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Quartett

Teil 26 - Weich

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32. Weich

Ben war außer sich vor Freude, hatte er doch gerade einen Doppelsieg errungen: Zum ersten Mal und dann auch noch vollkommen problemlos hatte er es auf Anhieb alleine geschafft, sich mit fremder Materie zu verschränken und in die massive Steinwand des Partygewölbes einzutauchen. Und dann lag er mit seiner Vermutung auch richtig, dass er auch fremde Materie, und damit auch andere Menschen, ebenfalls mitnehmen konnte. Und auch das war ihm problemlos gelungen, denn er hatte Michel mit sich in die Wand genommen. Zu allem Überfluss schaffte er das Ganze auch noch nach solch einer emotionalen Achterbahnfahrt mit einem Auf und Ab, wie er sie noch nie erlebt hat. So viel sexuelle Erregtheit, dicht gefolgt von einer Frustration nach der nächsten. Neben all der Freude, die er empfand, musste er sich schon sehr wundern, dass er die Verschränkung mit Michel gerade auf Anhieb so reibungslos hinter sich gebracht hatte.

Eigentlich wollte er ja nur alleine sein mit Michel. Er wollte mit ihm Knutschen und seinen unwiderstehlichen und durchtrainierten Körper von oben bis unten liebkosen. Er wollte ihn streicheln und küssen, ihn anknabbern und schmusen. Und das alles ungestört und jetzt. Leider war der Partykeller mit der Semester-Ende-Party nicht der idealste Ort für diese Aktion, wie er im Laufe des Abends feststellen musste. Seiner Ungeduld war es geschuldet, dass er nicht erst umständlich mit Michel in ihr Apartment gegangen war, um sich dort ungestört ihrer Lust hingeben zu können. Nein, stattdessen war sein Plan, mit Michel in ungestörter Zweisamkeit in den massiven Gemäuern der Universität zu verbringen, indem er kurzerhand dank seiner Fähigkeiten eine Abkürzung nehmen und mit seinem Liebhaber in der Wand verschwinden wollte.

Soweit hatte sein Plan zu seiner eigenen Überraschung auch perfekt geklappt. Jedoch hatte er nicht bedacht, dass die Interaktion, war man erst einmal mit anderer Materie verschränkt, durchaus eingeschränkt war. Würde er Michel jetzt loslassen, so seine Vermutung, würde ihn die Materie wieder wie einen Fremdkörper ausspucken. Zumindest hatte er FX bei seinen Übungen so verstanden. Wenn die beiden verschränkten Materien nur ungleich genug waren, wie hier Menschen und Steine, so würde das weniger dichte Material, also der Mensch, aus dem anderen Material, der Wand, wieder herausgespuckt werden. Theoretisch. Dennoch wollte Ben das Risiko nicht eingehen, dass er sich irrte. Außerdem wäre Michel dann ja auch wieder weg und sie hätten wieder nichts voneinander.

Auch war die Kommunikation in diesem Zustand der Materieverschränkung schwierig. Erst jetzt, wo sie in der Mauer steckten, erinnerte sich Ben daran, dass FX zu ihm zwar gesprochen hatte, aber dass er das direkt in seinem Kopf getan hatte. FX hatte irgendwie ihrer beider Gedanken verschmolzen oder was auch immer. Jedenfalls konnte Ben so etwas definitiv nicht. Mit anderen Worten war Kommunikation gerade vollkommen ausgeschlossen. Ben war froh, dass Michel ihm anscheinend so weit vertraute, als dass er hier in der Mauer nicht in Panik geriet. Denn beruhigen konnte er ihn gerade nicht.

Und zu allem Überfluss kam dieser Sprung in die Wand für Michel total unerwartet. Ben hatte ihm nicht erklärt, was er vorhatte, sondern es einfach gemacht. Und so war Michel total irritiert. Dennoch konnte Michel spüren, wie langsam aber stetig gerade eine Art von Panik in ihm aufstieg. So ganz normal schien diese Situation, in die Ben ihn gebracht hatte, nicht zu sein. Und er wusste auch nicht mit Sicherheit, ob sein Freund hier wirklich wusste, was er gerade tat.

Michel konnte jetzt plötzlich durch die Steinmauer hindurch in das Partygewölbe blicken, wie durch einen leichten Schleier. Und auch sonst konnte er, als hätte er Röntgenaugen, in alle Richtungen blicken. Er sah keine Wände mehr, sondern erkannte lauter transparente Schleier und dahinter sah er Menschen und wieder Menschen. Und auch die waren alle irgendwie leicht durchsichtig. Er blickte nach oben und konnte den sternenklaren Nachthimmel und den Vollmond sehen, obwohl er sich gerade im Partykeller im vierten Untergeschoss befand.

Michel wusste nicht, was geschehen war. Er wusste nur eines: Er wollte raus aus dieser Situation, weg von hier. Er spürte nun mehr als deutlich, wie Panik in ihm aufkam, spürte, wie sein Herz immer kräftiger und schneller zu schlagen begann. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und er wollte Ben sagen, dass er sofort an die frische Luft wollte.

Doch seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er öffnete den Mund, sprach etwas, aber kein Laut drang hervor. Er hörte nichts und auch Ben machte nicht den Eindruck, dass er etwas gehört oder gar verstanden hätte. Und wieso überhaupt klammerte Ben ihn so dermaßen fest? Mit beiden Händen hatte er seine Oberarme fest im Griff. Man konnte das Weiße an Bens Knöcheln erkennen.

Ben. Er schien der Einzige zu sein, der nicht halbtransparent war. Alles andere und jeder war durchsichtig. Nur er und Ben nicht. Michel war verwirrt, war kurz davor, die Orientierung in Raum und Zeit zu verlieren. Es blieb für ihn nur ein einzig logischer Schluss, solange er überhaupt noch logische Gedanken fassen konnte. Jemand musste ihm etwas in sein Getränk gemischt haben. Michel wollte hier weg. Raus. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als zu zappeln und er versuchte, sich von Bens Klammergriff zu lösen. Mehr als verwundert musste er feststellen, dass sein Freund hier anscheinend mehr Kraft hatte, als er ihm zugetraut hatte. Michel war doch derjenige, der jeden Tag im Fitnessstudio trainierte, nicht Ben.

