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Quartett

Teil 20 - Besuch

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26. Besuch

Das Techtelmechtel zwischen Ben und FX war längst vergessen oder besser gesagt in weite Ferne verdrängt. Der Alltag der Uni hatte sie schneller wieder, als sie es für möglich gehalten haben. Es war jetzt das zweite ungerade Semester und keiner hatte sich an die schier unglaubliche Menge an Lehrstoff gewöhnt. Dennoch, sie hätten an diesem Abend so gerne weiter gemacht. Viel weiter. Und auch Henne und Michel fanden die Show, die ihnen überraschenderweise geboten wurde, alles andere als unattraktiv. Sie standen bestimmt schon zwanzig Minuten in der Tür und beobachteten die beiden bei ihrem hemmungslosen knutschen.

Nur Michel konnte sich irgendwann das Räuspern nicht verkneifen. Zwar verspürte er genauso wie auch Henne eine enorme Anspannung in der Hose, und genau deswegen musste er dem ganzen Einhalt gebieten. Denn er hielt es einfach nicht mehr aus, zu groß war der Druck, der langsam in Scherz überging. Mit einem leichten Räuspern bereitete er dem Treiben ein Ende, wobei er sich sehr wohl bewusst war, dass er sich den Unmut der Anderen auf sich ziehen würde.

Und schneller, als sie glaubten, waren sie wieder zurück im harten Alltag der Uni. Ihr drittes Semester hatte sie voll im Griff, die Professoren versuchten, das letzte aus ihren Studenten heraus zu bekommen und sollten damit auch erfolgreich sein. Vorlesung am Morgen, Vorlesung am Nachmittag, Lernen am Abend. Tagein, tagaus. Das war ihr Alltag, denn die Klausuren am Semesterende nahten unaufhaltsam. An Freizeit war kaum zu denken. Und wenn, dann waren diese glücklichen Momente schnell vergessen.

Michel schaffte es dennoch irgendwie, sich seine tägliche Stunde im Fitnessraum der Uni zu reservieren und seinen ohnehin durchtrainierten Körper weiter zu optimieren. Diese Stunde Sport am Abend war ihm heilig, weshalb auch niemand der anderen es in Frage stellte, wenn er sich immer zur gleichen Zeit abseilte. Die anderen Freunde waren jedoch deutlich weniger diszipliniert. Während Michel mal wieder Gewichte stemmte, versuchten Henne, Ben und FX ihre Gedanken in der Cafeteria in andere Bahnen zu lenken und den Kopf etwas frei zu bekommen. Bei einem Sandwich und einer Brause saßen sie in einer Ecke des Raumes in ein paar Clubsesseln um einen kleinen Kaffeetisch.

Während Henne und Ben jeweils mit dem Rücken zur Wand saßen und einen optimalen Blick auf das Geschehen in der Cafeteria hatten, nahm FX im verbleibenden Sessel platz und saß seinerseits mit dem Rücken zum Raum. Es juckte ihn sehr, sich in die Köpfe seiner Freunde hineinzuversetzen und einen Blick durch ihre Augen in den Raum zu werfen. Zu gerne würde er wissen wollen, wen der sonst anwesenden Studenten sie sich herausgepickt hatten und musterten. Ja, würden sie ihr ‘Opfer’ vielleicht im Geiste sogar ausziehen und sich nackt vorstellen? FX’ Gedanken bogen in verwirrte Bahnen ab und er war kurz davor, sich wirklich in die Köpfe seiner Freunde zu beamen, so umtriebig war er gerade.

Aber die grandiose Sauerei, die Ben just veranstaltete, als er in sein Sandwich biss, ließ ihn laut auflachen. Der gesamte Belag des Doppeltoasts rutschte hinten aus dem Brot heraus und landete größtenteils auf dem Teller. Aber eben nur größtenteils. Ein kleiner Rest rutschte über den Tellerrand hinaus und landete auf Bens Hose.

„Och nö! So ein Mist!”

Bens Enttäuschung war groß, das Sandwich schien wohl lecker zu sein. Aber in den vollständigen Genuss kam er leider nicht. Denn auch seine Zahnspange hatte sich ihre Ration einverleibt und so hingen dort nicht unerhebliche Reste des Sandwichs wie Lametta am Weihnachtsbaum von seinen Zähnen herunter.

Laut lachend prustete FX los, hatte er doch gerade sein Glas angesetzt um einen Schluck zu trinken. Nun versprühte er jedoch den Inhalt gleichmäßig auf sich und seine Umgebung, da er die Lachsalve definitiv nicht unter Kontrolle bekommen konnte. Der frustrierte Ben, um die Integrität seines Sandwichs kämpfend und gleichzeitig unfreiwillig den Mund mit Essensresten voll zu haben, war einfach ein Bild für die Götter.

Ben war mit seiner Situation komplett überfordert und wusste nicht an welcher Stelle er zuerst ansetzen sollte. Sandwich wieder zusammenbauen, Hose von der leckeren Soße befreien, die Brause von FX aus seinem Gesicht trocknen oder aber seine Zahnspange reinigen und damit die letzten leckeren Bissen ebenfalls noch hinunterschlucken. Am liebsten hätte er alles gleichzeitig wieder in Ordnung gebracht.

