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Quartett

Teil 10 - Kiosk

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16. Kiosk

„Eggsy!” Langsam wurde FX bewusst, dass er sich gerade etwas zum Affen gemacht hatte. Er wusste nicht, wie oft er schon diesen Namen gerufen hatte, aber es war mit Sicherheit viel zu oft gewesen. Er hatte definitiv nicht damit gerechnet, ausgerechnet diesen Menschen hier an dem verlassenen Strand wiederzusehen. Andererseits war es so verwunderlich auch nicht, schließlich begann ihre gemeinsame Geschichte nur unweit von hier.

Wie lange hatte er jetzt barfuß im Sand gestanden? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er schaute um sich. Wo war Michel hin? Wieso lagen sich Ben und Henne heulend im Arm? Was hatte er denn gerade für eine Show verpasst? Egal, das musste jetzt warten, er würde es später herausfinden. FX verspürte den Drang, Eggsy zu begrüßen, den er im wahrsten Sinne des Wortes seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte.

Er setzte zu einem spontanen Sprint an und legte die gut einhundert Meter in nur wenigen Sekunden zurück, ohne dass jemand davon Notiz nahm. Bei dem Lauf störte ihn sein schwerer Gipsarm überhaupt nicht. Einerseits war der Gips quasi ein Teil seines Körpers, andererseits entsprach die Stellung von seinem Arm so ziemlich genau der Position, die man beim Laufen ohnehin einnahm.

FX stand vor dem Tresen am Kiosk und sah den drahtigen Mann dahinter an. Sie sahen sich tief in die Augen. Niemand gab auch nur einen Laut von sich. Keiner der beiden bewegte sich auch nur einen Millimeter. Die Zeit schien still zu stehen. Die Zeit stand still.

Die Welt um FX und Eggsy herum verschwand und übrig blieb das strahlende Weiß.

„Kotz mir nicht wieder vor die Füße, Kleiner!”

„Wenn du immer noch so schrecklich süße Cocktails machst, dann werde ich das nicht unterdrücken können!”

„Du hast meinen Martini immer verschmäht.”

„Weil ich den lieber vor dem Essen trinke, du aber noch schlechter kochen kannst, als Cocktails mixen!”

„Zugegebenermaßen habe ich andere Qualitäten und größere Herausforderungen als diese.”

„Ja. Mich.”

„Allerdings. Was für eine Bürde!”

„Und immer das letzte Wort.”

„Selbstverständlich!”

Es trennten sie nach wie vor wenige Meter, als sei der Tresen noch da. Doch dann setzten beide gleichzeitig zu einem Sprung aus dem Stand an, überbrückten die trennende Lücke und trafen sich auf halber Strecke mitten im Sprung in der Luft, wo sie verharrten und sich gegenseitig in den Arm schlossen.

Im Weiß gibt es kein Oben und kein Unten, keinen Boden und keine Grenzen. Es ist grenzenlos, jedoch nach wie vor endlich. Aber es ist egal, ob man steht oder wo. Es spielt keine Rolle, ob man springt oder fällt. Die eigene Bewegung wird nur durch die Fantasie eingeschränkt. Es ist alles möglich, man muss es nur tun.

Daher blieben Eggsy und FX auch mitten in der Luft im Sprung einfach hängen, als hätte man einen Film einfach pausiert. Als wäre nichts passiert, setzen sie ihre Unterhaltung in dem eingefrorenen Sprung fort. Für sie war es auch das Normalste der Welt, waren sie im Weiß genauso zuhause wie in der realen Welt. Und dennoch hatten sie sich seit so langer Zeit nicht gesehen.

Zugegebenermaßen hatte FX seine Besuche im Weiß quasi komplett eingestellt, nachdem er seine Auszeit genommen hatte. Lediglich als er den Unfall im geheimen Tunnel hatte, musste er sich ins Weiß zurückziehen, um die Zeit zu bekommen, die er brauchte. Genauso wenig wie der Raum hier Grenzen aufwies, besaß die Zeit hier welche.

„Wie lange haben wir uns nicht gesehen?” FX löste die Umarmung und drückte Eggsy auf Armlänge weg, um ihn genauer betrachten zu können. Seine wachen Augen musterten Eggsys Gesicht genau, doch vermochte er keine Veränderung feststellen.

„Spielt das eine Rolle?”, fragte Eggsy, um sich die Frage gleich selbst zu beantworten: „Ja, tut es, denn du denkst wieder viel zu linear. Was hab‘ ich dir beigebracht? Für uns spielt Zeit keine Rolle! Wir haben alle Zeit der Welt. Im wahrsten Sinne des Wortes sogar.”

FX hatte schon wieder verdrängt, wie vorwurfsvoll Eggsys Stimme klingen konnte. Er hasste diesen Ton, der ein Oberlehrer nicht besser beherrschte. Ein ums andere Mal musste er sich tadeln lassen. Über Jahre hinweg, über Jahrhunderte, denn Zeit spielte keine Rolle bei seiner Ausbildung. Sie war abgeschlossen, wenn er fertig war. Fix und fertig.

„Du siehst, die Auszeit hat mir gutgetan, beziehungsweise sie tut mir immer noch gut. Andersherum habe ich mich gefreut, dass der Club mich auf den Quicky mit dem Jungen eingeladen hat. Ich bin echt aus der Übung, muss ich gestehen.”

„Ja, das war echt keine Meisterleistung von dir an dem Bus. Vier Kraftfelder hast du früher im Schlaf aufrecht gehalten. Ich frage mich, wie man so viel in so kurzer Zeit vergessen kann!”

