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Wasilij und Viktor

Teil 1 - Prolog

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Informationen

Prolog

Mit einem spektakulären Krachen rammte mein Rennauto seinen härtesten Konkurrenten sauber aus dem Rennen und glitt als Sieger mit so viel Stil über die Ziellinie, dass es fast schon zum Niederknien gut war.

„Meine Fresse!“ Wasilij warf den Controller angepisst durch den halben Raum, kaum teilte ihm das Spiel mit, dass ich cooler Typ gewonnen und er armer Schlucker eindeutig verloren hatte.

Eigentlich war es ja nicht so dramatisch, wenn er den Controller durch die Gegend schmiss, vorausgesetzt, ihm gehörte das Teil auch. Leider tat der Controller das aber nicht und gehörte ganz offiziell dem Game-Shop, in dem wir unsere Abende verbrachten.

Es gab jede Menge Gratis-Spielstunden, die neusten Zockergeräte zum Testen und kein Spiel, welches wir nicht schon durchhätten.

War es erbärmlich, als 16jähriger Typ nur für Fußball und Pixelwelten zu leben? Vielleicht, aber es gab sicher schlimmeres.

„Hey!“, kam auch schon der obligatorische Anschiss vom Oberboss hinter der Kasse. „Bitte behandle unsere Artikel mit Sorgfalt, junger Mann!“

Wasilij nickte megaverständnisvoll, aber mir war sofort klar, dass er in zehn Minuten wieder irgendwas rumwerfen würde. Mein Gott, der Kerl war mit seinen 16 schon fast 1,80 Meter groß und hatte einen so bösen russischen Akzent, dass er zu diesen Typen gehörte, deren Pass und Aufenthaltsbewilligung von der Polizei einfach mal so kontrolliert wurde.

Jonas fand es nicht gut, dass seit Anfang diesen Sommers der hochgewachsene Russe aus der Förderklasse so viel mit uns herumhing, aber Engel-Jonas fand es schon nicht gut, wenn man Enten fütterte. Die Viecher konnten nämlich an den viel zu großen Brotstücken ersticken und wurden so von der Fütterung abhängig, dass sie völlig verpeilten, wie man im Wasser selbst Nahrung sucht.

Absoluter Quatsch, fand ich. Traurige Wahrheit, fand Jonas und völlig egal, war Wasilijs Meinung dazu. Wobei er zugab, Enten eigentlich zu mögen. Eigentlich mochte er sogar Jonas, was eigentlich ziemlich schräg war, weil Jonas ihn ziemlich hasste.

„Können wir endlich gehen?“

Natürlich war es besagter Jonas, der jammernd von einem Bein auf das andere trat. Jonas war der kleinste Typ aus unserer Klasse und müsste eigentlich um acht Uhr brav in seinem Bett liegen.

„Wart noch kurz!“, zischte ich. „Noch eine Runde, okay?“

„Hast du eben schon gesagt! Vicky, der Bus fährt in zehn Minuten!“

Wasilij schnaubte, was er immer tat, wenn mich Jonas Vicky nannte.

„Pussy“, knurrte der Russe und drückte einfach auf Neustart. „Alter, geht’s weiter oder was?“

Ich nickte und ignorierte Jonas’ Gejammer. Eigentlich nervte mich Jonas, aber da seine Mutter die beste Freundin meiner Mutter war und beide Frauen geschieden, sahen wir uns quasi jeden Tag.

In der Schule, nach der Schule und dann noch am Wochenende, weil unsere Mütter ja immer was zusammen unternehmen mussten.

Jonas mochte mich aber glaub ich recht gern, wenn auch nicht ganz so gern wie seine blöden Enten.

Wir spielten noch fast eine Stunde lang weiter, der Bus war längst ohne uns abgefahren und Jonas heulte fast, weil er jetzt viel zu spät nach Hause kam.

„Heute ist Freitag, Viktor!“, rotzte er rum. Ehrlich, der Kerl war 16 und klang manchmal wie ein verheultes Kleinkind. „Ich muss freitags vor neun Zuhause sein!“

Ich nickte, drückte den von meinen Händen ziemlich warmen Controller zurück in seine Halterung und schnappte mir meine Schultasche. „Alles klar, Jonas-Baby. Bleib locker. Wir sagen einfach, ich hab dich dazu überredet länger zu bleiben.“

„Hast du ja auch! Meine Mutter meinte eh, sie wird deiner Mutter mal sagen müssen, dass du…“

„Pussy“, sagte Wasilij erneut und klopfte Jonas einmal kräftig auf den Rücken.