Henne setzte nun seinerseits ebenfalls zu einem Lachanfall an, denn als unbeteiligter konnte er die Schadenfreude bestens auskosten. Diese unerwartete Show schien mit jedem Augenblick neue lustige Facetten zu bekommen. Diese ganze Szene war dermaßen komisch, dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte. Ben mit seiner Unentschlossenheit war an sich schon ein Bild für die Götter. Er versuchte gerade, all seine Probleme gleichzeitig zu lösen, verschlimmerte aber dadurch seine Situation nur noch. Und FX, der immer noch den Mund halb voll Brause hatte, diese seinen Körper mittlerweile durch das Lachen aber durch die Nase wieder verließ. Die Kohlensäure trieb ihm Tränen in die Augen, die sich FX nur mit Mühe mit der linken Hand abwischen konnte. Henne amüsierte sich köstlich, blickte er abwechselnd nach links und rechts wie beim Tennis und genoss deren unfreiwillige Komik.

Schließlich hatte Ben eine Entscheidung getroffen und stellte seinen Teller beiseite, so dass er immerhin die Hände frei hatte und sich nun um seine Hose kümmern konnte. Auch FX hatte sich soweit beruhigt, dass er schlucken und seinen Mund leeren konnte. Doch die Entspannung währte nicht lang, denn sogleich versuchte Ben, den Sandwichbelag von seiner Hose zu kratzen und aufzulecken. Dazu krümmte er einen Rücken soweit, dass seine Zunge schließlich seine Oberschenkel berührte und er so erfolgreich den Großteil der Soße auflecken konnte.

„Wie geil ist das denn?” Henne prustete erneut los, als er Bens Verrenkung sah. „Hej, kannst Du Dir selbst einen blasen?”

Bei FX setzte das Kopfkino erneut ein. Er stellte sich vor, wie Ben mit heruntergelassener Hose in der Cafeteria saß und sich selbst seinen steifen Schwanz blies. Diese Vorstellung war so lächerlich komisch, dass sich FX vor Lachen erneut den Bauch halten musste und sich in seinem Sessel krümmte. Er hatte Bauchschmerzen aufgrund der nicht enden wollenden Lachsalven und auch Henne erging es nicht besser.

„Ja, kann ich. Ihr seid doof!” Ben quittierte die Anspielung seiner Freude mit einer Grimasse und ignorierte sie daraufhin um sich weiter der oralen Reinigung seiner Hose zu widmen.

Glücklicherweise herrschte in der Cafeteria ein reges Treiben und es gab ein ständiges Kommen und Gehen. Das Hintergrundgemurmel war so laut, dass der Lachanfall und die Verrenkungen von Ben nicht weiter auffielen.

Doch plötzlich hielt FX inne und sein Lachen erstarb abrupt. Weder Ben noch Henne bemerkten dies, denn Ben war nach wie vor mit seiner Hose beschäftigt und Henne mit abwechselndem Lachen und beobachten von Ben. Immer wieder wies er auf Stellen auf Bens Hose, wo immer noch Flecken der köstlichen Soße waren, die Ben noch aufsaugen konnte.

Aber FX hatte bemerkt, wie jemand die Cafeteria betreten hatte. Er hatte ihn zwar nicht gesehen, weil er mit dem Rücken zum Raum saß, aber er hatte ihn eindeutig gespürt. Jemanden, der hier definitiv nicht hingehört.

„Muss das denn sein”, seufzte FX resigniert mehr zu sich selber, als zu seinen Freunden. „Nicht einmal hier und jetzt hat man seine Ruhe!”

„Diggi, was’n los?”

Ben war offensichtlich nicht ganz so sehr in den Reinigungsvorgang seiner Hose vertieft, wie es den Anschein hatte, denn er ließ sofort davon hab, als FX aufgestöhnt hatte. Er hatte ohnehin schon das Meiste der Soße aufgeleckt und gab sich nun mit dem Ergebnis zufrieden. Ein Fall für die Wäsche war die Hose ohnehin, also musste er nicht weiter Energie und Mühe in die vergebliche Reinigung hineinstecken. Außerdem schien es gerade eine willkommene Abwechslung zu geben, die die Aufmerksamkeit endlich von ihm weg und zu FX hin dirigierte.

Jetzt, da Ben sein Treiben beendet hatte, beruhigte sich auch Henne wieder und bemerkte, dass FX sehr ernst dasaß und sich mit einer Serviette die Reste der Brause aus dem Gesicht wegwischte. Sein Gesicht wirkte schmal und irgendwie sah er leicht besorgt aus.

„Kann man Euch nicht einmal alleine lassen, ohne dass Ihr alles auf den Kopf stellt?” Anklagend blickte ein erschöpfter aber frisch geduschter und zufriedener Michel auf das Trio herab. „Was sollen denn die Leute denken? Ben, wie sieht denn Deine Hose wieder aus? Und FX, wieso ist Dein Shirt nass? Henne, Du musst besser auf die Kinder aufpassen ...”

FX freute sich, Michel wieder zu sehen. Er war zwar nicht lange weg, aber es erging ihm immer gleich, wenn einer seiner drei Freunde für etwas länger nicht zugegen war. Irgendwie fehlte etwas. Irgendwie fühlte sich FX nicht komplett, er vermisste einen Teil seiner Selbst. Und andersherum fühlte er sich in Anwesenheit der Drei immer so geborgen, dass er sich total entspannen konnte und bereit war, sich endlich wieder fallen zu lassen. Ein Gefühl, dass er seit langer Zeit nicht mehr hatte. Es war dieses Gefühl der Wärme und des Zuhause seins. Es schien, als habe er endlich wieder das gefunden, was er so lange vermisst hatte. Jedoch mischte sich im selben Augenblick zu der Freude des Wiedersehens für einen kurzen Moment Überraschung und danach Sorge. Sorge um seine Freunde und seine frühere Arbeit. Die Arbeit, die er seit kurzem endlich hinter sich gelassen hatte, und die ihn jetzt gerade wieder eingeholt hatte. Jetzt, wo er es gar nicht gebrauchen konnte und wollte.

