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Raffael

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Inhaltsverzeichnis

1

Ich fühlte mich echt beschissen, als das Auto in den Hof fuhr und sich die Türen des Hofes

automatisch wie von Geisterhand schlossen. Das war es nun, was ich fast anderthalb Jahre

erfolgreich verhindert hatte: Jetzt war ich völlig hilflos, konnte nicht mehr gehen, wohin ich wollte

und war dem, was kam völlig ausgeliefert. Die Tür des Wagens öffnete sich von außen und ein

Polizist befahl mir auszusteigen. Ich trug immer noch die Handschellen, die man mir im Gericht

gleich nach der Urteilsverkündung angelegt hatte. Schweigend ging ich vor dem Polizisten her. Die

letzten Jahre gingen mir durch den Kopf.

Mit 13 war meine Polizeiakte schon dicker als bei manchen Schwerverbrechern. Es verging

praktisch keine Woche, in der ich nicht Polizeikontakt hatte: Ladendiebstähle, Taschendiebstähle

oder auch mal ein kleiner Raub. Das ging so bis kurz vor meinem 14. Geburtstag. Und das war

mittlerweile schon 18 Monate her. Der diensthabende Polizist sagte damals zu mir:

»Das dürfte das letzte Mal gewesen sein, dass du ungeschoren davonkommst. Nächste Woche bist

du strafmündig und bei deiner Akte kannst du auch keine Milde erwarten. Ich schließe jede Wette

ab, dass du in spätestens zwei Wochen im Knast sitzt». Allein die Vorstellung bereitete mir einen

derartigen Horror, dass ich mich vorübergehend völlig unauffällig verhielt. Ich lebte sogar die

meiste Zeit wieder bei meinen Eltern, obwohl das auch nicht viel besser war als im Knast zu sitzen.

Es gab ständig Zoff, ich bezog oft Prügel und zwar nicht zu knapp. Das war auch der Hauptgrund

gewesen, warum ich kaum noch bei meinen Eltern gewohnt hatte, sondern die Strasse vorgezogen

hatte. Aber auch bei geringen Ansprüchen, ohne Geld kann man auch auf der Strasse nicht

überleben. Und um dieses Geld zu beschaffen, hatte ich halt zu nicht ganz legalen Methoden

gegriffen. Ich suchte krampfhaft nach einer »legalen« Geldbeschaffungsmethode. Ich wollte unter

allen Umständen von zu Hause weg. Zunächst versuchte ich es mit betteln. Obwohl es mich viel

Überwindung kostete, brachte ich es schließlich fertig, Leute anzuquatschen und um Geld

anzuhauen. Es war ein ziemlich mühsames Geschäft. Man bekam höchstens mal 1 DM. Es reichte

gerade zum Überleben.

Inzwischen waren wir beim Büro des Gefängnisleiters angekommen. Der Polizist klopfte und schob

mich hinein. Er begrüßte den Anstaltsleiter und übergab ihm meine Akte.

»Sie können dem Jungen die Handschellen jetzt abnehmen« sagte der Leiter.

Der Polizist befreite mich von den Handschellen und verabschiedete sich dann.

»Mein Name ist Hansen«, begann der Direktor.

»Und du bist Rafael Schumann?« fragte er daraufhin.

Blöde Frage, das konnte er doch in meiner Akte lesen. Um nicht gleich unangenehm aufzufallen,

nickte ich dennoch.

»geboren am 14. Dezember 1985?«, setzte er fort. Wieder nickte ich.

»so, du wirst also 1 Jahr bei uns bleiben. Schwerer Diebstahl«

Ich konnte mich noch nachträglich in den Hintern beißen, wenn ich daran dachte. Aber das viele

Geld, das der Typ in seinem Portemonnaie herumtrug, war halt zu verlockend für mich gewesen. Es

hätte locker für einen Monat gereicht. Da konnte ich nicht widerstehen. Ich hatte auch nicht damit

gerechnet, dass der Typ Anzeige erstattet. Den meisten wäre es nämlich zu peinlich gewesen, da sie

ja auch Angeben über den Tathergang machen mussten.

»Wir sind ziemlich stark belegt«, unterbrach Herr Hansen meine Gedanken.

»Normalerweise versuchen wir, unsere Insassen entsprechend ihrem Alter zusammenzulegen. Du

gehörst eher zu den Jüngeren. Die Masse ist zwischen 17 und 20 Jahre alt. Ich werde dich zu

Oliver, Rasmus und Tim in die Zelle legen. Oliver und Rasmus sind 14 , Tim ist 16. Da liegst du

mit 15 gerade in der Mitte.»

Er drückte auf eine Knopf am Schreibtisch. Kurze Zeit später erschien ein kräftiger, untersetzter

Mann von etwa 50 Jahren. Der Direktor stellte mich Herrn Müller vor und instruierte ihn.

»Herr Müller wird dich einweisen. Ich hoffe, dass du dich hier gut benimmst und uns keine

Schwierigkeiten machst. Dann werden wir auch keine Probleme miteinander haben», sagte Herr

Hansen noch zum Schluss. Mir lag schon eine bissige Entgegnung auf der Zunge, aber ich konnte

mich gerade noch einmal beherrschen. Dem Typen schien wohl das wichtigste zu sein, dass Ruhe in

seinem Knast herrschte, alles Andere war für ihn wohl zweitrangig. Ich schwieg also und verließ

mit Herrn Müller das Zimmer.

»Wir werden dich zunächst einmal einkleiden«, sagte Herr Müller. »Danach müssen wir sehen, ob

wir noch etwas zu essen für dich bekommen. Die anderen haben schon alle zu Abend gegessen und

sind bereits in ihren Zellen.»

Inzwischen waren wir an der Kleiderkammer angekommen. Herr Müller suchte mir einen Satz

Anstaltskleidung heraus.

»Leg deine privaten Sachen hier auf den Tisch und zieh deine Sachen aus«, befahl Herr Müller.

Während ich mich auszog schrieb Herr Müller bereits eine Quittung über die erhaltenen Sachen

aus. Ich fand die ganze Prozedur erniedrigend, obwohl ich es gewohnt war, mich vor anderen

auszuziehen, und obwohl Herr Müller mich nicht weiter beachtete. Ich zog schnell die

Anstaltskleidung an, Herr Müller übergab mir die Quittung für meine Sachen, ich nahm meine

übrigen Sachen auf den Arm und wir gingen beide zur Küche, wo ich noch einige Reste bekam.

Anschließend gingen wir in Richtung des Zellentraktes. Herr Mueller musste immer wieder Türen

aufschließen und hinter uns wieder verschließen. Er sagte sonst keinen Ton. Wir gingen

schweigend nebeneinander her. Deshalb hallten unsere Schritte besonders laut in den leeren Gängen

wieder. Ich fand es beinahe wie im irgendwelchen Gefängnisfilmen, die ich mal gesehen hatte. Das

Gefängnis war auch schon ein ziemlich alter Kasten. Jedenfalls konnte man in den Zellen schon

minutenlang vorher hören, wenn einer der Wärter kam. Nach mehreren Schleusen waren wir

endlich bei den Zellen angekommen. Glücklicherweise waren die Türen noch nicht abgeschlossen.

Aus den Räumen drang vielstimmiges Geräusch. Endlich langten wir bei meiner Zelle an. 322 las

ich an der Tür. Der Raum war erstaunlich klein. Ich glaube nicht, dass es mehr als 15 m2 waren.

Ansonsten war alles sehr spärlich eingerichtet. Es gab vier Betten, die sich jeweils gegenüber

standen. Weiterhin gab es einen Schreibtisch und einen kleinen Schrank für alle. Na ja, man hatte ja

auch kaum Sachen, die man unterbringen musste. Dann gab es noch ein Waschbecken und eine

Toilette, gerade mal durch einen kleinen Sichtschutz abgetrennt, sehr gemütlich. Ich beschloss

schon mal, diese wirklich nur im äußersten Notfall zu benutzen.

Meine Zellengenossen waren bereits alle da. Herr Müller stellte mich ihnen vor.

Die beiden jüngeren machten einen etwas verschüchterten Eindruck, blickten zu Boden und

schienen überhaupt sehr unglücklich zu sein. Sie vermieden jeden Blickkontakt. Davon abgesehen,

waren sie sehr hübsch. Beide waren zierlich gebaut und hatten halblange Haare. Rasmus hatte eine

etwas dunklere Hautfarbe als Oliver.

Tim sah auch toll aus . Er war schlank, hatte dunkle Haare, braune Augen und ein ausnehmend

hübsches Gesicht. Er blickte mich frech und herausfordernd an. Es bestand kein Zweifel, dass er

hier in der Zelle das Sagen hatte. Herr Müller wandte sich auch sofort an ihn.

»Nimm Rafael mit zum Duschen und erklär ihm auch sonst, wie der Tagesablauf ist. Ihr müsst euch

beeilen, in einer Dreiviertelstunde wird abgeschlossen.» Sprach's und verschwand.

»Weswegen bist du denn hier«, fragte Tim.

»Ich hab nem Typen die Brieftasche abgenommen. Schwerer Diebstahl. Ein Jahr« Die näheren

Umstände verschwieg ich.

»Und du?«, fragte ich.

»Autodiebstahl mit Unfall. 2 Jahre«, war die Antwort. Die beiden sind wegen Einbruchs hier»,

antwortete Tim auch gleich für Rasmus und Oliver.

Ich fragte mich, warum die beiden so verschüchtert waren. Klar, keiner war gerne hier, aber ich

dachte, dass man sich mit der Zeit vielleicht daran gewöhnt. Aber Rasmus und Oliver schienen

auch vor etwas Angst zu haben.

»Los, wir müssen duschen« unterbrach Tim meine Gedanken. Hastig griffen Rasmus und Oliver

ihre Sachen und verschwanden. Ich fragte mich, ob Tim vielleicht die Ursache ihrer Angst war.

Auf dem Weg zur Dusche trafen wir viele Mitgefangene, die mich alle neugierig musterten.

Manche fragten auch direkt, wer ich sei und warum ich hier wäre. Die Dusche wimmelte von

nackten Jungs. Die meisten waren, wie Herr Hansen bereits gesagt hatte, zwischen 17 und 20.

Ich zog mich schnell aus und versuchte heftig an etwas absolut Unerotisches zu denken, damit ich

keinen Steifen bekam. Die anderen Jungs betrachteten mich dagegen mit großem Interesse und

machten auch noch Bemerkungen über meinen Schwanz. Ich hörte Worte wie »Den würde ich auch

nicht von der Bettkante stoßen» und ähnliches.

Das alles hatte zur Folge, dass ich es nicht verhindern konnte, einen Steifen zu bekommen. Es

folgten die üblichen Bemerkungen. »Guck mal den kleinen Schwuli da« und ähnliches. Ich wurde

rot von Kopf bis zu den Füssen und sah zu, dass ich fertig wurde. Tim war gleichzeitig fertig. Als

wir gemeinsam die Dusche verließen, sagte ein etwa 18 jähriger zu Tim:

»Na, dann viel Spaß«, wobei er mich spöttisch ansah. Ich deutete das als hier übliche

Begrüßungsfloskel und maß dem keine Bedeutung zu.

In der Zelle waren Rasmus und Oliver bereits wieder zurück.. Die jüngeren hatten die beiden

hinteren, Tim und ich die beiden vorderen Betten. Die beiden Kleinen legten sich sofort in ihre

Betten. Ich räumte noch meine Sachen in meinen Teil des Schrankes.

Tim sagte:

»Du wirst morgen schon sehen, wie alles hier läuft. Du machst am besten alles, was wir auch

machen..»

Toll, dachte ich. Besonders gesprächig scheint der aber auch nicht zu sein. Andererseits schien er

mir auch recht nervös zu sein. Bevor ich mir aber noch darüber Gedanken machen konnte, kam

Herr Müller, warf noch eine Blick in die Zelle, wünschte gute Nacht und schloss die Tür von außen

ab.

Da war es nun, dieses so furchtbare Gefühl, auf 15 Quadratmeter reduziert zu sein. Ich hatte das

zwar schon ein paar Wochen während meiner U-Haft mitgemacht, aber da war alles noch etwas

weniger eingeengt. Man durfte noch seine eigene Kleidung tragen und die Räume waren auch sehr

viel freundlicher angelegt. Außerdem hatte mich die Tatsache, alleine in einem richtigen Bett

schlafen zu können, die eingeengte Freiheit etwas vergessen lassen. Aber dieser Reiz war

mittlerweile auch verblasst. Zum Glück war es Abend und ich auch entsprechend müde. Ich hatte

nie gedacht, dass man auch müde werden konnte, wenn man den ganzen Tag eigentlich nichts tut.

Tim legte sich in sein Bett und auch ich legte mich hin. Ich blickte auf die kahlen Zellenwände.

Alles machte irgendwie einen sterilen Eindruck. Die einzige Abwechslung in der beigen Farbe der

eintönigen Wand waren ein paar zerquetschte Mücken. Das einzige Fenster war so hoch

angebracht, dass man kaum rausgucken konnte ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen. Und dann

noch die Zellentür. Ebenfalls in diesem furchtbaren beige gestrichen und in der Mitte ein Guckloch.

Alles einfach widerlich! Ich glaubte mich irgendwie im falschen Film. Wie sollte ich das hier nur

ein Jahr aushalten ohne trübsinnig zu werden. Dazu kam dann noch diese eigenartige Stimmung in

dieser Zelle: die beiden total verängstigten Jungs und dann noch der schweigsame und gleichzeitig

nervöse Tim. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Der einzige Lichtblick war, dass die drei

anderen alle toll aussahen. Aber das würde kaum reichen, um mich ein ganzes endloses Jahr über

Wasser zu halten. Obwohl draußen auch nicht immer alles so toll gelaufen war, besser als das hier

war es noch allemal. Zu Hause bei meinen Eltern hatte ich es zwar irgendwann absolut nicht mehr

ausgehalten. Als mein Vater dann noch eines Tages arbeitslos wurde und die ganze Familie auch

noch tagsüber terrorisierte, hat es mir dann endgültig gereicht. Also bin ich abgehauen und habe

fortan auf der Strasse gelebt. Ich machte Leute an und spielte die Mitleidsnummer. Besonders

ergiebig war das allerdings nicht. Es brachte maximal 15 DM am Tag, was mehr schlecht als recht

reichte. Das meiste ging für Essen drauf. Für neue Kleidung blieb da nichts mehr übrig. Ich war

zwar fast in der Versuchung, mir diese per Ladendiebstahl zu besorgen, aber ich konnte mich

gerade noch zurückhalten. Ich kam immer mehr runter. Dazu kam dann noch die Einsamkeit. Ich

hatte zwar hin und wieder Kontakt zu anderen Straßenkids, aber die standen fast alle auf Drogen

und damit wollte ich dann doch nichts zu tun haben. In die Schule konnte ich auch nicht mehr

gehen, obwohl ich das schon noch gerne gemacht hätte. Aber wo sollte ich denn die Bücher

herbekommen. Und irgendwann wäre auch aufgeflogen, dass ich nicht mehr zu Hause wohnte;

nicht, weil meine Eltern mich dort gesucht hätten. Die hatten nicht mal eine Vermisstenanzeige

aufgegeben, so egal war ich denen. Im Gegenteil, die waren wahrscheinlich froh, dass ich nicht

mehr da war. Aber irgendwann wäre es aufgefallen, dass ich auf der Strasse lebte. Es gelang mir

zwar gerade noch, mich einigermaßen sauber zu halten, obwohl das Waschen in Kaufhaus- oder

Bahnhofstoiletten nicht gerade angenehm ist. Mein Kleidung sah aber mehr und mehr abgerissen

aus.

Eines Tages quatschte ich einen Mann im Anzug an. Er war Anfang 40 und sah nach Geld aus.

Normalerweise bekam ich von solchen Leuten nie etwas. Frauen waren meistens ergiebiger. Ich

weiß auch nicht mehr, warum ich ihn angesprochen habe. Zunächst schien es auch wie

voraussehbar ein Misserfolg zuwerden. Der Mann musterte mich von oben bis unten. Dann sagte er:

»Warum bettelt ein Junge wie du. Bei deinem Aussehen gibt es doch bessere Möglichkeiten an

Geld zu kommen».

Ich blickte ihn fragend an.

»Ich geb dir 30 DM, wenn du mit mir kommst und ein bisschen nett zu mir bist«, fuhr der Mann

fort. Ich verstand noch immer nicht genau, was der Mann von mir wollte. Das ist vielleicht nicht

ganz richtig, denn ganz so naiv war ich doch nicht. Aber vielleicht wollte ich es ja auch gar nicht so

genau wissen oder habe es einfach nur verdrängt. Denn 30 DM waren sehr viel Geld und der Typ

sah eigentlich ganz normal aus. Obwohl ich misstrauisch war, ging ich schließlich mit ihm. Er

nahm mich mit zu sich nach Hause. Dort begriff ich dann auch, was er von mir wollte. Erst wollte

ich sofort wieder abhauen, aber dann dachte ich: Was soll's, es geht um 30 DM, und wenn's so

furchtbar ist, war's halt eine einmalige Aktion. Es war nicht sehr angenehm, aber zu meiner eigenen

Überraschung bekam ich auch einen Steifen, als der Mann mich anfasste. Er schaffte es sogar mir

einen runterzuholen. Das ganze Erlebnis war nicht so abschreckend und brachte immerhin

innerhalb kurzer Zeit das Geld für mehr als zwei Tage Betteln ein.

Ich landete recht schnell auf dem Strich, zumal ich das Betteln noch entwürdigender fand. Ich

bekam schnell mit, dass man auf dem Strich viel mehr Geld machen konnte. Mein erster Freier

hatte mich praktisch zum Sozialtarif bekommen. Obwohl ich mich manchmal ekelte, gewöhnte ich

mich schnell an den Job und oft genug hatte ich auch selbst einen Abgang. Das war anfangs ganz

schön schwierig für mich. Wieso kriege ich einen Steifen, wenn mir ein Typ, dem ich unter

normalen Umständen nicht näher als zehn Meter gekommen wäre, an den Schwanz packt? Und wie

kann ich unter diesen Umständen auch noch einen Orgasmus bekommen? Ich war doch nicht

irgendwie abartig veranlagt! Manchmal ekelte ich mich vor mir selbst. Es wurde erst dann besser,

als ich das ganze nur noch als Job betrachtete. Ich schloss meistens die Augen und träumte, dass

mich ein niedlicher Junge streichelt. Das half dann etwas. Ich hatte sowie so seit einiger Zeit

bemerkt, dass ich mich nach hübschen Jungs, aber nicht nach Mädchen umdrehte.

Finanziell war das ganze ein Erfolg. Ich machte jetzt genügend Geld , um genug zum Essen kaufen

zu können und mich sauber zu halten. Es reichte locker auch für neue Klamotten, und zwar solche,

die ich mir früher nicht leisten konnte. Mein Kleiderschrank war zwar ein Schließfach im Bahnhof,

aber zumindest hatte ich jetzt eines und auch das Geld, um das Schließfach zu bezahlen.

