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Quartett

Teil 3 - Der Kater & Die Suche

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Inhaltsverzeichnis

5. Der Kater

Ben war sprachlos und noch verwirrter als zuvor, Henne nickte selbstzufrieden und Michel wusste nicht so recht, was er sagen sollte.

„Als FX seine Hand von der Platte genommen hat und den Typen gesagt hatte, dass das selbstverständlich deren Fass ist, habe ich gesehen, dass da plötzlich etwas ganz anderes draufstand! Deswegen hab‘ ich Michel noch einmal zu den Typen hinschicken müssen. Er sollte es nochmal unabhängig von uns kontrollieren. Was hast Du mit denen eigentlich so lange gequatscht???”

„Ach, nichts weiter. Aber Michaela hatte mir vorhin viele spannende Dinge erzählt. Das eine oder andere scheint man ja gebrauchen zu können, wie ich gerade feststellen durfte. Die Typen sind übrigens wirklich arrogante Arschlöcher, um das mal mit Bens Worten zu sagen.”

Der so Erwähnte wurde ganz ruhig. Ganz untypisch für Ben. Jeder hätte bei der Ansage von Michel genau das Gegenteil erwartet. Michel fiel das sofort auf und sprach ihn in einer Sprache direkt an, die er definitiv verstehen würde: „Geht’s, Alter?”

„Ich …”, kam es zögerlich von Ben und die anderen beiden richteten in diesem Augenblick ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Ben.

„Ich weiß nicht”, fuhr dieser fort, „als sich die beiden Typen uns genähert haben, wollte ich die gleich anblaffen. Aber auf einmal sah mir FX so direkt in die Augen. Das war total unheimlich. Das war, als würde er mir nicht in, sondern DURCH meine Augen durchgucken und von innen auf meinen Hinterkopf starren. Das hat sich ganz komisch angefühlt!”

Ben redete plötzlich wie ein Wasserfall: „Und dann hatte ich plötzlich das Gefühl, als wenn er mir was ins Ohr flüstern würde. Aber er stand mir genau gegenüber. Und seine schönen weichen Lippen hat er auch nicht bewegt. Ups!”

„Was???”, fuhr Michel dazwischen.

„Nun”, versuchte Henne zu erklären, „es gab da ein kleines Intermezzo, was Du verpasst hast ...”

„Was???” Michel wurde neugierig und ungeduldig.

„Ich mach es kurz: Die beiden haben geknutscht. In aller Öffentlichkeit. Mit Zunge.”

„Was???”

„Diggi, nun reichts aber mit Deinem blöden ‚was’!”

„Sah aber total ulkig aus, der Lange und dann was kleines Süßes auf Rädern”, witzelte Henne über Ben auf dem Skateboard.

„Ihr habt Euch geküsst???” Michel konnte es immer noch nicht fassen.

„Ja!”, kam es unisono von den anderen beiden als Antwort.

„Ich glaub es nicht. Da ist man einmal nicht da und dann gehen die wildesten Sachen ab!”

„Komm, Diggi, Du hattest doch auch Deinen Spaß, oder?”, hielt ihm Ben mit einem Augenzwinkern vor.

„Im Leben würde ich nie etwas mit einer Frau ...” Michel schüttelte sich von oben bis unten. Er schien jedes einzelne Gelenk seines Körpers unabhängig kontrollieren zu können. Eine Welle des Schüttelns ging von seinem Kopf aus und wanderte einmal durch seinen Oberkörper, Arme und durch die Hüfte hindurch, bis er schließlich mit den Beinen schlackerte um dann wieder zur Ruhe zu kommen. Sport und Yoga sind auch im Alltag durchaus zum Beeindrucken geeignet.

Henne versuchte, die Diskussion wieder in die ursprüngliche Richtung zu lenken und fragte Ben: „Du wolltest ursprünglich gar nicht das sagen, was Du gesagt hast? Ich hab‘ mich gleich gewundert, warum da kein ‚Diggi’ oder ‚Alter’ drin vorkam. Wobei ‚Alter’ ja auf jeden Fall gepasst hätte.”

„Nein. Das war ganz komisch. Das waren jedenfalls nicht meine Worte.”

„Wo steckt FX eigentlich?!?”

„Tanzen.”

„Recht hat er. Sollten wir auch tun. Wir können das hier, jetzt und heute sowieso nicht klären. Ich will jetzt Spaß haben!”

„Und ich ein Bier!”

Mit vier Bier bewaffnet stürmten sie die Tanzfläche, drückten FX ebenfalls eines in die Hand und hüpften und sprangen zur Musik. Dabei hatte jeder so seinen eigenen Tanzstil, wenn man da überhaupt davon sprechen konnte. Während Henne seinen Iro quasi durch die Luft wirbelte und man Angst um seine Halswirbelsäule bekommen musste, war FX quasi genau das Gegenteil und bewegte sich fast gar nicht von der Stelle. Michel hingegen benötigte wieder deutlich mehr Platz, da er sein gesamtes Repertoire an Figuren und Moves aufs Parkett oder besser auf den Granit brachte und diverse Frauen dabei antanzte. Ben hingegen war nach dem Anstoßen mit dem Bier auf der Tanzfläche sofort wieder verschwunden und beobachtete die Show von seiner Säule aus. Es war definitiv nicht so, dass er sich langweilte. Nein, er genoss es, wie sich die schwitzenden Körper im Rhythmus der Musik bewegten. Tanzen konnte er einfach nichts abgewinnen. Er bevorzugte definitiv Figuren auf seinem Board. Gern auch mit passender Musik. Beides wiederum würde hier auf wenig Gegenliebe stoßen. Nein, was das Thema anging, war er im wahrsten Sinne des Wortes der Außenseiter und beobachtete lieber seine drei Freunde, wie sie sich immer weiter in Ekstase tanzten und Raum und Zeit vergaßen.