Und da war sie wieder: seine Arbeit. Wie ein intrinsischer Reflex schaltete er um in einen professionellen Modus. Ganz so, wie er es gelernt hatte, wie er es seit Ewigkeiten praktizierte. Er machte das, was er eigentlich gar nicht wollte, aber er konnte nicht anders.

Wer genau war der Typ, den er gerade gespürt hatte, als er die Cafeteria betreten hatte? Er traute sich nicht, sich umzudrehen um seine Vermutung zu bestätigen. Stattdessen bediente er sich des Blicks von Henne. Vorsichtig schlüpfte er in dessen Bewusstsein, ohne dass sich dieser den Besuch bemerken würde. Von Hennes Position aus hatte er einen hervorragenden Blick in den Raum und da sah er ihn! Es war einer der Ersis, ein Neuzugang aus dem ersten Jahrgang. Aber er dürfte nicht hier sein. Er war nicht echt. Er war gekapert! Der Typ musste hier weg, ganz klar. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht, darüber war er froh. Aber das sollte jetzt schon das zweite Mal werden, dass er wieder in seine alte Arbeit hineinschlüpfen musste.

Seine Miene wurde ernst und besorgt. Er hatte seine Augenbrauen zusammengekniffen und seine Lippen bildeten nur noch einen schmalen Strich. Er sorgte sich nicht so sehr um seine Freunde, denn die waren nicht in unmittelbarer Gefahr. Aber dennoch war dieser Ersi jemand, der nicht hier sein dürfte! Und so etwas gefiel FX überhaupt nicht. Er liebte die Ordnung, mochte es, wenn man sich an Regeln hielt. Weitestgehend zumindest.

„Apropos aufpassen”, FX antwortete ernst und ohne jeden Humor. „Wir sollten gehen. In ein Kaminzimmer oder zu uns ins Wohnzimmer. Egal. Weg hier. Jetzt.”

„Diggi, ich wollte doch nur die Soße ...”

Ben versuchte es mit einer Entschuldigung, wurde aber jäh von Michel unterbrochen.

„Später, Ben. Ich glaub wir sollten wirklich gehen. FX scheint es ernst zu meinen.”

Ein Blick auf FX verriet allen, dass diese Entscheidung alternativlos war und so verließen sie die Cafeteria und gingen zurück in ihr Apartment. Ben verschwand kurz in sein Zimmer, um einen Augenblick später mit einer sauberen Baggy bekleidet im Bad zu verschwinden.

Während es sich Michel und Henne auf dem Sofa bequem machten und FX beobachteten, nutzte dieser die Gelegenheit für eine kleine Rücksprache.


„Ich hab einen”, murmelte FX ins unendliche Weiß.

Er war alleine in der universellen Vermittlung aber das würde sich bestimmt gleich ändern. Er wusste, dass jeder immer einen Draht hierher hatte um eine Kommunikation jenseits der Grenzen von Raum und Zeit zu ermöglichen.

„Wen?”

Die Stimme erklang noch bevor Eggsy selbst erschien. Innerlich musste FX schmunzeln. Natürlich war es Eggsy, der sich hier blicken ließ. Natürlich konnte Eggsy seinen Schützling nicht alleine lassen. Und natürlich sehnte er sich danach zu wissen, wie es ihm ging und ob es ihm gut ging.

„Kannst Du denn nie abschalten?”

„Nummer 6442.”

FX versuchte, seine wirren Dreads wieder etwas unter Kontrolle zu bringen, aber so richtig gelingen wollte ihm das nicht. Einerseits war er zu aufgeregt, und andererseits war es mit einer Hand fast immer aussichtslos, Ordnung in seine wilde Frisur zu bringen.

„Das sagt der Richtige. Rate mal, woher ich das hab. Immer auf der Hut sein! Du Blödmann! Ich hab ihn nicht einmal gesehen. Ich hab nur seine Anwesenheit gespürt.”

„Sehr gut, dann hat mein Training ja doch ein Bisschen gewirkt!”

Eggsy konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen und zeigte FX all seine Zähne.

„Er hat mich nicht bemerkt. Dafür hab ich schon gesorgt.”

„Du weißt, dass Du ihn sofort zurückbringen kannst, oder? Du musst nicht auf die Chefin warten. Nummer 6442 ist nur Klasse E. Das ist ein Quicky für Dich!”

„Ich weiß. Ich wollte es nur irgendwo loswerden.”

Ein leichter Seufzer entwich FX, was er eigentlich gar nicht wollte. Eggsy hatte schon recht. FX hätte ihn ohne weitere Rückfragen einfach in die Zeit zurückbringen können, in die er hineingehörte. Dieser Mensch war schlichtweg nicht autorisiert, in diese Zeit zu reisen. Das war ein bisschen wie falsch Parken. Man darf es nicht, macht man es trotzdem, wird man abgeschleppt. Da wird nicht lange diskutiert. Und so hätte er es auch machen können: Den Typen festsetzen und zurück verfrachten.

„Wirst Du jetzt rückfällig? Melancholisch? Fehlt Dir Deine Familie?”

Eggsy zog fragend eine Augenbraue hoch und legte den Kopf schief.

„Nein. Ja. Ich weiß nicht.”

FX war verwirrt und wusste nicht, was los war mit ihm. Er wollte nur reden. Aber er wusste nicht, ob Eggsy dafür der richtige war. Aber gerade war er der Einzige, der greifbar war.