Eines Tages ging ich mit einem Freier Mitte 40 in sein Hotel. Der Typ war eigentlich ganz nett,

allerdings etwas unvorsichtig. Er ließ seine Geldbörse im Zimmer liegen während er kurz auf der

Toilette verschwand. Ich nutzte die Zeit, um den Inhalt zu überprüfen. Es waren weit über 1000

DM. Als er das nächste Mal im Bad verschwand, zog ich mich hastig an, griff die Geldbörse und

verschwand. Das Herz pochte mir zwar bis zum Hals und ich dachte an den drohenden Knast, aber

ich glaubte eigentlich nicht, dass er Anzeige erstatten würde. Zur Sicherheit ließ ich mich einige

Tage nicht auf dem Strich sehen. Ich hatte ja auch Geld genug. Aber als ich wieder auftauchte,

wurde ich fast sofort verhaftet. Unvorsichtigerweise hatte ich auch das Portemonnaie nicht

weggeworfen, so dass auch Leugnen nichts half. Auch mein geringes Alter hatte den Freier nicht

davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Er behauptete einfach, ich hätte ihm gesagt, dass ich über

18 wäre. Das hatte ich ängstlichen Freiern auch immer versichert. Ich wurde also verhaftet. Bereits

nach drei Wochen Untersuchungshaft hatte ich meinen Prozess. Beschleunigung der Strafverfahren

nannte man das Projekt, die Verfahren möglichst unmittelbar der Tat folgen zu lassen. Der Richter

war ein Hardliner, »law and order«, Mitglied in der »Richterinitiative zur Herabsetzung der

Strafmündigkeit auf 12 Jahre». Für ihn war ich Abschaum, vor dem man die Gesellschaft schützen

müsste. Entsprechend war dann auch das Urteil. Aufgrund meiner dicken Akte wurde meine Strafe

auch nicht zur Bewährung ausgesetzt, so dass ich schließlich hier gelandet bin. Ich könnte mich

noch nachträglich ohrfeigen, dass ich der Versuchung erlegen bin. Mit diesen Gedanken schlief ich

endlich ein.

2

Ich wurde abrupt geweckt. Irgendetwas Schweres lag auf meiner Brust und quetschte mir fast den

Atem ab. Es dauerte einige Zeit bis ich realisierte, wo ich war und was überhaupt passiert war.

Jemand saß auf meiner Brust und hielt meine beiden Arme runtergedrückt. Trotz der Dunkelheit

konnte ich Tim's Gesicht über mir erkennen. Er saß nackt auf mir und zischte:

»Versuch nicht, dich zu wehren. Du machst dann alles nur noch schlimmer. Rasmus und Oliver

werden dir nicht helfen.»

Er klemmte meine beiden Arme unter seine Knie, so dass ich mich nicht rühren konnte. Dann

richtete er sich ein bisschen auf und ließ seinen steifen Schwanz um meinen Mund kreisen.

Gleichzeitig griff er mit einer Hand in meine Hose und ergriff meinen Schwanz, der gegen meinen

Willen sofort versteifte. Tim deutete das mehr oder weniger als Einverständnis und schob mir

seinen Schwanz in den Mund.

»Und halt ja deine Zähne weg, wenn dir dein Leben lieb ist«, zischte er noch.

Ich dachte fieberhaft nach, was ich tun sollte. Nicht, dass es so furchtbar gewesen wäre, Tim einen

zu blasen. Ich fand ihn sogar recht attraktiv und er hätte mich wahrscheinlich leicht überreden

können. Aber hier ging es um etwas anders, begriff ich. Das hatte nichts mit Liebe, noch nicht

einmal etwas mit Sex zu tun. Hier ging es nur um Macht, darum, mir zu zeigen, wer hier das Sagen

hat, und das mit brutaler Gewalt. Ich fasste sofort einen Plan. Ich musste ihn dazu bringen, die

Umklammerung zu lockern. Ich hatte zwei Vorteile, von denen er nichts wusste. Ich hatte

wahrscheinlich schon mehr Sex gehabt als alle Jungs in der Zelle zusammen. Und ich hatte gelernt,

mich gegenüber aufdringlichen Freiern zur Wehr zu setzen. Ich musste es schaffen, ihn auch mit

Sex zu unterdrücken, wenn ich nicht sein Opfer werden wollte. Aber im Moment konnte ich mich

nicht rühren. Also blies ich ihm zunächst mal einen und zwar so, wie er es bestimmt noch nicht

gehabt hatte. Erfahrung hatte ich ja genug. Das Ergebnis war auch entsprechend. Tim's Geilheit

steigerte sich und er war so erstaunt, dass er mir Komplimente machte:

»Du bläst ja besser als Rasmus und Oliver zusammen«, stöhnte er. Gleichzeitig löste er die

Umklammerung etwas. Je mehr sich seine Erregung steigerte, desto geringer wurde seine

Umklammerung. Ich merkte, dass er bald kommen würde. In dem Moment wollte ich losschlagen.

Heftigeres Gestöhne deutete seinen Orgasmus an. Schließlich kam er und schoss mir seinen Saft in

den Mund. Wie erwartet, konnte er sich nicht mehr unter Kontrolle halten und löste die

Umklammerung für eine Sekunde völlig. Das reichte mir, um unter ihm durchzurutschen und mich

auf seinen Rücken zu werfen. Mit den Knien drückte ich seine Oberschenkel runter, mit den

Händen hielt ich seinen Oberkörper unten, so dass er seine Arme nicht gebrauchen konnte. Tim war

offensichtlich völlig überrascht. Er hatte bestimmt nicht mehr mit einer Gegenwehr gerechnet.

Sonst hätte ich ihn bestimmt nicht so leicht überlisten können. Als er dann realisierte, was gerade

passierte, war es bereits zu spät. Er war fest unter mir gefangen. Ich lag mit meinem ganzen

Gewicht auf ihm. Ich spuckte sein Sperma, das ich noch im Mund hatte, auf seine Arschspalte. Tim

kniff seinen Arsch zusammen. Dennoch schaffte ich es mit einer Hand, das Sperma auf seiner

Rosette zu verteilen und seine Schließmuskel damit gleitfähig zu machen.

»Je mehr du dich wehrst, desto schmerzhafter wird es«, flüsterte ich ihm zu.

Er begriff, was ich vorhatte und kniff seine Arschbacken soweit wie möglich zusammen. Doch das

nutzte ihm nichts. Ich hatte genügend Erfahrungen, wie man trotzdem eindringen konnte. Bisher

hatten es zwar immer andere bei mir gemacht, aber umgekehrt sollte es auch funktionieren. Mit

meinem Steifen stieß ich gegen seine Rosette und drang dank der guten Gleitwirkung von Tim's

Sperma ohne große Probleme in ihn ein. Tim stieß einen Schmerzensschrei aus. Er war wohl noch

nie gefickt worden. Geschieht ihm Recht, dachte ich. Dennoch wartete ich einen Moment, bevor ich

anfing, ihn ranzunehmen. Tim stöhnte jetzt nur noch leise vor Schmerzen. Langsam begann ich ihn

zu ficken. Tim stöhnte jetzt so, dass ich fast schon Mitleid mit ihm bekam. Auch das hier hatte mit

Sex nichts zu tun. Es war ein reiner Machtkampf. Und das war auch mein Problem. Meine

Erregung ließ langsam nach und ich wollte mich schon aus Tim zurückziehen. Ich wollte ja keine

Macht über ihn, ich wollte ja nur, dass er keine Macht über mich ausübt. Aber in diesem Moment

passierte etwas Unerwartetes: Tim's Stöhnen veränderte sich. Es hörte sich jetzt eher wie vorhin an,

als ich ihn geblasen hatte. Ich griff mit einer Hand nach seinem Schwanz und wirklich, dieser war

wieder vollends ausgefahren. Sofort war auch meine Erregung wieder da. Ich fickte ihn jetzt

heftiger. Auch Tim's Stöhnen wurde heftiger. Ich legte mich auf ihn, mein Gesicht lag auf seiner

Schulter. Ich sog seinen Duft in mich ein. Sein Duft war betörend. Ich konnte nicht genug davon

kriegen. Als ich schließlich kam und mein Sperma in seinen Darm schoss, glaubte ich zu hören,

dass auch er einen Orgasmus hatte.

Rasmus und Oliver hatten das Ganze von Anfang an mitbekommen. Anfangs taten sie so, als ob sie

schliefen, obwohl Tim bestimmt nichts dagegen hatte, dass sie seinen Triumph über mich erlebten.

Als sich die Sache dann aber nicht so entwickelte, wie Tim sich das gedacht hatte, richteten sich die

beiden in ihren Betten auf und schauten anfangs ungläubig und dann neugierig zu uns herüber. Als

die Sache dann zu Ende ging, stellten sie sich wieder schlafend.

Sobald ich Tim freigab, stand er ohne ein Wort auf und ging hinüber zu seinem Bett. Wo er gelegen

hatte, hinterließ er tatsächlich einen feuchten Fleck. Ich hatte mich also nicht verhört.

Ich hörte Tim noch vor Wut in seinem Bett heulen, aber nach einiger Zeit wurde er ruhiger und

dann hörte ich nur noch sein gleichmäßiges Atmen. Er schien eingeschlafen zu sein. Ich selbst

konnte nicht einschlafen. Zum einen wollte ich nicht nochmals so überrascht werden, zum anderen

war ich durch das Geschehene zu sehr aufgewühlt. Ich war noch nie in einer solchen Situation.

Wenn ich hier überleben wollte, musste ich ganz schnell begreifen, was hier abging und wie alles

hier lief. Tim's Aktion hatte nichts –oder zumindest am Anfang nichts- mit Sex zu tun, sagte ich

mir immer wieder. Er benutzte den Sex nur als Mittel um –in diesem Fall mich- gefügig zu machen.

Er machte das bestimmt auch mit Rasmus und Oliver. Das erklärte auch, warum sie so

verschüchtert waren. Für Tim hatte das auch nichts mit »schwul sein« zu tun. Schwule waren im

Knast offensichtlich genau so wenig oder noch weniger gelitten als draußen. Ich hatte das ja am

Abend beim Duschen mitbekommen können. Dennoch gab es offensichtlich schwulen Sex im

Knast, wahrscheinlich nicht nur in dieser Zelle. Aber der lief nicht offen ab, sondern anscheinend

unter einem Deckmantel. Und dieser Deckmantel hieß: »sich andere gefügig machen«. Sex wurde

hier offensichtlich als Zeichen der Gewalt eingesetzt. Deshalb musste es für Tim eine Katastrophe

sein, was da heute nacht abgelaufen war, wobei ich mich noch fragte, was schlimmer für Tim war:

dass er von mir gefickt worden war oder dass ihm, Tim, dabei einer abgegangen war. So wie ich

das System zu durchschauen glaubte, hatte ich jedenfalls einen kleinen Vorsprung vor Tim. Für den

Moment war ich derjenige, der das Sagen hatte. Aber wie lange? Bis Tim das nächste Mal eine

bessere Gelegenheit hatte, mich zu erwischen? Wie konnte ich das verhindern? Indem ich mich

genauso verhielt wie Tim und ihn präventiv durchfickte, und vielleicht auch noch gleich Rasmus

und Oliver mit? Auch wenn mir der Gedanke, mit den dreien zu schlafen, eine Erektion machte,

wollte ich doch nicht Sex als Mittel der Gewalt einsetzen. Auf der anderen Seite fiel mir aber auch

nichts ein, was ich anderes tun könnte. Es ging hier wohl nur nach der Methode schlagen oder

geschlagen werden. Es war wohl ein permanenter Krieg. Das war ja alles noch Lichtmeilen

schlimmer als draußen auf dem Strich. Das einzige, was ich vielleicht noch versuchen konnte, wäre

trotz allem mit Tim zu sprechen und zu versuchen, irgendwie an ihn ranzukommen. Ich nahm mir

vor, es wenigstens zu versuchen. Ich konnte ihn trotz des heutigen Ereignisses nicht hassen. Und

das verwirrte mich noch mehr. Meine Gedanken waren hin und her gerissen zwischen Wut und

unerklärlicher Anziehung. Einerseits war ich wütend über das, was er mir antun wollte, andererseits

bereitete mir der Gedanke an ihn ein Ziehen in der Brust, eine unerklärliche Sehnsucht. Ich mochte

auch nicht glauben, dass er in seinem Innersten so gestrickt war. Wahrscheinlich hatte er für sich

keine andere Überlebensmöglichkeit in dieser Umgebung gesehen. Warum suchte ich überhaupt

Entschuldigungsgründe für ihn! Scheiße, ich hatte mich doch nicht etwa in ihn verguckt? Die

Gedanken rotierten nur so in meinem Kopf. Völlig verunsichert und völlig erschöpft schlief ich

endlich doch noch ein.

3

Am nächsten Morgen bestätigten sich viele meiner Überlegungen. Tim versuchte meinem Blick

auszuweichen und blickte zu Boden. Der freche und herausfordernde Blick war aus seinem Gesicht

entschwunden. Die beiden anderen Jungs brachten nun das unterwürfige Verhalten mir statt Tim

gegenüber auf. Ich wollte so schnell wie möglich mit Tim sprechen, das hatte ich mir

vorgenommen. Allerdings musste ich mich ja auch erst mal mit dem Tagesablauf vertraut machen

und mich in dem ganzen Gebäude zurechtfinden. Im sogenannten inneren Trakt konnte man sich

,zumindest tagsüber, fast frei bewegen. Neben den Zellen gab es dort noch den Speisesaal, die

Unterrichts- und Gruppenräume und natürlich die ganzen Sanitäranlagen. Das ganze war durch mir

endlos scheinende Gänge verbunden. Man konnte sogar ins Freie, wo es neben einigen Sportgeräten

noch einen Fußballplatz gab. Der endete allerdings vor einer 5 m hohen, stacheldrahtbewehrten

Mauer. Die Mauer schien das einzig neue an dem ganzen Knast zu sein. Gegenüber dem

Verwaltungstrakt, den Lagerräumen und auch der Küche war der innere Trakt durch ein

Schleusensystem abgesichert. Die anderen erzählten mir, dass ich diese Schleusen während meiner

gesamten Haftzeit nicht mehr durchschreiten würde. Es hätten zwar mal zwei Jungs probiert, in

dem Aufzug, mit dem das Essen von der Küche in den Speisesaal geschafft wurde, in den äußeren

Trakt zu gelangen, aber dort gäbe es eine Alarmsicherung. Die beiden wären schon gefasst worden,

als sie aus dem Aufzug krabbeln wollten. Was mich erstaunte war auch, dass es nur sehr wenige

Wärter gab. Einige Jungs, die schon länger da waren, erzählten, dass es früher mal mehr Wärter

gegeben habe. Aber wegen des Kostendrucks musste die Anzahl verringert werden. Darüber hinaus

wollte sowie kaum einer diesen schlecht bezahlten, schwierigen Job machen. Allerdings sei die

Hälfte der Wärter immer im äußeren Trakt anzutreffen. Obwohl man sich recht frei bewegen

konnte, war der Tagesablauf doch reglementiert. Morgens war Schule, nach dem Mittagessen gab

es Sport. Anschließend mussten wir dann unsere Hausaufgaben in den Klassenräumen machen.

Schließlich gab es noch eine gemeinsame Arbeitsgruppe –da sollte wohl so etwas wie

Resozialisierung geübt werden- und dann war auch schon wieder Zeit zum Abendessen.

Dazwischen mussten dann noch Reinigungsarbeiten gemacht werden. Es gab einen regelrechten

Arbeitsplan, nachdem jede Zelle mal für irgendeine Reinigungsarbeit zuständig war. So war man

mehr oder weniger den ganzen Tag beschäftigt. Daher hatte ich auch keine Gelegenheit, mit Tim

alleine zu sprechen. Während ich keine Zeit fand, mit Tim zu sprechen, sorgten jedoch Rasmus und

Oliver für die Verbreitung dessen, was sich in unserer Zelle abgespielt hatte. Spätestens beim

Mittagessen wussten alle Bescheid. Ich bekam bewundernde Blicke, während Tim ignoriert wurde

oder vielleicht noch einige mitleidige oder verächtliche Blicke erntete. Wenn ich ihm begegnete,

wich er entweder meinem Blick aus oder schaute mich wütend an. Als wir nach dem Abendessen in

unsere Zelle gingen, konnte man es fast knistern hören. Es musste jetzt einfach sein. Ich schickte

die kleinen Jungs zum Duschen. Auch Tim wollte die Zelle verlassen. Ich sagte nur:

»Du bleibst hier«. Er zuckte zwar etwas, blieb aber dann doch. Ich schloss die Tür von innen und

schaute ihn direkt an.

»Was willst du noch von mir? Du hast doch gewonnen!«, fragte er aggressiv.

»Mir dir reden«.

»Was gibt es da noch zu reden. Du hast doch alles klar gemacht. Dadurch, dass du mich gefickt

hast, bin ich auf einer Stufe mit Rasmus und Oliver. Ich würde dir übrigens raten, die beiden

schnellsten durchzuficken, die werden sonst übermütig.»

»Ich will überhaupt keinen durchficken, schon gar nicht, um ihn gefügig zu machen.«

»Und wie war das gestern Abend mit mir?«

»Das war Notwehr. Immerhin hast du ja angefangen.«

»So läuft das aber hier im Knast. Entweder du bist bei den Winnern oder bei den Losern.

Dazwischen gibt es nichts.»

»Warum?«

»Das ist ein Gesetz hier«.

»Und wer macht das Gesetz?«

»Natürlich die Gefangenen«.

»Also wir?«

»Wir, die anderen, alle. Das ergibt sich«

»Wenn wir es machen, warum ändern wir es dann nicht? Es kann doch nicht erstrebenswert sein,

eine Gruppe zu den Losern und die andere zu den Winnern zu schieben. Wir sind doch alle in der

gleichen Lage.»

»Pah! Du kommst hierher und glaubst gleich am ersten Tag, dass du hier alles verändern kannst,

was hier seit Ewigkeiten gilt. Und überhaupt: wir sollen was ändern. Wir! Wer sind denn schon wir!

Wir sind nur zwei, wenn du die beiden anderen mitrechnest, vier. Und dann gehören wir noch zu

den Jüngsten! Nein, vergiss es!»

»Wenn nicht einer irgendwann anfängt, kann man nie etwas ändern. Viele Veränderungen sind

schon von kleinen Gruppen ausgegangen!»

»Aber nicht von einer Gruppe von Losern. Rasmus und Oliver sind Loser und mich hast du gestern

auch zum Loser gemacht». Bei der Erinnerung daran verzerrte sich sein Gesicht schmerzlich. «Und

wenn du dich nicht an die Regeln hältst, wirst du auch ganz schnell zum Loser», fügte Tim hinzu.

»Und vielleicht kommt morgen ein Neuer und macht mich zum Loser«, ergänzte ich. »Warum

können wir diesen Teufelskreis nicht durchbrechen?»

»Weil es nicht geht«, antwortete Tim.

Ich versuchte es anders

»Warum wird einer zum Loser, wenn er sich von einem anderen ficken lässt?«

»Blöde Frage, nur Loser lassen sich ficken. Anderen würde das doch nie einfallen.«

Wir drehten uns im Kreis. So kam ich nicht weiter. Da kam mir eine verrückte Idee. Sie war zwar

ziemlich riskant, aber ich hatte einige Anhaltspunkte, dass es funktionieren konnte.

»Ist dir das mit den Winnern und Losern so wichtig«, fragte ich.

»Es ist eine Frage des Überlebens hier. Begreif das doch!«

»Und einer wird zum Loser oder Winner, wenn er sich ficken lässt oder jemanden anders fickt?«

»Das ist zumindest eine der Möglichkeiten«.

»Und dadurch, dass ich dich gefickt habe, bist du Loser geworden?«

»Wie oft soll ich dir das denn noch sagen.«

»Pass auf! Ich mache dir jetzt einen Vorschlag. Ich werde heute nacht keinen Schlafanzug tragen.

»Wenn du zu mir ins Bett kommst, lasse ich mich von dir durchficken. Ich werde mich nicht

wehren.»

Tim's Gesichtsausdruck schwankte zwischen Misstrauen und Unglauben.

»Entweder du führst wieder etwas im Schilde oder du bist total übergeschnappt«, sagte er.

»Weder das eine noch das andere. Ich will nur diesen Teufelskreis durchbrechen«, antwortete ich.

»Dann wohl doch das zweite. Du musst selber wissen, was du tun willst«, sagte Tim. Aber ein

bisschen seines frechen Gesichtsausdrucks war zurückgekehrt.

»Los, jetzt müssen wir aber duschen«, sagte ich und griff meine Sachen. Tim folgte mir

kopfschüttelnd. Vor der Tür warteten bereits Rasmus und Oliver, die sich nicht hereingetraut hatten.

Das Duschen verlief ohne Zwischenfälle, wenn man davon absieht, dass die anzüglichen

Bemerkungen heute in Richtung Tim gingen.

