhh...” Henne presste beide Fäuste an seine Schläfen und atmete tief durch. „Sch… uuuooo...”

Henne verstummte. Und erstarrte. Vor Schmerzen hatte er sich leicht vorgebeugt, mit seinen Händen immer noch den Kopf festhaltend.

„Henne, alles klar? Geht’s wieder?”

„Ja, keine Ahnung, was das gerade war. Das war wie Nadelstiche in meinem Kopf. Das hatte ich ja noch nie!”

„Sicher, dass Du das noch nie hattest? Das kann vielleicht ein Hirntumor sein oder so etwas.”

Obwohl er selbst einen ganz anderen Weg eingeschlagen hatte, hinterließ die Arzt-Familie von Emil dennoch deutliche Spuren und eine sehr profunde medizinische Allgemeinbildung.

„Neee, das ist wirklich das erste Mal.”

Henne schüttelte seinen Kopf um sicher zu gehen, dass die Schmerzen wirklich verschwunden waren. Im Augenwinkel sah er dabei, wie FX Richtung Theke schritt. Er winkte ihm zu, hob die Hand und spreizte drei Finger ab.

„Ihr wollt doch auch noch eins, oder? Auf den Schreck muss ich erstmal ein bisschen kühlen.”

„Hej, aber Du weißt schon, dass wir hier sehr gute Ärzte an der Uni haben, oder? Und die sind für alle da. Auch wenn man ein Stipendium hat, ist man hier kein Mensch zweiter Klasse. Also, wenn morgen oder die nächsten Tage nochmal so was passiert, dann geh auf jeden Fall zum Doc, okay?”

Emil klang sehr ernst und kein Funken Spaß war in seiner Mine erkennbar.

„Alles klar, versprochen. Großes Indianerehrenwort!”

Henne hob die Hand zum Schwur, sah FX wie er sich von hinten den beiden Näherte und lächelte ihn an. Emil und Paul, die nichts von FX wussten, dachten, dass das Lächeln ihm galt und erwiderten es froh.

“Aber das mit den Menschen zweiter Klasse stimmt auch nur auf dem Papier. In der Realität gibts hier durchaus mal eine Abweichung von der hehren idealen Vorstellung.”

FX hatte die vier Flaschen Bier zwischen die langen Finger seiner gesunden Hand geklemmt und stand nun hinter den neuen Bekannten von Henne. Mit einem Finger der anderen Hand tippte er dem rechten größeren der beiden mit den wasserstoffblonden Haaren wie geplant ganz leicht auf dem Hinterkopf und schon waren seine Erinnerungen an den Moment von Bens und Michels Verschwinden für immer verblasst.

Im selben Augenblick brach Henne auf der anderen Seite des Tisches bewusstlos zusammen und blieb regungslos am Boden liegen.

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