„Ich hab viel mehr gefunden, als ich mir je erträumt habe. Ich habe Freunde gefunden. Wundervolle Freunde …”

„Ich weiß!”

„Dennoch fehlt mir irgendwas. Ich weiß aber noch nicht genau, was es ist.”

„Ich weiß es, aber ich sag es Dir nicht.”

„Blödmann!”

„Du weißt selbst, dass Du dahinterkommen wirst. Du hast spannende Freunde. Und Du weißt viel besser als ich, dass in ihnen mehr steckt, als ich weiß. Ich durfte ja nicht.”

Sowohl Eggsy als auch FX erinnerten sich in diesem Augenblick an ihre Begegnung an der Strandbar. FX hatte erfolgreich verhindert, dass Eggsy seine Freunde berührte. Er hatte somit ebenfalls verhindert, dass Eggsy sie las, sie von innen nach außen krempelte und sie analysierte. FX wollte das nicht. Das macht man auch nicht. Besonders bei Freunden nicht! Und schon gar nicht, ohne vorher zu fragen.

Also musste FX auf die umständliche Tour herausfinden, welche Geheimnisse und Fähigkeiten noch in seinen Freunden steckte. Natürlich hätte er sie schon lange lesen können, sie und ihre Fähigkeiten erforschen können. Gelegenheit genug hatte er zweifellos gehabt. Aber das macht man nun einmal nicht.

Bei Ben war er ja schon fündig geworden. Vielleicht hatten ja auch Michel und Henne besondere Fähigkeiten? Er konnte nicht erwarten, dass sie sich endlich zeigten. Er musste nur auf den Zufall warten, genau wie bei Ben. Und danach würde er dann wissen, was seine Freunde konnten und er freute sich jetzt schon auf das Training mit ihnen.

„Sag Bescheid, wenn Du mehr weißt, FX. Und nun verdünnisier Dich. Die Chefin kommt gleich und sie ist noch nicht so gut auf Dich zu sprechen, wie Du weißt.”

„Danke.”

„Wofür?”

„Nur so.”

„Ja, ich leg ja ein gutes Wort für Dich ein, aber das muss ich gar nicht! Du weißt selbst, dass Du gut bist. Und die Chefin weiß das auch. Aber sie ist halt die Chefin und deswegen von Berufswegen mies drauf. Also entspann Dich – Diggi!”

„Hör auf mich zu stalken. Und meine Freunde auch! Und vor allem nenn mich nicht Diggi! Es reicht, wenn Ben das ständig sagt.”

„Ich sehe schon, es geht Dir gut mit Deinen neuen Freunden. Zu gut, wenn Du mich fragst!”

“Dich fragt aber keiner!”

FX war sauer und funkelte Eggsy mit zugekniffenen Augen an. Sogleich spürte er ein Bohren am Hinterkopf. Eggsy wollte rein. Erst vorsichtig, dann mit mehr Gewalt. Aber FX wollte ihn nicht in seinen Kopf hineinlassen. Er wehrte sich und leistete Widerstand. Das Bohren wurde stärker und FX wusste, dass Eggsy noch stärker war als er jetzt preisgab. Aber er wusste auch, dass er dem widerstehen konnte. Nur jetzt vielleicht gerade nicht, denn er war etwas aus der Übung. Aber als kleiner Test war das schon nicht schlecht. Eggsy ließ von ihm ab, hob die Hand zum Gruß und verschwand. Übrig blieb unendliches Weiß und FX war alleine in der Universellen Vermittlung.

„Vielleicht beziehst Du Deine neuen Freunde einfach mit ein in diese kleine Mission”, obwohl Eggsy schon wieder aus dem Weiß verschwunden war, klang seine Stimme noch nach. „Es ist nur ein gewöhnlicher Gauner. Klasse E halt. Ungefährlich. Vermutlich unbewaffnet. Das wäre doch die ideale Gelegenheit, Deine Jungs etwas mit der neuen Welt in Kontakt zu bringen. Also mehr, als sie jetzt schon sind.”

Das darauffolgende Kichern verriet FX, dass er gar nicht mehr antworten musste und dass Eggsy nun endgültig aus dem Weiß verschwunden war. Eine Aktion, die typisch für Eggsy war. Einfach eine Aussage in den Raum werfen und dann abhauen. Diskussionen vermeiden. Tatsachen schaffen.

Seine Freunde mit einbeziehen? War das eine gute Idee? FX war sich unsicher. Er faltete seine langen Beine zusammen und setzte sich im Schneidersitz auf den weißen Boden. Klasse E bedeutete wirklich nur, dass es ein kleiner Gauner war und kein Schwerverbrecher. Er gehörte dennoch nicht hier hin. Und er hinterließ Fransen. Sie hinterließen immer Fransen. Je dilettantischer sie waren, desto mehr Fransen hinterließen sie, die es wieder einzuweben galt in das Gefüge aus Raum und Zeit. Er hatte vermutlich lange sparen oder klauen müssen, bis er sich den Trip hierher leisten konnte. Arme Sau, woher auch immer er kam. Und nun würde FX ihn wieder zurückbringen, wo er hingehörte. Eigentlich eine einfache und ungefährliche Mission.

FX blieb in der unendlichen Weite allein zurück.

„Nun denn”, sagte er mehr zu sich denn zu irgendjemanden, „dann will ich Dich mal wieder heimschicken und die Fransen ausbessern.”