Kurz nachdem wir zurück in der Zelle waren, wurden wir auch bereits eingeschlossen. Ich war

gespannt, was Tim machen würde. Mein Vorhaben war schon etwas riskant. Es war klar, dass es

auf ihn total verrückt wirken musste. Aber ich wollte ein Zeichen setzten, um diesen Teufelskreis

zu durchbrechen. Insgeheim musste ich mir aber eingestehen, dass es auch wegen Tim's

eigenartiger Anziehungskraft war, warum ich ihn an mich ranlassen wollte. Ich vermochte ihn trotz

allem, was er mir antun wollte, nicht zu hassen. Es machte mir zwar sowieso nichts aus, gefickt zu

werden. Das hatte ich während meiner Stricherkarriere ja oft genug gehabt. Ich hatte nie etwas

dabei gefühlt. Es wurde halt gut bezahlt, ich fand es sogar angenehmer als eine ekligen Penis zu

blasen. Schlimmer konnte es ja jetzt auch nicht werden. Andererseits fühlte ich eine Aufgeregtheit,

wie ich es noch nie vorher hatte. Mein Herz schlug mir fast bis zum Hals. Scheiße, ich hatte mich

wohl doch furchtbar verknallt. Aber wie das ganze bei Tim aus? Das war die große Unbekannte.

Das ganze konnte auch furchtbar in die Hose gehen. Vielleicht würde er es auch diesmal nur als

Zeichen der Macht sehen. Aber am Tag zuvor hatte er zum Schluss etwas anderes verspürt, da war

ich mir ganz sicher.

Wir legten uns schlafen. Unter der Decke zog ich meinen Schlafanzug aus. Tim musste die

Bewegung bemerken. Ich konnte fast spüren, wie es in seinem Kopf arbeitete. Nach endlos langer

Zeit kam er aus seinem Bett und legte sich neben mich auf mein Bett. Auch er war nackt.

»Und was nun?«, flüsterte er leise.

»Lass mich nur machen«, antwortete ich.

Ich begann, ihn abzuküssen, und zwar von seiner Brust an nach unten. Erst seine Brustwarzen, die

sich sofort aufrichteten dann weiter unten. Ich verharrte kurz am Bauchnabel, bevor ich noch tiefer

ging. Seine Schamhaare begannen erst sehr tief. So küsste ich ihn intensiv zwischen Bauchnabel

und Schamhaargrenze, was er sichtlich genoss. Als ich schließlich bei seinem Schwanz ankam, war

dieser bereits völlig steif. Zärtlich küsste ich auch diesen ab. Ich merkte, dass sanfte Schauer Tims

Körper durchfluteten. Er gab leises Stöhnen von sich. So etwas hatte er wohl noch nicht erlebt. Ich

liebkoste seinen Schwanz und blies ihn sanft. Ich hatte genügend Erfahrungen, um zu verhindern,

das er vorzeitig kam. Tim vibrierte vor Lust. Schließlich legte ich mich auf den Bauch und wies

Tim an, dass er sich auf meinen Rücken legen sollte. Aus den Augenwinkeln sah ich , dass Rasmus

und Oliver in ihren Betten saßen und das Geschehen ungläubig verfolgten. Als Tim auf meinem

Rücken lag, ergriff ich seinen Schwanz und führte ihn an meine Rosette, die ich vorher mir Salbe

vorbereitet hatte. Den Rest erledigte Tim allein. Sanft drang er in mich ein, wohl überrascht, dass

ich keinen Schmerzensschrei ausstieß. Er glitt einfach nur in mich hinein. Nach kurzer Zeit begann

er sich zu bewegen und mich zu stoßen. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Ich hatte das

zwar schon oft erlebt, aber es war das erste Mal in meinem Leben nicht mit einem Erwachsenen,

sondern mit einem Jungen. Und wider Erwarten verhielt sich dieser Junge sehr sanft, völlig anders

als in der Nacht zuvor. Er genoss es bis in die letzte Faser seines Körpers. Das hatte nichts mehr mit

beherrschen wollen zu tun. Wir waren zwei Jungs, die beide gleichermaßen genossen, Sex

miteinander zu haben. Langsam fühlte ich, dass Tims Orgasmus näher kam. Sein Kopf lag auf

meiner Schulter. Ich hatte mich halb umgedreht und genoss den Geruch des Jungen, der mich schon

gestern fasziniert hatte. Plötzlich spürte ich, wie sein Sperma meinen Darm hinaufflutete. Er kam

mit einem so starken Stöhnen, dass ich fast auch gekommen wäre. Aber ich hatte ja noch etwas vor.

Als er kurze Zeit später aus mir herausglitt, legte ich mich so, dass wir Gesicht an Gesicht lagen.

Bevor Tim sich wehren konnte, drückte ich ihm einen Kuss auf seinen Mund. Ich legte meinen Arm

um seinen Hals und zog ihn ganz zu mir heran. Zuerst widerstrebend erwiderte er meinen Kuss.

Sanft ließ ich meine Zunge ihren Weg in seinen Mund suchen. Er zuckte kurz zurück, begann aber

nach kurzer Zeit selbst, mit seiner Zunge auf Entdeckungsreise zu gehen.

Ich hatte immer noch eine mordsmäßige Erektion. Mein Schwanz drückte gegen Tims, der

mittlerweile erschlafft war. Wir trieben das bestimmt eine halbe Stunde so. Tim ließ sich mehr und

mehr fallen. Jegliche Anspannung schien von ihm abzufallen. Schließlich hatte auch er wieder eine

Erektion. Während wir uns immer noch weiter küssten, drehte ich uns so, dass ich auf Tims Bauch

zu liegen kam. Das Küssen erregte uns beide immer mehr. Dazu rieben wir noch unsere Schwänze

gegeneinander. Das blieb bei uns beiden nicht ohne Folgen. Ich merkte, wie es mir kam und auch

Tim schien nicht mehr weit von seinem Orgasmus entfernt. Schließlich kamen wir beide zur

gleichen Zeit. Das Sperma verteilte sich zwischen unseren Bäuchen. Erschöpft ließ ich mich von

Tim heruntergleiten. Im Gegensatz zum Vortag blieb Tim neben mir liegen. Er schien

nachzudenken. Dann flüsterte er mir liebevoll ins Ohr:

»Du Scheißkerl hast mich schon wieder reingelegt.«

Dann gab er mir einen Kuss. Ich hob meinen Kopf und flüsterte meinerseits:

»Du Scheißkerl hast es auch nicht anders verdient.« Und gab auch Tim einen Kuss.

Wir beide lächelten über diese ungewöhnliche Liebeserklärung und kuschelten noch eine Zeitlang

zusammen. Noch ein letzter Kuss, bevor Tim widerstrebend in sein Bett zurückging. Aber wir

wollten nicht unbedingt zu zweit im Bett von den Wärtern überrascht werden.

Ich fühlte mich unbeschreiblich glücklich. Nicht nur, weil mein Plan offensichtlich funktioniert

hatte. Ich war das erste Mal in meinem Leben verliebt, und das an einem Ort, wo ich es mir nie

hätte träumen lassen. Und unter Umständen, die ich nie für möglich gehalten hätte. Wenn ich mir

früher vorgestellt habe ,verliebt zu sein, war das irgendein romantisches Bild gewesen. Das hier war

vollkommen anders. Nichtsdestotrotz war das Gefühl stärker als mein Vorstellungsvermögen. Ich

hoffte nur, dass auch Tim morgen früh noch zu seinen Gefühlen stehen würde, die er mir heute

Nacht so deutlich gezeigt hatte. Klar, unsere Liebe würde wahrscheinlich im Knast einer ständigen

Bewährungsprobe unterzogen, zumal wir sie auch nicht vollständig verbergen konnten. Zumindest

Rasmus und Oliver würden es hautnah mitbekommen. Mich störte zwar weniger, dass sie unsere

Intimitäten mitbekamen, dazu war ich viel zu glücklich, aber die Gefahr, dass sie alles

herumerzählen würden, fand ich nicht sehr reizvoll. Wir mussten sie morgen früh als erstes zu

Stillschweigen verdonnern, wenn es sein musste unter Androhung von Gewalt. Irgendwann schlief

ich dann ein.

4

Obwohl ich bereits ein Schlafdefizit hatte, wachte ich am nächsten Morgen als erster auf. Ich sah

mich um. Die drei anderen schliefen noch fest in ihren Betten. Ich betrachtete unsere Zelle. Die

Wände schienen mir nicht mehr so kahl wie vorher. Selbst der verschlossenen Zellentuer mit ihrem

Guckloch konnte ich etwas abgewinnen. Die Enge, vor der ich mich so gefürchtet hatte, schien mir

jetzt gar nicht mehr so eng. Im Gegenteil, ich fühlte mich freier als früher. Ich war in einer

derartigen Hochstimmung, dass ich alles durch die rosarote Brille sah. Hätte mir das jemand eine

Woche zuvor gesagt, ich hätte ihn für total bescheuert erklärt. Ich konnte es ja jetzt noch kaum

glauben. Nur zwei Schritte von mir lag der Junge, den ich liebte. Das, was bisher immer

unerreichbar schien, war jetzt greifbar nahe. Ich betrachtete Tim. Ich fühlte mich so glücklich wie

noch nie in meinem Leben. Selbst der Knast konnte daran nichts ändern. Es gab jetzt jemanden, auf

den ich mich jeden Tag freuen konnte. Ich wusste zwar noch nicht, wie das hier im Knast laufen

konnte, aber wir würden schon einen Weg finden, da war ich mir ganz sicher.

Langsam wachten auch die anderen auf. Inzwischen hörte man bereits das Heranhallen der Schritte

der Wärter, die Zellentüren aufschlossen. Auch in den anderen Zellen erwachte das Leben.

Bei uns hatte sich die Situation im Vergleich zum vorigen Morgen völlig verändert. Tim hatte sein

freches, herausforderndes Lächeln zurück und strahlte mich an.. Rasmus und Oliver waren völlig

verunsichert. Sie wussten nun überhaupt nicht mehr, woran sie waren. Bisher waren sie zwar

unglücklich gewesen, aber die Hackordnung war klar gegliedert. Jetzt wussten sie nicht mehr, wem

sie nun gehörten. Also behandelten sie uns beide unterwürfig. Obwohl es mir in der Seele leid tat,

sagte ich ihnen recht schroff, dass sie, sofern von heute Nacht etwas bekannt würde, sie mit Prügel

zu rechnen hätten. Auch Tim unterstützte mich. Wir mussten unbedingt heute Abend mit ihnen

sprechen und sie in alles einweihen, sonst würde das nicht lange gut gehen. Außerdem hatte ich ja

immer noch meinen Plan, das offensichtlich unveränderliche Gesetz von Unterdrückern und

Unterdrückten zumindest in unserem kleinen Bereich außer Kraft zu setzen.

Den ganzen Tag hatte ich keine Gelegenheit mit Tim zu sprechen. Aber wenn wir uns begegneten,

suchten wir immer den Blick des anderen und strahlten uns an, dass es fast auffällig war. Auch

heute musste Tim abfällige Blicke und Bemerkungen ertragen, was er heute aber erstaunlich gut

wegsteckte. Da er nicht der Erwartung entsprechend reagierte, wurden diese Bemerkungen auch im

Laufe des Tages weniger. Rasmus und Oliver schienen dicht zu halten. Jedenfalls konnte ich am

Verhalten der Anderen nichts Ungewöhnliches erkennen. Endlich wurde es Abend. Als wir vier in

unsere Zelle gingen, schickte ich Rasmus und Oliver sofort zum Duschen, um wenigstens ein paar

Minuten mit Tim alleine zu sein. Ich schloss die Zellentür wieder von innen. Tim und ich fielen uns

um den Hals und küssten uns erst einmal ausgiebig. Als wir uns lösten, sagte Tim:

»Wir können nicht jeden Abend unsere Tür zumachen. Sonst werden die anderen misstrauisch und

fragen sich, was hier passiert. Ich habe heute schon ein paar Bemerkungen gehört.»

»Dann gibt es keine Möglichkeit für uns allein zu sein. Wir müssen zumindest die Gegenwart von

Rasmus und Oliver akzeptieren. Wir sollten heute Abend mit ihnen reden. Ich wollte sowieso ein

paar Dinge klarstellen.»

»OK«, sagte Tim, »du bist zwar ein unverbesserlicher Träumer, aber ich liebe dich«.

»Ich liebe dich auch, du Schwarzseher«, antwortete ich. Wir küssten uns noch kurz und gingen dann

ebenfalls duschen.

Kurz nachdem wir wieder zurück in unseren Zellen waren, wurden diese bereits abgeschlossen.

Kurze Zeit später wollten sich Rasmus und Oliver in ihre Betten legen.

»Halt, noch nicht hinlegen. Kommt doch mal zu uns rüber«, sagte ich zu den beiden, vielleicht eine

Spur zu scharf.

Was nun passierte, ließ mir fast den Atem stocken. Ehe ich etwas sagen konnte, zogen sich die

beiden ihre Schlafanzüge aus und kamen nackt mit gesenkten Köpfen zu uns herüber. Nicht, dass

der Anblick so erschreckend gewesen wäre, ganz im Gegenteil, die beiden Jungs sahen nackt so

niedlich aus, dass ich auf der Stelle einen Steifen bekam. Aber die beiden schienen mich gründlich

missverstanden zu haben. Ich blickte zu Tim hinüber. Der saß mit hochrotem Kopf da und blickte

verschämt zur Seite. Die Sache war wohl doch komplizierter, als ich mir das gedacht hatte. Als ich

mich wieder einigermaßen gefasst hatte, sagte ich:

»Hei, eure Schlafanzüge könnt ihr ruhig anbehalten. Wir wollen mit euch reden.«

Die beiden schauten mich ungläubig an. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft glaubte ich aber ein

bisschen Hoffnung in ihrem Blick zu entdecken. Dann gingen sie wieder zu ihren Betten, zogen

sich ihre Schlafanzüge über und kamen zu uns zurück.

Ich setzte sie auf mein Bett, während Tim und ich uns zwei Stühle holten, so dass wir uns

gegenüber saßen.

»Ihr habt euch sicher gefragt, was hier in den beiden letzten Nächten passiert ist«, begann ich das

Gespräch.

Rasmus und Oliver nickten nur leicht.

»Ich glaube, wir sollten euch einiges erklären«, fuhr ich fort.

Die beiden schauten uns erwartungsvoll an.

»Also, es war sicherlich weder von mir noch von Tim geplant, und wenn Tim nicht versucht hätte,

mich zu vergewaltigen, wäre es paradoxerweise auch nicht passiert, aber so ist es nun einmal

passiert.» Ich zögerte etwas und fügte dann hinzu:

»Wir haben uns ineinander verliebt.«

»Seid ihr schwul?« platzte es aus Oliver heraus.

»Ich für meinen Teil wahrscheinlich. Es ist mir aber ziemlich egal. Ich weiß nur, dass ich Tim

liebe. Ich hoffe, dass Tim das ähnlich sieht».

Tim sagte:

»Vor zwei Tagen hätte ich dir für so eine Frage eine geknallt«. Oliver zuckte zusammen.

»Inzwischen bin ich mir nicht mehr so ganz sicher. Aber auch für mich ist das entscheidende, dass

ich Rafael liebe.»

»Wow«, sagte Rasmus nur.

»Aber das ist nicht das einzige, was wir euch sagen wollten«, fuhr ich fort. »Von jetzt an wird es

zumindest hier auf unseren 15 Quadratmetern keine Winner oder Loser geben, sondern nur noch

vier gleichberechtigte Jungs, die irgendwie miteinander zurechtkommen müssen. Keiner soll hier

mehr von irgendjemandem zu irgendwas gezwungen werden.»

Man konnte sehen, dass Rasmus und Oliver angestrengt nachdachten.

»Heißt das, dass wir keinem mehr unsern Arsch hinhalten müssen«, fragte Rasmus schließlich. Tim

blickte wieder verschämt zur Seite.

»Unter anderem heißt es auch das. Keiner soll zu etwas gezwungen werden, was er nicht will«,

antwortete ich. »das heißt aber nicht, dass wir nicht Regeln beachten müssen. Aber diese Regeln

machen wir vier selbst und jeder kann dazu beitragen. Ich schlage auch gleich die erste vor: Wir

leben hier gezwungenermaßen auf engstem Raum zusammen. Jeder bekommt vom andern praktisch

alles mit. Ob Tim und ich zusammen knutschen, ob ihr euch im Bett einen runterholt, selbst das

intimste Gespräch hören alle mit. Das funktioniert nur, wenn wir uns gegenüber tolerant sind. Also

Regel Nr. 1 Es ist alles erlaubt, was keinen von uns vieren körperlich oder seelisch verletzt oder

anders herum, alles was irgendeinen körperlich oder seelisch verletzt, ist verboten».

Alle nickten zustimmend.

»Dann will ich auch noch gleich Regel Nr. 2 vorschlagen. Tim hat mir gestern klar gemacht, dass

das, was in unserem kleinen Bereich gelten mag, noch lange nicht für den ganzen Knast gilt. Wenn

von unseren Abmachungen oder von anderen Dingen etwas nach draußen dringt, weiß ich nicht,

wie die anderen darauf reagieren werden. Ich möchte es vorerst auch besser nicht ausprobieren,

darum Regel Nr. 2 Alles, was hier passiert, bleibt auch in diesem Raum. Nur wenn wir dicht halten,

haben wir hier eine Zukunft.» Ich schaute mich fragend um. Nach kurzem Zögern nickten wieder

alle.

»Von meiner Seite wäre das alles für heute. Möchte noch jemand anders etwas sagen?«

Tim saß etwas niedergeschlagen neben mir, aber bei Rasmus und Oliver sah ich zum ersten Mal ein

Lächeln über ihr Gesicht huschen. Sie saßen mit ungläubigen Gesichtern auf meinem Bett. Da sie in

ihren kühnsten Träumen diese Situation nicht vorhergesehen hatte, wollten sie auch nichts weiter

sagen.

»Dann gehen wir wohl alle schlafen«, beendete ich unsere Versammlung. Rasmus und Oliver

standen auf und umarmten mich spontan, bevor sie in ihre Betten verschwanden. Tim ignorierten

sie. Da musste wohl noch Vergangenheit bewältigt werden.

Tim schaute nicht sehr glücklich drein. Aber da musste er nun einmal durch. Für diesen Abend

freute ich mich jedenfalls darauf ihn zu trösten.

5

In den nächsten Tagen begann die kleine Pflanze, die ich gesät hatte, zu keimen. Wir saßen fast

jeden Abend mehr oder weniger lange zusammen und sprachen über Probleme und neue

Vorschläge. Nach einigem Zögern beteiligten sich auch Rasmus und Oliver immer mehr. Es machte

Freude zu sehen, wie die beiden immer mehr aufblühten. Nachdem sie anfangs nicht ein Wort

gesprochen hatten, sprudelte es jetzt manchmal nur so aus ihnen heraus. Ihre Augen blickten nicht

mehr leer, sondern funkelten jetzt manchmal richtig. Sahen sie vorher schon gut aus, so strahlten sie

jetzt eine fast überirdische Schönheit aus. Nur manchmal huschte noch ein dunkler Schatten über

ihr Gesicht, hauptsächlich wenn sie mit Tim sprachen. Bei ihm hatte leider eine umgekehrte

Entwicklung eingesetzt. Je mehr Rasmus und Oliver aufblühten, desto zurückgezogener und stiller

wurde er. Auch sein freches herausforderndes Lächeln hatte er wieder verloren. Wenn wir nachts

zusammen schliefen oder kuschelten, und das taten wir fast jede Nacht, war er zwar wieder der alte,

aber am nächsten Morgen war er genau so bedrückt wie am Abend zuvor. Es gab mir jedes Mal

einen Stich, wenn ich ihn so sehen musste. Ich wusste aber auch nicht, wie ich ihm jetzt helfen

sollte. Die Ursache seiner Bedrückung war ja nur wenige Meter von ihm weg. Ihn quälte ganz

offensichtlich das schlechte Gewissen Rasmus und Oliver gegenüber. Aber da musste er nun einmal

den ersten Schritt machen. Er konnte das ganze nicht ungeschehen machen, aber er konnte auch

nicht erwarten, das die beiden auf ihn zukommen und ihm verziehen. Ich konnte nicht abschätzten,

wie sehr er die beiden verletzt hatte, aber egal, wie schlimm die Wunden waren, er musste es als

erster ansprechen, auch wenn er vor ihnen auf die Knie fallen müsste. In diesen Momenten

vermisste ich es schmerzlich, dass wir keine Sekunde für uns allein hatten. Sonst hätte ich ihn schon

längst überredet den ersten Schritt zu tun.