Ben wusste, dass er Michel nicht viel länger festhalten konnte. Er war einfach zu stark und trainiert für ihn. Noch sorgte das Überraschungsmoment für einen kleinen Vorteil für ihn. Aber jetzt, wo Michel in Panik das Zappeln anfing und die ersten Befreiungsversuche vornahm, musste Ben eine Entscheidung treffen. Und zwar schnell. Denn er konnte es nicht zulassen, dass Michel unkontrolliert den physischen Kontakt zwischen ihnen beiden unterbrach. Wenn sie sich trennten, dann sollte es ordentlich geschehen, und nicht in mitten einer meterdicken Steinwand.

Mit ein paar schnellen Blicken in alle Richtungen überprüfte Ben die Lage um sie herum. Zurück zur Party, wo sie gerade hergekommen waren, war keine Option, denn die Nische, in der die beiden Freunde gerade versucht haben, sich näher zu kommen, war längst von einem anderen Pärchen mit denselben Absichten besetzt worden. Blieb also nur der Weg weiter durch die Wand in den nächsten Raum oder aber die Wand entlang und schließlich raus zum Flur.

Michel drohte Ben zu entgleiten, so sehr versuchte er sich mittlerweile zu befreien. Mit weit aufgerissenen Augen und einem Gesicht was durch einen lautlosen Schrei zu einer Fratze versteinert schien, wurde Ben von seinem Freund angestarrt. So hatte er sich die Flucht in ein stilles Eckchen für ein Bisschen Zweisamkeit bestimmt nicht vorgestellt. Die Situation drohte ihm zu entgleiten. Also entschied sich Ben kurzerhand für den kürzesten Weg durch die etwa zwei Meter dicke Mauer in den nächsten Raum, was auch immer dort sein mochte. Er zerrte Michel also mit sich, nur ein paar Schritte weiter in das nächste dunkle Gewölbe.

Mit dem Verlassen des Mauerwerks gelang es Michel schließlich, sich los zu reißen. Unmittelbar danach ploppte er heraus aus der achten Dimension und zurück in den Raum. Ben folgte ihm auf den Fuß, auch wenn seine Rückkehr kontrolliert und gewollt ablief. Zeit für eine Freude über diesen weiteren Erfolg blieb jedoch nicht, er musste sich im Michel kümmern, denn das letzte, was er von seinem Freund gesehen hatte, als sich noch verschränkt waren, machte ihn große Sorgen.

Es war stockfinster in dem Nachbargewölbe. Seine Augen waren noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, denn in der achten Dimension, wenn man mit anderer Materie verschränkt war, gab es auch kein explizites Hell oder Dunkel. Die ganze Zwischenwelt war in ein angenehm gedämpftes Licht getaucht, welches sehr gut auszuhalten war. Hier, zurück in der dritten Dimension dagegen, war es jedoch absolut dunkel. Es roch nach Schimmel und abgestandener Luft. Instinktiv griff Ben zu seinem Telefon und aktivierte die Taschenlampenfunktion.


FX hatte gerade wie geplant die Erinnerung an Bens Verschwinden von einem Dutzend Gästen gelöscht. Er war mit vier Flaschen Bier an das Fass zu Henne und seinen neuen Freunden zurückgekehrt und hatte mit einem sanften Fingertipp an den Kopf eines der beiden Freunde die letzte Erinnerung an Ben gelöscht, als Henne zeitgleich auf der anderen Seite des Tisches bewusstlos zusammenbrach.

„Scheiße, Henne, was ist los?”

FX hatte die Flaschen auf das zum Stehtisch umfunktionierte Fass abgestellt und war drum herum zu Henne gelaufen, noch bevor die anderen Beiden überhaupt etwas sagen konnten oder sich auch nur zu Henne hinunter gebeugt hatten.

Er kniete sich neben seinen Freund und schüttelte ihn leicht an den Schultern, während er weiter zu ihm sprach.

„Henne, hörst Du mich? Wach auf!”

„Er hat vor ein paar Minuten plötzlich Kopfschmerzen bekommen”, Emil hatte sich mittlerweile zu den beiden hinunter gebeugt. „Davor war er die ganze Zeit über normal und quietschfidel.”

„Kopfschmerzen? Wann fing das an? Wie sah das aus? Was hat er gesagt? Wie fühlte es sich an?”

FX ließ seinen Blick nicht von Henne ab und fühlte nun seinen Puls, während er Emil unzählige Fragen stellte.

„Ich weiß auch nicht so ganz genau. Wir haben uns ganz normal unterhalten und dann hat er plötzlich mitten im Satz vor Schmerzen kurz aufgehört zu sprechen. Und dann wieder weiter geredet.”

„Sein Herz schlägt ganz regelmäßig und kräftig. Er atmet auch normal. Zwar flach aber regelmäßig. Wir müssen hier erst einmal raus aus dem Trubel.”

FX blickte umher und sah aus seiner gebeugten Haltung heraus nur Beine und Hintern der anderen Partygäste. Hennes Ohnmachtsanfall war glücklicherweise weitestgehend unbemerkt geblieben.

„Los, raus auf den Gang mit ihm. Da ist mehr Platz und bessere Luft.”

FX wollte Henne hochheben, als Paul ihn an seinem Gipsarm festhielt.

„Wir tragen Henne, das ist vermutlich einfacher, als wenn Du das machst, okay?”

„Nein.” FX Antwort kam ruhig, aber es lag so viel Gewicht in ihr, dass den beiden sofort klar war, dass er keinen Widerspruch duldete. „Ich trage Henne. Das geht, glaub mir. Ihr geht voraus und macht bitte den Weg frei.”

Ohne auf eine Antwort zu warten, griff FX mit beiden Armen unter Hennes Oberkörper und hob ihn hoch, als wöge er nur wenige Kilogramm. Emil und Paul übernahmen sofort ihre neue Aufgabe und sorgten zu zweit dafür, dass sie zügig durch das Gedränge zum Ausgang kamen, während FX mit Henne auf dem Arm in deren Windschatten folgte.

Der Vorraum zum Partykeller war deutlich leerer und auch die Musik war hier kaum noch zu hören. Der Gang erstreckte sich in beide Richtungen viele Meter zu den jeweiligen Treppenhäusern in den Ecktürmen. Da rechts herum, also Richtung Norden, wo weniger los war, bog die Gruppe in diese Richtung ab und FX legte Henne ein paar Meter weiter in den Eingang zum nächsten Gewölbe vor eine verschlossene Eichentür.