Am Tag darauf, es war schon fast Mittag, schlug Michel als erstes die Augen auf. Wie waren sie nur ins Bett gekommen? Gar nicht. Denn die vier lagen quer übereinander in ihrer Kuschelecke. Immerhin waren sie in ihrer WG. Michel hatte sich, von seinen Augenlidern abgesehen, noch nicht bewegt. Vorsichtig schaute er nach rechts und links. Es lagen tatsächlich alle kreuz und quer ineinander verschlungen und halb an- beziehungsweise ausgezogen auf dem Sofa. FX lag unten, Ben irgendwie halb in seinem Arm, Henne lag sowohl auf Ben als auch FX und er selbst lag auf der anderen Seite von FX und hatte seine Beine mit denen von Henne verknotet. Er schloss die Augen wieder, kuschelte sich an FX und schlief wieder ein.

Viel später dann erwachte das Knäuel doch komplett zum Leben und jeder sortierte sich aus dem Gewusel an Gliedmaßen, um sich dann geordnet wieder an den Nebenmann heran zu kuscheln. Langsames Aufwachen war schon etwas Herrliches. Noch dazu, wenn man es nicht alleine tut, sondern die Wärme und Nähe von anderen lieben Menschen spürt.

Mit einem Mal war Henne voll wach! Auf der Party war doch etwas ganz komisch gewesen. Was war das noch gleich? Richtig! Die Messingplatte in dem Fass, wo sie gestanden hatten und sich unterhalten hatten. „Jahrgang IV” war dort eingraviert gewesen. In alter deutscher Schrift, Sütterlin! Und dann kamen diese Typen aus dem vierten Jahrgang und haben das Fass, welches als Stehtischchen auf der Party diente, für sich beansprucht. Und FX hatte dann seine Hand auf die Metallplatte gelegt und plötzlich stand dort „RESERVIERT FÜR ARSCHLÖCHER”. Und auch Ben hatte eine komische Erfahrung mit FX gemacht. Meinte er zumindest. Immerhin hatte keiner von den Außenstehenden etwas mitbekommen. Zwar hatte Ben ihm und Michel berichtet, wie durchdringend ihn FX angeschaut hat und dass er seine Stimme gehört hatte, aber das schien niemandem aufgefallen zu sein. Genau so hat auch keiner bemerkt, dass irgendwer die Metallplatte mit einem genialen Taschenspielertrick ausgetauscht haben musste! Jedenfalls gab es nach dieser durchzechten Nacht für die vier Freunde noch sehr viel Klärungsbedarf.

Nach einer weiteren Stunde des Kuschelns kam dann doch Bewegung in die Bande. Die Sprachprozessoren fuhren langsam hoch, man ging zur Toilette und brachte den Körper zumindest in eine halbwegs senkrechte Position.

„Alter, was für ein rauschendes Fest!”, Ben war bereits geduscht und frisch angezogen und rollte auf seinem Board vom Bad zum Kühlschrank. „Jemand ‘nen O-Saft?”

„Berauschend, meinst Du wohl eher … Meine Güte, ich hab‘ vielleicht einen Brummschädel”, jammerte Michel.

„Ich bin fix und alle”, kam es von FX, der sich noch nicht einen Millimeter bewegt hatte.

Henne hingegen schaute recht munter in die Runde und war ebenfalls aufgestanden und plünderte gerade den Kühlschrank. Viel gab es dort nie, da sie die Hauptmahlzeiten ohnehin in der Mensa einnahmen. Der Kühlschrank enthielt überwiegend Getränke und die eine oder andere Notration, falls einem mal der kleine Heißhunger überfällt.

Bei Henne schien jedoch eher der große Hunger zugeschlagen zu haben, denn er schlug frustriert die Tür zu und meinte: „Das ist doch alles nichts Gescheites. Kommt jemand mit rüber? Wie spät ist es eigentlich? Irgendwo wird sich doch wohl etwas Essbares auftreiben lassen!”

„Klar, lass uns Richtung Cafeteria gehen. Die Mensa hat noch zu. Es ist ja erst 16 Uhr”, schlug Ben vor. „Sollen wir Euch Alkoholleichen noch etwas mitbringen?”

Ein dezentes Schnarchen von Michel und FX, die sich in Löffelchenstellung zusammengekuschelt hatten. Das Schnarchen war daher die einzige Antwort, die die beiden bekamen. Einen längeren Augenblick schauten Ben und Henne noch den beiden Schlafenden zu. Süß sahen sie aus, wie sie da so ineinander verschachtelt lagen. FX lag auf der Seite und war der hintere von den beiden, was wegen seiner Größe auch durchaus logisch war. Er hatte seinen Kopf auf seinen nach oben gestreckten rechten Gipsarm gelegt. Michel lag mit seinem Rücken vor dem Bauch von FX und hatte seinerseits ebenfalls den Kopf auf dem Gipsarm liegen. Das sah schon vom Zugucken her unbequem aus. Den beiden musste es also wirklich dreckig gehen, wenn sie so wieder eingeschlafen waren. Immerhin hatte FX seinen linken Arm um die Taille von Michel geschlungen und ihn dicht an sich herangezogen. Sich gegenseitig angrinsend verließen die anderen beiden den Wohnraum auf der Suche nach etwas Essbarem.