Wasilij musste nie zu irgendeiner Uhrzeit daheim sein. Sein Zuhause musste ein richtig lockerer Ort sein, denn er durfte ganze Nächte lang durch die Gegend ziehen, ohne dass es jemanden interessierte.

Jonas, der bei solchen Sachen sauber die Meinung seiner lieben Frau Mama übernahm, empfand es als schlechtes Zeichen. Es wäre laut Mama-Jonas nur noch eine Frage der Zeit, bis Wasilij uns dazu zwingen würde, irgendwo Wodka zu klauen und in den Puff zu gehen.

Völliger Blödsinn, meiner Meinung nach. Wasilij trank zwar ziemlich viel, aber er hatte uns noch nie zu irgendwas gezwungen. Einmal hatte er mir nach der Schule eine Flasche mit scharf riechender Flüssigkeit gereicht, aber nach meinem ‚Nein, danke‘ nur genickt und gemeint, dass es auch besser so wäre. Das Zeug würde nämlich wie Pferdepisse schmecken.

Unter dem skeptischen Blick des Oberbosses hinter der Kasse trotteten wir brav zur Information, wo ich jedes Mal meine Sporttasche abgeben musste. Schultaschen waren okay, aber alles Größere musste direkt beim Eingang des Game-Shops abgegeben werden.

Wasilij musste sogar seine Schultasche abgeben und seine Hosentaschen beim Ausgang entleeren. Jedes Mal. Obwohl er schon seit Monaten hier ein und aus ging, hatten die Shop-Aufseher trotzdem jedes Mal das Gefühl, er würde heute die Gunst der Stunde nutzen und klauen, was nicht angenagelt war.

„Eigentlich ist es gegen das Gesetz“, sagte ich ernst, kaum waren wir auf der Straße angekommen und auf dem Weg in Richtung Bushaltestelle. „Sie dürfen einen nur zwingen, die Taschen zu entleeren, wenn ernsthafter Verdacht besteht.“

Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben die Rechtskundeaufgaben von Frau Fricke im Fach Allgemeinwissen gemacht und wollte ein bisschen angeben. Nur mal so, für das vernachlässigte Ego.

Wasilij zuckte nur gleichgültig mit den Schultern und Jonas sah mich mit seinem vorwurfsvollen ‚Mann, bist du blind?! Dieser komische Russe ist ein einziger Verdachtsfall!‘-Blick an.

Ich glaub, Wasilij bekam Jonas ätzenden Blick jedes Mal ziemlich deutlich mit, aber er sagte nie was. Obwohl er diesen blöden Klugscheißer mit nur einer Hand zerquetschen könnte, ließ er sich nie was anmerken.

„Ich muss heute hier abbiegen“, sagte Wasilij plötzlich und stiftete damit allgemeine Verwirrung, weil die Straße keine verdammte Abbiegung hatte.

„Mach das“, sagte Jonas jedoch nur und tat so, als wäre er gar kein hinterhältiges Muttersöhnchen, sondern ein guter Kerl, der seinem Kumpel nicht im Weg stehen wollte. „Bis morgen?“

Wasilij nickte, klopfte jedem von uns zum Abschied auf den Rücken und überquerte einfach die Straße, ganz ohne einen Blick in beide Fahrrichtungen zu werfen. Klar, die Straße in Richtung Zentrum war nicht gerade die Straße des 17. Juni in Berlin, wo es vor Autos und Asphalt nur so wimmelte, aber trotzdem. Gehörte schon ziemlich Mut dazu, einfach mal so über die Straße zu latschen.

„Der spinnt doch!“, zischte Jonas mit seiner fiesen Lästerstimme. „Ehrlich, Viktor. Seit wir mit dem rumhängen, gibt es nur Ärger…“

„Und der wäre…?“, fragte ich genervt und ließ meine Augen noch kurz Wasilij folgen. Er ging auf der anderen Straßenseite gemütlich seinen Weg und machte den Eindruck, es nicht eilig zu haben.