Natürlich war keinem der drei Freunde aufgefallen, dass FX gerade das Raum-Zeit-Kontinuum für einen Ausflug ins Weiß unterbrochen hatte. Keiner der Drei hatte die nötigen Fähigkeiten, diesen Sprung zu bemerken, aber FX hoffte, dass sie das bald erlernen würden oder zumindest ein Gespür dafür entwickeln könnten.

“Alles gut bei Dir, FX? Du hast gerade kurz so abwesend gewirkt.” Henne war vom Sofa aufgesprungen und zu FX im Sessel herangetreten.

„So, alles wieder sauber.” Ben zeigte seine bespangten Zähne und das Metall glitzerte im Licht.

Michel nahm den gedanklichen Faden aus der Cafeteria wieder auf: „Also, FX, was war los, dass Du so schnell da raus wolltest? Hast Du einen Geist gesehen?”

Drei der vier Freunde im Wohnzimmer lachten, nur FX konnte sich ein gequältes Lächeln abringen. Er war erleichtert, dass Henne von Ben und danach auch noch von Michel unterbrochen wurde. Denn anscheinend wurde sein Wunsch schneller Wirklichkeit, als er es sich vorstellen konnte. Oder warum hatte Henne plötzlich festgestellt, dass FX abwesend war. Er hatte in der Tat ‘abwesend’ gesagt und nicht etwas ‘besorgt’ oder ähnliches.

„Ganz so schlimm ist es nicht. Diesmal zumindest. Aber wir haben einen Besucher, der hier nicht hergehört.” FX wischte die Gedanken über Henne beiseite, war sich aber darüber im Klaren, dass er das noch weiter beobachten musste.

In diesem Augenblick hatte FX die gesamte Aufmerksamkeit seiner Freunde auf sich gerichtet und sie warteten gespannt auf die nächsten Erklärungen.

„In der Cafete kam gerade einer der Ersis rein. Und der ist nicht von hier. Oder besser gesagt ist er nicht aus dem Hier und Jetzt.”

FX blickte nach links und rechts in fragende Gesichter. Über seinen Freunden schwebten große Fragezeichen und so richtig hatte keiner verstanden, was er gerade gesagt hatte.

„Hallo? Zeitreisen? Ihr erinnert Euch?”

Es folgte ein zögerliches Nicken.

„Gut. Das Thema ist ja in jedem Science-Fiction-Film ausführlich und mehr oder weniger schlecht behandelt. Jedenfalls sind Zeitreisen natürlich nicht ganz ohne, weil man bei Reisen, besonders in die Vergangenheit, gehörig viel Staub aufwirbeln kann und bei den Zeit-Einheimischen, die nicht Reisen können und auch nicht wissen, dass es so etwas gibt, in der Regel mindestens Verwirrung, wenn nicht sogar Chaos hinterlässt. Wir nennen das Fransen.”

„Jo, logo. Kommt ein Typ aus der Zukunft mit geiler Technologie in unsere Gegenwart, würde ich ihm auch viele Fragen stellen. Oder Diggi? Und sach ma, Diggi, wie hast Du jetzt rausgefunden, dass der Typ nich von hier is? Der zieht doch keine Fransen hinter sich her, oder?”

Ben fand das Thema total spannend und rutschte neugierig näher an FX heran, um ja kein Wort zu verpassen.

“Naja, bildlich natürlich nicht. Aber Du kannst es Dir in etwa so vorstellen, wie jemand, der durch die Wüste läuft und dort seine Fußstapfen hinterlässt. Das fällt halt auf! Die Natur ist durchaus in der Lage, die Fußspuren wieder zu verwischen. Aber wenn es zu viele werden, dann kommt sie halt nicht mehr nach und dann wird's schlecht.”

“Diggi, das kannste jetzt aber Deiner Oma erzählen. Dieses Bild ist so schlecht, das hätte es nicht mal in eine Science-Fiction Serie geschafft!”

“Okay, Ben, Du willst die harten Fakten? Du bekommst die harten Fakten! Also, die Fix-Zeit eines jeden Objektes im Universum ist mit seiner Materie quantenverschänkt und kann nicht geändert werden. Es ist quasi die DNS oder zumindest das unverwechselbare Kennzeichen, aus welcher Zeit etwas oder jemand hergekommen ist. Alles ist einer ganz spezifischen Zeit zuzuordnen. Immer. Ohne Ausnahme. Naja, fast. Aber dazu später mehr. Soweit klar?”

Er brauchte seine Freunde gar nicht mehr anzuschauen, denn FX wusste schon vor ein paar Sätzen, dass er zumindest Michel und Henne verloren hatte. Ben gab sich gerade noch große Mühe, gedanklich mitzuhalten und schlug sich sehr wacker! Und FX musste sich keine Sorgen machen, denn gleich würde er auch die anderen Beiden wieder ins Boot holen. Nun mussten sie allerdings kurzzeitig unter Bens Wissensdurst leiden.

“So, und wenn jetzt jemand aus seiner Fix-Zeit mit irgendeiner Zeitmaschine woanders hinreist, dann bringt er die Unordnung ins System und diese Unordnung ist die Entropie. Habt Ihr bestimmt auch schon mal gehört. Die Entropie kann nur mehr werden. Bla bla bla. Ist natürlich vollkommener Blödsinn. Entropie kann auch weniger werden, wenn man denn Energie reinsteckt. Und jetzt könnt Ihr gleich wieder aufpassen, Henne und Michel.”

“Diggi, Moment. Zeitreisen hat eine Erhöhung der Entropie zur Folge? Also Unordnung? Chaos?”