6. Die Suche

„Sie haben Henne!”

Mit einem Knall flog die Jahrhunderte alte Eichentür mit den unzähligen Eisennägeln auf und knallte an die Wand. Michel und FX schreckten hoch und saßen sofort hellwach aufrecht im Bett.

„Sie haben Henne!”, wiederholte Ben außer Atem. Langsam rollte sein Skateboard durch den Raum. Es war wie in Zeitlupe. Niemand sagte etwas. Nur Bens Worte standen noch im Raum und hallten etwas nach. Das Rollen des Boards drang wie ein Kreischen an ihre Ohren. In diesem Augenblick war es das einzige Geräusch und allen kam es ohrenbetäubend laut vor. Als das Skateboard schließlich an der gegenüberliegenden Seite des Wohnzimmers gegen die Wand stieß, glich das Geräusch einer Explosion!

Michel war der erste, der einen klaren Gedanken fassen und ihn sogar aussprechen konnte: „Wer hat Henne? Was ist passiert? Und wo überhaupt?” Er stand auf, nur in einer hautengen weißen Boxershorts bekleidet. Wäre die Situation nicht so dramatisch, wäre es ein Anblick zum Dahinschmelzen. Die schöne glatte braune Haut, die weiße enganliegende Unterhose mit dem breiten Bündchen und darin prangten die großen Buchstaben einer Modemarke. Von vorne zeichnete sich leider nicht viel ab, was dem neugierigen Beobachter viel Interpretationsspielraum ließ. Sein knackiger Po hingegen kam in der Retroshorts extrem gut zur Geltung. Man sah fast die einzelnen Fasern seiner durchtrainierten Muskeln.

Doch für all diese männliche Schönheit hatte in der jetzigen Situation niemand einen Blick. Michel stand auf und fasste Ben um die Schulter, zog ihn zum Sofa und schloss gleichzeitig mit einem Fußtritt die Tür.

„So, und jetzt nochmal langsam und etwas ausführlicher bitte. Was genau ist passiert?!?”

Ben atmete ein paar Mal tief durch und kam nicht zuletzt dank der beruhigenden Hand Michels auf seinem Oberschenkel langsam wieder zur Ruhe und in einem Zustand, wo man zusammenhängende Sätze aus ihm herausbekam.

„Wir waren gerade auf dem Weg zur Cafeteria. Aber wir sind dann im Treppenhaus falsch abgebogen und wollten stattdessen im nächsten Turm wieder durch die nächste Ebene wieder zurück.”

Äußerlich ganz ruhig und keine Miene verziehend, verdrehte FX innerlich die Augen. Die beiden mit dem schlechtesten Orientierungssinn auf Nahrungssuche in dem verwirrenden Schloss, wo alle Gänge, Treppenhäuser und Hallen auf dem ersten Blick gleich aussahen. Es gab zwei Cafeterien in der Uni. Beide waren der herrlichen Aussicht wegen im vierten Obergeschoss untergebracht und ohne Zweifel hatte man von dort aus einen unbeschreiblichen Blick auf das umliegende Tal mit seinen saftigen Blumenwiesen und die angrenzenden dichten und dunkelgrünen Mischwäldern. Man war dort sogar hoch genug, um über die Bäume hinweg die weit im Süden gelegenen Berge zu sehen; zumindest bei schönem Wetter. Selbst im Sommer, bei klarer Sicht, wie sie hier auf dem Land sehr häufig vorkam, sah man die mit weißem Schnee bedeckten Berggipfel. Viel seltener hingegen war das Schauspiel, wenn diese weißen Gipfel in der aufgehenden Sonne leuchtend rot aufglühten.

Theoretisch waren beide Cafeterien gleich. Theoretisch. Eine war jedoch im Westflügel untergebracht und die andere im Osten. Da die Vorlesungsräume ja ebenfalls im Westen und die Büros der Professoren im Osten waren, kristallisierte es sich im Laufe der vielen Jahre so heraus, dass die Cafeteria im Ostflügel etwas erlesener war als die über dem studentischen Flügel. Das betraf sowohl die Einrichtung als auch die dargebotenen Häppchen. Während im Westen Hotdogs und Burger sowie Süßes und Klebriges bevorzugt wurde, bekam man im Osten eher Gesünderes und weniger Kalorienhaltiges. Beliefert wurden die beiden Cafés von der Mensa, die ja praktischerweise genau in der Mitte im Südflügel lag.

Eine Trennung zwischen den beiden Einrichtungen gab es jedoch nicht. Jeder konnte nach Lust, Laune und Appetit sowohl in die studentische wie auch in die professorale Cafeteria gehen. Manch einer (aus beiderlei Fraktionen) nutzte das auch gezielt aus, um zum Beispiel Kollegen aus dem Weg zu gehen, oder vielleicht einen besseren Draht nach oben zu bekommen und so vielleicht seine Noten etwas aufzupolieren oder den einen oder anderen Tipp für die nächste Klausur zu bekommen.