Erstaunlicherweise war das der einzige Moment, in denen ich uns allein wünschte. Selbst wenn wir

miteinander schliefen, störten mich Rasmus und Oliver nicht. Mit der Zeit gewöhnten sich auch die

beiden daran und nahmen kaum noch Notiz von uns, im Gegenteil, auch sie verloren ihre

Hemmungen und onanierten mehr oder weniger offen.

Irgendwann, als Tim wieder einmal total deprimiert aussah, beschloss ich das ganze in die Hand zu

nehmen, auch wenn ich nicht sicher war, wie es ausgehen würde. Aber so konnte es jedenfalls auch

nicht weitergehen.

Als wir also abends wie immer nach dem Einschließen zusammen saßen, begann ich:

»Ich würde gerne eine neue Regel einführen«. Alle schauten mich erstaunt an.

»Wenn es Konflikte oder Dinge zwischen einzelnen von uns gibt, sei es, dass sie offen zu Tage

treten, sei es, dass sie nur Bedrückung aus lösen, müssen diese offen zwischen uns diskutiert

werden.»

Es dauerte einen Moment, bis alle begriffen hatten, was ich meinte. Dann herrschte betretenes

Schweigen. Die drei anderen saßen mit versteinerten Gesichtern da. Als keiner etwas sagte, hakte

ich nach.

»Keine Reaktion. Soll ich das jetzt als Zustimmung oder als Ablehnung deuten? Ich hätte jetzt von

euch allen dreien gerne gewusst, ob ihr dem zustimmt und wenn nicht, warum nicht.»

Es herrschte weiterhin eisiges Schweigen. Die Stimmung befand sich nahe am Gefrierpunkt.

Tims Gesicht war aschfahl. Er schaute mich entsetzt und fassungslos an. In den Gesichtern von

Rasmus und Oliver zuckte es. Man konnte merken, wie bei ihnen die Erinnerung hochkam. Aus

Rasmus brach es zuerst heraus:

»Du weißt nicht, was er uns angetan hat. Ich kam hier her völlig naiv ohne jeden Arg. Gleich in der

ersten Nacht ist er über mich hergefallen. Ich habe mich gewehrt, aber er war viel stärker. Ich habe

noch Wochen blaue Flecken gehabt. Von da an kam er jeden Tag. Anfangs habe ich mich noch

gewehrt, aber ich hatte keine Chance gegen ihn. Er fickte mich täglich, manchmal mehrmals durch,

bis ich irgendwann alles willenlos mit mir geschehen ließ. Als Oliver kurze Zeit später kam, machte

er mit ihm genauso. Es lief ganz genauso wie bei mir. Als er ihn auch so weit hatte, machte er sich

einen Spaß daraus, uns gemeinsam zu missbrauchen. Wenn er uns abends rief, mussten wir die

Schlafanzüge ausziehen und nackt bei ihm erscheinen. Er dachte sich immer neue Qualen aus. Ich

hatte immer öfter Selbstmordgedanken, weil ich keinen Ausweg sah. Es war so furchtbar.»

Seine Stimme überschlug sich und seine Erregung ging in einen Weinkrampf über. Alles, was er

erlebt hatte, kam aus ihm heraus. Auch bei Oliver kam die Erinnerung wieder voll hoch. Auch er

heulte Rotz und Wasser. Was hatte ich da nur angefangen! Das war voll in die Hose gegangen. Ich

hatte ja gewusst, dass da etwas zwischen Tim und den beiden anderen gewesen sein musste, aber

dass es derartig schlimm war, hatte ich nicht geahnt. Jetzt hatte ich das, was ich so mühsam

aufgebaut hatte, wieder zerstört. Wie konnte das jetzt noch weitergehen. Und das allerschlimmste

war: Tim, der Junge, den ich liebte, hatte all diese abscheulichen Dinge gemacht. Ich hätte das

niemals für möglich gehalten. Entsetzt blickte ich ihn an. Sag doch etwas, dachte ich, sag ,dass es

nicht wahr ist.

Tim wich meinem Blick aus. Auch sein Gesicht zitterte. Schließlich brachte er mit erstickter

Stimme hervor:

»Ja, es ist wahr. Ich bin so ein Scheißkerl, ich habe euch das alles angetan. Ihr habt Recht, mich so

zu hassen.» Er machte eine Pause.

»Als ich hierher kam, ging es mir genauso wie euch. Ich kam zu einem 18jährigen in die Zelle. Er

machte genau das gleiche mit mir, was Rasmus beschrieben hat. Ich hatte genau dieselben Gefühle.

Ich war mehrmals auf der Krankenstation, weil er mich mit seinem Riesenschwanz völlig blutig

gefickt hatte. Es tut mir heute noch alles weh, wenn ich daran denke. Obwohl die Ärzte mit

Sicherheit wussten, woher ich meinen blutigen Arsch hatte, half mir keiner, sondern sie behandelten

das als »Stuhlverhärtung«. Ich entwickelte einen furchtbaren Hass, nicht nur gegen meinen

Peiniger, sondern gegen alle. Ich habe mir geschworen, dass mir das nie mehr in meinem Leben

passiert. Und wenn die Gesetz hier im Knast eben so hart sind, wollte ich wenigstens auf der Seite

der Winner stehen. Als ich dann endlich in eine andere Zelle kam, habe ich sofort meine Chance

wahrgenommen, bevor mich noch jemand unterjochen konnte. Ich weiß, dass ich Unrecht getan

habe, aber es war erst Rafael, der mir die Augen dafür geöffnet hat, dass man diesen Teufelskreis

durchbrechen muss und der es dann auch auf diese wunderbare Weise gemacht hat. Ich weiß, dass

Rasmus und Oliver mir nicht verzeihen können. Ich könnte es ja auch nicht.»

Dann kamen auch bei ihm die Tränen hoch.

»Bei mir hat sich auch solch ein Hass entwickelt«, schluchzte Oliver, »ich hätte auch bei der ersten

sich bietenden Gelegenheit losgeschlagen.»

Da saßen wir nun alle vier, einer unglücklicher als der andere und heulten gemeinsam vor uns hin.

Irgendwann merkte ich, dass Rasmus mich ansah. Ich blickte fragend zurück. Plötzlich stand er auf,

ging auf Tim zu und nahm ihn in den Arm. Als Oliver das sah, folgte er seinem Beispiel.

Schließlich stand auch ich auf und reihte mich ein. So standen wir alle vier zusammen und hielten

uns in den Armen.

»Wir können das, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen«, sagte ich, »aber wir können uns

schwören, dass wir uns nie mehr von Hass leiten lassen werde, andere zu verletzen».

Wir drückten uns nochmals und gingen dann zu Bett. Ich kuschelte mich mit Tim in mein Bett. Ich

hielt ihn fest in meinen Armen. Ganz langsam beruhigte er sich und schlief nach etlicher Zeit in

meinen Armen ein. Auch Rasmus und Oliver kuschelten sich heute zusammen in einem Bett. Wir

alle brauchten heute wohl den Körperkontakt und etwas Wärme.

Ich war völlig aufgewühlt. Dieser Junge, der sich da so lieb in meinen Armen kuschelte, konnte so

brutal sein? Was mussten hier für Zustände herrschen, wenn so etwas möglich war. Konnte ich so

jemanden überhaupt lieben, der solche Verbrechen begeht, der so zu einer Bestie werden konnte?

Scheiße, in was war ich da geraten. In wen hatte ich mich da verliebt. Konnte ich das unter diesen

Umständen überhaupt noch weiterführen? Aber für solch eine Frage war es zu spät. Die Liebe hatte

schon die Antwort gegeben. Ich kuschelte mich an Tim, saugte seinen Geruch in mich ein und

schlief endlich auch erschöpft ein.

6

Ich erwachte am nächsten Morgen als erster. Tim lag neben mir und schlief wie ein Engel. Ich

genoss es den schlafenden Jungen zu betrachten. Das war mein Junge, meine große Liebe. Ich

empfand so viel Wärme in mir. Ich konnte mich nicht an ihm satt sehen. Trotz des schrecklichen

Vorabends fand ich , dass ich richtig gehandelt hatte, als ich Tim, Oliver und Rasmus gezwungen

hatte über ihre Vergangenheit zu sprechen. Ich glaubte zwar, dass die beiden ihre Versöhnungsgeste

nur mir zu Liebe gezeigt hatten, aber immerhin war das ja schon mal ein Anfang. Ich hoffte sehr,

dass Oliver und Rasmus ihm eines Tages verzeihen würden. Bedauernd weckte ich ihn mit einem

Kuss. Er musste rüber in sein Bett gehen. Wir wollten schließlich nicht beim Aufschließen

gemeinsam im Bett erwischt werden. Wir weckten auch Oliver und Rasmus, die auch noch eng

aneinandergekuschelt schliefen.

Obwohl die Vergangenheit natürlich noch immer zwischen Oliver, Rasmus und Tim stand, besserte

sich nach diesem Abend das Verhältnis zusehends. Auch Tim blühte langsam wieder auf.

Mit der Zeit erfuhren wir immer mehr über unser Vorleben. Oliver war bereits seit seinem achten

Lebensjahr im Heim aufgewachsen. Seine Eltern waren beide Alkoholiker und misshandelten den

Jungen. Das Jugendamt hatte letztendlich eingegriffen und den Jungen den Eltern weggenommen.

Er kam zwar zunächst in eine Pflegefamilie, aber auch das hielt nicht lange an. Es gab auch dort

ständig Zoff. So kam Oliver ziemlich schnell in ein Heim. Dort herrschten ähnliche Zustände wie

hier im Knast. Die Grossen unterdrückten die Kleinen. Nach einem Jahr haute Oliver das erste Mal

ab. Er geriet sofort in eine Jugendbande und wurde nach kurzer Zeit von der Polizei bei einem

Diebstahl gefasst. Wieder zurück im Heim hielt er es keine sechs Wochen aus, bis er wieder türmte.

Diesmal geriet er an eine Einbrecherbande. Diese war darauf spezialisiert, in einsame

Einfamilienhäuser einzubrechen. Sie suchten sich eine leichte Zugangsmöglichkeit wie z.B. offen

stehende Toilettenfenster. Da Oliver sehr zierlich gebaut war, passte er durch die kleinste

Fensteröffnungen und konnte so der restlichen Bande die Haustuer oder größere Fenster öffnen.

Das Ganze war natürlich sehr risikoreich für ihn und er wurde öfters geschnappt. Da er aber noch

nicht strafmündig war, wurde er immer nur wieder ins Heim zurück gebracht, wo er bei der

nächsten Gelegenheit abhaute. Irgendwann stieß auch Rasmus zu dieser Bande. Auch er war aus

einem Heim abgehauen. Rasmus hatte mit 10 beide Eltern bei einem Unfall verloren. Da keiner ihn

aufnehmen wollte, kam er in ein Heim. Er machte dort dieselben Erfahrungen wie Oliver und haute

schließlich ab. Obwohl sie in derselben Einbrecherbande landeten, kannten sie sich kaum, da einer

von ihnen fast immer gerade wieder im Heim war, da er beim Einsteigen erwischt worden war. So

ging das, bis sie 14 und damit strafmündig waren. In kurzem Anstand wurden beide wieder gefasst

und diesmal gab es kein Pardon. Beide wurden zu 18 bzw. 16 Monaten verurteilt und landeten im

Knast.

Tim kam eigentlich aus einer gutsituierten Familie. Aber seine Eltern hatten sich nie um ihn

gekümmert. Er bekam auch keinerlei Zeichen von Zuneigung oder Liebe. Mit 14 geriet er über

einen Schulfreund in eine Jugendgang. Die Jungs machten sich einen Spaß daraus, mit geklauten

Autos Spritztouren zu machen oder illegale Rennen zu veranstalten. Trotz intensiver Fahndung

gelang es der Polizei erst nach über einem Jahr, die Gang auszuheben. Und das auch nur, weil Tim

bei einem dieser Autorennen einen schlimmen Unfall baute. Er kam von der Strasse ab und

überschlug sich bei Tempo 130 mehrmals mit dem Auto. Er hatte nur einen Beinbruch, aber sein

Beifahrer hatte schwerste innere Verletzungen und einen Schädelbruch und wäre fast gestorben.

Tim erhielt 2 Jahre Gefängnis. Seine Eltern sagten sich von ihm los und wollten nichts mehr mit

ihm zu tun haben. Zusätzlich zu den Gewissensbissen hatte er auch noch damit zu kämpfen.

Irgendwann konnte ich auch nicht umhin, meine Geschichte zu erzählen. Ich hatte schon etwas

Schiss, wie die anderen und insbesondere Tim darauf reagieren würden. Aber sie nahmen es alle

recht cool auf. Vielleicht waren wir alle in einer Situation, wo einen überhaupt nichts mehr

schockieren konnte. Sie fragten mich nur, wie ich das gefunden hätte und wie ich heute dazu stehen

würde. Ich schilderte ihnen ehrlich meine zwiespältigen Gefühle:

»Es ist zwar scheiße, mit einem Typen ins Bett zu gehen, den man nicht liebt. Manchmal gibt es

richtige Ekelpakete unter den Freiern. Andererseits gewöhnt man sich aber recht schnell an den Job.

Allerdings war das ganze auch ziemlich risikoreich. Safer Sex war anfangs ein Fremdwort für mich.

Und die meisten Freier wollten sowie so ohne und haben mich tunlichst nicht über die Gefahren

aufgeklärt. Irgendwann hat mir mal ein Typ erklärt, wie gefährlich das Ganze ist und wann man

gefälligst Überzieher zu nehmen hat. Ich hab mich dann immer daran gehalten, aber ich hab

dennoch ganz schön gezittert, als man mir zu Beginn der U-Haft Blut für einen HIV-Test

abgenommen hat. Glücklicherweise war der dann negativ.»

»Ich hab mich damals gewundert, warum man mir Blut für einen blöden Test abnimmt«, warf

Rasmus ein. »Jetzt verstehe ich auch, warum.«

»Und musstest leider die Erfahrung machen, wie wichtig das hier ist«, fuhr ich wieder fort. Tim

guckte schon wieder schuldbewusst. »Aber zurück zum Strich. Nach einiger Zeit lernt man, die

Freier richtig einzuschätzen und kann sich unangenehme vom Leib halten. Man hat eine Reihe von

Stammfreiern, mit denen man sich soweit es geht versteht und die man kennt. Wenn ich

zurückdenke, sind es hauptsächlich zwei Dinge, die mir sehr gefehlt haben: Zum einen musste ich

trotz des vielen Geldes auf der Strasse leben, weil ein 14 jähriger keine Wohnung mieten kann.

Manchmal konnte man zwar bei einem Typen übernachten, aber der wollte dann auch meistens eine

Gegenleistung. Und zweitens, je mehr Sex du hast, desto mehr steigt dein Wunsch nach

Zärtlichkeit, Liebe und Geborgenheit. Und das gibt es auf dem Strich nicht. Für die Freier, und da

gibt es keine Ausnahme, ist nach dem Bezahlen Schluss. Selbst wenn sie ein weitergehendes

Interesse an dir haben, sind sie doch selbst in ihrer bürgerlichen Welt gefangen. Keiner setzt seine

Existenz deinetwegen aufs Spiel. Darum stumpfst du mit der Zeit ab. Darum will ich auch nicht

wieder auf den Strich zurück, wenn ich mal hier raus komme. Denn mittlerweile habe ich Liebe,

Zärtlichkeit und Geborgenheit gefunden. Und das möchte ich unter keinen Umständen aufs Spiel

setzen», endete ich. Wie zur Bestätigung nahm Tim mich zärtlich in den Arm.

Im Bett flüsterte Tim mir zu:

»Jetzt verstehe ich auch, warum ich in der ersten Nacht keine Chance gegen dich hatte.«

»Wünschtest du, es wäre anders gewesen?«

»Nein, auf keinen Fall«, war seine Antwort. »Ich glaube, uns wäre so viel verloren gegangen.«

Tim streichelte mir sanft durch die Haare. Ich küsste ihn auf den Mund. Wir fühlten uns einfach nur

gut. Wir waren so glücklich zusammen. Inzwischen verstanden wir uns auch ohne viele Worte.

Unsere Beziehung hatte sich so toll entwickelt, zwar völlig anders als normal und auch anders als

ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich dachte immer, man verliebt sich, dann tauscht man lange

Zeit Zärtlichleiten aus und dann kommt eines Tages vielleicht der Sex hinzu. Bei uns war es gerade

umgekehrt. Bei uns war der Sex als erstes, dann haben wir uns verliebt und mittlerweile haben wir

die Zärtlichkeit entdeckt. Trotzdem waren wir beide unbeschreiblich glücklich. Das war allerdings

nur solange der Fall, wie wir in unserer Zelle waren. Sobald wir diese verließen, wurden aus uns

zwei verliebten Jungs wieder zwei normale Strafgefangene. So gerne wir Hand in Hand durch den

Knast gelaufen wären, so undenkbar war alleine die Vorstellung. Im Gegensatz zu unserem kleinen

Paradies herrschte dort ein völlig anderes Klima. Während sich in unserem kleinen Bereich für alle

alles positiv entwickelte, änderte sich in den anderen Zellen nichts. Es sprach zwar keiner darüber,

auch unter den Mitgefangenen, aber es herrschte dort eine Atmosphäre von Gewalt und

Unterdrückung. Manchmal konnte man an blauen Flecken sehen, dass es wieder mal einen erwischt

hatte. Aber selbst dann war das Thema absolut tabu. Das Sagen hatten die Mecs, alle anderen

mussten kuschen. Selbst beim Essen wurde das deutlich. Die Mecs saßen alle an einem Tisch,

während die Loser sich an den übrigen Tischen verteilten. Wir scherten aus dieser Ordnung aus. Da

wir nicht alle zu den Mecs gehören konnten -und auch nicht wollten- saßen wir mit den Losern

zusammen. Das wiederum weckte natürlich den Unmut der Mecs. Es gab Anfangs böse

Bemerkungen, später wurden wir auch schon mal angepöbelt, wenn kein Wärter in der Nähe war.

Eines Morgens zu Beginn des Unterrichts fiel mir auf, das ich mein Aufgabenheft in unserer Zelle

liegen gelassen hatte. Ich hatte es am Vorabend dorthin mitgenommen, weil ich noch etwas

nachtragen wollte. Normalerweise blieben die Hefte immer in den Schulräumen, da die Aufgaben

auch dort gemacht werden mussten. Herr Schneider, unser Lehrer, schickte mich daraufhin los, es

zu holen. Alleine ging ich zurück zu unserer Zelle. Alle anderen waren schon in den

Klassenräumen. Ich fand diese lagen, widerhallenden Gänge immer unheimlich, besonders wenn sie

so leer waren wie jetzt. Das Geräusch meiner Schritte hallte von den Wänden zurück. Ich kam an

der Schleuse zum äußeren Bereich vorbei. Sie war natürlich wie immer geschlossen. Ich hörte, dass

mir hinter der nächsten Biegung des Ganges jemand, besser gesagt zwei Leute, entgegen kamen.