Jonas schwieg eisern. Natürlich. Beschuldigen und ankreiden konnte der Pisser super, aber an Beweisen mangelte es ihm immer.

„Wirst schon sehen!“, zischte er schließlich, kaum hatten wir die Bushaltestelle erreicht. „Irgendwann hält er dir eine Knarre an den Kopf und verlangt von dir, dass du ein Auto oder so klaust…“

Ich lachte. Ich lachte so laut, dass eine Oma in lila Trainingsanzug mich kurz missbilligend musterte. Mein Gott, wenn ich mal 150 Jahre alt sein würde, würde ich hoffentlich nicht so verschrumpelt und verbittert sein.

Ich nahm mir in diesem Moment vor, später einmal so ein lustiger Opa zu werden. So ein alter Mann mit grün gefärbten Haaren, den seine Enkel gerne besuchten und der wusste, wie man ein Handy bediente.

„Weißt du was, Jonas?“

„Was?“

„Du bist ein Wichser, weißt du das?“

Jonas verzog den Mund und war sicher drauf und dran im besten Mama-Tonfall zu sagen, dass man Wichser nicht sagen durfte.

Himmel und der Kerl hatte eine Freundin! Wobei diese Andrea fast genauso zensiert im Kopf dachte wie Jonas. Die waren jetzt schon seit drei Jahren zusammen. Drei Jahre, das war doch der Wahnsinn! Die waren gerade mal dreizehn, als sie sich megaromantisch im Krankenhaus nach einer fast zeitgleichen Mandeloperation kennen gelernt haben.

Bis jetzt ist zwischen den zwei Langweilern aber noch nicht mehr als küssen gelaufen, aber ich fand das eigentlich voll okay so. Jonas war einfach der Typ von Kerl, der schon Händchenhalten für unanständig hielt.

Aber eigentlich dürfte ich nichts sagen, denn als sich Jonas mit dreizehn seine Andrea geangelt hatte, hatte ich noch alle Mädchen für Bäh! gehalten. Außerdem hatte ich in dem Alter noch geglaubt, Pokémon wäre die beste Erfindung aller Zeiten – direkt danach kam Esspapier – und meine Nächte damit verbracht, den abgemagerten Models in Mamas dämlicher Modezeitschrift Schnurrbärte zu malen.

Tat ich heute auch noch, aber über Pokémon war ich inzwischen hinweg.

Der Busfahrer, der den schrottreifen Bus bei der Haltestelle klappernd zum Stehen brachte, war ein schlecht gelaunter Inder und kontrollierte unsere Busfahrkarten ziemlich schlampig. Es gab da noch einen anderen Fahrer, der hatte diese Strecke irgendwie immer am Wochenende und beschwerte sich immer, dass er meinen Namen auf dem Abo nicht lesen könnte.

„Wat soll dat’ denn heschen?!“, fragte er jedes Mal im schlimmsten Dialekt und klopfte dabei mit seinem Zeigefinger gegen meine Karte. „Viktoria Kascheni, oder wat? Siehst mir aber nisch nach einer Viktoria aus, Bursche…“

Ich hatte eine Sauklaue und fand es eigentlich ganz okay. Der Inder-Busfahrer war da anscheinend der gleichen Meinung und nickte einfach nur schläfrig.

Jonas hatte offenbar gemerkt, dass er mich heute ziemlich wegen Wasilij genervt hatte und überließ mir ohne Getue den Fensterplatz in der ersten Reihe.

Keine Ahnung, ob es Schicksal war oder einfach nur Zufall, aber kaum saß ich am Fenster und Jonas ließ sich neben mich auf den Sitz fallen, da rannte jemand ziemlich schnell am Bus vorbei und lief mit einem Affenzahn in nördliche Richtung.

Ich hatte nur lange Beine erkannt und ein blaues Hemd, aber das reichte auch schon. Es war ganz eindeutig Wasilij und er rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.

„Hat der heute nicht angeblich in die andere Richtung gemusst?“, fragte ich verwirrt und drückte mir fast die Nase an der Scheibe platt.

Der Bus fuhr los und Jonas schnaubte nur. Zufrieden und widerlich schleimig.

„Hab ich es nicht gesagt?“, zischte er schließlich. „Mit dem Typ ist was nicht okay…“


Ich hatte meine Mutter eigentlich echt gern, aber sie ging mir manchmal richtig heftig auf die Nerven.