„Ich gehe los und hole einen Arzt.”

Emil wandte sich zum Gehen.


Ben leuchtete nach recht, nach links und konnte außer jeder Menge alter verstaubter Möbel und unzähliger Spinnweben nichts sehen. Er hatte erwartet, dass Michel hier direkt neben ihm sein müsste, jedoch konnte er ihn nirgends sehen.

„Was um alles in der Welt war das denn?”

Das atemlose Keuchen von Michel aus dem Nichts erschreckte Ben zu Tode, dass er fast sein Telefon fallen gelassen hätte. Noch im Sturzflug konnte er es jedoch wieder auffangen und fand dabei Michel, der auf dem Boden in einem Haufen Staub und Dreck saß.

„Michel, da bist Du ja!”

Bens Erleichterung war ihm förmlich anzumerken. Er wischte sich den Schweiß weg, der ihm aus Angst um das Verschwinden seines Freundes in die Stirn geschossen war.

„Nein. Ich bin hier”, sagte Michel und zeigte demonstrativ auf dem Boden, wo er gerade saß. „Ich sollte allerdings da sein!” fügte er grimmig hinzu und deutete vage in die Richtung, in die er den Partykeller vermutete.

„Michel, ich kann das erklärn ...”

„Das hoffe ich sehr für Dich! Was war das den jetzt für ein Zaubertrick?”

Michel war aufgestanden und mit dem Wort ‚Zaubertrick’ warf er Ben eine Hand voll Staub ins Gesicht, die beim durchgeschwitzten Ben auch sofort an dessen Stirn kleben blieb.

„Es … Es … Es tut mir leid! Ich wollte doch nur …”

„Du Idiot! Was auch immer Du wolltest, ich hoffe, es war nicht das hier! Wo sind wir überhaupt? Haben wir wieder eine neue Geheimtür gefunden oder was? Und wieso hast Du mich die ganze Zeit so umklammert? Irgendwer hat mir was in mein Bier gekippt. Ich hatte gerade den Trip meines Lebens! Immerhin bin ich jetzt wieder klar im Kopf. Was war das für ein Teufelszeug?”

Michel wischte sich mit dem Handrücken über seine Stirn und massierte mit je zwei Fingern rechts und links seine Schläfen, weil er befürchtete, dass ihn nach den KO-Tropfen gleich eine Welle von Kopfschmerzen überrollen würde. Jedoch passierte nichts dergleichen. Sein Gehirn funktionierte ausgezeichnet.

„Diggi, nein, keine KO-Tropfen, keine Geheimtür. Lass uns erstmal raus hier. Is voll ekelig hier. Und wo is denn mein Board?”

„Du!”

Michel trat ganz nah an Ben heran und sah ihm dabei tief in die Augen. Ihre Nasen berührten sich fast und Michels Augen füllten den Sichtbereich von Ben vollständig aus.

„Du und Dein beschissenes Board! Leuchte lieber, dass wir hier irgendwo ne verdammte Tür finden, damit wir aus diesem dreckigen Loch wieder heraus kommen können. Und dann schultest Du mir noch eine Antwort!”

„Da isses!”

Voller Freude hüpfte Ben ein paar Meter weiter in den dunklen Raum und bückte sich gerade nach seinem Skateboard, welches in einen anderen Haufen aus Dreck und sonstigen Überresten gerollt war.

„Dein Board wird Dich nochmal umbringen”, seufzte Michel und gab Ben in dem Augenblick, wo er sich nach seinem Skateboard bückte, einen leichten Tritt in den Hintern, so dass dieser das Gleichgewicht verlor und ebenfalls in den Dreck fiel. „Da ich mir ziemlich sicher bin, dass es Deine Schuld ist, dass wir hier sind, ist das erstmal die Rache für mein Aussehen.”

Mittlerweile hatte auch Michel sein Telefon aus der Hosentasche gezogen und betrachtete seine vollkommen verdreckte Hose im Schein der Taschenlampe. Da er sich kurz zuvor sein weißes Hemd aufgerissen hatte und von den Liebkosungen von Ben erregt und durchgeschwitzt war, waren nun sowohl sein Hemd als auch sein ganzer Oberkörper komplett paniert in Staub und Schmutz.

„Diggi, Du Arsch!”

Ben war Kopfüber hingefallen und seine ganze rechte Seite war von oben bis unten komplett schmutzig. Aber dennoch hielt er sein Skateboard fest in der Hand und war nicht gewillt, es wieder los zu lassen.

„Die Party ist so ja wohl gelaufen.”

Michel seufzte und leuchtete den Raum weiter ab.

„Da ist die Tür. Ich hoffe für Dich, Ben, dass die offen ist, sonst werde ich so lange Deinem Kopf dagegen hauen, bis sie auf geht, das kannst Du mir glauben!”

Michel öffnete die schwere Eichentür, die zu seiner Verwunderung nicht abgeschlossen war und wäre fast über den davor liegenden Henne gestolpert.

Emil war bereits weiter zum Treppenhaus gegangen, als er von FX zurückgerufen wurde.

„Nein, warte noch einen Augenblick, bitte. Er atmet ganz tief und regelmäßig, weshalb wir noch … Michel?”

Verwirrt, dass sich die Tür öffnete und ein vollkommen verdreckter Michel im Rahmen stand, blickte FX nach oben.

„FX, was machst Du denn hier? Und was ist überhaupt mit Henne los? Hej Emil, Paul. Ich dachte, ihr wolltet noch etwas quatschen?”

„Die beiden haben damit nichts zu tun. Er ist einfach so zusammengebrochen. Hatte vorher wohl noch starke Kopfschmerzen und dann … Wo hast Du Ben gelassen?”

„Der ist noch da hinten und macht sein Board sauber. Prioritäten muss man vorziehen.”

Ohne sich umzudrehen zeigte Michel mit dem Daumen nach hinten ins Dunkel über seine Schulter.

„Und was macht Ihr in dem Keller hier? So attraktiv scheint der nicht zu sein, wenn ich Dich so anschaue. Egal, darüber sprechen wir später.”

FX unterbrach sich selbst, als Henne anfing sich zu bewegen.