„Wieso kurze Zeit? Zeit spielt doch keine Rolle!” FX konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen uns zeigte seinem Gegenüber alle Zähne, die er hatte. „Aber du weißt davon? Ach, was frag ich, natürlich weißt du das.”

Nun war es Eggsy, der sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen konnte, um dann noch väterlich hinzuzufügen: „Glaubst du, dass ich meinen Schützling je aus den Augen lassen würde? Ich hab‘ dich großgezogen wie einen Sohn. Solange es in meiner Macht steht, werde ich immer meine schützende Hand über dich halten. Zumindest dann, wenn es richtig heiß wird. Und den Rest musst du schon selbst schaffen. Lernen durch Schmerzen ist anscheinend das Einzige, was bei dir funktioniert.”

FX überlegte kurz, ob er Eggsy die Sache mit der Burg und den geheimen Fluchtgang erzählen sollte, den sie versucht hatten zu erkunden. Damals sah alles so einfach aus, weil dieser Gang anscheinend nicht gesichert war. Ein schmerzhafter Irrtum, wie FX bemerkt hatte. Sein rechter Arm im Gips tat immer noch deutlich mehr weh als üblich. Geistesabwesend strich er sich über die Stelle, aus der vor kurzem noch die Metallspitze ragte.

„Ein einziges Kapitel fehlte in Deiner Ausbildung noch”, tadelte Eggsy, „dann hätte ich dir nichts, aber auch gar nichts mehr beibringen können. Du bist ohnehin schon deutlich stärker als ich. Und als alle anderen. Du weißt hoffentlich, dass du dem Club schmerzlich fehlst. Und die anderen vermissen dich natürlich auch.”

„Ach komm, die vermissen doch nur meine Arbeit!”

„Ja, weil du Trottel ein verrückter Einzelgänger bist!”

„Na, von wem ich das wohl habe.”

Peinlich berührt brach Eggsy seinen noch gar nicht angefangenen Satz ab, um gleich darauf weiter fort zu fahren: „Schüler sind am Ende immer besser als der Lehrer, sonst gäbe es keinen Fortschritt. Und du weißt, dass du der Beste von uns bist. Okay, hier und dort bist du noch nicht perfekt, aber ...”

„Das ist wieder typisch Eggsy. Lass es doch einfach mal ein Kompliment bestehen!”

„Nie! Man muss, nein, dir muss man immer immer immer deine Grenzen aufzeigen, sonst raffst du das einfach nicht.”

FX lief rot an, was sich bei der schneeweißen Umgebung im Weiß noch deutlicher abzeichnete als in der normalen Welt.

„Okay, wenn du irgendwann wieder anfangen solltest mit deiner Arbeit, dann musst du natürlich wieder mächtig trainieren, um zu deiner alten Stärke zu gelangen, aber das ist alles keine Frage der Zeit. Nein, das Einzige, was dir noch fehlt ist das Band. Oder den Finger am Puls oder wie auch immer man es nennen mag. Wenn ich ständig ein Auge auf dich werfen müsste, dann würde ich ja wahnsinnig werden bei all dem Mist, den du verbockst oder wo du dich auch immer herumtreiben magst. Aber mit dem Band, was Menschen verbindet, fühlst du automatisch mit dem anderen, wenn es nötig ist. Glücklicherweise ist man aber nicht immer dabei, sondern nur, wenn es brenzlig wird. Sonst würde ich dann ja auch Sachen sehen, die ich gar nicht sehen möchte!”

Warum nur lief FX jetzt schon wieder rot an? Eigentlich hatte er sich nichts vorzuwerfen. Oder doch? Er musste trocken schlucken, um den Kloß im Hals wieder los zu werden. Eggsy hatte schon oft über das Band gesprochen. Es war weit mehr als die normalen empathischen Fähigkeiten, die viele besaßen. Es war wohl eher eine dauerhafte Verbindung zweier Menschen.

„Mach dir keinen Kopp, ich spioniere dir nicht hinterher. Ja, natürlich habe ich ein Band zu dir gesponnen, was mich mit dir verbindet. Darüber gehen aber nur die Extreme. Extrem schöne Dinge, aber vor allem auch extrem schlimme Ereignisse. Wie zum Beispiel diese Metallspitze in deinem Arm. Das habe ich auch gespürt. Aber Respekt, deine Reaktion funktioniert noch hervorragend! Dein Freund hätte es nicht überlebt und du hättest ihm anders als so auch nicht helfen können, wenn du das Ding nicht aufgehalten hättest.”

Mit einem schmerzverzerrten Gesicht hielt sich FX seinen Arm. Die Gedanken an das Erlebnis in dem Tunnel verstärkten seinen Schmerz noch. 

„Ich hab‘ mich mal umgehört und muss sagen: Chapeau! Du bist nach wie vor der einzige, der die Schmerzen mit sich herum trägt … Das macht sonst keiner im Club hier. Also mit anderen Worten: Du bist der einzige Verrückte von uns!”

Obwohl Eggsy ihm erneut eine verbale Klatsche erteilt hatte, nahm er sich diese nicht zu Herzen. Stattdessen erfüllte es ihn mit Stolz und er richtete sich auf und streckte seine Brust hervor. Normalerweise saß und stand er immer kerzengerade da, als hätte er einen Besenstiel im Rücken. Bei seiner ohnehin riesigen Körpergröße war das umso beeindruckender und so manches Mal hatte er sich den Kopf an Türrahmen und anderen Kanten gestoßen. Paradoxerweise war er hier im Weiß, wo er sich nirgends den Kopf stoßen konnte, viel kleiner und stand nie ganz aufrecht. Hier fehlte ihm irgendwie die Spannung. Er hatte es selbst nie so ganz verstanden und auch Eggsy, der sonst zu allem eine Meinung hatte, trug nichts dazu bei.