Jedenfalls konnte FX sich schon nach diesem einen Satz ausmalen, was passiert war. Ben und Henne wollten vermutlich einfach in die Studenten-Cafete rauf. Dazu hätten sie lediglich ihren Südwest-Turm verlassen und im West-Flügel in den vierten Stock hochlaufen müssen. Jedoch sind die beiden ihrer allgemeinen Desorientierung zum Opfer gefallen, was Ben auch sogleich in seinen Erzählungen bestätigte. Sie nahmen den falschen Ausgang im Turm, irrten durch den Südflügel und haben schließlich verzweifelt versucht, im Südost-Turm in die vierte Ebene zu kommen, um dann dort in die Cafeteria der Professoren zu gelangen.

Umständlicher ging es kaum. Im Normalfall dauert der Weg zur Cafeteria im Westen nur 5 Minuten. Für die im Osten muss man etwa 10 Minuten einplanen. Der Vorfall, den Ben aber zu beschreiben versuchte, ereignete sich knapp eine halbe Stunde nach Verlassen der WG und die beiden waren immer noch auf dem Hinweg zur Cafeteria. Ein Paradebeispiel maximaler Plan- und Orientierungslosigkeit also!

Die beiden hatten sich gerade auf die vierte Ebene hochgearbeitet, was bei den Doppelstockwerken und der Deckenhöhe von gut 10 Metern ja schon einiges an Höhenmeter ohne Fahrstuhl bedeutete, als sie dort etwas aus der Puste verschnaufen wollten. Obwohl sie an diesem Morgen die fittesten der vier waren, ist die Party der vergangenen Nacht auch an ihnen nicht spurlos vorüber gegangen.

Und genau in diesem Augenblick kamen ihnen die beiden Typen aus dem vierten Jahrgang vom Abend zuvor aus Richtung der Cafeteria entgegen. Es waren genau die beiden, die die Freunde am Abend zuvor von dem Fass verscheucht hatten.

„Maik und Nico”, kommentierte Michel nebensächlich. „Die denken, sie seien etwas Besseres, sind aber genau so wie wir auch nur Stipendiaten. Keine Ahnung, was bei denen wann im Kopf schiefgelaufen ist, dass die so arrogant und unausstehlich geworden sind.”

„Alter, woher weißt Du denn, wie die heißen?”, fragte Ben mehr als verwundert.

„Ich helfe Deinem Filmriss mal etwas auf die Sprünge: Erinnerst Du Dich an gestern Abend? Henne ist doch die Sache mit dem Schild aufgefallen und um das zu überprüfen, hat er mich zu den beiden geschickt. Naja, und ich hab‘ mit denen etwas gequatscht. Wenn man weiß, welche Knöpfe man bei denen drücken muss, dann funktionieren die auch halbwegs so, wie man es braucht. Ich sag ja: Michaela hat mir ein paar wertvolle Infos gesteckt ...”

„Und Du bist sicher, dass Du ihr nichts gesteckt hast?”, warf FX mit einem verschmitzten Lächeln ein und zwinkerte Michel frivol mit einem Auge zu.

„Digga, Du hast auch nur Sex im Kopp, wa? Gestern schiebste mir Deine Zunge in den Hals und selbst jetzt, wo Henne wech is, denkst Du immer noch nur an das Eine!”

„‘tschuldige ...”

„Also, jedenfalls haben die beiden uns gesehen bevor wir sie gesehen hatten, weil wir noch ganz schön aus der Puste waren und uns in dem Vorraum an die Wand gelehnt hatten.”

Die Türme bestanden ja aus dem Treppenhaus in der Mitte und jeweils jedes zweite Stockwerke gab es einen Ebene, von der die Türen zu den vier Quadranten der jeweiligen Wohngruppen abging.

„Und noch bevor wir überhaupt reagieren konnten, haben die uns schon gepackt und an die Wand gedrückt und angeschrien, wo wir denn das Schild haben. Die beiden Typen waren echt auf 180 oder noch mehr. Die waren fuchsteufelswild und echt grob.”

Zum Beweis schob Ben die Ärmel seines Sweatshirts hoch und man sah an beiden Oberarmen deutliche Abdrücke die bezeugten, wie fest Maik und Nico zugepackt hatten. Das sollte wohl morgen ein paar blaue Flecke geben.

„Wir waren total überrumpelt worden und die haben so laut geschrien und wir wussten gar nicht was die überhaupt wollten. Ich hab‘ erst in der Rauferei mitbekommen, dass die das Schild von uns haben wollten! Wir haben dann versucht, denen zu verklickern, dass wir das dusselige Schild gar nicht haben! Aber die haben in dem Augenblick nur eine Sprache verstanden”, meinte Ben und verzog schmerzhaft das Gesicht. Aber gleich darauf blickte er sofort wieder traurig drein und fuhr mit der Erzählung fort.

„Jedenfalls haben die beiden Säcke ganz schön ausgeteilt. Ich hab‘ einen in die Magenkuhle bekommen und war wohl kurz ohnmächtig. Dann haben sie es auf Henne abgesehen. Der is ja auch kleiner. Der Arme!”

Ben kämpfte mit den Tränen, riss sich aber zusammen und versuchte unter Stottern weiter zu berichten: „… und … und … und dann haben sich beide auf den Kleinen gestürzt und mir nur noch einen Tritt verpasst, so dass wieder alles schwarz wurde. Und dann, als ich wieder klar gucken konnte, waren sie auf einmal weg!!!”