Eine Stunde später saßen die vier Freunde frisch geduscht in einem der vielen öffentlichen Kaminzimmer der Universität, die auf allen Ebenen der Universität verteilt waren. Zurück zur Party wollte niemand mehr. Aber auf einen Abbruch des Abends und dann im Stillen auf dem Sofa liegen hatte ebenfalls keiner der Freunde Lust. Daher entschieden sie sich für ein Kaminzimmer als Zwischenlösung. Die meisten anderen dieser kleinen Zimmer waren durch knutschende Liebespärchen besetzt, aber nach kurzer Suche waren sie schließlich erfolgreich und so machten sie es sich in vier großen Ohrensessel um das knisternde Kaminfeuer gemütlich.

Sie ließen das beruhigende Flackern des Feuers auf sich wirken und erst als die angenehme Wärme sie alle durchdrungen hatte, ergriff FX das Wort.

„Ich glaube, heute Abend ist verdammt viel passiert ...”

In Erwartung, dass FX gleich fortfahren würde, schwiegen die anderen und warteten neugierig ab, was ihr Freund als nächste Berichten würde.

„Henne, Du weißt, was heute passiert ist?”

Nach einer kurzen Pause fuhr FX fort und blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue hinüber zu Henne.

„Naja, ich hab auf einmal tierische Kopfschmerzen bekommen, so dass ich davon ohnmächtig geworden bin.”

„Allerdings. Aber das war jetzt nur die Grobfassung. Was waren das denn für Kopfschmerzen? So welche, wie Du sie morgen auch hättest, wenn die Party normal weiter gegangen wäre? Wie hat sich das angefühlt?”

„Neee, das war kein Kater oder so. Nicht wie sonst, wo man einfach nur den Eindruck hat, dass einem gleich der Schädel platzt oder so. Das war eher so wie Nadelstiche. Ganz kurz. Ganz definiert. Pieks, rein, raus, weg.”

„Pieks, rein, raus, weg …”

Nachdenklich wiederholte FX die Worte seines Freundes und blickte regungslos in die Flammen des Kaminfeuers. Er hatte gerade so eine Vermutung, die sein Herz vor Freude schneller schlagen ließ. Er wollte seine Freunde nicht zu lange auf die Folter spannen, aber er musste noch ein paar Kleinigkeiten prüfen, bevor er seine Theorie bestätigen und offenbaren konnte.

„Du meinst, das hat sich so angefühlt, als wenn man Dir mit dem Finger in die Seite gepiekst hätte, nur dass es halt nicht in deine Seite war, sondern mitten ins Hirn?”

Praktischerweise saß Henne zu FX’ Linken, so dass er zur Visualisierung seiner Frage ihm zeitgleich mit dem Finger freundschaftlich in die Seite piekste.

„Hej, ja, genau. Hör auf, das kitzelt.” Henne lachte kurz auf um gleich darauf ernst hinzuzufügen: „Naja, bei mir im Kopf hat’s aber nicht gekitzelt.”

Ben und Michel verfolgten das Frage-und-Antwort-Spiel der beiden wortlos aber sehr aufmerksam. Es war mittlerweile schon spät in der Nacht, der Zahl der Studenten auf dem Flur nach zu urteilen war die Party aber noch voll im Gange. Üblicherweise endeten die Semester-Partys nie vor Sonnenaufgang, so dass allen noch genug Zeit blieb, vielleicht doch noch eine kurze Stippvisite auf der Tanzfläche zu machen, sofern dazu überhaupt noch Lust bestand.

Michel fand es zwar total spannend, FX bei der Recherche nach der Ursache von Hennes Ohnmachtsanfall zuzuschauen, aber irgendetwas fehlte. Es war deutlich aufregender, als irgendeine Fernsehserie. Es war schließlich live und in Farbe, aber trotzdem fehlte etwas zu seinem Glück und einer spannenden Unterhaltung.

„Will jemand ein Bier? Ist zwar ganz gemütlich hier und total spannend, aber ich glaub, ich brauche etwas Schmierstoff.”

„Guter Plan, Diggi, GmbH.”

Ben grinsten Michel herausfordernd an und machte eine aufscheuchenden Handbewegung. Auch er hatte mittlerweile Durst bekommen. Sein letztes Getränk war schon Stunden her, lange bevor er mit Michel durch die Wand ging. Diese Schmach hatte er natürlich nicht vergessen, hoffte aber, dass er sie mit etwas Alkohol dämpfen konnte. Hennes Gesundheit war derzeit definitiv wichtiger, als sein verpatzter Liebesabend mit Michel. Die Fortsetzung der Knutscherei konnte noch etwas warten, jetzt war erst einmal Henne die Hauptperson des Abends. An Michel würde er sich heran machen, wenn sie zu Bett gehen würden.

„GmbH?”

Michel sah Ben irritiert an.

„Geh mal Bier holen.”

Ben intensivierte seine wedelnde Handbewegung und Michel verließ mit nach oben verdrehten Augen das kleine Kaminzimmer.

Innerlich konnte sich FX einen kleinen Freudenschrei nicht verkneifen. Nach außen hin blieb er jedoch vollkommen emotionslos und ließ sich nichts anmerken. Jetzt fehlte nur noch ein kleiner Test und dann konnte er seinen Freunden endlich die frohe Botschaft überbringen.

Für die letzte Prüfung von Henne wechselte FX in die Gefühlsebene und hielt mit seinen empathischen Fähigkeiten nach seinem Freund Ausschau. Er war schon länger nicht mehr hier gewesen und die pure Farbenwelt aus Emotionen, in der hier jedes Lebewesen erschien, beeindruckte ihn immer wieder. Selbst die Maus, die er in dieser Welt hinten unter dem Schrank im Kaminzimmer wahrnahm, hatte eine kleine grau-braune Aura um sich herum.

Eigentlich benötigte er als Empath diese bunte Visualisierung nicht. Kein Empath brauchte so etwas. Schließlich ging es in dieser Ebene nur darum, Gefühle der anderen wie Angst oder Freude von anderen Wahrzunehmen. Dennoch empfand FX die bunte Visualisierung der Grundhaltung von Lebewesen in der Empathie-Ebene immer faszinierend.

Als er seine Freunde das letzte Mal hier in dieser Ebene gemustert hatte, waren ihre Auren alle verschiedenfarbig, von ihrem Durchmesser her etwas größer als ein Fußball, was durchaus einer normalen Größe entsprach. Henne war der schwarz-blaue, das merkte FX sofort. Nicht, weil er sich die Farben gemerkt hatte, sondern weil die Größe seiner Aura im Vergleich zu damals deutlich zugenommen hatte. Und genau das war für FX jetzt als Beweis seiner Theorie vollkommen ausreichend.