Eggsy fuhr mit seinem Monolog fort: „Eure Uni. Die finde ich übrigens interessant. Es gibt nicht viele Informationen darüber, alleine das macht sie schon interessant. Aber ich denke, deine beziehungsweise eure Neugierde ist ohnehin schon geweckt. Sag mal Bescheid, wenn ihr etwas Interessantes erfahrt. Also ich meine etwas wirklich Interessantes. Nicht irgendwelche vermoderten Gänge, die zum Selbstmord einladen. Und wenn ich ‚bescheid sagen’ sage, dann meine ich das auch! Ich bemerke das durch unser Band ohnehin, aber ich würde mich freuen, wenn du mich in die wirklich spannenden Neuerungen lieber direkt einweihst.” Ein süffisantes Grinsen konnte sich Eggsy daraufhin nicht verkneifen.

Ein Stück weit war FX daraufhin schon beruhigt, hatte er doch den richtigen Riecher gehabt. Diese Burg schien ein größeres Geheimnis zu verstecken als nur parallele Geheimgänge. Nun galt es also, dieses Geheimnis zu lüften, ohne sich und seine Freunde dabei erneut in Gefahr zu bringen. Damit war für ihn klar, dass sie ein weiteres Mal in diesen Gang hinabsteigen mussten, sobald sie wieder zuhause waren. Dort erwartete ihn bestimmt ein spannendes Geheimnis, welches er mit Hilfe seiner Freunde lüften und anschließend mit Eggsy und seinen Kollegen teilen wollte.

„Apropos euch: In deinen Freunden steckt Potenzial. Aber das weißt du vermutlich selbst auch schon. Weißt du mehr als ich?”

Noch bevor FX den Kopf schütteln konnte, fuhr Eggsy auch schon fort: „Nein, natürlich nicht. Du bist wie immer viel zu schüchtern und zurückhaltend, was das angeht. FX, du musst das große Ganze im Auge behalten!”

„Eggsy, jetzt reicht es aber langsam. Bleib mal auf dem Teppich! Das sind meine Freunde, keine Fremden, keine Feinde! Ich werde sie garantiert nicht lesen, wie du das vorhattest. Wenn etwas in ihnen steckt, werden sie es früher oder später selbst herausfinden. Eine Zangengeburt hat noch niemanden glücklich gemacht. Ich möchte ihnen die Zeit geben, die sie brauchen, um ihre verborgenen Fähigkeiten zu finden.”

„Meine Güte, du immer mit deinen ehrenwerten Ansichten! Ja, schön und gut, aber ich warne dich. Noch ist der Club nicht auf sie aufmerksam geworden, aber das wird über kurz oder lang passieren. Deswegen solltest du dir auf jeden Fall irgendwann bewusstwerden, was du willst und danach sollten deine Jungs ebenfalls überlegen, was sie wollen. Du weißt, dass dir ab einem bestimmten Zeitpunkt die Entscheidung abgenommen wird. Also entscheide du zuerst. Wenn der Club irgendwann etwas wittert, ist es vielleicht zu spät. Du kannst es spielend gegen mich aufnehmen. Und auch gegen ein oder zwei Dutzend von uns. Aber nicht gegen alle einundvierzig.”

„Vierzig. Oder wirst du dann auch gegen mich sein?”

„Auch wenn du die Antwort kennst: Nein, das werde ich nicht. Nie.”

Schon ein paar Male hatte FX die beeindruckende Aura seine Freunde fasziniert beobachtet, die kaum zu übersehen war. So etwas gab es bei nicht ausgebildeten Menschen nicht oft. So vielfarbig und pulsierende Gefühlsfacetten sah man extrem selten. Es kribbelte ihn in seinen Fingern, seinen Freunden eine Ausbildung wie die seine zukommen zu lassen, denn sie würden sich darin mit Sicherheit wacker schlagen! Andersherum war das genau der Grund, warum er sich gerade die Auszeit genommen hatte, um von all dem Abstand zu bekommen.

Seine Ausbildung war endlich abgeschlossen und nun war es an der Zeit, etwas anderes zu tun. Nicht in dem gleichen Trott weiter zu machen. Wenn er in seinem Leben einen Schnitt machen konnte, dann jetzt. Später würde Routine sein Leben bestimmen und das war genau das, was er jetzt nicht wollte. Er wollte Abwechslung, er wollte Spaß haben, er wollte Freunde haben. Richtige Freunde.

Wie es mit seinen Freunden oder besser deren versteckten Fähigkeiten weiter gehen sollte, wusste er noch nicht. Egal, es war eine Entscheidung, die er nicht jetzt treffen musste, aber dennoch wusste er, dass er sie früher oder später würde treffen müssen!

„Aber ich sehe, dir geht es gut. Zumindest so gut, dass du an diesen Ort zurückkommst. Ich freue mich echt für dich, dass du endlich soweit bist! Und du bist ja auch nicht alleine, das ist noch viel besser. Halt sie dir warm, deine Freunde, es sind gute Menschen! Du wirst sie brauchen und sie brauchen dich. Ihr braucht euch!”

Eggsy konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es schien, als wüsste er mal wieder mehr als andere und als er jemals zugeben würde. FX wusste, dass Eggsy so seine Beziehungen hatte und sein Netzwerk sehr weit gespannt hatte. Er war ja auch schon lange genug in diesem Geschäft. Aber vermutlich hatte er einfach nur nachgeschaut, was aus ihm und seine drei Freunde werden würde. Eggsy war einfach nur zu neugierig.