„Wie? Weg???” Michel klang mehr als überrascht und auch FX riss die Augenbrauen vor Erstaunen hoch.

„Ja, Alter, ich weiß auch nich. Weg halt. Keiner der Drei war mehr da! Ich konnte sie nicht aufhalten. Das ging alles so schnell! Ich hatte ‘nen Filmriss …”

FX und Michel schauten Ben ratlos an. Michel nahm den komplett aufgelösten Skaterboy in den Arm und drückte ihn fest an sich. Auch FX streichelte langsam seinen Rücken, um ihn weiter zu beruhigen. Während Ben in Michels Arm die Schulter mit Tränen aufweichte, schauten sich Michel und FX etwas ratlos an und überlegten.

„Ben, wie geht‘s Dir? Kannst Du aufstehen? Tut es doll weh?”, fragte FX nach einer Zeit.

„Geht. Is‘ eher wie’n Muskelkater. Ist jetzt viel besser geworden. Vorhin hätt’ ich vor Schmerzen kotzen können.” Und nach einer kurzen Pause: „Hab ich glaub ich auch. Irgendwo. Egal.”

Erleichtert schaute FX über Ben hinweg zu Michel. Dann hatte sein Handauflegen ja etwas gebracht.

„Meinst Du, dass Du bei der Suche nach Henne mithelfen kannst?”

„Diggi, merkst Du’s noch? Klar! Schließlich hab‘ ich ihn im Stich gelassen …”

„Hast Du nicht. Also, kommt”, forderte Michel die anderen auf.

Systematisch durchkämmten sie das Gebäude. Bei der Größe allerdings würden sie dafür zu dritt Tage, wenn nicht gar Wochen brauchen. Dennoch hatten sie während der Suche auch vereinbart, zunächst über den Vorfall Stillschweigen zu bewahren. Über beides, die Sache mit dem Schild und dass Henne und Ben zusammengeschlagen wurden. Keiner wollte das an die große Glocke hängen. Zumal das mit dem Schild ohnehin nur schwer bis gar nicht erklärbar war, schließlich konnte man es nicht einfach austauschen, denn es war im Laufe der Jahre fest ins Holz eingesunken und hatte damit mehr oder weniger eine Einheit gebildet.

Bis weit nach Mitternacht benötigen sie, um die beiden südlichen Türme sowie den Flügel dazwischen nach Henne abzusuchen. Und dabei beschränkte sich ihre Suche lediglich auf die mehr oder weniger offensichtlich zugänglichen Bereiche. Hinter verschlossene Türen wie zum Beispiel die der Mensa oder der anderen Wohnungen konnten sie natürlich nicht blicken. Vollkommen ausgelaugt kamen die Drei wieder Zuhause an und schliefen im Handumdrehen ein.

Auch der Sonntag stand ganz im Zeichen der Suche nach Henne. Diesmal lag der Fokus auf dem Westflügel und dem nordwestlichen Turm, denn am Sonntag herrschte in den dort untergebrachten Hörsälen gähnende Leere. Allerdings war auch ihr Freund nicht aufzutreiben und am morgigen Montag ging die Uni wieder los. Und das Semester.

Niemand wusste so recht weiter, weshalb man beschloss, Henne als krank zu melden und es am Montag nach der Uni im Norden mit der Suche zu probieren.

„Krank?”, kam es spöttisch vom Mathe-Prof am Montagmorgen in voller Lautstärke, so dass es garantiert jeder im Saal hören konnte. „Sie denken wohl auch, dass dies MEIN erstes Semester an diesem Lehrstuhl ist? Natürlich kenne ich die Semester-Ende-Partys! Also richten Sie ihrem Kommilitonen bitte aus, dass er maximal 2 Tage unentschuldigt fehlen darf und am dritten unseren Arzt im Hause aufsuchen muss. Und glauben Sie mir, das ist für niemandem ein Vergnügen!” Dazu vollzog er die Geste als wenn man sich einen Gummihandschuh anzieht und das Ende des Handschuhs bis zur Schulter hochzieht. Der gesamte Hörsaal lachte. Bis auf die drei Freunde.

Die Fächer-Konstellation hatte ich zum Leidwesen aller Studenten vom ersten zum zweiten Semester nicht geändert. Es blieb also beim Montag-des-Grauens, wie er gemeinhin an der Uni über alle Semester hin genannt wurde. Aber dieser Montag zog an den Jungs vorüber, ohne irgendeinen Eindruck zu hinterlassen. Alle Drei fieberten nur dem Ende der letzten Vorlesung entgegen, um endlich den Nordflügel und vielleicht sogar noch den Nordost-Turm nach Henne abzusuchen.

Jedoch sollte auch diese Suche gegen ein Uhr nachts erfolglos unterbrochen werden. Sie hatten wirklich alles durchsucht. Gerade im Norden gab es unzählige Möglichkeiten an Verstecken, da dort von den Ebenen -3 bis +3 die gesamte Bibliothek untergebracht war, die nahezu komplett öffentlich zugänglich war.

Ratlos saßen die Drei auf dem Sofa. Keiner vermochte etwas zu sagen. Alle schwiegen und starrten ins Leere, als sich nach einem kurzen Klopfen die Tür öffnete und Sarah hereintrat.