Ich fragte mich, wer das um diese Zeit sein konnte. Alle Jungs hätten in den Schul- oder

Arbeitsräumen sein müssen. Es konnten eigentlich nur zwei Wärter sein. Wir waren inzwischen in

der Lage, jeden Wärter an dem Geräusch seiner Schritte zu erkennen. Jeder im Knast lernte das

irgendwann, da gab es keine Ausnahme. Aber bei zwei Leuten zugleich war es praktisch unmöglich

die Personen zu identifizieren. Na ja, ich würde es ja in wenigen Sekunden wissen, wenn ich um die

Ecke biegen würde. Ich überlegte mir schon die Entschuldigung für meine Anwesenheit um diese

Zeit, als ich um die Ecke bog. Aber ich hatte mich getäuscht. Es waren keine zwei Wärter, die da

kamen, es waren Klaus und Matthias, die beiden übelsten Mecs des Knastes. Beide waren für ihre

unheimliche Brutalität bekannt. Ich dachte nur Scheiße; das ist genau das, was wir bisher immer

erfolgreich vermieden hatten: allein in die Hände dieser beiden zu fallen; kein Wärter weit und

breit. Ich dachte kurz daran die Flucht zu ergreifen. Aber wohin? Dann sagte ich mir, dass ich ihnen

doch eines Tages begegnen würde. Warum also verschieben, was unvermeidlich schien. Vielleicht

hatte ich mich ja auch getäuscht und sie würden mich in Ruhe lassen.

Es war leider nicht so. Ich war kaum um die Ecke gebogen, da hörte ich auch schon von Klaus:

»Ach, da haben wie ja unseren kleine Möchtegern Loser«.

»Lass mal«, unterbrach ihn Mathias, »aber sag mir doch mal, warum du dich immer mit diesem

Loserpack abgibst? Wenn ich die Entscheidung habe, mich mit richtigen Kerlen zu unterhalten oder

mit Flaschen, da brauche ich nicht lange zu überlegen». Matthias versuchte kumpelhaft zu klingen.

Ich suchte krampfhaft nach einer Erwiderung, die deutlich aber nicht provozierend war. Ich hatte

keine Lust jetzt den tragischen Helden zu spielen.

»Ich finde nicht, dass ich mich mit Flaschen abgebe. Es gibt da genau so viele anständige Kerle,

vielleicht nicht so wie ihr, aber auf jeden Fall anständig».

»Was soll denn das heißen«, unterbrach mich Mathias. Es klang jetzt schon nicht mehr so

kumpelhaft. »Du kennst doch die Regeln hier, oder?«

»Was sind das für Regeln, die mir vorschreiben, mit wem ich verkehren darf und mit wem nicht«,

entgegnete ich.

»Ach, der Herr möchte sich als Missionar betätigen«. Mathias Stimme wurde langsam drohend. »Du

weißt, was wir hier mit Leuten machen, die sich nicht an die Regeln halten?»

Ich überlegte krampfhaft, wie ich da jetzt noch rauskommen konnte. In diesem Moment hörte ich,

wie sich die Schleusentür vom äußeren Bereich her öffnete. Gerettet, dacht ich. Diesmal konnte es

sich tatsächlich nur um einen Wärter handeln. Und wirklich, ich erkannte deutlich die Schritte von

Herrn Müller. Auch Klaus und Mathias wussten genau, dass sie verloren hatten. In spätestens 10

Sekunden würde Herr Müller um die Ecke biegen.

»Die Sache ist noch nicht ausgestanden«, zischte Klaus noch bevor Herr Müller ins Blickfeld kam.

»Was habt ihr denn um diese Zeit hier verloren«, kam auch schon die Frage von Herrn Müller.

Wir murmelten schnell unsere Entschuldigung.

»In einer Minute will ich keinen von Euch mehr hier sehen«, schloss Herr Müller unsere

Begegnung. Das war gerade noch einmal gut gegangen, dachte ich. Ich holte schnell mein Heft und

raste in die Klasse zurück.

Abends in der Zelle beschlossen wir dann, dass wir uns nur noch wenigstens zu zweit im Knast

bewegen wollten. Ich wollte eine Wiederholung der Begegnung auf alle Fälle verhindern.

7

Der Tagesablauf im Knast war immer gleich: Aufstehen, Frühstücken, Schule, Mittagessen,

Hausaufgaben, Sport, Arbeitsgruppen, Abendessen, Einschließen. Am Wochenende entfielen die

meisten dieser Aktivitäten. Sonntags gab es einen Gottesdienst. Obwohl die Teilnahme freigestellt

war, gingen doch fast alle hin. Nicht weil alle so gläubig gewesen wären, nein, der einzige Grund

war, dass man im Knast für jede Abwechslung dankbar ist. Und besonders die Sonntage ziehen sich

wie Kaugummi, da es sonst überhaupt keine Abwechslung gibt. Auch wir vier gehörten daher zu

den regelmäßigen Besuchern. Der Pfarrer war noch recht jung, er war höchstens doppelt so alt wie

wir. Er mühte sich redlich, den Gottesdienst für so eine schwierige Gruppe attraktiv zu gestalten.

Nach seinem Gottesdienst bot er auch immer eine Sprechstunde an. Da ging dann aber niemand

mehr hin, weil keiner wusste, was man denn da besprechen sollte. Eines Sonntags, ich weiß auch

nicht mehr, was mich geritten hat, sagte ich zu den anderen:

»Hei, lasst uns doch mal zu dem Pfarrer in die Sprechstunde gehen.«

Die drei anderen schauten mich völlig entgeistert an:

»Was willst du denn von dem?«, fragte Rasmus.

»Weiß ich auch noch nicht«, sagte ich.

»Jetzt bist du total übergeschnappt«, meinte Oliver. Auch Tim schüttelte nur den Kopf.

»Dann gehe ich halt alleine«, sagte ich störrisch. Schließlich kam Tim doch mit, aber nur aus Liebe

zu mir.

Als wir dann bei ihm saßen, fiel mir wirklich nichts ein, was wir mit ihm besprechen sollte. Es

herrschte zunächst betretenes Schweigen.

Irgendwann durchbrach der Pfarrer das Schweigen:

»Also, mein Name ist Johannes Hoffmann, und wer seid ihr?«

»Ich bin der Rafael«, antwortete ich.

»und ich bin Tim«.

»Und was habt ihr auf dem Herzen?«, fragte Herr Hoffmann. Wieder herrschte Schweigen. Tim sah

mich schon spöttisch von der Seite an.

»Oder wollt ihr euch nur unterhalten«, unternahm Herr Hoffmann einen weiteren Versuch.

Das ganze wurde mir immer unangenehmer. Ich wusste wirklich nicht, was ich hier sollte. Und ich

ärgerte mich, dass ich hier war. Ich merkte, wie in mir die Wut hochstieg. Unzufrieden mit mir

selbst fing ich an, den Pfarrer, die Kirche, den Glauben anzugreifen:

»Sie kommen hierher und predigen uns von Liebe, Glauben und Hoffnung auf Zukunft. Dabei ist

hier jeder einzelne von uns ein lebendes Gegenbeispiel. Jeder hier hat mehr Erfahrungen mit

Gewalt, Ungerechtigkeit und Zukunftslosigkeit gemacht als sie in ihren kühnsten Träumen

vermuten. Ich kenne seit ich denken kann nur Schläge, Ungerechtigkeiten und Armut. Ich habe

mich selbst verkauft, um zu überleben, weil das noch das kleinere Übel war im Vergleich zu dem,

was ich zuhause erlitten hab», platzte es aus mir heraus. Und in diesem Stil warf ich dem Mann

noch einiges an den Kopf. Ich erwartete, dass er genau so aggressiv reagieren würde und uns

rauswerfen würde, damit diese unangenehme Situation beendet würde. Wider Erwarten reagierte er

völlig anders. Er zeigte sich betroffen und äußerte Verständnis, ohne zu versuchen sich bei mir

einzuschleimen. So sagte er zum Beispiel:

»Dass hier seid, ist sicherlich ein Versagen nicht nur eurerseits, sondern auch anderer Leute, wie

vielleicht eurer Eltern, Lehrer oder vielleicht auch der gesamten Gesellschaft. Das macht mich

betroffen. Aber ich vermute einmal, dass ihr auch, aus welchem Grunde auch immer, etwas getan

habt, was nicht so ganz in Ordnung war, oder liege ich da völlig falsch?»

Natürlich lag er nicht völlig falsch, aber das wollte ich jetzt nicht zugeben. Stattdessen versuchte

ich ihn immer auf neuen Feldern anzugreifen und wurde immer unsachlicher. Herr Hoffmann

merkte das wohl, aber er blieb trotzdem immer ruhig und verbindlich. Er war immerhin doppelt so

alt und ich war ihm in keinster Weise gewachsen. Das machte mich immer wütender. Tim sah, wie

ich mich wand. Statt mir zu helfen, warf er mir ein diabolisches Grinsen zu, das ausdrückte: Da bist

du jetzt selbst schuld dran. Das gab mir den Rest. Ich fuhr jetzt mein, wie ich meinte, stärkstes

Geschoss auf. Ohne mir über die möglichen Konsequenzen Gedanken zu machen, outete ich Tim

und mich vor Herrn Hoffmann.

»Aber trotz allem habt ihr es nicht verhindern können, dass ich an diesem unmöglichen Ort meine

Liebe meines Lebens gefunden habe,» schrie ich schon fast und gab Tim zur Bekräftigung einen

Kuss direkt auf den Mund. Jetzt musste er ja endgültig schockiert sein, dachte ich. Jetzt habe ich

ihn, triumphierte ich in mir. Im gleichen Moment wurde mir bewusst, was ich da gemacht hatte.

Wenn Herr Hoffmann nun zur Gefängnisleitung ging und uns verpetzte, was dann? Dann würden

wir vermutlich in verschiedene Zellen gelegt und unsere Beziehung war beendet, bevor sie noch

richtig begonnen hatte. Mein triumphierendes Gesicht nahm plötzlich einen entsetzten Ausdruck an.

Auch Tim guckte betroffen Herrn Hoffmann an. Der merkte die Veränderung und glücklicherweise

reagierte er nicht, wie ich es erwartet hätte.

»Ich freue mich über das Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt«, antwortete er. »auch wenn ich

glaube, dass du mir das aus anderen Motiven gesagt hast, will ich mich doch des Vertrauens würdig

erweisen. Und ich freue mich für euch, wenn ihr euch hier gefunden habt.» Der Stein, der Tim und

mir vom Herzen fiel, muss im ganzen Knast zu hören gewesen sein. Herr Hoffmann konnte sich

aber nicht verkneifen hinzuzufügen:

»Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass auch aus zunächst schlimmen Ereignissen, wie einem

Aufenthalt hier, durchaus etwas Gutes erwachsen kann.»

Ich war ihm wirklich in keinster Weise gewachsen. Wir verabschiedeten uns schnell und machten

uns fort. Draußen raunte mir Tim zu:

»Das hätte aber ins Auge gehen können.« Und dann lachte er mich aus, richtig aus, wie ich mich

habe zum Affen machen lassen. Er lachte noch als wir bei unserer Zelle ankamen, und erzählte die

ganze Geschichte brühwarm Rasmus und Oliver. Auch die konnten sich vor Lachen nicht halten.

Ich hätte die drei am liebsten rausgeschmissen. Und dass auch noch mein geliebter Tim über mich

herfiel! Ich bekam schon ernste Trennungsabsichten. Zu guter letzt kam mir aber zu Bewusstsein,

wie absurd das ganze war und ich stimmte in ihr Lachen mit ein. Dennoch brauchte ich fast die

ganze Woche, um über die Niederlage hinwegzukommen. Aber am nächsten Sonntag hatte ich es

geschafft. Ich beschloss, wieder in die Sprechstunde zu gehen und mich zu entschuldigen. Als die

anderen mitbekamen, dass ich nochmals dorthin wollte, wollten diesmal alle drei mitkommen, weil

sie dachten, dass ich eine ähnliche Show abziehen würde. Aber das lehnte ich ab. Meinen

Canossagang sollte nur Tim mitbekommen, und auch den hätte ich am liebsten nicht mitgenommen.

Als wir den Raum betraten, lächelte uns Herr Hoffman an.

»Ich freue mich, Euch zu sehen«, begann er. Ich wollte es schnell hinter mich bringen und begann:

»Ich wollte mich nur für mein Verhalten letzte Woche entschuldigen. Ich weiß auch nicht, was in

mich gefahren ist, dass ich sie so unsachlich angegriffen habe.»

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Zum einen waren deine Vorwürfe, wenn auch nicht nur

gegen mich, teilweise berechtigt. Zum anderen hast du mir, wenn auch aus anderen Motiven viele

Dinge anvertraut, die ich sonst vielleicht nie erfahren hätte, und das hätte ich schade gefunden.»

»Sie sind mir also nicht mehr böse?«, fragte ich vorsichtshalber.

»Ich war dir nie böse« kam als Antwort. Erleichtert wollte ich mich zum Gehen wenden. Da sagte

Herr Hoffmann:

»Bleibt doch noch ein wenig. Wir können uns doch noch ein bisschen unterhalten. Vielleicht

können wir ja gegenseitig noch etwas voneinander lernen.» Ich zögerte, aber diesmal war es Tim

der antwortet: »Gerne.«

Es wurde wirklich ein schönes Gespräch. Tim und ich erzählten über unsere Kindheit, was uns

hierher gebracht hatte, wir erzählten von Rasmus und Oliver. Die schlimmen Details ließen wir

zwar weg. Aber dennoch hatten sowohl Tim als auch ich hier zum ersten Mal da Gefühl, ernst

genommen zu werden und nicht als lästiger, dummer Jugendlicher behandelt zu werden. Schließlich

musste uns Herr Hoffmann fast rauswerfen, da er wegmusste. Auf jeden Fall beschlossen wir, am

nächsten Sonntag wiederzukommen.

Von da an gingen wir jeden Sonntag zu Herrn Hofmann. Auch Oliver und Rasmus kamen eines

Tages mit. Wir alle fanden es toll, dass es da jemanden gab, vor dem man sich nicht verstellen

musste. Er akzeptierte uns so, wie wir waren. Auch die Beziehung zwischen Tim und mir war nie

ein Problem. Es war neben den Abenden in der Zelle auch der einzige Ort, an dem Tim und ich

zusammen kuscheln konnten. Wir redeten über Gott und die Welt, also mehr über die Welt, um

ehrlich zu sein. Herr Hoffmann war unser einziger Kontakt nach draußen, da keiner von uns Besuch

bekam. Über ihn erfuhren wir wenigstens etwas, was draußen passierte.

Obwohl Herr Hoffmann Pfarrer war, versuchte er uns nie eine Gespräch über Glauben und Gott

aufzuzwingen. Wir selbst waren es, die irgendwann einmal in diese Richtung fragten. Tim fragte

ihn einmal, warum er denn auf die Idee gekommen sei, Pfarrer zu werden.

»Ich bin gerne mit Menschen zusammen und glaube, dass ich auch anderen Menschen helfen kann.

Außerdem ist der Beruf des Pfarrers einer der abwechslungsreichsten Aufgaben.»

»Aber als Pfarrer muss man doch an Gott glauben«, meinte Oliver. »Ich habe da Probleme mir

vorzustellen, dass da über den Wolken ein alter Herr sitzt, der das Geschehen hier überwacht und

dafür sorgt, dass alles immer gerecht zugeht. Selbst ich kenne da schon genügend Beispiele, wo der

alte Herr nicht gut genug aufgepasst hat.»

Uns anderen ging es nicht viel anders. Wir hatten alle mit Glauben und Gott nichts am Hut. Oliver

und ich hatten zeit unseres Lebens keine Kirche von innen gesehen. Rasmus und Tim erinnerten

sich zwar dunkel, dass ihre Eltern sie von Zeit zu Zeit in die Kirche geschleppt hatten, aber

freiwillig wären sie dort nie hingegangen. Herr Hoffmann lachte über unsere Vorstellung von Gott.

»Das glaube ich auch nicht, dass da irgendwo ein älterer Herr sitzt, der die Fäden wie bei

Marionetten in der Hand hält. Aber dass es da irgendwo eine Macht außerhalb von uns gibt, die von

Zeit zu Zeit die Ereignisse in eine Richtung lenkt, das glaube ich schon. Das Problem ist, dass wir

mit dieser Richtung nicht immer einverstanden sind. Aber ich glaube schon, dass im Endeffekt die

Richtung die richtige ist. Ein Beispiel dafür sind ja vielleicht auch Tim und Rafael.» Ich wurde rot,

als mir bewusst wurde, dass er das ja schon bei unserem ersten katastrophalen Treffen gesagt hatte.

8

Eines Abends, ich kuschelte bereits mit Tim, merkten wir, dass Oliver aufstand und zu Rasmus ins

Bett huschte. Wir lächelten uns an, zumal bald eindeutige Geräusche zu hören waren. Am nächsten

Abend kam dann auch von Rasmus die Frage:

»Woran merkt man eigentlich, dass man schwul ist?«

Tim und ich schauten uns an. Nach einiger Zeit antwortete ich:

»Puhh, das ist gar nicht so einfach zu sagen. Es ist nicht so, dass von einem auf den anderen

Moment die Erkenntnis kommt: Ich bin schwul. Das ist ein sehr langer Prozess. Das fängt an, wenn

plötzlich alle von Mädchen reden, wie »guck mal, die geile Schnitte da, was die für Titten hat« oder

so ähnlich. Du musst dich ja nur hier beim Essen umhören. 90 % der Gespräche drehen sich um

Tussis. Das ist hier natürlich besonders schlimm, weil es keine Mädchen gibt. Also, alles um dich

herum redet von Mädchen und was man gerne mit ihnen machen will und du merkst du dann, dass

dich das überhaupt nicht interessiert. Du machst zwar vielleicht mit, weil es cool ist, vielleicht

denkst du ja auch, dass das noch kommt, aber irgendwie findest du das ganze blöd, wenn man fast

nur noch von geilen Tussis redet. Irgendwann fällt dir auf, dass du im Kopf denkst: Hei, da drüben

der Typ, der sieht aber unheimlich süß aus. Zunächst denkst du dir nichts dabei, aber das passiert

dir dann immer häufiger. Und wenn du dann nachts im Bett liegst und bestimmten Bedürfnissen

nachgehst, denkst du halt nicht an ein geiles Mädchen, sondern an einen süßen Jungen. Zuerst

ignorierst du das, dann denkst du, es ist vielleicht nur eine Phase. Und irgendwann stellst du fest,

dass es keine Phase ist. Du bekommst immer mehr Sehnsucht, einen Jungen im Arm zu halten. Und

irgendwann, ganz langsam kommt dann vielleicht die Erkenntnis, dass du anders bist als die

meisten.»

»Puh, ich glaube, ich bin nicht schwul,« meinte Oliver. Er klang richtig erleichtert.

»Ich, glaube ich, auch nicht,« ergänzte Rasmus. »Aber kann man vielleicht schwul werden, wenn

man mit Jungs rummacht. Ich meine, du hast doch auch früher viel mit Männern rumgemacht. Ist es

vielleicht möglich, dass du deshalb...?»

Ich musste lachen.

»Das war eher ein Grund nicht schwul zu werden. So toll waren die Erlebnisse nun wirklich nicht,

ganz im Gegenteil. Manchmal war es richtig abstoßend. Und meistens war es auch eine recht

einseitige Angelegenheit. Der Freier hat bezahlt und sich dann seine Leistung genommen. Wenige

sind auch auf meine Bedürfnisse eingegangen. Allerdings hat, glaube ich, das ganze die Erkenntnis,

dass ich schwul bin, beschleunigt.»

»Sind eigentlich alle Stricher schwul?«, wollte Tim wissen.

»Schwierig zu sagen, weil es keiner zugibt. Du musst wissen, nicht nur hier im Knast, auch bei den

Straßenkids gibt eine Art Rangordnung. Oben stehen die, die sich mit keinen Diebstählen oder

Laute anmachen über Wasser halten. Die, die am Bahnhof stehen, sind da ganz unten angesiedelt.

Deshalb wird auch keiner zugeben, dass er auf den Strich geht, obwohl die meisten das wohl hin

und wieder machen.