FX wollte Luft holen, um etwas zu sagen, wurde aber wie so oft direkt von Eggsy abgewürgt: „Aber nehmt euch erstmal die Zeit, die ihr braucht. Ihr habt ja jetzt Urlaub und frei und seid zur Erholung hier!”


„Gib mir mal ‘n Bitter Kas, bitte.” FX deutete auf den gläsernen Kühlschrank, in dem eine ganze Batterie an Glasflaschen mit leuchtend roter Flüssigkeit stand.

Das Weiß, wo sie gerade noch waren, war zerplatzt wie eine Seifenblase. Und waren die beiden gerade noch im Inneren dieser Seifenblase, so waren sie einen Augenblick später wieder am Strandkiosk an der Costa Brava.

Hätte sie ein Gast am Tresen beobachtet, so hätte er lediglich gesehen, dass ein langer Lulatsch mit einer komischen Frisur zunächst minutenlang barfuß am Fuße der Treppe verharrt wäre um dann mit einem unglaublichen Spurt an den Tresen zu stürmen und dann ein Getränk bestellt hätte.

Der Ausflug ins Weiß von FX und Eggsy wäre dem Gast vollkommen verborgen geblieben. Davon, dass die Beiden dies- und jenseits des Tresens aus der Zeit ausgestiegen waren, sich im Weiß getroffen, dort Eggsys Monolog folgten und dann wieder zurück in die Realzeit ploppten, sah man nichts. Zumindest nicht, wenn man nicht trainiert darin war solche Dinge zu erkennen. Besonders sensible Menschen hätten vielleicht ein leichtes Ruckeln in den Bewegungen von FX oder Eggsy gesehen.

Und genau das war auch ein Teil des Trainings: Der unbemerkte Wechsel ins Weiß und wieder zurück. Verwirrung beim Sprung zurück in die Zeit konnte man sich nicht erlauben. Unterbrechungen im Fluss des normalen Geschehens waren nicht erwünscht. Kein Außenstehender durfte bemerken, dass es gerade eine Unterbrechung der Zeit gegeben hatte.

Jedoch war kein anderer Gast an diesem Morgen an der Strandbar. Und die drei Freunde von FX, die vielleicht so sensibel wären, waren gerade mit anderen Dingen beschäftigt.

Eggsy bückte sich unter den Tresen und kurz darauf flog mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel eine rote Getränkedose auf FX zu, die er mühelos mit der linken Hand im Flug auffing und mit einem müden Lächeln gegenüber Eggsy quittierte: „Netter Versuch!”

„Willst du uns nicht vorstellen? Ihr scheint euch zu kennen.” Henne und Ben waren mittlerweile zum Kiosk herübergekommen.

„Diggi, dafür dass du drüben an der Treppe mit einem Mix aus Wiedersehensfreude und Überraschung starr wie eine Salzsäule gestanden hast und dann wie von der Tarantel gestochen hierher gerast bist, is euer Aufeinandertreffen jetzt aber sehr kühl ausgefallen. Ich hoffe unser Wiedersehen is irgendwann nach dem Studium etwas herzlicher. Was’n das für’n Drink?”

Herausfordernd blickte Ben in FX’ Augen und sein Lächeln enthüllte wieder die Zahnspange, die in der Sonne glitzerte und sein Lächeln noch verstärkte. Auch nach einem Jahr hatte sich FX nur wenig an Bens Sprache gewöhnt. Der Typ klang einfach nicht nach Uni, der klang nach Straßengang. Und seine Skaterklamotten unterstrichen diesen Eindruck noch einmal doppelt. Und dann kamen noch diese Gedankensprünge dazu, denen zu folgen manchmal anstrengend war. Kannte man Ben nur flüchtig, mochte man nicht glauben, dass in diesem Typen ein ausgefeilter Technik-Freak steckte.

„Bei Eggsy darfst du nur Sachen bestellen, die eingepackt sind. Alles andere schmeckt bei ihm einfach nicht. Halte dich von den Cocktails fern!”

„Vorsicht, mein kleiner gefiederter Freund!”

Ben wurde langsam ungeduldig, weil er wissen wollte, wer dieser geheimnisvolle Kioskbesitzer war, mit dem sich FX offensichtlich ein Wortgefecht lieferte. Ihm war nicht entgangen, dass die Getränkedose, die hinter dem Tresen mit einem Affenzahn hervorgeschossen war, keiner ballistischen Flugbahn folgte, sondern eher um eine scharfe Kurve geflogen war. Zu allem Überfluss hätte sie normalerweise direkt FX’ Kopf getroffen, wenn dieser sie nicht genau so schnell aufgefangen und aus einer geschmeidigen Bewegung heraus geöffnet und an den Mund gesetzt hätte!

„Dass dein geheimnisvoller Bekannter hier Eggsy heißt, wissen wir nun schon. Du hast seinen Namen an der Treppe einige Male quer über den ganzen Strand gerufen, dass man es auch bei Windstärke 10 hätte hören können. Willst du uns nicht vorstellen oder muss ich das selber machen?”

Henne trat auch an den Tresen heran und setzte dazu an, seine Hand auszustrecken, um Eggsy mit Handschlag zu begrüßen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde FX blass, als ihm klar wurde, was passieren würde, wenn Eggsy Hennes Hand berührte: Er würde neugierig in ihm lesen, wie in einem offenen Buch! Damit würde Eggsy sofort mehr über Henne wissen als dieser über sich selbst. Eggsy war einfach viel zu neugierig und FX’ Freunde schlichtweg viel zu interessante Charaktere, als dass er sich diese einmalige Gelegenheit entgehen lassen würde, in ihnen zu lesen.