„Habt Ihr schön den neuesten Tratsch gehört? Naja, eigentlich ist es gar kein Tratsch, weil es 100%ig stimmt, aber egal”, plapperte sie munter drauf los und sah erwartungsvoll in die Runde und wartete auf neugierige Fragen. Als die jedoch ausblieben, fuhr sie verwundert fort: „Wo ist denn Henne eigentlich? Ist er wirklich krank?”

„Der schläft schon. Es geht ihm echt nicht gut.” Michel war der erste, der seine Fassung und Stimme wiederfand und parierte am schnellsten auf Sarahs Frage.

„Ach so. Also, wollt ihr nun wissen, was passiert ist?” Ohne auch nur eine Antwort auf die anscheinend rhetorische Frage abzuwarten, fuhr sie fast im selben Atemzug fort: „Irgendjemand hat das Schild an einem der Fässer im Partykeller ausgetauscht. Na, Ihr wisst schon, die wo ‚vierter Jahrgang’ draufsteht. Auf einem der Plaketten steht jetzt nur noch ‚Arschloch’ drauf. Ist das nicht genial?”

„Ja, schön, doller Scherz … Verdient haben sie es!” Ben konnte, wenn er wollte, echt gelangweilt und fast gemein klingen. Aber niemanden war jetzt nach Smalltalk oder ähnlichem zumute, weshalb Ben die arme Sarah freundlich aber bestimmt mit der Bemerkung, noch Nachbereitungen für die Vorlesung machen zu müssen, hinauskomplimentierte.

„So, und nun?”, fragte Ben. „Morgen nach der Vorlesung haben wir noch einen beschissenen Flügel vor uns zum Suchen. Und wo wir oben quasi gar nicht suchen müssen, weil wir bei den Profen nich reinkommen. Und dann? Was machen wir dann? Was machen wir, wenn wie Henne immer noch nicht gefunden haben? Er muss doch irgendwo sein?”

Michel antwortete zerknirscht: „Dann müssen wir wohl oder übel Meldung machen und irgendwie beim Rektorat eine Vermisstenanzeige aufgeben. Dann ist er fast vier Tage weg. Gott, Henne fehlt mir so!”, rief er laut, sprang auf und rannte in sein Schlafzimmer.

Ben und FX sahen sich stumm und hilflos an. Dann nickte Ben einmal kurz und ging hinter Michel hinterher um ihn zu trösten. Eine Stunde später war er wieder da und sagte knapp: „Er schläft jetzt. Der Arme ist fix und fertig. Selbst im Schlaf hat er noch gewimmert.”

„Ich hätte nicht erwartet, dass ihn das SO mitnimmt. Ben, wir müssen etwas tun. Wenn wir ihn morgen nicht finden, dann …” FX schaute hilflos zu Ben, der seinen Kopf auf FX’ Schoß gelegt hatte und nun erwartungsvoll zu ihm aufsah. „… dann weiß ich auch nicht weiter.”

“Komm, wir gehen zu Michel ins Bett.”

Am Dienstag war der Prof für die Vorlesung am Nachmittag krank. Glück im Unglück, dachte FX nur, als sie die Hausaufgaben von der Tafel abschrieben. Natürlich war FX als erster fertig und steckte das Blatt, was aussah, als wäre es gerade aus dem Drucker gekommen, in seinen Ordner. Die Drei standen auf und eilten davon.

Ihre Suche starteten sie im Partykeller auf -4, von wo aus sie sich langsam nach oben arbeiteten. Da die Ebenen +1 bis +3 der Verwaltung vorbehalten waren, konnten sie dort nicht hinein. So kam es, dass sie bereits am frühen Abend mit ihrer Suche am Ende waren. Und da diese leider erfolglos verlief, waren sie mit den Nerven ebenfalls am Ende.

„Ich geh zum Rektor, ich halte das nicht mehr aus!”, rief Ben, sprang auf, landete aus seinem Board und rollte zur Tür.

Michel hatte das frühe Zubettgehen am Abend zuvor neue Lebensgeister eingehaucht und er war hellwach und aufmerksam: „Moment, Ben, erzähl doch bitte noch einmal, was am Samstag passiert ist!”

„Digga, sach ma, spinnst Du?!? Das haben wir doch alles schon besprochen in den letzten drei Tagen. Meinst Du, Henne kommt wieder, wenn ich das noch einmal erzähl’?”

„Du hast es schon zig Mal erzählt. Ja. Aber ich möchte, dass Du ALLES erzählst. Jedes Detail. Jede Kleinigkeit. Ich möchte das Gefühl haben, dabei gewesen zu sein!“

FX zog überrascht die Augenbrauen hoch. Geniale Idee, dachte er, das ist eigentlich mein Job.

„Ich möchte hören, was Du gehört hast. Ich möchte riechen, was Du gerochen hast. Ich möchte schmecken, was Du geschmeckt hast.”

„Blut und Kotze.“

„Nein, fang vorne an! Denk an das Schild im Partykeller”, fuhr Michel fort, „da ist auch erst bei der zweiten Erzählung herausgekommen, dass das ausgetauscht worden ist …”

Widerwillig und Unverständliches vor sich hin brummend rollte Ben langsam zum Sofa, wo die anderen beiden saßen und quetschte sich mit einem verschmitzten Lächeln dazwischen und atmete einmal tief durch. Er griff nach rechts und links und umfasste die Schultern seiner beiden Freunde und massierte sie einen Augenblick. Die anderen beiden waren zunächst überrascht, schlossen aber alsbald die Augen und genossen die kleine unerwartete Massage.