“Korrekt. Naja, fast. Um ganz präzise zu sein, muss es heißen ‘maschinelles Zeitreisen’. Und damit wir nicht immer von Entropie und Chaos sprechen müssen, nennen wir es einfach viel liebevoller Fransen, die wir wieder ins Raum-Zeit-Gewebe einflechten müssen.”

“Danke, FX, mach mal lieber mit den Fransen weiter, bitte. Bis dahin bin ich nämlich noch mitgekommen.”

Henne, der sich geistig schon ausgeklinkt hatte, war froh, dass er plötzlich persönlich angesprochen wurde und ihm in Aussicht gestellt wurde, dass er der Schilderung wieder folgen konnte.

„Genau.” FX konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, bevor er fortfuhr: „Deswegen hat man schon kurz nach der Entdeckung der Zeitreisen angefangen, das sehr stark zu reglementieren. Parallel dazu hat man den Beruf der ‚Temporalen Wächter’ geschaffen, die sozusagen eine Zeit-Polizei sind. Die passen auf, dass sich erstens jeder in einer fremden Zeit ordentlich benimmt und zweitens, dass nur diejenigen zeitreisen, die das auch dürfen. Und dann gibt’s noch die Spezialeinheit unter den Wächtern, die darauf aus sind, Leute die gegen die temporalen Direktiven verstoßen haben, wieder zurückzuführen. Diese ‚Temporalen Fänger’ jagen also überwiegend Verbrecher und andere Banausen durch die Zeit und sorgen dafür, dass sie in deren ursprüngliche Periode zurückkommen und dort vor ein Gericht gestellt werden.”

Während Henne mit Faszination der Ausführung von FX folgte und ihm quasi jedes Wort von seinen Lippen ablas, drehte die Fantasie von Ben gerade frei und er ließ ihr freien Lauf.

„Lass mich raten, Diggi, Du bist so ein Space-Cowboy!”

„Ja.”

„Neee, echt jetzt, Diggi?”

„Ja, echt jetzt. Ich weiß, Du wolltest mich wieder foppen, aber ‘tschuldige, das ging gerade daneben!”

FX grinste breit und Ben schaute nur verdutzt und sprachlos zurück.

„Ihr wolltet die Wahrheit hören und jetzt gibt’s gerade eine dicke Scheibe davon! Also, das ist so: Ja, ich bin so ein Temporaler Fänger, um das gleich vorweg zu nehmen und damit Ben nicht nochmal so peinlich aus der Wäsche guckt.”

„Du gehörst also einer Eliteeinheit an ...”

Michel, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte, meldete sich erstmals zu Wort. Nur halblaut murmelte er diese Schlussfolgerung für sich heraus, war aber umso erstaunter, dass es die anderen doch gehört hatten.

„Naja, es gibt nicht viele Fänger, von daher ist es vermutlich wirklich eine Eliteeinheit. Aber ich hab mir gerade eine Auszeit genommen. Ich bin hier. Bei Euch.”

„Diggi, Du bist ein Elitesoldat?”

„Stopp! Ich bin bestimmt kein Soldat!”

„Sorry, Diggi ...”

„Ist schon okay, aber es gibt gewisse Ausdrücke, auf die ich Wert lege. Und dass keiner von uns ein Soldat ist, gehört definitiv dazu.”

„Wie viele Fänger gibt es denn?” Henne war neugierig, relativierte seine Frage jedoch gleich wieder. „Ist ja eigentlich auch egal, aber ich will nur wissen, WIE besonders Du bist. Dass Du was Besonderes bist, haben wir mittlerweile wohl alle gemerkt.”

“42.”

„Ha! War ja klar, Diggi!”

Ben klatschte vor Entzückung in die Hände und freute sich, als habe er gerade den ersten Preis in der Lotterie gewonnen. Er sprang lachend auf und drehte im Wohnzimmer eine Pirouette auf seinem Skateboard.

„Ich weiß jetzt nicht, was daran so logisch und klar sein soll”, kam es von Henne kleinlaut, der nur fragende Blicke mit Michel austauschte.

„Ich finde zweiundvierzig Leute für eine Eliteeinheit, die die ganze Welt beschützen muss ziemlich wenig.”

Michel unterstrich seine Skepsis noch, indem er bei der Zahl zweiundvierzig Daumen und Zeigefinger ganz dicht vor seinen Augen platzierte um die kleine Menge zu verdeutlichen und dann die Arme plötzlich ganz weit zu öffnen, als er das Wort Welt aussprach.

„So, Ben, und nun erklär uns bitte erstmal Deinen Freudentanz? Was ist an dieser krummen Zahl so besonders?”

Henne war bei dem ganzen Thema total verwirrt, also richtete er seine Gedanken auf das Naheliegendste und das war Bens Triumphieren.

„Diggi, is doch klar! Zweiundvierzig! Die Antwort auf alle Fragen des Universums! Hallo? Sagt Euch das nichts?”

„Nö” Henne.

„Tut mir leid.” Michel.

Nur FX freute sich, dass Ben tatsächlich die Parallele zum bekannten Roman von Douglas Adams bemerkt hatte. Ben ließ es sich sodann auch nicht nehmen, den beiden einen groben Abriss dieser Geschichte zu geben, bevor er mit einer ausladenden Handbewegung gönnerhaft FX wieder das Wort übergab.

„Danke, Ben, für diese durchaus blumige Schilderung des Romans. Doug wäre wirklich stolz auf Dich gewesen!”

“Diggi, hast Du gerade Doug gesagt? Das klingt, als wärst Du ziemlich vertraut mit ihm.”