Aber das absolut unterste ist, wenn man auf den Strich geht und schwul ist. Deshalb wirst du

wahrscheinlich keinen finden, der das offen zugibt. Ich hätte das vor wenigen Monaten auch noch

heftigst abgestritten. Inzwischen glaube ich aber, dass die meisten, die permanent auf den Stich

gehen, auch schwul oder zumindest bi sind. Eine Ausnahme sind da vielleicht nur die Junkies, die

alles machen würden, um an ihren Stoff zu kommen. Die ganze Situation führt paradoxerweise

dazu, dass die Schwulenfeindlichkeit unter den ganz jungen Strichern und eben auch unter den

schwulen Strichern viel höher ist als im normalen Leben.»

»Also du glaubst nicht, dass man schwul wird, wenn man mit anderen Jungs rummacht,« brachte

Oliver uns wieder zum Anfang zurück.

»Nein, du kannst ruhig weiter mit Rasmus rummachen. Davon wirst du nicht schwul.«

Die beiden wurden knallrot, aber guckten wirklich erleichtert.

»So schlimm ist das nun auch wieder nicht, wenn man schwul ist«, meinte Tim daraufhin.

»Es tut überhaupt nicht weh und ist auch nicht ansteckend,« fügte ich hinzu.

»Blödmann«, kam als Antwort von Rasmus, dessen Gesicht noch eine Spur röter geworden war.

Gleichzeitig flog mir ein Kissen um die Ohren. Binnen kurzem entwickelte sich eine Kissenschlacht

zwischen Tim Und mir auf der einen uns Oliver und Rasmus auf der anderen Seite. Die beiden

kleinen waren uns natürlich haushoch unterlegen und nach kurzer Zeit lagen sie am Boden und ich

saß auf Oliver und Tim auf Rasmus.

»Ich gebe mich geschlagen«, gluckste Oliver und lachte mich an. Meine Güte, ist der süß, dachte

ich nur und merkte, dass sich bei mir unten etwas tat. Ich gab ihn sofort frei, bevor jemand etwas

bemerkte. Als ich sah, dass auch Olivers Schlafanzughose etwas gewölbt war, musste ich dennoch

lächeln. Als Tim aufstand, sah ich , dass es auch bei den beiden nicht folgenlos geblieben war.

Etwas verwirrt gingen wir alle schlafen.

Das Verhältnis zwischen uns vieren wurde immer besser. Wir lebten praktisch den ganze Tag nur

auf unsere gemeinsamen Abend hin. Es gab zwar immer noch eine kleine Reserviertheit zwischen

den Kleinen und Tim, aber es war lange nicht mehr so stark spürbar wie am Anfang. Immer seltener

hatte auch Tim eine depressive Phase, allerdings ganz hörte es doch nicht auf.

Je mehr sich aber unser Verhältnis stärkte, desto mehr zogen wir uns von den anderen zurück.

Außerhalb unserer Zelle wurden unsere Kontakte immer weniger. Mit den Mecs wollten wir sowie

so nichts zu tun haben, aber auch bei den anderen suchten wir keinen Anschluss. Es herrschte

irgendwie eine komische Atmosphäre zwischen uns und dem Rest des Knasts. Anfangs wurden wir

noch öfters von den Mecs angepöbelt, aber mit der Zeit ließ das auch nach. Es gelang ihnen ja auch

nicht herauszubekommen, was es so besonderes in unserer Zelle gab. Mit der Zeit ließen aber auch

die Anpöbeleien nach. Vermutlich hatten die Mecs das Interesse an uns verloren und unseren

Sonderstatus akzeptiert, so dachten wir jedenfalls. Dass das ein verhängnisvoller Irrtum war, sollte

sich erst viel später herausstellen. Zunächst waren wir erst einmal erleichtert. Wir machten den

ganzen Tag über, was von uns erwartet wurde. So fielen wir zumindest bei den Wärtern nicht weiter

auf. Aber auch unseren Mitgefangenen gegenüber versuchten wir uns möglichst unauffällig zu

verhalten. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Das würde nur Probleme bringen. Glücklicherweise

waren wir ja auch normalerweise ganztägig beschäftigt. Erstaunlicherweise machte mir die Schule

sogar Spaß. Ich hatte ja mehr als ein Jahr keine Schule von innen gesehen und wurde darum eine

Klassenstufe tiefer eingestuft. Tim hatte auch irgendwann mal eine Ehrenrunde eingelegt. Da es

nicht so viel ganz junge Strafgefangene gab, wurden immer zwei Klassenstufen zusammen

unterrichtet. Das hatte für uns den Vorteil, dass Tim und ich in einer Klasse waren. Ich hatte kaum

Probleme, den Stoff nachzuholen und war ganz schnell auf dem Level der anderen. Bald hatte ich

die anderen sogar überholt, was mir zwar den Titel »Streber« einbrachte, mich aber nicht weiter

störte. Die übrigen »Aktivitäten« im Gefängnis fand ich nicht so toll und konnte kaum die Abende

erwarten, wo wir dann richtig auflebten.

9

Mit den Wochen gab kam noch ein weiterer Termin hinzu, dem wir entgegenfieberten. Das waren

die Sonntagnachmittage mit Herrn Hoffman. Mit jedem Sonntag wurde unser Umgang vertrauter.

Irgendwann sagte Herr Hoffmann auch, dass wir ihn doch Johannes nennen sollten. Er erzählte

auch von sich. Er war 31 Jahre alt und hatte eine 30 jährige Frau, die er während des Studiums

kennensgelernt hatte. Seine Frau hieß Petra und war Lehrerin. Obwohl die beiden gern Kinder

gehabt hätten, war es ihnen nicht vergönnt. Irgendwie passten die Gene wohl nicht zusammen. Die

Stelle als Gefängnispfarrer war Johannes' erste Anstellung. Auch für Pfarrer war es nicht einfach,

eine feste Anstellung zu finden. So wurde ihm dann irgendwann nur die eigentlich unbeliebte

Stellung eines Gefängnispfarrers angeboten. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass die

meisten Insassen null Interesse für ihn oder seine Mission hatten. Um so mehr hatte er sich gefreut,

als wir auf ihn zugekommen seien.

Und auch wir waren froh, jemanden gefunden zu haben, dem wir unsere Sorgen anvertrauen

konnten und der diese auch Ernst nahm. Das Vertrauen ging schließlich so weit, dass Tim eines

Tages den einzigen dunklen Punkt ansprach, den es zwischen uns noch gab. Damit brach er ein

weiteres ungeschriebenes Knastgesetz, nämlich: Trage deine Probleme mit den Mitgefangenen nie

zu den Aufsehern oder anderen offiziellen Personen (dazu zählte natürlich auch der Pfarrer).

Außerdem gestand er ja auch Johannes ein Verbrechen ein, wegen dessen er auch noch

strafrechtlich verfolgt werden könnte. Aber Tim bedrückte das ganze wohl immer noch so sehr,

dass er das alles ignorierte. Er schilderte alles noch mal, wie es sich zwischen ihm und den beiden

kleinen Jungs abgespielt hatte. Das ganze endete natürlich in Tränen, aber es war nicht mehr so

schlimm wie beim ersten Mal. Johannes war völlig geschockt. Nicht, dass er nicht wusste, dass so

etwas im Knast vorkam. Er hatte sich, obwohl er die Stelle erst vor kurzem übernommen hatte,

informiert und auch gelesen, dass Gewalt und sexuelle Übergriffe in Gefängnissen an der

Tagesordnung waren. Aber bisher hatte er sich nur theoretisch damit beschäftigt. Dies war das erste

Mal, dass er direkt damit konfrontiert wurde. Nachdem er sich etwas gefasst hatte, begann er:

»Das ganze hat zwei Dimensionen. Zum einen eine persönliche, die Euer Verhältnis untereinander

beeinflusst. Zum anderen auch eine, die den gesamten Strafvollzug betrifft. Was Euch betrifft, so

würde ich das mal als Außenstehender so betrachten:

Tim hat Oliver und Rasmus schweres Leid zugefügt. Das lässt sich durch nichts wieder rückgängig

machen.» Tim's Gesicht verzerrte sich schmerzlich. «Auf der anderen Seite ist ihm selbst ähnlich

Schlimmes wiederfahren. Das gab ihm zwar nicht das Recht, gleiches Unrecht an anderen zu

verüben, ist aber zumindest eine Erklärung für seine Taten. Auch Oliver und Rasmus und können

sich ja nicht davon freisprechen, ähnliche Gedanken gehabt zu haben. Aber wichtiger ist noch: Tim

hat seine Schuld eingestanden, er quält sich damit und ersehnt Verzeihung. Aber dazu gehören

immer zwei: Einer der Verzeihung sucht und einer, in diesem Fall zwei, die Verzeihung geben. Und

wie es in Oliver und Rasmus aussieht, kann ich nicht beurteilen. Da aber beide nochmals geweint

haben, kann es noch nicht ganz verarbeitet sein.»

»Wir hatten noch lange Angst vor Tim,« begann Oliver, »auch nach unserer ersten Aussprache

noch. Wir haben anfangs auch nur Raffael zu Liebe uns etwas an Tim angenähert. Das hat sich

mittlerweile gegeben. Wir haben jetzt schon Vertrauen zu ihm. Ich habe nachts keine schlimmen

Träume mehr. Aber so ein Verhältnis wie zu Rafael haben wir immer noch nicht.» Rasmus nickte

zustimmend.

»Ich glaube, ihr seid auf einem guten Weg,« begann Johannes wieder. »Den Rest muss jetzt die Zeit

machen. Ihr solltet das Thema aber nicht zum Tabu machen, auch wenn solche Aussprachen weh

tun. Auf Dauer ist es eigentlich immer besser, alles offen anzusprechen. Ich glaube, dass Rasmus

und Oliver dir eines Tages zeigen werden, dass sie dir verziehen haben.» Tim sah jetzt schon wieder

sehr viel fröhlicher aus.

»Das ganze hat aber auch noch eine Dimension, die über Euren kleinen Bereich hinausgeht. Ich

vermute mal, dass Eure Zelle nicht die einzige ist, in der solche Übergriffe stattgefunden haben und

auch noch stattfinden.»

Wir nickten alle bestätigend.

»Und ich möchte und kann das auch nicht einfach ignorieren, sondern will etwas gegen die Gewalt

unternehmen.»

»Wir zerbrechen uns auch schon lange den Kopf darüber. Aber selbst ich glaube mittlerweile, dass

es da keine Lösung gibt», unterbrach ich ihn.

»Lasst es uns doch noch einmal gemeinsam probieren. Ich kann vielleicht etwas theoretisches

Wissen beisteuern und ihr könnt mit Eurer praktischen Erfahrung leicht feststellen, was machbar ist

und was nicht.»

Wir stimmten zu, obwohl selbst ich nicht glaubte, dass da etwas rauskommen könnte.

»Ich hab nie verstanden, warum es überhaupt Gewalt hier geben muss. Wir sind doch alle in der

gleichen Situation. Keiner ist freiwillig hier,» sagte Rasmus.

Johannes entgegnete:

»Das ist recht einfach zu erklären. Ihr seid hier auf recht engem Raum zusammen. Fast alle Zellen

sind voll belegt. Da gibt es absolut keinen Raum, in den man sich zurückziehen kann, kein bisschen

Privatsphäre. Schon das steigert die Aggression. Hinzu kommt noch, dass im Schnitt die

Gewaltbereitschaft hier höher ist als in der Normalbevölkerung. Viele sitzen ja hier, weil sie

draußen Gewaltverbrechen begangen haben. Man könnte natürlich alles Einzelzellen machen, aber

dann müsste das Gefängnis vier mal so groß sein, oder für jeden Jungen einen Wärter bereitstellen.

Das kann auch keiner bezahlen. Oder die Zellen mit Videoüberwachung ausstatten.»

»Das fände ich aber nicht so toll«, warf Tim ein.

»Warum sperrt man die Mecs nicht alle zusammen. Dann hätten die Übrigen wenigstens ihre

Ruhe», meinte Oliver.

»Ich glaube kaum«, antwortete Johannes, »bei den Mecs würde es Mord und Totschlag geben und

bei den übrigen würden einige ihre Chance erkennen und sich selber zu Mecs aufspielen, siehe ja

auch Tim». Tim blickte verschämt zu Boden. «Im übrigen, das sagt zwar keiner öffentlich, hilft das

ganze ja der Gefängnisleitung, das Gefängnis zu kontrollieren. Es ist einfacher, eine Handvoll Jungs

in Schach zu halten, die dann die übrigen kontrollieren, als auf ein paarhundert Jungs aufzupassen.

Das ist bei der heutigen Personalknappheit schon ein wichtiger Faktor. Das ist zwar kurzsichtig

gedacht, aber es ist nun mal so. Was ich allerdings nicht verstehe ist, wie in einer Zelle ein

einzelner drei Mitinsassen terrorisieren kann. Wenn die anderen drei sich zusammen tun, hat er

doch keine Chance.»

»Ich habe mal erlebt, wie in einer Zelle drei Jungs ihren Mec verprügelt haben«, sagte Tim. »Die

drei sind dann am nächsten Tag ganz zufällig die Treppe runter gefallen, als kein Wärter in der nähe

war. Da halten die Mecs schon zusammen. Das funktioniert nicht.»

»Ich glaube auch nicht, dass man das Problem mit Gewalt lösen kann. Gewalt ruft immer nur

Gegengewalt hervor, das zeigen alle Ereignisse in der Geschichte und auch heute kann man das

überall beobachten. Besser ist da schon eine demonstrierte Gewaltlosigkeit. Rafael hat da ja ein

Beispiel gegeben, obwohl ich nicht weiß, ob er Erfolg gehabt hätte, wenn da nicht die Liebe ins

Spiel gekommen wäre. Aber im Prinzip ist Gewaltlosigkeit eine gutes Mittel Dinge zu erreichen.

Das kann man auch in der Geschichte erkennen: Mit dem Verzicht auf Gewalt sind große Dinge

erreicht worden: Gandhi hat mit Gewaltlosigkeit die Unabhängigkeit Indiens erreicht, Martin

Luther King die Gleichberechtigung der Schwarzen in Amerika, und nicht zuletzt mein Chef, das

hat Auswirkungen bis heute», erklärte Johannes.

Wir brauchten etwas bis wir verstanden hatten, wen er mit seinem Chef meinte. Ich dachte nach.

Gandhi, Martin Luther King, Jesus hatten alle viel erreicht, doch irgendetwas stimmte da nicht. Ich

kam nicht gleich drauf:

»Du guckst skeptisch«, meint Johannes.

»Ja, irgendwie habe ich bei deinen Beispielen ein schlechtes Gefühl. Irgendetwas stimmt mit den

dreien nicht. Irgendwie gab es da kein Happy end.»

»Du hast recht, keiner von den dreien ist eines natürlichen Todes gestorben. Aber gerade das hat

ihrer jeweiligen Sache zum endgültigen Durchbruch geholfen.»

»Ich bin aber nicht bereit, dafür zu sterben«, entgegnete ich.

»Das musst du ja auch nicht«, antwortete Johannes. »Ich denke daran, mit der Hilfe eines

Psychologen eine Arbeitsgruppe hier ins Leben zu rufen, die das Problem behandeln soll. Ich habe

darüber schon mal mit dem Direktor gesprochen. Der ist zwar skeptisch, weil er das vor einigen

Jahren auch schon mal versucht hat und damals keinen Erfolg hatte. Es wäre kaum jemand

gekommen und diejenigen, die es am nötigsten gehabt hätten, schon mal gar nicht. Als er dann alle

hingezwungen hätte, hätten die Mecs die ganze Veranstaltung lahmgelegt. Ich glaube auch nicht,

dass man Leute in diese Veranstaltung zwingen kann. Aber wenn ihr teilnehmen würdet, hätte man

ja schon eine Keimzelle und andere würden vielleicht folgen.»

»Ich weiß nicht, ob wir hier so einen großen Einfluss haben« entgegnete Tim. »Wir haben hier so

etwas wie einen Exotenstatus. Die Mecs hassen uns eher und die anderen wissen auch nicht so

recht, wie sie mit uns umgehen sollen. Ich glaube, wenn du das mit uns alleine anfängst, wird

keiner folgen, die Mecs sowieso nicht, und die anderen trauen sich dann nicht. Ich glaube, dass es

da nur eine Möglichkeit gibt, das zu schaffen. Es müsste ein Ereignis geben, dass alle aufrüttelt,

auch die Mecs».

»Ein Ereignis, dass alle aufrüttelt«, wiederholte ich nachdenklich.

Wenn ich damals gewusst hätte, wie nahe wir diesem Ereignis waren und wie dieses Ereignis

aussehen sollte!

10

Eines Tages wurde ich am Nachmittag aus der Arbeitsgruppe gerufen. Ich hätte Besuch, wurde mir

gesagt. Wir bekamen nie Besuch, alle vier. Die meisten anderen Gefangenen wurden regelmäßig

von Freunden oder Verwandten besucht. Zu uns kam nie jemand. Daher war ich sehr überrascht

und auch neugierig, wer mich denn besuchen wollte. Vielleicht war aber alles nur ein Irrtum. Denn

den Herrn, der auf mich im Besuchsraum wartete, kannte ich nicht. Er war vielleicht Mitte 40 und

etwas untersetzt.

»Guten Tag, Rafael«, begann er, »mein Name ist Wilfried Meier. Ich habe eine erfreuliche

Nachricht für dich. Aufgrund Deiner guten Führung wird der Rest deiner Strafe zur Bewährung

ausgesetzt. Ich bin dein Bewährungshelfer und möchte mit dir die Details besprechen.»

Das traf mich wie ein Schlag. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet. Mir wurde schlagartig

bewusst, dass Tim und ich getrennt würden. Entsprechend entsetzt muss ich wohl auch geguckt

haben, denn Herr Meier sagte:

»Normalerweise bekomme ich auf diese Ankündigung andere Reaktionen. Eigentlich sind immer

alle froh, wenn sie dieses gastliche Haus verlassen können. Du bist der erste, der offensichtlich

gerne hier ist.»

Das stimmte wahrscheinlich auch, hatte aber Gründe, die ich Herrn Meier nicht erläutern wollte.

Daher antwortete ich:

»Nein, das kam nur so überraschend. Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet.«

Damit war das Thema erledigt und Herr Meier begann mit den praktischen Fragen.

»Also, deine Entlassung ist in vier Wochen vorgesehen. Ich habe mich bereits umgehört. Deine

Familie ist nicht bereit, dich aufzunehmen.»

»Da würde ich auch sofort wieder abhauen,« entgegnete ich.

»Ich halte es auch für besser, wenn du nicht in deine Familie zurückkommst,« ergänzte Herr Meier.

»Allerdings wirst du dann im Heim leben müssen. Ich habe wenig Hoffnung, dass wir eine

Pflegefamilie für dich finden. Mit 16 Jahren und dazu noch vorbestraft hat man kaum eine

Aussicht. Ich werde mich zwar weiterhin umhören, aber mach dir mal lieber keine Hoffnung.

Vielleicht kannst du dann ja nach einem halben Jahr in eine betreute Wohngruppe wechseln.»

»Mir ist das Heim auch erst mal lieber«, sagte ich, »von Familie habe ich eigentlich die Nase voll.«

Es gab auch noch einen anderen Grund. Tim hatte auch schon mehr als die Hälfte seiner Zeit

abgesessen. Vielleicht kam er auch bald auf Bewährung frei und man konnte arrangieren, dass er in

dasselbe Heim kam. Das gleiche galt auch für Oliver und Rasmus, die mir so ans Herz gewachsen

waren, dass ich mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte.

Herr Meier erklärte mir dann die Details. Er würde eine Schule für mich suchen, vermutlich eine

Realschule, da sollte ich keine Probleme haben. Ein Gymnasium hielt er nicht für geeignet, da ich

keine feste Bezugsperson hätte, an die ich mich im Fall von Probleme wenden könnte. Und er hielt

es für wichtig, die Probleme zumindest am Anfang zu minimieren. Ich stimmte zu, obwohl ich

schon gerne aufs Gymnasium gegangen wäre.

Einmal in der Woche müsste ich mich bei ihm zu einem Gespräch einfinden, wo dann alle

aufgetretenen Probleme abgehandelt würden. Ansonsten würde er alles vorbereiten und sich eine

Woche vor meiner Entlassung nochmals mit den neuesten Informationen melden, beendete Herr

Meier das Gespräch.