Es hatte sehr lange gedauert, bis FX dahintergekommen war, dass auch er damals von Eggsy auseinandergenommen und auch im Nachhinein immer mal wieder auf diese Art und Weise analysiert wurde. Eggsy hingegen rechtfertigte das geheime Lesen in FX hingegen immer damit, dass es nur zu seinem, also FX’ Besten geschehen war. Doch das bezweifelte FX von Anfang an. Eggsy hätte zig verschiedene Möglichkeiten gehabt, um mehr über FX heraus zu bekommen. Warum also hatte er sich für eine derart intime Methode entschieden? Stattdessen warf er ihm schlichtweg Faulheit vor. Eggsy war einfach nur zu faul, einen etwas aufwändigeren, dafür aber sanfteren Weg einzuschlagen. Und, jedoch hatte er das Eggsy gegenüber nie laut ausgesprochen, vermutlich hatte Eggsy Angst. Er und der ganze Club hatten wahrscheinlich Angst, was für Kräfte in ihm schlummerten und wie man sie am besten leiten und nutzen konnte.

Im Laufe der Zeit war ihm klar geworden, dass er deutlich stärker war als Eggsy. Und ihm fiel ein, dass Eggsy angeblich der Beste im Club sein sollte. Eins und eins waren schnell zusammengezählt und das brachte schließlich das Fass zum Überlaufen.

FX hatte sich damals fürchterlich darüber aufgeregt und sich aus Wut heftige Kämpfe mit Eggsy geliefert. Das war gegen Ende seiner Ausbildung gewesen und FX war zu dieser Zeit seiner Stärke voll bewusst. Wäre er nicht von so viel blinder Wut getrieben worden, sondern hätte er klaren Kopfes gehandelt, so hätte er Eggsy vermutlich ernsthaft geschadet, wenn nicht gar vernichtet. Jedoch war er blind vor Hass gewesen und konnte seine Kräfte und Fähigkeiten nicht einsetzen, wie er es gelernt hatte, was wiederum Eggsys Glück gewesen war. Dennoch hatte Eggsy große Mühe, die unzähligen, jedoch vollkommen unkoordinierten Angriffe von FX abzuwehren.

Die große Schlacht, denn ein einzelner Kampf war es irgendwann nicht mehr gewesen, fand zu aller Beruhigung im Weiß statt. Zeit spielte dabei keine Rolle, dennoch dauerten die Gefechte selbst für dortige Verhältnisse ewig. Und am Ende brachen die beiden Kontrahenten erschöpft zusammen, ohne dass es auch nur den Eindruck eines Siegers und Besiegten gab.

Das Weiß in seiner Grenzenlosigkeit war nicht mehr weiß, sondern dreckig und beschmutzt von all den Kämpfen, die dort stattgefunden hatten. Die Widerstandskraft des Weiß’ ist zwar enorm, aber offensichtlich auch endlich. Noch nie zuvor hatte es jemand beim Training oder sonstigen Aktivitäten geschafft, dort bleibende Spuren zu hinterlassen. Genauso wie die Zeit alle Wunden heilt, heilt auch das Weiß sich selbst. Jedoch hinterließen FX und Eggsy ein bizarres Schlachtfeld und das Weiß war nur noch eine blasse Idee seiner selbst. Zurück blieben nur fünfzig Grauschattierungen anstatt des sonst makellosen Weiß. Natürlich würde sich das Weiß wieder regenerieren, jetzt wo die beiden Störenfriede ihr physisches Scharmützel beendet hatten. Dennoch hatte keiner der übrigen Zweiundvierzig das Weiß jemals in solch einem schlechten Zustand gesehen.

Einen Sieger gab es bei diesem Zweikampf nicht, immerhin auch keinen Verletzten. Stattdessen wurden sie von dem Club gerügt und dazu verdonnert, ihren Disput wie Gentlemen zu lösen. Das wiederum bedeutete nicht mit der Waffe, sondern im Duell mit dem Wort.

Die Beiden wurden daher in gemeinsame zeitliche Isolationshaft verwahrt, bis sie sich vertragen hatten. Vom Prinzip her war es ähnlich wie das Weiß, wo es weder Zeit noch Raum gibt. Sobald man das Weiß betritt, hören Zeit und Raum auf für einen zu existieren. Im Weiß kann man ewig leben, jedoch ist es ziemlich langweilig dort, weil es wenig zu erleben gibt.

Aber die Haft mussten sie im Grau verbringen. Auch dort stand die Zeit still. Jedoch war das Grau nicht grenzenlos, sondern ganz klein. War man dort alleine, fällt einem der Unterschied von der Farbe abgesehen kaum auf. Die Begrenztheit des Grau wird erst deutlich, wenn man sich dort zu Zweit aufhält. Das Weiß verhielt sich in so einem Fall relativ normal: Entfernt sich eine Person von der anderen, vergrößert sich der Abstand zwischen ihnen. Im Grau hingegen geht das nicht. Geht man von seinem Gegenüber weg, so rückt dieser nach, ohne dass er sich bewegt. Als seien die Personen dort physisch miteinander verbunden. Im Grau kann man sich nicht voneinander entfernen. Sie waren also gezwungen, sich mich sich zusammen- und sich mit ihren Taten auseinanderzusetzten.

Jedoch waren sie dermaßen stur, dass sie über die gesamte Zeit kein einziges Wort miteinander wechselten. Zwar spielte Zeit im Grau keine Rolle, aber beide waren der Auffassung, dass sie sich dort nichts zu sagen hatten, egal wie lange sie dort verweilen sollte. Es war ein Duell des Schweigens und dauerte erneut Ewigkeiten.