“Naja, was denkst Du denn? Glaubst Du, der Typ ist den ganzen Tag bekifft, damit er sich so ein verrücktes Zeug ausdenkt? Nein, natürlich nicht! So viel Blödsinn kann sich ein Mensch nicht alleine ausdenken, das kann nur das reale Leben liefern. Doug ist nicht nur ein genialer Autor, er ist auch ein wunderbarer Zuhörer!”

Ben starrte FX mit offenem Mund an, stieg lautlos von seinem Skateboard herunter und setzte sich wieder aufs Sofa.

“Also, Michel”, fuhr FX fort, “normalerweise hättest Du recht. Zweiundvierzig Menschen sind in einer linearen Welt wirklich etwas wenig, um diese zu schützen und zu retten. Aber wir können halt durch die Zeit reisen und haben somit alle Zeit der Welt!”

Schweigen.

„Ja, ich weiß, man muss sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen und auch mir kommt es hin und wieder vor, dass ich das vergesse.”

„So, Diggi, und wo steht Deine Zeitmaschine? Wann kann man die besichtigen?”

Ben war schon wieder ganz aufgeregt und zappelte vor Ungeduld, was wiederum Henne und Michel auf die Nerven ging, da er sich gerade erst zwischen die beiden gekuschelt hatte.

„Sag mal, kannst Du nicht einmal stillhalten und Dich beruhigen?”

Dementsprechend genervt war auch Michel von der Zappelei.

„Nun lass ihn doch mal, jeder hat halt seine Art, wie er mit solchen spannenden Neuigkeiten fertig wird, nicht wahr?”

Henne säuselte mit lieber Stimme zu Ben und sah ihm tief in die Augen. Dieser erwiderte den Blick dankbar und wollte gerade zu einem „Danke” ansetzen, als Henne ihn mit voller Absicht mit einer beruhigenden Geste durch die Haare strich und Bens mühevoll hergerichtete wirre Skater-Frisur durcheinander brachte.

„Diggi, Du Arsch!”

Ben war außer sich und sprang wie von einer Tarantel gestochen vom Sofa auf und flüchtete auf den Sessel. Mit ein paar gekonnten Handgriffen brachte er seine Frisur wieder in Ordnung, so dass sie aussah, als käme er gerade aus dem Bett.

„Ich fürchte, ich muss Euch enttäuschen.” FX blickte jeden der Drei kurz an, bevor er fortfuhr: „Ich habe keine Zeitmaschine. Wir Zweiundvierzig sind sogenannte native Zeitreisende, brauchen also keine Technik um uns durch die Zeit zu bewegen. Das hat den Vorteil, dass wir unsere Zeitreisen im Einklang mit den Naturgesetzen sind, wir deswegen also auch keine Fransen hinterlassen.”

„Du meinst, Du schnippst einfach mit dem Finger und bist dann in einer anderen Zeit?”

Wieder war es Ben, dessen Vorliebe für Science-Fiction gerade sehr viel mehr an Realität gewonnen hatte.

„So einfach ist es auch wieder nicht. Aber verglichen mit dem Aufwand, den andere treiben müssen, ist es in der Tat ein Fingerschnipp.”

„Nur, damit ich das richtig verstehe und hier nicht abgehängt werde”, Henne fasste es mehr für sich denn für die anderen zusammen, brachte es jedoch auf den Punkt: „Es gibt Zeitreisen.”

„Richtig”, kam es von FX.

„Die meisten brauchen einen Apparat dafür. Einige Auserwählte aber nicht.”

„Auch korrekt. Es sind zweiundvierzig Menschen, um genau zu sein. Immer. Nie mehr. Nie weniger.”

„Du jagst Verbrecher durch die Zeit.”

„Normalerweise ja, ich mache aber eine Sabbat-Zeit.”

„Ein Gauner aus der Zukunft hat sich hierher gebeamt.”

„Korrekt.”

„Du wirst ihn einfangen und wieder zurückschicken.”

„Ja. Es ist das Einfachste, weil ich sowieso schon hier bin.”

„Und jetzt!” Ben grinste, hatte er doch seiner Meinung nach einen genialen Einwurf in die Diskussion gemacht und gleichzeitig Henne das Wort abgeschnitten.

„Ufff, ja, Ben, Du hast recht.”

FX wandte sich von Michel und Henne ab und blickte Ben, der etwas abseits im Sessel saß, direkt an.

“Ja, eigentlich müsste es heißen ‚weil ich sowieso hier und jetzt bin’. Aber glaub mir, das Leben ist als Zeitreisender ohnehin schon viel zu komplex. Da hat man wenig Lust, auch noch die Sprache mitzuschleppen.”

„Aber ich hatte Recht!”

„Ja, und wir unsere Ruhe.” Michel konnte manchmal auch sehr gemein sein.

„Wieso werden es nicht mehr als zweiundvierzig Leute bei Euch?”

Henne brauchte mehr Details, um das Thema zu verstehen und kratzte sich ratlos am Kopf. Ihm fiel keine bessere Frage ein, schwirrten doch tausende in seinem Kopf herum, ohne dass er auch nur eine wirklich greifen konnte. Dieses Thema war mehr als verwirrend für ihn.

„Es ist einfach so. Es ist eine Naturkonstante. Erst, wenn einer von uns stirbt, kommt ein neuer nach. Wir suchen ihn, wir finden ihn und wir bilden ihn aus.”

„Und wenn er keinen Bock auf die Nummer hat?”

„Das ist egal. Wir sind trotzdem zweiundvierzig, von denen einer halt nicht arbeitet. Die anderen übernehmen dann schon seinen Job. Aber es kommt eigentlich nicht vor, dass jemand keine Lust hat.”