Nach einigen Minuten, als alle drei sehr entspannt und locker waren, nahm Ben vorsichtig seine Arme wieder nach vorne, lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die Szene vom Samstag wo Henne gekidnappt wurde, noch einmal vor seinem geistigen Auge erscheinen. Er begann zu erzählen, was genau geschah. Wer wann von wem einen Tritt und Schlag abbekommen hatte. Michel und FX beobachteten ihren Freund sehr genau und stellten mit Entsetzen fest, dass Ben sich in die Situation von vor ein paar Tagen emotional sehr hineinsteigerte. Jedes Mal, wenn er von einem Schlag gegen ihn oder Henne erzählte, zuckte sein Körper zusammen!

Michel bedauerte in diesem Augenblick sehr, dass er das von Ben gefordert hatte. Er hatte nicht erwartet, dass es ihn so sehr mitnehmen würde. Aber nun war es zu spät, Ben war bereits voll im Gange mit seiner Berichterstattung und war nun nicht mehr zu bremsen.

Er erreichte den Moment, an dem er selbst zu Boden ging und zum zweiten Mal kurz das Bewusstsein verlor. Eine Träne rann in dem Moment über seine Wange und er beendete seinen mitreißenden Bericht mit den Worten: „Und dann war er weg. Wie von einem Zauberer durch eine Falltür weggezaubert! So lange konnte ich gar nicht bewusstlos gewesen sein. Irgendetwas hätte ich merken müssen. Schritte, Schreie oder sonst etwas. Aber da war nichts mehr. Rein gar nichts! Es war so schrecklich …”

Michel beugte sich über Ben, strich mit einem Finger die Träne weg und flüsterte ihm ins Ohr: „Tut mir leid, dass ich Dich genötigt habe, das noch einmal zu durchleben. Ich hatte ja keine Ahnung!”

Plötzlich schoss es FX wir ein Geistesblitz durch den Kopf! Natürlich! In Comics aus Kindertagen würde in diesem Falle eine Glühlampe über dem Kopf desjenigen erscheinen und aufleuchten, wenn jemand einen genialen Einfall hatte. FX musste sich sehr zusammenreißen, dass dieser Gedanke sich nicht materialisierte, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien wirklich eine altmodische Glühlampe einen Meter über seinem Kopf und leuchtete kurz auf. Da jedoch die Sonne zu dieser späten Nachmittagsstunde durch das Fenster auf das Sofa schien, fiel das kurze Aufblitzen niemandem auf, zumal Michel gerade damit beschäftigt war, Ben die Tränen zu trocknen.

Dank seines Orientierungssinns und seines fotografischen Gedächtnisses hatte er schon seit dem ersten Tag eine Karte der Universität in seinem Kopf angelegt, die jedes Mal erweitert wurde, wenn sie einen neuen Weg gingen oder eine neue Ecke entdeckten. So erweiterte sich der Plan von Tag zu Tag weiter und immer mehr weiße Flecken auf der Landkarte (die bei FX im Kopf in Wirklichkeit schwarz waren) verschwanden und machten dem Lageplan der Universität Platz.

Gerade in den Türmen hatte er sich gewundert, warum die Wände so überdimensional dick waren. Er schob das darauf, dass Wände in alten Gebäuden, gerade in Burgen und Schlössern, ohnehin oft mehrere Meter dick waren, aber die in dem Turm hier waren selbst für damalige Verhältnisse viel zu mächtig. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er die Räume der anderen Quadranten der anderen Studenten nicht kannte. Vielleicht sind deren Wohnzimmer ja gar nicht so aufgebaut und an derselben Stelle, wie unser Zimmer. Das würde dann wiederum bedeuten, dass die Wände gar nicht so dick waren, wie gedacht. Jedenfalls hatte er dieser Tatsache bisher wenig Bedeutung zugemessen.

Aber der gute Ben hatte mit dem Zauberer und der Falltür den entscheidenden Hinweis gegeben. Er lag mit seiner Falltür gar nicht so schlecht, schlussfolgerte FX. Seine neue Theorie, die ihm gerade durch den Kopf schoss, war: Es musste zwischen den einzelnen Quadranten, also der Zimmer und vermutlich auch noch an diversen anderen Stellen in der Universität, geheime Türen und Gänge geben, so dass man sich unbemerkt in der Burg von einem Ende zum anderen bewegen konnte. Das würde erklären, wie die beiden Typen aus dem letzten Semester so schnell mit Henne verschwinden konnten und auch, wieso die Mauern hier scheinbar so dick waren, wenn sie doch nicht massiv, sondern hohl und begehbar waren!

„Alles cremig, Diggi?”, fragte der wieder zu sich gekommene Ben.

„Ja, was ist los? Du siehst aus, als hättest Du Henne gefunden!”

„Naja, nicht ganz, aber vielleicht ein bisschen”, tat FX geheimnisvoll.

„Alter, darüber macht man keine Scherze!!! Spuck’s aus!!!”, kam es ungeduldig und gereizt von Ben.

FX erläuterte den beiden seine Idee und erntete verdutztes Schweigen.

„Ruhe bewahren, ich bin Ovationen gewohnt, danken könnt Ihr mir später”, quittierte FX das Schweigen, was durch diesen Spruch auch nicht beendet wurde. Dafür war die Idee einfach zu abgefahren und zu verrückt.