Schließlich hatte der Club irgendwann ein Einsehen, da man ernsthafte seelische Schäden an deren besten Männer befürchtete. Außerdem wurden sie schlichtweg zum Arbeiten gebraucht. Nach ihrer Entlassung erfuhren sie hinter vorgehaltener Hand, dass sie unterm Strich mehr Zeit in Haft verbracht hatten als alle anderen Inhaftierten zuvor zusammen!

Wieder frei benötigte die Aussprache zwischen den beiden keine drei Minuten und lediglich ein Bier, denn tief in ihrem Inneren wussten sie beide, dass erstens Eggsy FX nur helfen wollte und dass zweitens FX genau diese Art der Hilfe auch zugelassen hatte, wenn auch unterbewusst. FX wäre jederzeit in der Lage gewesen, das zu unterbinden, selbst wenn er nicht gewusst hätte, wie man es wirklich anstellte. Dennoch sah auch Eggsy ein, dass der Zweck nicht immer die Mittel heiligte.

Wichtig war beiden aber, dass sie hinsichtlich ihrer Haft einen neuen Rekord aufgestellt hatten. Allein diese Tatsache machte schon viele Blessuren der Vergangenheit sofort wieder wett.

Aber Eggsy wäre nicht Eggsy, wenn er seinem Lehrling diesen von Wut und Hass getriebenen Kampf immer wieder vorhalten würde und so wurde diese Schlacht zum Paradebeispiel seiner Ausbildung. Denn unbestritten blieb, dass diese Energie von FX, geschickt eingesetzt und nicht diffus und planlos aus innerem Antrieb heraus verpulvert, vernichtende Kapazitäten gehabt hätte.


Hier am Strand stellte sich die Situation jedoch vollkommen anders dar, denn Henne wusste eben nicht, auf was er sich da gerade einlassen würde, war ihm diese Welt bisher doch vollkommen verborgen geblieben. Für Henne war sein Gegenüber nur ein normaler Barkeeper, der offensichtlich ein Freund von FX war und entsprechend angemessen begrüßt werden musste.

FX sah bereits das neugierige Funkeln in Eggsys Augen, denn in wenigen Momenten würde er den neuen Freund lesen können und wüsste genau, welche spannenden Fähigkeiten in ihm schlummerten. Natürlich war sich Eggsy vollkommen bewusst, dass FX mit aller Macht versuchen würde, genau das zu verhindern. Die spannende Frage war jedoch, was für Gegenmaßnahmen würde er ergreifen? Wie viel würde FX von sich und seinen Kräften gegenüber seinen Freunden preisgeben? Eggsy wusste, dass sich sein Schützling gegenüber seinen Freunden noch nicht offenbart hatte und dass er stattdessen mehr Nebelkerzen gezündet hatte, als Licht ins Dunkel zu bringen. Daher war er umso neugieriger, wie weit er gehen würde. Ihm war klar, dass er es nicht schaffen würde, den unbekannten vor seiner Nase zu lesen. Darum ging es Eggsy auch nicht. Ziel der Aktion war lediglich, seinen Azubi so weit wie nur irgend möglich aus der Reserve zu locken.

Aber von alledem ahnte FX nichts. Für ihn war es der pure Ernst. Er fühlte sich in seine Vergangenheit zurückkatapultiert und die alten Gefühle drohten wieder an die Oberfläche zu gelangen und sich seiner Sinne zu bemächtigen. FX musste das verhindern, egal um welchen Preis. Eggsy durfte Henne nicht lesen. Niemals!

Beide waren innerlich bis aufs Äußerste angespannt. Eggsy, der versuchte, möglichst schnell die Hand von Henne zu ergreifen und gleichzeitig einen Angriff von FX abzuwehren, während FX versuchte, eben diesen Handschlag zu verhindern. Noch hatte sich niemand bewegt, wussten doch beide, sobald einer von ihnen zucken würde, käme es zum großen Feuerwerk.

„Bitter Kas!” FX hatte die rettende Idee, wie er ohne Tricks die Berührung zwischen Eggsy und Henne verhindern konnte. Er drückte Henne seine halb ausgetrunkene eiskalte Getränkedose in die Hand. „Gibt es nicht bei uns. Musst Du unbedingt mal probiert haben!”

Reflexartig griff Henne zu und hielt etwas verdutzt die Dose von FX in der Hand, statt wie geplant seinen Gegenüber zu begrüßen. Total aus dem Konzept gebracht führte er die Dose unsicher zum Mund und probierte.

Mit einem siegreichen Grinsen voller Genugtuung sah FX zu Eggsy hinüber, der er mit einem leichten, fast unmerklichen Nicken seine Niederlage quittierte. Eggsy war stolz auf seinen kleinen Großen. Er war nun offensichtlich wirklich erwachsen geworden! Früher hätte FX einen ganzen Strauß an Tricks aufgefahren, um so eine Aktion zu verhindern. Alles, war irgendwie aufwändig, umständlich oder aber gewaltig war, wäre ihm früher recht gewesen. Umso zufriedener war Eggsy, dass FX mittlerweile nicht mehr mit Kanonen auf Spatzen schoss, sondern kleine unscheinbare Gesten und Dinge nutzte, um viel entspannter an das gleiche Ziel zu gelangen.

Gleichzeitig wusste FX hingegen, dass er bei diesem Thema nun abschließend gewonnen hatte und Eggsy, auch wenn sich später die Gelegenheit ergeben sollte, nicht erneut versuchen würde, einen Blick hinter die Kulissen seiner Freunde zu werfen. Eggsy war durch und durch ein Gentleman und akzeptierte eine Niederlage auch ohne Wenn und Aber. Dieses kleine Scharmützel hatte FX für sich beziehungsweise für seine Freunde entschieden. So dachte er zumindest. Von Eggsys Hintergedanken hatte er natürlich nichts geahnt.