Er wechselte zurück in die reale Welt und wandte seinen Blick erstmals wieder vom Kamin ab und blickte Henne direkt in die Augen.

„Ich nehme an, Du möchtest sofort die volle Wahrheit erfahren. Keine Geschichte, keine Ausflüchte?”

„Die Wahrheit?” fuhr Henne ihm ins Wort. „Definitiv! Keine Spielchen, keine Tricks, keine Geschichten!”

Er klang absolut entschlossen in dem, was er sagte.

„Diggi, wollen wir nich vielleicht noch auf Michel warten. Der is doch nur kurz ...”

Weiter kam Ben nicht, denn er wurde von Henne unterbrochen.

„Ben, ‘tschuldige, aber ich wüsste gerne sofort, warum ich vorhin im Partygewölbe ohnmächtig geworden bin. Das können wir Michel nachher auch nochmal erklären. Aber ich will das jetzt wissen.”

Den letzten Satz sprach er herausfordernd in Richtung FX, der das sogleich als Aufforderung nahm, seine Theorie offen zu legen.

„Du bist ein Empath.”

Es folgte Stille.

Ben war ganz aus dem Häuschen und rutschte nun nervös in seinem Sessel hin und her. Gerade wollte er zum Sprechen setzen, als er unwirsch von Henne unterbrochen wurde.

„Keine Geschichten, FX! Bitte. Du hast es versprochen. Ich hab es mir gewünscht.”

Henne klang sehr angespannt und die Wut lag ihm deutlich in der Stimme.

„Henne, Du bist ein Empath. Das ist die Wahrheit. Wenn ich es etwas theatralischer ausdrücken soll: Du hast übernatürliche Kräfte. Du bist ein Mutant. Nenn es wie Du willst. Der Fachbegriff dafür lautet schlichtweg ‚Empath’. Ben?”

Der so angesprochene nickte nur stumm. Ben wusste, dass er jetzt besser nichts sagen sollte. Zu gut konnte er sich an sein eigenes Coming Out erinnern, was nur wenige Wochen zurück lag. Coming Out? Er überlegte kurz. Ja, so ganz abwegig war es nicht. Da war etwas in ihm, an ihm, was er vermutlich schon immer in sich hatte, was aber erst jetzt an die Oberfläche gekommen war. Daher könnte man es wirklich als ein Coming Out bezeichnen. Er lehnte sich zurück und schmunzelte. Er konnte durch Wände gehen. Das hatte er vor gut einer Stunde gerade eindrucksvoll bewiesen. Und das war cool! Das war sogar sehr geil! Endlich mal etwas, womit man angeben konnte.

Sein erstes Coming Out, als er sich damals seinen Skater-Freunden offenbart hatte, dass er schwul war, war hingegen weniger cool gelaufen. Genauer gesagt stellte er kurze Zeit später fest, dass die vermeintlichen Freunde wohl keine richtigen Freunde waren.

Er verfluchte diesen Sommertag in der Halfpipe so sehr. Sie saßen erschöpft und durchgeschwitzt am oberen Ende und beobachteten die anderen Jungs und Mädels wie sie ihre Stunts übten, als Ben irgendwann den Mut aufbrachte und seinen Freunden, die um ihn herum saßen erzählte, dass er eher auf Typen stehen würde als auf Frauen. Da war er 16. Die verbleibenden zwei Jahre seiner Schulzeit verbrachte er dann eher alleine denn in seiner Clique. Die hatte sich nämlich dazu entschieden, ihn nicht mehr in seiner Mitte haben zu wollen. Mit seinem Coming Out hatte er keine Clique mehr.

Dieser Ausschluss von seinen Freunden belastete ihn so sehr, dass er die meiste Zeit damit beschäftigt war, den Fehler bei sich selbst zu suchen und nicht verstand, dass nicht er das Problem war, sondern die Engstirnigkeit seiner angeblichen Freunde. Neben seiner Seele litt auch die Schule unter seiner Grübelei, so dass er sein Abitur nur mit Ach und Krach schaffte.

Nach den schlechten Erfahrungen in seinem Freundeskreis traute er sich auch nicht mehr, seinen Eltern davon zu erzählen. Deren Unmut über das mehr als knapp geschaffte Abitur war es auch zu verdanken, dass sie einen Antrag auf ein Stipendium an dieser Elite-Universität stellten. Ihre Hoffnung war es, dass ihr Sohn Ben in dieser abgelegenen Einrichtung sowohl seine Bildung als auch sein anscheinend so verkorkstes Leben wieder gerade rücken könnte.

Eigentlich, so musste Ben gerade innerlich schmunzeln, hätte ihm gar nichts Besseres passieren können. Denn so verrückt, wie sein Leben seit seinem Coming Out gelaufen war, so genial war es doch bisher geworden. Ben war glücklich!

„Ben verfügt ebenfalls über spezielle Fähigkeiten ...”

Bens gedanklicher Ausflug in seine Vergangenheit endete abrupt und er fand sich wieder im Kaminzimmer mit FX und Henne wieder.

„Und dass ich nicht ganz normal bin, muss ich Dir ja nicht erzählen.”

FX konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Und Michel?”

Das war wieder typisch Henne, dachte FX. Denkt als letztes an sich selbst!

„Gute Frage, nächste Frage. Ich weiß es nicht. Er weiß es vermutlich auch nicht. Aber das wird früher oder später schon noch herauskommen. Aber es ist auch egal. Erstens kann man so etwas nicht erzwingen oder erlernen. Und zweitens macht es auch keinen anderen Menschen aus Dir. Aber vielleicht solltest Du Dir erst einmal über Dich selbst Gedanken machen?”

„Was’n eigentlich ein Empath?”

Ben schlug sich überrascht selbst auf den Mund. Eigentlich wollte er das gar nicht laut sagen, aber irgendwie war sein Mund mal wieder schneller als sein Gehirn. Peinlich berührt blickte er FX und Henne an und vergrub sich tief in seinen Sessel.

Ermahnend hob FX den Zeigefinger. Zum Einen, weil Ben sich in die ziemlich intime Situation der Beiden eingemischt hatte, zum Anderen aber auch, damit Ben nicht wieder aus Versehen in die Materie des Sessels eindringen und sich mit dieser verschränken sollte, wie er es damals im Urlaub das erste Mal in FX’ Auto getan hatte.