Die anderen drei bestürmten mich natürlich sofort, wer mich denn besucht hätte. Ich vertröstete sie

aber bis zum Abend, wo ich dann die Bombe platzen ließ. Alle reagierten, wie ich auch reagiert

hatte.

»Und was nun«, fragte Tim unglücklich.

»In zwei Tagen ist Sonntag. Wir bereden das ganze mit Johannes. Der müsste doch durch seine

Beziehungen rauskriegen können, ob für dich und auch für Oliver und Rasmus etwas Ähnliches

vorgesehen ist. Ihr habt ja auch schon mehr als die Hälfte eurer Strafe abgesessen. Und vielleicht

kann er auch ein bisschen nachhelfen, dass wir alle vier in das gleiche Heim kommen. Er hat doch

bestimmt Einfluss darauf.»

Die anderen waren zwar nicht ganz zufrieden, da es jetzt eine Zeit der Ungewissheit geben würde.

Wahrscheinlich würde es eine Zeitlang dauern, bis Johannes alle Informationen zusammen hatte.

Auf jeden Fall sehnten wir den Sonntag herbei. Erwartungsvoll gingen wir in seine Sprechstunde.

Zu unserer Überraschung war Johannes nicht allein. Neben ihm saß eine junge Frau, knapp 30 Jahre

alt, lange schwarze Haare. Sie hatte ein hübsches, freundliches Gesicht. Dennoch zuckten wir

zunächst zurück, da wir völlig überrascht waren.

»Hallo,« begann Johannes, »ich habe zuhause soviel von Euch erzählt, dass meine Frau euch

unbedingt kennen lernen wollte. Also habe ich sie heute mal mitgebracht. Also. Das ist Petra und

das sind Tim Rafael, Oliver und Rasmus.»

Wir sagten artig Guten Tag und setzten uns züchtig auf unsere Stühle. So gerne wir seine Frau

kennen gelernt hätten, so wenig passte es uns heute, da wir ja wichtiges mit ihm zu besprechen

hatten. Wir wussten auch nicht recht, wie wir uns jetzt verhalten sollten.

»Nun seid mal nicht so genant,« lachte Johannes, »Petra weiß genauso viel über euch wie ich. Ich

habe keine Geheimnisse vor ihr. Ihr dürft Euch ruhig benehmen wie sonst auch.»

Nun gut, dachte ich, wenn er das sagt und kuschelte mich wie üblich an Tim. Auch die beiden

kleinen nahmen eine lockerere Haltung ein.

»So ist das schon besser«, sagte Johannes. Auch seine Frau lächelte uns jetzt an. »Ihr seht aus, als

hättet ihr etwas auf dem Herzen».

Natürlich hatten wir das. Ich schilderte die Ereignisse der letzten Woche. Erstaunlicherweise wusste

Johannes bereits, dass ich auf Bewährung entlassen werden sollte. Uns was mich noch mehr

erstaunte: er hatte bereits Erkundigungen für die drei anderen eingezogen. Alle sollten innerhalb der

nächsten 6 Wochen entlassen werden. Rasmus und Oliver würden bereits nächste Woche Besuch

von Herrn Meier bekommen, Tim in der Woche darauf. Damit war die erste Frage ja schneller

geklärt als erwartet. Wichtiger war aber noch da zweite Problem.

»Wir würden gerne alle zusammen bleiben. Kannst du vielleicht ein bisschen bei Herrn Meier

vermitteln, dass wir alle in dasselbe Heim kommen», fragte ich Johannes.

»Warum würdet ihr denn gerne zusammen bleiben«, fragte Petra zwischendurch.

»Rasmus und Oliver sind wie Brüder für uns geworden und bei Tim und mir ist es noch etwas

mehr», antwortete ich und küsste Tim zur Bestätigung. «so komisch das ist, seit wir zusammen sind,

haben wir das erste mal ein bisschen Familiengefühl».

Petra lächelte uns an und Johannes versprach, mit Herrn Meier Kontakt aufzunehmen. Vielleicht

konnte er uns nächsten Sonntag schon etwas sagen. Nachdem nun diese wichtigen Fragen geklärt

waren, sprachen wir weiter über unsere Zukunft. Insbesondere auch Petra interessierte sich für

unsere Träume. Ich erzählte ihr, dass ich schon gerne eine Gymnasium besuchen würde, dass mir

Herr Meier aber abgeraten hätte. Die drei anderen winkten ab. Ihnen reichte die Realschule völlig.

Wie immer verging die Zeit viel zu schnell und wir mussten zurück in unsere Zellen.

11

Es wurde eine der längsten Wochen. Voller Ungeduld warteten wir auf den nächsten Freitag. Und

wenn man auf etwas wartet, will die Zeit überhaupt nicht weitergehen. Jeden Abend spekulierten

wir, ob Johannes wohl Erfolg haben würde. Wir schwankten zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Wir machten schon Pläne, was wir machen würden, wenn man uns trennen würde. Endlich kam der

Freitag. Nur wer nicht kam, war Herr Meier. Der Tag verging, wir waren bereits in der letzen

Gruppenarbeitsstunde. Ich war kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Dann, fünf Minuten vor Ende

der Stunde, kam doch noch ein Wärter und rief Rasmus und Oliver. Tim und ich blieben aufgeregt

zurück. Wir warteten in unserer Zelle auf die beiden.. Nach endlos langer Zeit kamen sie zurück.

Ich sah sofort an ihren Gesichtern, dass es nicht so gelaufen war wie gehofft.

»Was ist los?« bestürme ich die beiden.

Sie erzählten, dass sie beide einzeln zu Herrn Meier mussten, direkt hintereinander. Allerdings

sagte Herr Meier ihnen, dass es da möglicherweise eine Pflegefamilie für sie gäbe. Sowohl Rasmus

als auch Oliver hatten nicht sehr erfreut reagiert, so dass Herr Meier meinte, dass er es in letzter

Zeit nur mit komischen Leuten zu tun hätte. Der eine wolle lieber im Knast bleiben, die anderen

lieber ins Heim statt in eine Pflegefamilie.

»Und was machen wir nun«, fragte Tim.

» Vielleicht hat Johannes doch noch nicht mit ihm gesprochen«, meinte ich wenig hoffnungsvoll.

»Er hat es doch aber versprochen«, sagte Oliver.

»Vielleicht ist ihm etwas dazwischengekommen«, meinte Rasmus.

»Ach, wahrscheinlich hat er nichts erreicht. Dieser Herr Meier meint wahrscheinlich, dass wir in

einer Familie besser aufgehoben sind als im Heim.»

»Unter normalen Umständen ist das ja wohl auch richtig,« meinte ich.

Aber wir mussten wohl oder Übel noch zwei Tage warten, bevor wir den Grund erfahren würden,

zwei endlos lange Tage.

Enttäuscht gingen wir am Sonntag in Johannes' Sprechstunde.

»Du hast noch nicht mit Herrn Meier gesprochen«, begann ich auch gleich.

»Doch« antwortete Johannes.

»Und warum will Herr Meier dann eine Pflegefamilie für Rasmus und Oliver suchen?«

»Ich habe mir überlegt, dass es da vielleicht noch eine andere Möglichkeit gibt. Um ehrlich zu sein,

ich denke darüber schon seit einigen Wochen nach. Ihr wisst doch, dass Petra und ich keine Kinder

bekommen können. Hättet ihr nicht Lust, alle zu uns zu kommen? Als Eltern sind wir zwar noch

etwas jung, aber so ein bisschen Familie könnten wir doch bilden.»

Wir saßen alle mit offenem Mund da. Eine Minute sagte keiner etwas. Das hätte keiner in seinen

kühnsten Träumen auch nur zu denken gewagt. Ich konnte es auch immer noch nicht glauben.

»Das würdet ihr tun?« begann ich schließlich. »Und was sagt deine Frau dazu?«

»Die freut sich auf euch«, entgegnete Johannes. Nachdem wir uns gefasst hatten, sprangen wir alle

vier auf und umarmten ihn. Wir freuten uns wie die kleinen Kinder.

Ich habe erst viel später erfahren, dass Johannes gelogen hatte. Petra war zunächst alles andere als

erfreut sich uns an den Hals zu hängen. Sie erzählte mir später, als ich schon einige Monate bei

ihnen wohnte, dass sie ihren Mann für verrückt erklärt hätte, vier halbwüchsige, kriminelle Kids bei

sich aufzunehmen zu wollen. Sie hätten ernsthaft Streit gehabt. Sie hatte ihm vorgeworfen, dass er

sich da in etwas verrennen würde, was er unmöglich durchhalten könnte. Es handele sich ja nicht

um normale Kids, sondern um Kinder, die alle etwas Belastendes in ihrer Vergangenheit hatten.

Und dann noch gleich vier. Bei einem hätte sie noch ja sagen können, aber vier seien doch der helle

Wahnsinn. Diese Verantwortung sei doch wohl mehrere Nummern zu groß. Wenn das schief ginge,

ständen nicht nur sie vor einem Trümmerhaufen, auch die Jungs hätten dann einen weiteren Knacks

weg. Mit viel Mühe hatte Johannes sie damals überreden können, uns im Gefängnis zu besuchen.

Nachdem sie uns dann kennen gelernt hatte, hatte sie begriffen, dass wir vier unter keinen

Umständen getrennt werden wollten. Sie fand uns dann auch nicht so schwierig, wie sie sich es sich

vorgestellt hatte. Insofern war ihre Angst zwar geringer geworden, aber sie hatte immer noch

Zweifel, ob das gut gehen konnte.

Glücklicherweise wussten wir das aber damals nicht. So begannen wir sofort, Pläne zu machen. In

Gedanken stellten wir uns bereits alles vor, wie es laufen sollte. Da die Wohnung nicht so unendlich

groß war, sollten Oliver und Rasmus und Tim und ich uns je ein Zimmer teilen. Das hatte für uns

den Vorteil, dass wir uns besser zurückziehen könnten. Ich freute mich unbändig darüber, mit Tim

zusammenbleiben zu können. Ich fühlte mich so glücklich wie nie zuvor.

12

Es war genau eine Woche vor meiner Entlassung. Wir saßen abends wir wie gewöhnlich nach dem

Einschließen zusammen und unterhielten uns über alles Mögliche: was wir nach unserer Entlassung

machen würden, wie es bei Petra und Johannes werden würde und ob wir uns da wohl fühlen

würden. Irgendetwas war aber anders als sonst. Es herrschte eine knisternde Spannung, ich kann

das gar nicht beschreiben. Vielleicht habe ich mir das auch nur alles eingebildet. Wir redeten

eigentlich ganz normal, wie sonst auch, redeten über ernsthafte Dinge, machten Witze oder

blödelten herum. Jedenfalls entwickelte sich irgendwann, ich weiß nicht einmal mehr den Anlass,

eine Kissenschlacht zwischen den kleinen und uns. Das ganze endete natürlich genau so wie beim

letzten Mal. Die beiden hatten keine Chance gegen uns und schon bald lag Rasmus unter mir und

kapitulierte lachend wie auch Oliver, den Tim unter Kontrolle hatte. Aber diesmal stand ich nicht

sofort auf sondern blieb einen Moment zu lang auf Rasmus sitzen. Rasmus hörte auf zu lachen. Sein

Lachen wandelte sich zu einem Lächeln, ein strahlendes Lächeln, das auch ein wenig Verlegenheit

ausdrückte. Ich schaute ihn wie gebannt an und war unfähig mich irgendwie zu rühren. Rasmus

legte seine Hände um meinen Hals und zog mich zu sich herunter. Willenlos ließ ich es mit mir

geschehen. Er gab mir einen Kuss direkt auf den Mund. Ich war völlig verwirrt und schaute neben

mich. Dort hatte sich genau das gleiche mit Tim und Oliver abgespielt.

»Seid ihr auch schwul.«, brachte ich noch heraus

Rasmus lächelte verlegen:

»Muss man dafür schwul sein?«

Er zog mich wieder zu sich heran und küsste mich nochmals. Ich glaube, in diesem Moment rastete

bei uns allen vieren etwas aus. Ich erwiderte seinen Kuss. Das ganze wurde intensiver.

Bereitwillig öffnete Rasmus seinen Mund und ließ meine Zunge ein. Tim tat das gleiche mit Oliver.

Wir küssten uns eine Weile. Mein Schwanz war mittlerweile bereits angeschwollen und auch

Rasmus' drückte schon gegen mein Bein. Wir rollten uns zur Seite. Mit den Händen hob ich seine

Schlafanzugjacke hoch und erkundete seinen Körper. Schließlich ließ ich meine Hände in seiner

Hose verschwinden und streichelte sanft seinen Po. Er tat das gleiche bei mir. Endlich zogen wir

uns gegenseitig die Schlafanzüge aus. Beide hatten wir schon eine mordsmäßige Erektion. Tim und

Oliver, die mittlerweile auch nackt waren, erging es ähnlich. Ich stand auf und zog Rasmus zu

meinem Bett, legte mich auf den Rücken und zog ihn auf mich drauf. Tim legte sich neben mich

und Oliver legte sich auf ihn. Wir lagen alle vier eng zusammen. Jeder konnte den anderen spüren.

Wir küssten uns immer wilder, rieben uns gegeneinander, und schneller als wir es eigentlich

wollten, kamen wir zum point of no Return, und in kurzen Abständen kamen wir alle vier. Wir

mussten uns stark beherrschen, nicht so laut zu stöhnen, dass man es in den Nachbarzellen hören

konnte. Rasmus und Oliver blieben auf uns liegen und kuschelten weiter.

»Das war genial,« bestätigten beide. Tim drehte seinen Kopf zu mir und gab mir einen Kuss auf den

Mund. Ich merkte, dass er noch nicht genug hatte. Wir waren immer noch geil, aber bei Tim kam

noch etwas anderes hinzu. Ich glaube, dass er fühlte, dass das, was passiert war, noch etwas anderes

bedeutete. Er strahlte wie ein Atomkraftwerk.

»Wollt ihr mal richtig mit uns schlafen?«, fragte er unvermittelt die beiden.

»Das würdet ihr für uns machen?«, fragte Oliver.

»Ihr wisst doch, dass wir für euch alles machen,« antwortete Tim glücklich.

Wir standen alle auf und wischten uns zunächst unser Sperma ab. Unsere Schwänze waren

mittlerweile wieder geschrumpft. Tim und ich knieten uns vor die beiden Jungs und verwöhnten

ihre Schwänze mit dem Mund. Ich kümmerte mich jetzt um Oliver. Schon bald stand es uns allen

wieder. Tim holte etwas Salbe und rieb sich und mir die Rosette ein. Dann knieten wir uns beide

hin, und zwar so, dass Tim und ich uns küssen konnten. Oliver und Rasmus bestiegen uns von

hinten. Sie drückte ihr steifen Schwänze gegen unsere Rosetten und glitten sanft in uns hinein.

»Geil«, stießen beide hervor. Tim und ich küssten uns. Oliver und Rasmus legten sich auf unseren

Rücken und begannen uns zu stoßen. Wir vier verschmolzen fast zu einer Einheit. Ich hatte noch

nie so etwas erlebt. Das war Zärtlichkeit, Liebe, Übereinstimmung in höchster Potenz. Ich fühlte,

dass Tim fast vor Glück platzte. Da wir alle schon einmal gekommen waren, konnten wir es

diesmal sehr viel länger genießen. Oliver schmiegte sich an meinen Rücken, Rasmus an Tim's. Die

beiden küssten sich gegenseitig, dann wieder einen von uns. Langsamer als beim ersten Mal, dafür

aber umso intensiver näherten wir uns alle dem Höhepunkt. An irgendeine Disziplin hinsichtlich

unseres Geräuschpegels war nicht mehr zu denken. Es war uns in diesem Moment auch völlig egal.

Unsere Lust stieg bis in Unerträgliche. Als ich die vom Orgasmus verzerrten Gesichter von Tim

und Rasmus sah, konnte ich auch noch kaum an mich halten. Im selben Moment spürte ich, wie

Oliver seinen Saft in mich hineinschoss. Das gab mir den Rest. Zum zweiten Mal an diesem Abend

kam ich und es war sehr viel heftiger als beim ersten Mal. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass

keiner in den Nachbarzellen unsere Aktion gehört hatte, aber das Erlebnis war zu elementar, um es

unterdrücken zu können. Als die beiden dann aus uns herausglitten, kuschelten wir noch nackt alle

vier zusammen, bevor wir uns viel später zu zweit in die Betten zurückzogen.

»Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben«, flüsterte mir Tim zu. Ich küsste ihn und

freute mich für ihn. Das heutige Ereignis bildete wohl den endgültigen Endpunkt des Konfliktes

zwischen Tim und den beiden Kleinen. Mit dem heutigen Abend hatten sie ihm zu verstehen

gegeben, dass sie ihm verziehen hatten und dass die Vergangenheit nicht mehr zwischen ihnen

stand.

Auch am nächsten Morgen war Tim noch in so einer Hochstimmung, wie ich es noch nie bei ihm

erlebt hatte.

»Ich könnte sterben vor Glück«, sagte er.

»Sag so etwas nicht«, antwortete ich entsetzt. Tim lachte nur.

Bereits beim Frühstück wurde klar, dass das, was in der letzten Nacht bei uns passiert war, nicht

verborgen geblieben war. Es gab erste Kommentare aus den Nachbarzellen.

»Was bei euch gestern abgegangen ist, war ja im ganzen Knast zu hören.« Oder

»Der Lärm eurer Schwuchtelorgie hat uns ja die ganze Nacht vom Schlafen abgehalten«. Es kamen

noch deftigere Bemerkungen. Ich dachte, dass es ja zum Glück nur noch ein paar Tage waren, bis

wir alle hier raus kamen. Es würde auch so unangenehm genug werden, dachte ich. Bis zum Mittag

hatte sich das Ereignis im ganzen Knast rumgesprochen. Ich sagte zu Tim:

»Lass uns vorsichtshalber nur noch gemeinsam herumlaufen.« Tim nickte.

Während des Unterrichts und auch während der Pausen merkte ich, dass fast unentwegt über uns

getuschelt wurde. Ich war froh, als die letzte Stunde zu Ende war. Ich wollte sofort mit Tim aus der

Klasse und zum Essen gehen. Aber Herr Schneider, unser Lehrer, rief mich zurück.

»Tim, bleibst du bitte noch einen Moment hier. Ich muss mir dir noch dein Abgangszeugnis

besprechen». Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ausgerechnet heute musste das sein! «Sei

vorsichtig», murmelte ich Tim noch zu.

»Wird schon werden. Ich warte auf dich im Speisesaal«, entgegnete er. Unglücklich und besorgt

schaute ich Tim nach. Er lächelte mich noch einmal an, bevor er aus der Klasse ging. Am liebsten

wäre ich ihm nachgerannt. Ich hatte auf einmal so ein furchtbar schlechtes Gefühl. Ich frage mich

heute immer noch, was passiert wäre, wenn ich mit ihm gegangen wäre. Aber das führt zu keinem

Ergebnis.

Herr Schneider sagte mir, dass er sehr mit meinen Leistungen zufrieden gewesen sei und dass die

Noten auch entsprechend ausgefallen wären. Es wäre sogar gut möglich, dass ich ein Gymnasium

besuchen könnte. Ich nickte nur geistesabwesend. So sehr ich mich zu jedem anderen Zeitpunkt

darüber gefreut hätte, so wenig passte es mir jetzt. Herr Schneider schien meine Unruhe nicht zu

bemerken. Jedenfalls erklärte er mir in aller Seelenruhe jede einzelne Note. Ich dachte, dass es

Stunden gedauert hätte, aber in Wirklichkeit waren es wohl nur 15 Minuten. Endlich durfte ich

gehen. Ich raste in Richtung Speisesaal. Mir war ganz elend vor Sorge, obwohl es doch eigentlich

keinen Grund gab. Es war halt nur dieses schlechte Gefühl.