„Eggsy heißt eigentlich Gerald, aber das hört er nicht so gern”, begann FX mit der Vorstellung des Barkeepers und grinste diesen mit dem breitesten Lächeln an, was er hervorbringen konnte. „Eggsy ist wie ein Ziehvater für mich”, FX löste damit offiziell das Rätsel. „Nein, streiche das ‘wie’. Er kennt mich, seit ich ein kleines Kind war und er ist mein Ziehvater.” Und mit einem kurzen Zögern fügte er noch hinzu: „Ich habe ihm sehr sehr viel zu verdanken.”

„Ja sauber Diggi, und ich bin Ben. Und das hier is Henne.” Polternd fiel das Skateboard auf den Boden, als sich Ben auf einen der Barhocker niederließ. „Ich will auch so ‘ne rote Brause. Is vielleicht noch etwas früh für’n Bier.”

„Kein Bier vor vier. Apropos vier: Wo habt ihr eigentlich Euren vierten Mann gelassen?” Eggsy zog fragend eine Augenbraue hoch und sah jeden der Drei nach und nach an.

„Oh”, brachte Henne lediglich hervor und Ben klapperte etwas laut mit den Füßen auf seinem Board vor dem Tresen und bat FX schließlich: „Diggi, vielleicht holst du ihn mal rüber zu uns.”

FX wusste zwar nicht genau, warum ausgerechnet er Michel holen sollte, aber er hinterfragte das nicht weiter. Er hatte sich zum Wasser umgedreht und sah Michel mit den Füßen in der seichten Brandung stehen. Mit einem „Euch kann man auch keine drei Minuten alleine lassen”, wandte er sich ab und ging mit großen Schritten hinüber zu Michel ans Wasser.

Die Sonne stand mittlerweile schon ziemlich hoch am Himmel und es war deutlich wärmer geworden. Umso angenehmer fühlte sich das frische Wasser an, was auf einmal um seine Füße spülte. FX erreichte Michel und stellte sich neben ihn, ohne ihn dabei anzuschauen. Beide blickten geradeaus aufs Meer hinaus dem Horizont entgegen.

„Hej.”

„Hej.”

Schweigend betrachteten beide das nahezu spiegelglatte Mittelmeer. Michel war sonst nicht so wortkarg und FX schöpfte Verdacht, dass etwas vorgefallen sein musste, was ihm entgangen war. Vorsichtig wagte er einen Blick auf die Gefühlslage von Michel. Die Farben verschwanden, die Welt wurde schwarz und übrig blieben ein paar farbige Wolken, die die Gefühle der anwesenden Individuen repräsentierten.

FX hatte seine Freunde in der Vergangenheit schon ein paar Mal auf dieser Ebene in Augenschein genommen. Man konnte in dieser Welt keine wirklichen Schlüsse ziehen. Man sah nicht, ob jemand direkt traurig war oder Angst hatte. Das Einzige, was man sah, waren mehr oder weniger bunte Wolken in verschiedenen Größen. Aber dennoch war FX der Meinung, dass ihm diese so ganz andere Welt viel über die Menschen und deren Gemütszustand erzählte, auch wenn er es nicht direkt verstand.

Beispielsweise war ihm schon damals das erste Mal aufgefallen, dass seine Freunde nicht ganz alltäglich waren, denn ihre jeweiligen Wolken pulsierten in verschiedenen Farben, was überaus selten war. Bereits zu dem Zeitpunkt ahnte er, dass mehr in ihnen schlummerte, was ihm heute von Eggsy erstmals bestätigt wurde, auch wenn niemand der Beiden genau wusste, was es nun war.

Michel kannte er als wilde, vor Energie pulsierende und wabernde Wolke, die ihre Form häufig änderte und auch die Farben zwischen rot und blau schnell hin und her wechselte. So war Michel. Sein sportlich aktiver Geist spiegelte sich auch hier deutlich und war ein ziemlich eindeutiges Abbild seines realen Ichs. Nur heute war Michel irgendwie anders. Seine Gefühlsblase war viel kleiner als sonst, quasi zurückgezogen und in sich gekehrt. FX spürte, dass Michel sehr verwirrt und unsicher war. Warum, das ließ sich hier nicht herausfinden. In dieser Welt existierten nur Gefühle, keine Gründe. Neben der Verwirrung und Unsicherheit war da noch etwas Angst und ein kleines bisschen Ekel. Aber das war schon fast wieder verflogen. Irgendetwas musste Michel sehr verwirrt haben und er war noch dabei, sich selbst und seine Gedanken und Gefühle zu organisieren.

FX blickte wieder auf den Horizont und sprach geradeaus in die Ferne, ohne Michel anzusehen: „Wenn du beim Sortieren deiner Gefühle etwas Hilfe brauchst, dann sag Bescheid. Ich bin zwar kein Genie was Ordnung in meinem Zimmer anbelangt, aber im Kopf kann ich perfekt aufräumen, glaub mir.”

Überrascht drehte Michel den Kopf zur Seite und sah hoch zu FX. Die Aktion von Ben und Henne auf der Treppe vorhin mit den Socken hatte ihn total verwirrt. Anfangs ekelte er sich nur davor. Allein der Gedanke an fremden Socken zu riechen, schnürte ihm die Kehle zu. Das Ganze auch noch zu sehen und dann noch den Enthusiasmus seiner Freunde dabei zu beobachten, brachte ihn vollends aus dem Konzept.