„Also, ganz platt gesagt kann ein Empath Gefühle, Emotionen oder sogar Gedanken anderer wahrnehmen.”

„Ich kann Gedanken lesen?”

„Dann wärst Du definitiv ein Wunderkind! Aber es ist nicht auszuschließen, dass Du das irgendwann kannst. Genau wie ein Muskel ständig trainiert werden muss, damit er leistungsfähiger wird, muss auch diese Fähigkeit kontinuierlich trainiert und ausgebaut werden. Und genauso wie in der Muckibude ist auch das Trainieren von empathischen Fähigkeiten sehr anstrengend.”

Ben rollte mit den Augen. Er hasste dieses Wort ‚Training’. Immerhin war seines jetzt hoffentlich vorbei, nachdem er es ohne fremde Hilfe geschafft hatte sowohl sich selbst als auch Michel in die achte Dimension zu hieven. Außerdem würde sich FX jetzt ja auch auf Henne konzentrieren müssen, so dass er jetzt aus der Schusslinie heraus war. Entspannt lehnte er sich etwas tiefer in den Sessel.

„Das Lesen von Gedanken oder gar das Manipulieren von Gedanken ist vermutlich die Königsdisziplin der Empathie und ganz genau betrachtet auch nur ein Randgebiet davon. Die häufigste Form hingegen ist das schnelle und zuverlässige Identifizieren von Gemütszuständen wie zum Beispiel Angst, Unsicherheit, Freude.”

Henne blickte etwas resigniert drein.

„Klingt banal, weil Du denkst, dass das jeder Mensch kann, aber Du bist in der Lage, das für jeden beliebigen Menschen herauszufinden. Du als Empath musst ihn dafür weder sehen noch kennen! Nimm doch mal dieses Kaminzimmer hier. Genau hinter diesem Kamin gibt es ein weiteres Kaminzimmer, nur spiegelverkehrt. Konzentriere Dich drauf. Was fühlst Du dort? Ganz spontan?”

„Zwei Menschen. Ein Mann und eine Frau. Beide im selben Sessel. Sie ...”

Henne beendete seinen Satz vor lauter Überraschung nicht. Stattdessen blickte er verwundert und überrascht in FX’ Lächeln. Henne war irritiert und überrascht über sich selber. Wie konnte es sein, dass er wusste, was im Nachbarzimmer vor sich ging.

Aber was er gerade sagte, fühlte sich absolut korrekt an. Hätte man ihn gerade nach der Tageszeit gefragt, hätte er mit der gleichen Selbstsicherheit geantwortet. Umso erstaunter war Henne über sich selbst, dass er offensichtlich durch Wände blicken konnte. Nein, das stimmte so nicht, korrigierte er sich selbst. Die Wand zum anderen Zimmer war nach wie vor genauso undurchdringlich, wie zuvor auch. Dennoch spürte er die Nähe der beiden Menschen im anderen Raum so, wie man die Nähe eines Menschen bemerkt, der direkt hinter einem steht.

„Genau, die knutschen wild nebenan herum. Und woher weißt Du das?”

„Keine Ahnung. Es fühlte sich so richtig an. Ich hab sie gespürt. Beide. Ihre Nähe. ”

„Genau! Gar nicht so schwer, oder? Du wirst im Laufe der Zeit lernen, wie man noch mehr Informationen heraus bekommt, indem man einfach nur achtsam ist. Und alleine, weil ein Empath solch eine Fähigkeit schon besitzt, ist das sehr wertvoll. Man kann zwar nicht durch Wände sehen, aber durch sie hindurch fühlen! Die zweite Stufe ist schon etwas kniffliger. Man kann Gefühle auch beeinflussen. Pass auf ...”

FX hob seinen Zeigefinger und zeigte plötzlich in Richtung des Kamins beziehungsweise auf das im anderen Raum befindliche Pärchen, als man plötzlich ein schrilles aber eindeutiges männliches Kreischen hörte.

„Und? Was ist passiert?”

FX blickte fragend zu Henne hinüber.

„Der Typ hat sich gerade zu Tode erschreckt!”

„Hej, das war einfach, das hat selbst Ben mitbekommen. Was fühlst Du?”

„Er hat Angst. Vor einer Spinne! Es muss eine Monsterspinne sein, so wie der Schiss hat!” Ungläubig fuhr Henne fort: „Und drüben ist vermutlich keine Spinne, oder?”

„Die Perfektion ist es schließlich, wenn man fremde Gedanken oder besser gesagt Gefühle in die Köpfe von anderen einpflanzen kann. Natürlich ohne, dass man dabei bemerkt wird. Gefühle sind mächtig. Gefühle sich in der Regel mächtiger als Gedanken. Gedanken sind Fakten. Aber Gefühle sind nicht greifbar. Sie können Fakten umschließen und sie unsichtbar machen. Fakten verschwinden mit richtigen oder falschen Gefühlen. Ben zum Beispiel würde unter normalen Umständen nie den Popel essen, den er sich gerade aus der Nase geholt und zu einer wunderschönen Kugel geformt hat.”

Ben, der bis gerade eben noch mit angezogenen Knien im Sessel saß und gedankenverloren etwas Kellerdreck von vorhin aus seiner Nase geholt hatte und zwischen zwei Fingern hingebungsvoll zu einer Kugel gerollt hatte, hielt plötzlich inne.

Angeekelt schnippte Ben den Popel ins Kaminfeuer und sah FX wütend an. Er wusste auch nicht, was gerade in ihn gefahren war, aber irgendwie hatte er plötzlich das unglaubliche Bedürfnis danach das, was er aus seiner Nase geholt hatte, genüsslich zu verspeisen. Er wusste, dass das total eklig war, dennoch verschaffte ihm alleine der Gedanke gerade in diesem Augenblick eine bemerkenswerte Befriedigung. Es war, als würde ihm damit der beste Orgasmus seines Lebens in Aussicht gestellt werden. Nie im Leben würde er auf die Idee kommen, so etwas ekliges zu tun, aber dennoch hatte er es gerade fast getan. Und dass, obwohl er weder Stimmen im Kopf gehört hatte noch anderweitig dazu aufgefordert wurde. Er hatte es, so glaubte er zumindest, aus vollkommen freien Stücken getan, weil es ihm die Glückseligkeit schlechthin in Aussicht gestellt hatte. Er hatte das gerade wirklich freiwillig vorgehabt – dachte er zumindest.