Also fuhr FX fort: „Wenn man alles Mögliche ausgeschlossen hat, muss das Unmögliche eingetreten sein. Oder hat irgendwer eine bessere Idee?!?”

„Und was sitzen wir hier noch ‘rum??? Henne braucht uns. Seit TAGEN!!!” Plötzlich war Ben ganz aus dem Häuschen, stand bereits auf seinem Board und hatte die Türklinke in der Hand.

„Gemach, gemach. Wir können am helllichten Tage im vierten Stock von Südost nicht nach einer geheimen Tür suchen. Alleine die Suche danach dürfte einiges an Aufsehen erregen. Und wenn wir sie dann finden, ist das nächste Risiko entdeckt zu werden. Und wenn wir dann drin sind? Genau, dann ist es dunkel und wir haben kein Licht dabei. Und und und… Wir müssen uns schon etwas vorbereiten!”

Michel hatte sich von Ben bereits mitreißen lassen und sank frustriert wieder auf das Kuschelsofa: „Manchmal hasse ich Dich für Deine Vernunft! Denkst Du eigentlich immer so weit im Voraus? Wie viele Schritte? Wie beim Schach? Drei? Vier? Fünf?”

„Quatrevingtdixneuf”

„Digga, watt???”

„Das ist 99 auf Französisch und die Antwort auf Deine Frage.”

Schweigen.

„Ich mag die Zahl einfach”, ergänzte FX verlegen.

Michel war verwirrt: „Du hast gerade gesagt, dass Du normalerweise neunundneunzig Schritte im Voraus planst?!? Hast Du einmal überlegt, Schach zu spielen? Oder Go?”

„Ja. Habe ich. Also sogar gemacht. Beides. Ist aber langweilig. Das schwierigste daran ist, einen Gegner auf Augenhöhe zu finden. Im Übrigen sind es nicht 99 Schritte, sondern um ganz präzise zu sein, 99 Ereignisbäume mit je 99 Schritten. Denn jeder Schritt hat andere Konsequenzen und dann … Oh, ich komme vom Thema ab”, stellte FX mit hochrotem Kopf fest.

Die drei fingen also an, sich auf ihre Expedition in die Tiefen der Burg vorzubereiten. Taschenlampen wurden aus den letzten Winkeln hervorgeholt, Akkus aufgeladen und alte Kleidung herausgesucht. Auch etwas einfaches Werkzeug und scharfe Taschenmesser und zwei Seile wanderten in die Rucksäcke. Wieso hat man unzählige Kletterseile in Fünf-Meter-Enden fein säuberlich aufgewickelt im Gepäck, wunderte sich FX über Michels Zugabe zur Expedition.

Um kurz nach Mitternacht brachen sie schließlich auf. Leise verließen sie ihre WG, huschten durch den Südflügel in den anderen Südturm um dort dann im Vierten an die Stelle zu gelangen, an der Henne verschwunden war. Das war quasi am Übergang vom Turm hin zum Westflügel, wo auch die Cafeteria war.

Und dann sahen sie sich um. Ben zeigte noch einmal, diesmal aber voll konzentriert und ohne jegliche Emotionen, auf die Stellen, an der die Prügelei stattgefunden hatte. Aber sie konnten nichts, aber auch rein gar nichts entdecken, was irgendwie nach einer versteckten Tür oder ähnlich Geheimen aussah. Alle Steine der Wand glichen den anderen. Keiner schaute hervor, keiner hatte Spuren. Selbst auf dem Fußboden gab es am Rand nicht mehr Spuren, als in der Mitte. Ratlos sahen sich die Drei an.

„Und nun?”, fragte Michel etwas frustriert.

Die Idee, die Wände abzuklopfen kam von FX. Und so wurde die zweite Such-Runde in dem Bereich gestartet. Diesmal schlug jeder im Abstand eines halben Meters mit der Faust auf die Steine der Mauer und horchten gleichzeitig mit dem Ohr an der Wand, ob es an irgendeiner Stelle anders klang. Aber auch dies führte zu keinem Ergebnis, so dass sich die Jungs nach einer Stunde intensiven Suchens in diesem kleinen Bereich schließlich frustriert auf dem Boden niederließen.

„Naja, die Idee war zumindest nicht schlecht”, seufzte Ben. „Es hätte ja sein können.”

„Nur, weil wir den Eingang nicht finden, bedeutet es nicht, dass er nicht da ist”, konterte FX und deutete auf eine kleine Kugel aus Staub, die langsam über den Boden rollte, obwohl hier im Gang absolut kein Lüftchen wehte.

Mit den Augen verfolgten Ben und Michel die Spur des Staubbällchens zurück und ihr Blick blieb an einer Wand hängen, die alle drei in der vergangenen Stunde bereits mehrfach untersucht hatten. Selbst bei näherem Hinsehen, direkt mit der Nase davor, war bei der Fuge zwischen Wand und Boden auf mehreren Metern Länge kein Unterschied zu erkennen. Erst, als Michel ein Feuerzeug aus der Tasche zog und die Flamme dicht über dem Boden hielt, konnten sie den Bereich ausmachen, wo es zog und wo nicht. Es waren lediglich etwa 60 Zentimeter, die die Tür an Breite hatte. Nun war es also gewiss: Es gab verborgene Türen und damit auch verborgene Gänge hier in dem alten Gemäuer!

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