Der Ekel war erstaunlich schnell wieder verflogen, was ihn selbst überraschte. Zurück blieb ein großer Haufen Verwirrung über sich selbst und nur wenig über seine Freunde. Wieso hatte er so extrem auf das kleine Tächtelmächtel von Ben und Henne reagiert? Waren es wirklich die Stinkesocken von Ben? Oder war es, dass die Beiden plötzlich etwas anfingen, ohne dass Michel dazukam? Auch früher schon lagen sie zu zweit, zu dritt oder zu viert auf dem Sofa, hatten gekuschelt oder geknutscht. All das war also nichts neues für ihn. Warum nur war das jetzt so komisch? Es musste also doch an den miefigen Socken liegen.

Aber solche Socken waren ja nun auch nichts neues für ihn. Nichts anderes hatte er doch täglich beim Sport, wenn er erschöpft und zufrieden zurück in die Umkleidekabine kam. Und überhaupt: Wie kam denn FX nun auf einmal auf die Idee, dass etwas nicht stimmte? Konnte er etwa Gedanken lesen? FX sollte doch eigentlich ganz ruhig sein, so komisch wie er sich vorhin auf der Treppe gegeben hatte. Michel hatte das Gefühl, dass dieser Urlaub kein gewöhnlicher Urlaub werden würde.

„Dankeschön.” Und nach einer kurzen Pause fügte Michel hinzu: „Es kann sogar sein, dass ich drauf zurückkomme. Aber ich versuche das erstmal alleine.”

„Klar. Ich wollte dich nur dran erinnern, dass du nicht alleine bist auf dieser Welt, sondern dass du Freunde hast!”

Beim Stichwort Freunde erhellte sich Michels Gesichtsausdruck deutlich und ein Lächeln erstrahlte auf seinem Gesicht. FX legte seine Hand auf Michels Schulter. Durch das dünne T-Shirt hindurch spürte er jede einzelne Faser der durchtrainierten Muskeln. Er wusste genau, dass sie jetzt ganz entspannt waren, aber trotzdem jederzeit diverse Gewichte stemmen konnten. Etwas überrascht stellte FX fest, dass er Michel ein bisschen um sein Aussehen beneidete. Aber andersherum war er mehr als erfreut, dass sich Michel auf eine Freundschaft mit ihm eingelassen hatte. Unterschiedlicher konnten die Beiden nicht sein: Ein langer hagerer Typ und ein durchtrainierter Sportler ...

„Aber FX.”

Der so angesprochene zuckte etwas zusammen, war er in Gedanken doch gerade woanders.

„Du hast uns hier doch auch nicht nur wegen dem großartigen Strand hergebracht, oder? Ich meine, das ist ja hier schon eine richtige Perle, die du gefunden hast. Die einsame Bucht, wohin sich kaum ein Mensch verirrt. Der feine Sand und das seichte herrlich warme Wasser. Das ist doch alles viel zu schön, um wirklich wahr zu sein. Da kommt doch noch etwas, oder sehe ich das falsch?”

„Nein, das siehst du nicht falsch.” FX war etwas überrascht, weil ihn Michel so direkt angesprochen hatte. Er hatte in der Tat noch ein Bisschen was vor mit seinen Freunden. War das so offensichtlich gewesen, dass Michel es erraten hatte? „Ich muss bei mir auch noch etwas aufräumen. Und ich habe euch noch ein Versprechen gegeben, was ich hier gerne einlösen möchte.”

„Hej, kommt jetzt die große Beichte und lüftest du dein dunkles Geheimnis?”

„Jein. Ich befürchte, dass es hinterher mehr Fragen gibt als vorher. Und außerdem habe ich das noch nie zuvor gemacht, weil ich noch nie ...”

„… richtige Freunde hatte?” Michel traf den Nagel direkt auf dem Kopf und FX nickte nur stumm. „Hör mir jetzt mal zu: Du hast unsere junge Freundschaft in der Vergangenheit wirklich oft auf die Probe gestellt und der eine oder andere war wirklich kurz vor dem Bruch mit dir! Ich weiß nicht was es ist, aber es gibt da anscheinend etwas, war stärker ist als der ganze Mist den du dir geleistet hast. Stell das jetzt bitte nicht noch einmal auf die Probe, okay? Schlimmer als ein versemmeltes Coming Out kann es ja wohl nicht werden.”

„Weiß ich nicht, hatte ich nicht. Bei wem auch?”

„Also, nun reiß dich zusammen. Du bist jetzt so kurz davor, vor was auch immer, ich weiß es nicht, aber es wird dich deswegen niemand auffressen, okay? Mit anderen Worten: Ich wollte dich nur dran erinnern, dass auch du Freunde hast!”

Das hatte schließlich gesessen. Jetzt war jeder Zweifel wie weggeblasen. FX würde es tun. Dieser Urlaub hier war genau der richtige Ort dafür und die Menschen um ihn herum waren genau die richtigen dafür.

„Aber heute kommen wir erstmal an und haben ein Bisschen Spaß.” Michel schenkte FX ein Lächeln.

„Apropos Freunde: Die meisten deiner Freunde stehen übrigens drüben am Tresen vom Kiosk und wenn ich das richtig erkenne, haben sie gerade einen Caipi geordert. Was auch sonst, denn kein Bier vor Vier!”

Im gespielten Zorn entgegnete Michel: „Wehe, wenn sie keine vier davon bestellt haben!”

„Na, freu dich mal besser nicht zu früh! Die Caipis von Eggsy sind immer schrecklich süß!”

„Ach komm schon, FX, so schlimm wirds doch nicht sein. Und er hat bestimmt auch noch andere Cocktails im Programm, oder?”

Er griff nach FX Hand und zog ihn hinter sich her zum Kiosk.

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