Dann wurde ihm klar, dass er das bestimmt nicht freiwillig tun wollte und dass es kaum etwas ekeligeres geben würde auf der Welt. Ben holte Luft um etwas zu sagen, wurde aber von FX überholt.

„Nein, Ben, sowas mache ich nicht noch einmal. Und nein, auch Gedankenlesen gehört sich unter Freunden nicht und auch das mache ich nicht noch einmal. Das war nur zu Demonstrationszwecken. Sorry Diggi.”

„Und … Und und und ... Und was war das gerade auf der Party?”

Henne war total verwirrt. Das waren gerade zu viele Informationen auf einen Schlag, die er gerade verarbeiten musste.

„Tja ...”

FX fuhr sich mit der Hand durch seine Dreads und brachte sie wieder richtig in Schwung, so dass sie eine ganze Weile wild herum wippten.

„Daran war ich leider schuld, muss ich sagen. Und unser lieber Freund Ben hier!”

Anklagend blickte er zu Ben hinüber, der jetzt wieder hellwach und aufrecht im Sessel saß.

„Ich? Nie! Diggi, ich hab nix gemacht!”

Michel kam als Retter in der Not mit vier Flaschen Bier herein und sorgte so dafür, dass Ben aus der Schusslinie verschwand. Natürlich ahnte Ben, worauf FX gerade hinaus wollte, weshalb er Michel dankbar war, genau jetzt in die Situation wieder herein zu platzen.

Ben sprang aus seinem Sessel heraus und stand mit einem Satz vor Michel, der vor Schreck zurückwich und die Tür schloss.

„Diggi, Du glaubst gar nich, was wir gerade erfahren haben!”

„Vermutlich habt Ihr auch gerade den Typen aus dem siebten Semester gesehen, wie er schreiend in lauter Panik über den Gang gelaufen ist. Der quiekte ja, als sei er von einer Tarantel gestochen worden! Aber ich hab erstmal unser Bier mitgebracht!”

„Jo, neee, also jo, das war FX. Aber was ich eigentlich sagen wollte, Diggi is ...”

Ben kam einfach nicht zu Wort.

„Soso, FX der Stecher, ich wusste doch immer, dass Du es faustdick hinter den Ohren hast. So schlecht sieht er echt nicht aus, aber ist der nicht etwas alt für Dich? Außerdem war der nebenan doch mit seiner Freundin zugange, oder?”

FX wusste nicht so recht, ob Michel ihn nun ärgern wollte, oder ob er es ernst meinte, aber Ben versuchte erneut, sich Gehör zu verschaffen.

„Diggi, wasn für’n Stecher überhaupt? Wir haben hier nix gemacht. Wir sind nich aus dem Kaminzimmer raus. Aber FX hat uns verraten, wieso Henne zusammengebrochen is auf der Party und … Oh, danke, Prost ...”

Ben nahm die Flasche Bier entgegen, trank einen Schluck ohne zu warten, bis die anderen ebenfalls Prost gesagt hatten und fuhr in einer Tour fort zu sprechen.

„Also eigentlich hat er noch gar nich gesagt warum der Henne umgekippt is, aber jedenfalls hat er gesagt, dass er Gedanken lesen kann und er hat auch den Typen nebenan manipuliert und ich musste meinen Popel essen und das war ganz eklig und dann wollte er ...”

„Ben”, Henne war aufgestanden und drückte Ben sanft aber bestimmend in seinen Sessel zurück. „Du solltest das Atmen zwischendrin nicht vergessen. Und während Du atmest, kannst Du Dir Deine Sätze vielleicht etwas mit Punkt und Komma zurechtlegen. Meine Güte, was bist Du denn so aufgeregt? Lass doch den armen Michel überhaupt erstmal ankommen.”

„Ich war doch gar nicht so lange weg, oder?” Michel kratzte sich am Hinterkopf und nahm nun ebenfalls in einem der Ohrensessel Platz. „Also, ich hab anscheinend den Höhepunkt verpasst. Wer klärt mich jetzt auf?”

Nachdem FX und Henne abwechselnd die letzten Erkenntnisse auch mit Michel geteilt hatten, schüttelte dieser nur kurz den Kopf und meinte scherzhaft: „Also da ist man mal kurz weg und Ihr dreht in dieser Zeit das ganze Leben von unserem Freund hier auf den Kopf? Euch kann man echt nicht alleine lassen!”

„Aber wieso ich jetzt diese Kopfschmerzen hatte, hast Du mir immer noch nicht erklärt, FX.”

„Stimmt, an der Stelle wurden wir vom Service-Personal unterbrochen. Danke Michel! Und an dieser Stelle kommt Ben nämlich ins Spiel!”

Ben, der sich bis gerade eben noch mit angezogenen Beinen im Sessel verkrochen hatte, saß nun kerzengerade aufrecht und starrte FX erwartungsvoll an.

„Wasn? Ich?”

„Ach komm, jetzt tu nicht so scheinheilig. Erzähl den Beiden, was Du kannst und danach, was Du getan hast!”

Und so gab Ben seinen Freunden einen kurzen Abriss über seine neuen Fähigkeiten, dessen er sich zwar schon länger bewusst war, aber die ein längeres Training benötigten, bis er sie endlich nutzen konnte. Er begann seine Ausführung im Urlaub, wo er zum ersten Mal spontan und ungewollt etwas in FX’ Auto versank über das Fiasko, wodurch FX ihm ein neues Tattoo bescherte. Selbstverständlich konnte er es sich nicht nehmen lassen, das neue Tattoo auch zu zeigen, weshalb er sich kurz entblößte und allen stolz seinen Rücken präsentierte.

„War mir doch irgendwie so, als wenn das Tattoo irgendwie schärfer, also weniger verschwommen ist oder so. Ich hab’s neulich beim Planschen im Whirlpool gesehen, dachte aber, dass ich mich getäuscht habe.”

Henne schüttelte nur ungläubig den Kopf und strich fast geistesabwesend und automatisch über Bens Rücken. Ehrfürchtig fuhr er langsam mit seinem Finger einzelne Linien des Tattoos ab, um schließlich Bens gesamten Rücken vorsichtig zu streicheln.

Jetzt war es wiederum Michel, der gedankenverloren ins Kaminfeuer starrte, und sich dann plötzlich an Ben wandte.