„Naja”, Henne blickte FX vorwurfsvoll an, „einer sitzt hier gerade.”

„Touché. Aber ich hab ja nur etwas Urlaub. Den darf man ja wohl mal nehmen, oder?”

„Ich glaub, mir brummt der Schädel.”

Michel drückte sich beide Händen gegen die Schläfen, um seine aufkommenden Kopfschmerzen in den Griff zu bekommen.

„Es ist auch schon spät geworden!”

Henne sah entsetzt auf die Uhr, die auf kurz vor Mitternacht stand.

„Ja, das ist normal. Wenn man über Zeitreisen spricht, vergeht die Zeit immer wie im Fluge ...”

„Diggi, eine Frage hab ich noch bevor wir ins Bett gehen.”

Ben hatte sich in seinem Sessel nach vorne gebeugt und blinzelte FX an. Keiner der drei wusste, ob das was gleich kommen würde, eine ernst gemeinte Frage war oder aber wieder ein schlechter Scherz von Ben.

„Wie alt bist Du?”

Betretene Stille machte sich im Raum breit. Henne und Michel wurde sofort klar, dass diese Frage bei einem Menschen, der durch die Zeit reisen kann, mehr als berechtigt ist.

„Ben ...” FX machte eine nachdenkliche Pause und kratzte sich am Hinterkopf. „Das ist schwierig zu beantworten. Ihr erinnert Euch an Tarragona? Das war 1978, da war ich fünf. Ich weiß, es ist nicht die Antwort auf Deine Frage, aber ich bin 1973 geboren.”

„Stimmt, ich hab's auf der Zeitung gesehen als wir in Deinem Gedankenschloss waren.”

Michel erinnerte sich mit etwas Unbehagen an diese total verrückte Exkursion in FX’ Vergangenheit zurück, als sie auf einem Hügel an der Costa Brava auf das Meer hinausgeschaut hatten. Eigentlich war das im letzten Sommer gewesen, also gerade mal ein halbes Jahr her, in der vorlesungsfreien Zeit nach dem zweiten Semester. Aber es kam allen schon so dermaßen weit weg vor.

„Gedächtnispalast, Diggi.”

„Ja, stimmt. Aber egal, da stand das Jahr auf einer Zeitung an dem Kiosk.”

Eggsys Kiosk, schoss es Michel direkt danach durch den Kopf. Der Eggsy war auch in FX’ Erinnerungen drin. Und er war auch an dem realen Strand wo sie gezeltet hatten. Michel traute sich gar nicht, die Frage zu stellen und sprach daher nur ganz langsam.

„Ist ... Eggsy ... etwa ... auch ...”

„Ja, auch Eggsy ist einer von uns Zweiundvierzig, gut kombiniert, Michel! Aber jetzt sollten wir schlafen gehen. Irgendwie bin ich auch müde.”

„Diggi, Du bist viel älter als Du aussiehst, oder?”

Bens Gehirn lief zu Höchstleistungen auf. Er war gerade alles andere als müde und wollte seine Frage nach dem Alter von FX endlich beantwortet haben.

„Rein rechnerisch müsstest Du schon über 50 sein! Du siehst aber eher aus wie unser Nesthäkchen.”

„Ja, ich weiß”, seufzte FX. „Wir, die nativen Zeitreisenden altern nicht. Wir können uns unser Alter sogar aussuchen!”

Damit hatte FX seine Freunde definitiv beeindruckt. Alle drei starrten FX mit weit aufgerissenen Augen und Mündern an und niemand konnte wirklich glauben, was sie gerade gehört hatten.

„Du willst uns gerade sagen”, Ben sprach seine Worte vorsichtig und mit Bedacht aus, „dass Du unsterblich bist?”

„Nein!” FX musste laut lachen, was bei seinen Freunden die Verwirrung nur noch weiter steigen ließ. „Nein, tut mir leid, niemand von uns ist unsterblich. Definitiv nicht! Sonst kämen ja auch keine neuen auf die Welt. Aber wir leben lange. Wir können entscheiden, wie lange wir leben. Naja, es sei denn, jemand bringt uns um und nimmt uns damit die Entscheidung ab.”

„Ein unendlich langes Leben? Das ist ja genial!”

Henne war ganz verzückt von dem Gedanken und vor seinem inneren Auge spielten sich Szenen ab, die er gerne noch erleben wollte. Verträumt blickte er an die Decke und war plötzlich in einer ganz eigenen Welt.

Jedoch holte ihn FX sehr abrupt wieder in die Realität zurück.

„So genial ist es nicht, wenn man all die Menschen, die man im Laufe der Zeit liebgewonnen hat, nach und nach zu Grabe tragen muss.”

„Oh, shit, Diggi, das ist ja schrecklich!”

„Es ist etwas, woran man sich auch nach unendlich langer Zeit nie gewöhnen wird ...”

Michel, Ben und Henne zuckten überrascht zusammen als sie bemerkten, wie schnell sich FX’ Stimmung von traurig-melancholisch auf nüchtern-rational umstellte.

„Es ist etwas, was man schon sehr früh in seiner Ausbildung lernt. Und es ist auch etwas, woran viele scheitern und freiwillig wieder gehen.”

FX ließ seinen Freunden noch einen Augenblick Zeit, den letzten Satz zu verdauen, bevor er erneut einen Umschwung in seiner Stimmung durchmachte und mit seiner Freude alle anderen ansteckte.

„Und jetzt ist aber wirklich Kuschelzeit!”

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