13

Es wurde nie geklärt, woher Mathias das Messer hatte. Keiner seiner Zellengenossen konnte oder

wollte es sagen. Und er selbst schwieg beharrlich. Die anderen haben mir später erzählt, was

passiert ist. Als Oliver und Rasmus in den Speisesaal kamen, wurden sie bereits von Matthias mit

den Worten empfangen:

»Ach, da haben wir ja die beiden Kleinen aus der Schwuchtelbox.« Oliver und Rasmus wollten ihn

ignorieren, aber Mathias ließ nicht locker.

»Hei, gestern nacht wart ihr nicht so zurückhaltend. Wir würden auch gerne mal etwas sehen.«

Damit versetzte er Oliver einen so starken Schubs, dass dieser zu Boden ging. Unglücklicherweise

war kein Wärter da, der hätte eingreifen können.

»Hoppla, ich vergaß, dass wir es mit zwei schlappen Schwanzlutschern zu tun haben«, sagte

Matthias nur. Einige der Mecs lachten.

»Lass doch mal sehen, ob es sich wenigstens schon lohnt«, wandte er sich dann Rasmus zu und zog

ihm mit einem Ruck seine Hose runter.

»So klein und schon ein Problem«, war Matthias einziger Kommentar. Am Tisch der Mecs entstand

wieder Gelächter. »Aber vielleicht ist ja die Rückseite ergiebiger«, steigerte er sich weiter und

drehte Rasmus um.

»Es reicht immerhin zum Reintreten«, giftete er und versetzte Rasmus eine solchen Tritt, dass er

vornüber fiel. Rasmus und Oliver waren starr vor Schreck. In diesem Moment betrat Tim den

Raum. Er erkannte sofort, was loswar und schrie Matthias an:

»Lass die beiden sofort in Ruhe«, schrie Tim.

»Ach da kommt ja die Oberschwuchtel«, war Mathias einziger Kommentar, »ich bereite dir deine

Lustknaben doch nur richtig vor.»

Ohne ein weiteres Wort stürzte sich Tim auf Matthias. Dieser hatte das wohl nicht erwartet und fiel

zu Boden. Tim stürzte sich auf ihn. Matthias war zwar viel kräftiger als Tim und unter normalen

Umständen hätte Tim wohl keine Chance gegen ihn gehabt. Aber die angesammelte Wut und der

Überraschungseffekt sorgten dafür, dass Matthias ganz schön in Bedrängnis kam. Tim schlug wie

wild auf den am Boden liegenden ein. Es sah tatsächlich so aus als ob Matthias Prügel beziehen

würde. Damit wäre seine Macht wohl dahin gewesen. Doch plötzlich hatte Matthias ein

Klappmesser in der Hand. Tim bemerkte es zu spät. Als er eine neue Attacke startete, stieß Matthias

ihm das Messer mitten in die Brust. Es war alles ganz blitzschnell gegangen.

Als ich den Raum betrat, erfasste ich sofort die Situation. Ich sah den am Boden liegenden Tim.

Sein Hemd hatte einen kleinen Riss. An dieser Stelle hatte das Hemd einen kleinen roten Fleck.

Sonst war nichts zu erkennen. Er war aber nicht bei Bewusstsein. Zwei Wärter hatten inzwischen

Mathias überwältigt, ein dritter stellte das am Boden liegende, blutverschmierte Messer sicher.

Oliver und Rasmus lagen immer noch am Boden und starrten entsetzt auf das Geschehen. Ich schrie

nur »Nein!!« und rannte zu Tim. Er war bewusstlos, aber er atmete noch schwach. Praktisch direkt

hinter mir betrat der Anstaltsarzt den Raum und kümmerte sich um Tim. 2 Minuten später brachte

man bereits eine Trage um Tim ins Krankenhaus zu bringen. Ich zitterte vor Angst und stieß

Stossgebete aus. Ich fühlte mich elend wie noch nie in meinem Leben. Mathias war inzwischen von

den Wärtern weggebracht worden. Im ganzen Speisesaal, obwohl voller Jugendlicher, hörte man

keinen Ton. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Es war eine unheimliche Atmosphäre.

Plötzlich begann es an irgendeinem Losertisch. Irgend jemand klopfte rhythmisch mit seinem

Löffel gegen den Teller. Einige Sekunden durchbrach nur dieses rhythmische Klirren die Stille,

dann begann plötzlich ein zweiter ebenfalls gegen seinen Teller zu klopfen, nach kurzem ein dritter.

Das Geräusch schwoll zu einem Krach an, der die Stille unheimlich durchbrach. Bald schlugen alle

Loser im gleichen Rhythmus gegen ihre Teller. Die Mecs versuchten, sie davon abzuhalten, aber

diesmal hatten sie nicht die Macht dazu. Die Jungs klopften einfach weiter und ignorierten die

Mecs. Es war der Aufstand der Loser, und die Mecs sahen dabei ziemlich jämmerlich aus. Ihre

Macht war, jedenfalls fürs erste, gebrochen. Oliver und Rasmus erzählten mir später, dass das

zumindest bis zu ihrem Weggang noch angehalten hat.

Ich konnte keinen Bissen herunterbringen und ging deshalb in unserer Zelle. Ich warf mich auf

mein Bett und wartete. Aber ich war zu aufgewühlt, als dass ich dort liegen bleiben konnte. Ich

sprang auf und rannte wie ein Tiger hin und her. Oliver und Rasmus hatten einen Schock und

wurden auf der Krankenstation behandelt. Ich war auch froh, allein zu sein. Ich hätte auch

niemanden ertragen. Das ganze Gefängnis war totenstill. Alle Arbeitsgruppen fielen aus . Obwohl

alle in ihren Zellen waren, drang doch kam ein Laut aus diesen heraus. Die Zeit verging im

Schneckentempo. Das schlimmste war die Ungewissheit. Ich konnte es kaum ertragen und

versuchte permanent, aus den Wärtern etwas herauszubekommen. Aber die wussten auch nichts.

Nach endlos lange Zeit wurden wir alle in den großen Saal gerufen. Dort verbreitete sich das

Gerücht, dass Tim gestorben sei. Mir wurde wieder hundeelend. Als alle versammelt waren, kam

endlich der Anstaltsleiter. Und er verkündete, was sich als Gerücht bereits im ganzen Saal verbreite

hatte: Tim war auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Für mich brach alles zusammen. Das erste

Gefühl, das ich hatte, war Leere. Ich fühlte mich so als hätte man mir alles aus meinem Körper

herausgerissen. Im nächsten Moment fühlte ich mich, als hätte man den entstandenen Hohlraum mit

Schwefelsaure gefüllt. Alles in mir zog sich zusammen. Ich bekam kaum noch Luft. Kurze Zeit

später setzten die Wut und der Hass ein. Ich war wütend auf alles und jeden: Ich hasste natürlich

Matthias, der dieses Verbrechen begangen hatte, aber ich war auch wütend auf mich, weil ich nicht

mit Tim gegangen war. Ich war wütend auf die Gefängnisleitung, weil sie das Verbrechen nicht

verhindert hatte. Ich war sogar wütend auf Rasmus und Oliver, weil ohne deren Wunsch mit uns zu

schlafen, es gar nicht zu dieser Situation gekommen wäre. Ich war wütend auf Gott, weil er es

zugelassen hatte und dann noch in dem Moment, in dem Oliver und Rasmus Tim alles verziehen

hatten. Und ich war wütend auf Johannes, weil er einem so grausamen Gott dienen wollte. Ich war

wütend und es tat mir alles weh, aber ich konnte nicht weinen. Der Hass und die Wut verhinderten

das. In dieser Stimmung traf mich Johannes an, der sofort, als er von dem Verbrechen gehört hatte,

ins Gefängnis geeilt war.

»Was ist das für ein grausamer Gott, der es zulässt, dass ein Junge wie Tim getötet wird. Einfach

abgestochen wie ein Schwein.! Und was bist du für ein gewissenloser Mensch, der du diesen Gott

auch noch hochhältst!», schrie ich ihn an und schlug mit den Fäusten auf seine Brust.

Johannes sagte nichts. Er nahm mich einfach in den Arm. Ich hörte auf ihn zu schlagen. Er sagte

immer noch nichts. Aber er hielt mich weiter fest. Ganz, ganz langsam wurde ich etwas ruhiger in

seinen Armen. Er hielt mich bestimmt eine Stunde im Arm, bis ich mich halbwegs beruhigt hatte.

Er redete die ganze Zeit kein Wort. Er zeigte mir nur seine Geste, dass ich nicht allein war. Aber

geweint habe ich immer noch nicht. Schließlich musste er gehen. Er hatte zwar versucht zu

erreichen, dass ich bereits mit ihm kommen konnte, aber die Gefängnisleitung hatte darauf

bestanden, dass ich bleiben musste, obwohl es nur noch wenige Tage bis zu meiner Entlassung

waren. Oliver und Rasmus verbrachten die Nacht auf der Krankenstation, so dass ich allein in

meiner Zelle war. Das war mir im Moment auch lieber. Ein Wärter kam jede Stunde nach mir

sehen, damit ich keine Dummheiten machte. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Am

nächsten Morgen war ich wie gerädert. Ich war vom Unterricht befreit. Am Spätvormittag kamen

Oliver und Rasmus von der Krankenstation zurück. Auch ihre Gesichter waren aschfahl. Wir

nahmen uns alle drei in die Arme. Oliver und Rasmus heulten wie die Schlosshunde. Nur ich, ich

konnte immer noch nicht weinen. Die nächsten Tage waren schrecklich. Ich fühlte mich, als würde

ich neben mir hergehen. Oliver und Rasmus heulten fast die ganze Zeit und machten sich Vorwürfe.

Ich erlebte die Zeit wie in Trance.

Bereits vier Tage später war die Beerdigung angesetzt, nachdem die Leiche von der Polizei

freigegeben worden war. Rasmus, Oliver und ich durften dazu das Gefängnis verlassen. Wir zogen

unsere Zivilkleidung an und wurden von Herrn Müller begleitet. Johannes und Petra holten uns am

Tor ab. Johannes hatte es so arrangiert, dass wir Tim noch einmal sehen konnten. Der Sarg in der

Leichenhalle war noch geöffnet. Ich hatte furchtbare Angst vor dem Moment, aber Johannes

meinte, dass man so besser Abschied nehmen konnte. Ich war überrascht, wie friedlich und mit

glücklichem Gesichtsausdruck Tim dalag. Man hatte ihm seine Zivilkleidung angezogen, die ihm

noch gerade passte. Mir fiel ein, dass ich ihn nie so gesehen hatte. Ich kannte ihn ja nur in seiner

Anstaltskluft. Er hatte eine wirklich überirdische Schönheit. Ich beugte mich zu ihm hin und küsste

ihn auf die Stirn. Ich zuckte zurück. Die Stirn war eiskalt. Und was noch schlimmer war: Tim roch

nicht mehr. Der Geruch, sein Geruch, der mich immer so betört hatte, war verschwunden. Ich

glaube, dass mir erst in diesem Moment klar wurde, dass ich ihn endgültig verloren hatte, dass ich

ihn nie wiedersehen würde. Und endlich, endlich merkte ich, wie mir die Tränen hochkamen. Erst

langsam, dann aber immer mehr. Die anderen nahmen mich einfach in den Arm und weinten mit

mir. Die Sargträger schlossen den Sarg und die kleine Trauerfeier konnte beginnen. Johannes hatte

einen Kollegen gebeten die kleine Andacht zu machen, da er ja selbst betroffen war. Er hat es

bestimmt auch gut gemacht, aber ich heulte die ganze Zeit und bekam von dem, was um mich

herum vorging, wenig mit. Anschließend folgte die kleine Trauergesellschaft dem Sarg zum

Friedhof. Außer Oliver, Rasmus, Johanns, Petra und Herrn Müller war keiner erschienen, auch

Tim's Eltern nicht. Nicht einmal im Angesicht des Todes mochten sie sich zu ihm bekennen. Nach

der Beerdigung musste ich noch einmal ins Gefängnis zurück, obwohl ich am nächsten Morgen

entlassen werden sollte. Rasmus und Oliver kümmerten sich lieb um mich. Wir weinten viel

zusammen und abends kuschelte sich Oliver in meinem Bett an mich , damit ich nicht so alleine

war. Es tat gut, obwohl ich nicht schlafen konnte.

Am nächsten Morgen durfte ich gleich zur Kleiderkammer gehen und meine Zivilkleidung anziehen

sowie meine wenigen privaten Sachen in Empfang nehmen. Dann verabschiedete ich mich noch

von Rasmus und Oliver. Es war zwar nur für etwas mehr als eine Woche, aber wir nahmen uns

doch in den Arm und weinten zusammen. Das, was ein toller neuer Anfang werden sollte, war nun

doch durch diese Katastrophe getrübt. Johannes wartete draußen auf mich. Hinter mir schloss sich

das automatische Tor. Damit waren nun die sechs Monate vorbei, in denen ich das höchste Glück

meines bisherigen Lebens, aber auch das größte Leid erfahren hatte. Warum musste das so dicht

beieinander liegen! Die Erinnerung überwältigte mich wieder und ich brach erneut in Tränen aus.

Johannes nahm mich in den Arm bis ich mich halbwegs beruhigt hatte. Dann fuhren wir nach

Hause. Petra erwartete uns und zeigte mir das Haus und mein Zimmer, das ich eigentlich mit Tim

hätte teilen sollen. Die beiden nahmen mich und nach einer Woche auch Rasmus und Oliver offen

bei sich auf. Trotz der dunklen Schatten, die über dem Anfang lagen, hatten wir untereinander keine

Probleme. Wir halfen uns gegenseitig, die Ereignisse zu verarbeiten. Johannes und Petra hatten

immer ein offenes Ohr für uns.

14

Mittlerweile leben wir ein halbes Jahr in unserem neuen Zuhause. Es ist uns ein wirkliches Zuhause

geworden. Wir sind tatsächlich eine kleine Familie geworden. Wir denken zwar noch oft an Tim

und wie viel toller alles geworden wäre, aber wir müssen nicht mehr so oft weinen. Rasmus und

Oliver haben mir sehr über den Verlust hinweggeholfen. Wir hatten zwar seit dieser letzten

gemeinsamen Nacht zu viert keine intimen Kontakte mehr, aber wir haben wirklich ein Verhältnis

wie Brüder, die sich ausgezeichnet verstehen. Die beiden besuchen die Realschule und gehen in

dieselbe Klasse. Obwohl dort bekannt ist, woher sie kommen, haben sie mit den Mitschülern keine

Probleme. Im Gegenteil, das macht sie eher interessant für die anderen. Deren Eltern sehen das

zwar anders und haben Angst vor dem schlechten Einfluss auf ihre Kinder, aber wenigstens leben

die beiden ja bei »anständigen« Leuten. Seit neuestem haben die beiden jeder eine Freundin. Das ist

zwar noch in den Anfängen, aber ich hoffe für die beiden, dass sich das weiterentwickelt. Sie haben

mir zwar gesagt, dass sie etwas Angst vor den ersten Intimitäten haben. Auch sie sind wie ich der

Ansicht, dass eine derartige intime Vollkommenheit, wie wir vier sie in dieser denkwürdigen Nacht

genossen haben, nicht wiederholbar ist. Aber irgendwann werden sie den Sprung schon schaffen.

Johannes hat seine »Anti Gewaltgruppe« im Knast gegründet. Und er hat auch schon erste

Anfangserfolge. Tims Tod hat wohl alle so aufgerüttelt, dass er eine große Beteiligung hat. Ich

hoffe für ihn und auch für meine ehemaligen Mitgefangenen, dass das anhält und nicht so schnell

wieder verpufft. Allerdings ist mir nach wie vor der Preis für seinen Erfolg zu hoch.

Ich selbst besuche das Gymnasium. Das ist zwar ganz schön hart, aber Petra hilft mir und gibt mir

in den kritischen Fächern Nachhilfeunterricht. Außerdem lenkt mich das viele Lernen von meinen

trüben Gedanken ab. Petra meint, dass ich für mein Alter schon sehr reif sei. Ich habe ihr gesagt,

dass ich lieber unreifer und dafür glücklich sei. Ich wäre so gerne ein verliebter 16jähriger Junge

gewesen und hätte dafür liebend auf die Reife verzichtet. In der Schule wusste man zwar, dass ich

im Gefängnis gewesen war. Aber die anderen Umstände waren dort nicht bekannt und ich hatte

auch keinem etwas erzählt. In meiner Klasse hatte ich bisher keine Kontakte. Ich habe allerdings

auch nicht danach gesucht. Für die Rumalbereien meiner Klassenkameraden habe ich einfach keine

Nerven. Es gibt zwar auch ein Paar ruhigere Kameraden. Vor mir sitzt zum Beispiel David, ein

ruhiger Typ, der sich nicht an den derben Witzen der anderen beteiligt. Er sieht darüber hinaus auch

gut aus: dunkle Haare schlanker Körper, funkelnde grüne Augen. Aber auch mit ihm hatte ich

keinen näheren Kontakt. Bis gestern. Nach der Schule sprach er mich an:

»Hei, kann ich mit dir kommen, wir haben doch den gleichen Weg.«

Das war mir in dem halben Jahr überhaupt noch nicht bewusst geworden. Ich war immer direkt

nach Hause gestürmt und hatte weder vor noch hinter mich geschaut.

»Ok«, sagte ich. Wir gingen schweigend nebeneinander her. Zum ersten Mal wurde mir auch

bewusst, dass mein Schulweg eigentlich sehr schön war. Er führte durch einen kleinen Park, der

jetzt zur Mittagszeit vollkommen leer war. Meine Gedanken schweiften schon wieder ab, als David

mich unterbrach.

»Darf ich dich mal was fragen?«, begann er zaghaft. Ich schreckte hoch.

»Ja, natürlich.«

»Du bist jetzt seit einem halben Jahr bei uns. Während der ganzen Zeit habe ich dich kein einziges

Mal lachen oder auch nur lächeln gesehen. Warum bist du so traurig?»

Ich war kurz davor, zu sagen »Das geht dich einen feuchten Kehricht an«, aber dann schaute ich ihn

an. Ich sah in ein Gesicht eines hübschen Jungen, der mich zaghaft und erwartungsvoll anlächelte

und auch ein wenig ängstlich. Da hatte ich zum ersten Mal wieder eine meiner verrückten Ideen. Es

war ein Risiko, vielleicht würde er alles in unserer Klasse breittreten, aber ich tat es dennoch.

»Willst du das wirklich wissen«, fragte ich vorsichtshalber noch. David nickte heftig.

»Hast du denn Zeit. Weil das dauert, wenn ich dir das erzähle.«

Wieder nickte David. Also zog ich ihn mit auf eine Parkbank und begann zu erzählen. Ich erzählte

ihm alles, was ich im letzten Jahr erlebt hatte, bis in die letzte Kleinigkeit. Ich durchlebte alles

nochmals, alle Höhen und Tiefen. Auch David ließ das nicht kalt. Er freute sich und litt mit mir, das

konnte ich an seinem Gesicht sehen. Als ich geendet hatte, sagte er zunächst nichts. Er sah mich nur

mit seinen grünen Augen unendlich liebevoll an. Mir liefen schon wieder die Tränen runter. David

nahm seine Hand und wischte mir eine Träne ab. Dann nahm er mich einfach in den Arm und hielt

mich fest. Es tat mir gut. Es war gut getröstet zu werden. Es war gut, dass da noch jemand war, der

auch mit einem fühlte. Aber es war nicht nur der Trost, der mir gut tat. Es war noch etwas anderes.

Es dauerte etwas, bis ich begriff, was es war: es war der Geruch, es war Davids Geruch, der mir gut

tat. Ja, er roch gut, so wie Tim gut gerochen hatte, er roch anders, aber genauso gut wie Tim. Ich

genoss den Geruch, solange es ging. Als David mich schließlich losließ, sagte er:

»Siehst du. Es geht doch. Du lächelst zum ersten Mal.«

Ja wirklich, ich lächelte ihn an.

Heute Nachmittag will David mich zu Hause besuchen. Ich bin schon total aufgeregt.

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