„Willst Du mir damit sagen, dass Du mich vorhin durch die Wand gebeamt hast?”

„Ach, Du warst die zweite Person!”

FX hatte vorhin im Keller definitiv zwei Personen gespürt, die in die achte Dimension gewechselt waren. Allerdings konnte er sich keinen konkreten Reim darauf machen, wer denn die andere Person gewesen sein könnte. Nun hatte sich auch diese Identität geklärt.

„Jo, Diggi, tschuldige. Ich hätte Dich vorher fragen sollen, aber ich war voll genervt von den vielen Leuten da und ich wollte doch nur ungestört mit Dir rummachen.”

Verlegen schaute Ben auf seine Füße und vermied jeglichen Blickkontakt mit Michel oder seinen anderen Freunden.

„Hej, Ben, ist ja durchaus ein hehres Ziel, aber Du hättest mich schon vorher fragen können, findest Du nicht? Das war etwas frech und auch ein Stück gewaltsam, wie Du mich da mitgenommen hast.”

„Ich weiß”, ein tiefer Seufzer kam von Ben, den Michel korrekterweise als Entschuldigung interpretierte. „Aber es hat ja eh nich geklappt wie ich wollte.”

„Lass mich raten, Ben”, FX ahnte schon, was Ben vorgehabt hatte und warum es nicht hätte funktionieren können. „Du wolltest Dich zusammen mit Michel verkrümeln, indem Du Euch mit der Wand verschränken wolltest? Das hat dann aber insofern nicht geklappt, als dass Ihr in der achten Dimension dann nicht mehr rummachen konntet, richtig?”

Ben nickte zur Bestätigung stumm und starrte weiter seine Schuhe an, während FX fortfuhr.

„Dann seid Ihr im Nebenkeller wieder zurück in die dritte Dimension, wart komplett verdreckt, weil der Raum nicht benutzt wurde und habt dann die Tür geöffnet und seid auf uns gestoßen. Gratuliere!”

„Doofmann, Diggi, vielen Dank auch!”

Eine gehörige Portion Sarkasmus schwang in Bens Stimme mit und als er FX anblickte, hatte er seine insofern Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Diese Schadenfreude seitens FX konnte er gerade gar nicht gebrauchen. Natürlich wusste er im Nachhinein selbst, dass das nie hätte klappen können. Aber das konnte er vorher ja nicht ahnen.

„Hej, Ben, ich meinte das vollkommen im Ernst! Weißt Du, wie lange andere Leute brauchen, bis sie auch nur ihre eigene Hose mit rüber nehmen können? Geschweige denn größere Gegenstände oder gar andere Menschen? Und Du hast das alles gleichzeitig mit Deinem ersten Sprung alleine geschafft! Also wenn das keine Meisterleistung ist, dann weiß ich es auch nicht.”

Es breitete sich Schweigen aus und ein jeder versuchte die vielen Ereignisse der letzten Stunden für sich in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Nur das Knistern des Kaminfeuers und das Klappern der Bierflaschen störte die Stille von Zeit zu Zeit.

„Da ich ja wohl anscheinend der einzig normale und langweilige Mensch in der Gruppe bin …”

Michel wollte eigentlich alles noch einmal laut zusammenfassen, wurde jedoch von FX sofort unterbrochen.

„Michel, Du bist genauso normal und genauso langweilig, wie wir alle hier auch.”

„FX, ich weiß, was Du mir damit sagen willst, aber auch Du weißt genau, was wiederum ich meine. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Ben kann durch Wände gehen, Henne kann Gedanken lesen und Du bist Gandalf der Graue und der Oberzauberer. Sehe ich das richtig?”

„Das ist etwas sehr vereinfacht und überspitzt, aber da wir alle wissen, was Du meinst, ist das erstmal okay, ja.”

Bestätigend nickte FX und seine Dreads tanzten wieder wie wild auf seinem Kopf.

„Und was war nun mit meinen Kopfschmerzen? Und meiner Ohnmacht?”

„Ach ja, ein offenes Ende gab es ja noch.”

FX wechselte in seinem Sessel etwas die Position, zog die Beine an und hakte seinen Gipsarm darum, während er mit der anderen Hand nach der Bierflasche angelte. „Also, Ben hat ungeschützt und mitten in der Öffentlichkeit seine Kräfte eingesetzt. Das ist verboten. Ich, als sein Lehrer hätte ihn entweder vorher drauf hinweisen, oder aber es verhindern müssen. Beides ist offensichtlich nicht passiert.”

„Autschn, das gab Mecker, was Diggi?”

Ben kniff die Zähne zusammen und wedelte mit der Hand, als hätte er sich gerade die Finger geklemmt.

„Ja, es gab etwas Ärger, in der Tat. Ich schulde dem Club einen Gefallen und musste natürlich das Geschehene etwas korrigieren. Genau zwölf Leute haben vorhin überwiegend unbewusst oder nur im Augenwinkel gesehen, wie Ihr verschwunden seid. Und bei diesen Leuten musste ich ein paar Sekunden ihre Erinnerung löschen.”

„Du kannst … Ach, was frag ich eigentlich.”

Henne beendete seinen angefangenen Satz selbst, bevor er ihn überhaupt zu Ende gesprochen hatte und deutete FX an, dass er fortfahren möge.

„Da Henne ein Empath ist, reagiert er besonders sensibel auf die Gemütszustände anderer Menschen. Ihr könnt Euch denken, dass das Löschen von Erinnerungen nicht unbedingt das angenehmste ist, was es gibt. Die Betroffenen mögen das nicht bemerkt haben, weil es nur einen kurzen Bruchteil ihrer Erinnerungen betraf. Aber Henne, der deutlich sensibler ist, hat es sehr wohl bemerkt. Der letzte Kandidat, bei dem ich eingreifen musste, war der Emil. Und da sich die beiden schon recht lange und intensiv unterhalten hatten, hatte Henne eine sehr starke empathische Bindung zu ihm aufgebaut, daher war auch die Reaktion eine entsprechend extrem deutlich.”

Diese Erklärung klang für alle logisch. Henne ging sogar einen Schritt weiter und kombinierte folgerichtig.

„Du meinst also, ich hätte genau ein Dutzend Mal diesen Kopfschmerz gehabt?”

„Korrekt, Henne. Wobei das zwölfte Mal Dein Ohnmachtsanfall war.”

„Krass, Diggi. Und nu? Geh’n wa noch tanzen?”

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