Es fing am Morgen schon an, wenn sie den Staubsaugerkopf mit ignoranter Selbstgefälligkeit beim Saugen gegen meine Zimmertür krachen ließ, nur um dann einen auf überrascht zu machen, wenn ich nach vier Minuten schrecklichstem Getöse angepisst auf der Matte stand.

„Nanu?!“, sagte sie dann immer. Völlig monoton und berechenbar. „Schon wach, Schwachkopf? Heb’ deine Klamotten im Bad vom Boden auf, bin doch nicht deine Putze!“

Ehrlich, meine Mutter war eigentlich ganz gechillt. Vor allem nannte sie mich Schwachkopf und nicht Schätzchen, wie es Jonas’ Mutter tat. Mit Schwachkopf konnte man als 16-jähriger Kerl umgehen. Schätzchen war einfach zu viel des Guten.

Im alten CD-Player, der direkt neben dem Herd in der Küche stand, lief wie jeden Morgen Cossip rauf und runter. Meine Mutter war nicht leicht zu beeindrucken, aber die Sängerin von Cossip hatte es ihr echt angetan.

Ich räumte im Bad meine Kleider weg, die ich gestern einfach nur in die Ecke geworfen hatte. Ich war erst um zehn Uhr daheim gewesen, weil mich Jonas dazu gezwungen hatte, mit zu ihm zu kommen und seiner Mutter zu erklären, wieso es nicht seine Schuld war, warum er sich erst jetzt heulend in die Arme seiner überbesorgten Mutter werfen konnte.

Wahrscheinlich hatte meine Mom bereits eine empörte SMS von Jonas’ Mutter erhalten.

Jonas Mutter hieß Valerie – und das bitte richtig betonen! – und schrieb für jeden Scheiß meiner Mutter eine SMS. Würde sie meiner Mutter Mails schreiben, wäre der Betreff sicher immer der gleiche.

An: Karla Kapinski

Von: Valerie Burg

Betreff: Dein Sohn ist scheiße, weißt du das?!

Mensch, ich sah die Mail quasi vor mir! Ehrlich, das würde ich Hexe-Valerie zutrauen. Sie stöckelte immer auf ihren perfekten Schuhen und mit ihrem französischen Haarschnitt durch die Welt, nur um sich über all die nicht perfekten Sachen des Lebens zu beschweren.

Meine Mutter schminkte sich nie, trug immer einfache Kleidung und konnte den Motor ihres alten Fiats ganz ohne Hilfe selbst reparieren. Das war brauchbar. Das war eine Mutter, auf die man zählen konnte. Jonas müsste nur einmal richtig große Scheiße bauen und er wäre schneller im Kinderheim, als er um Gnade flehen könnte.

Meine Mutter hingegen würde mir immer helfen, ehrlich. Ich glaub, ich hatte bereits bei meiner Geburt so etwas wie einen Vertrag mit ihr abgeschlossen. Ich würde immer schön brav mein Gehirn zum Denken benutzen und mindestens vier Mal in der Woche duschen gehen und sie war dafür im Gegenzug immer für mich da.

Karla und Viktor Kapinski. Ein ziemlich gutes Team, auch wenn mein Alter das scheinbar vor zehn Jahren anders gesehen hatte und sich jetzt nur noch an meinen Geburtstagen irgendwo aus dem Ausland meldete.

Ich verließ das Bad und trank in der Küche Milch aus der Tüte. Noch so etwas, was meine Mutter locker sah. Solange ich immer aus der gleichen Tüte trank und nicht sieben gleichzeitig aufriss, war die Sache völlig easy.

„Jemand hat übrigens für dich angerufen!“, rief meine Mutter plötzlich aus dem Flur und fluchte kurz, weil irgendwas beim automatischen Einzugsmechanismus des Staubsaugerkabels nicht richtig funktionierte. Meine Mutter würde ohne Scheiß eher sterben, als das Kabel von Hand aufzurollen.

„Was?!“, rief ich zurück und räumte die Milch wieder in den Kühlschrank. „Was ist?!“

„Jemand hat für dich angerufen, Schwachkopf!“

„Und wer?!“

„Keine Ahnung! Hat seinen Namen nicht genannt. War aber eine Handynummer!“

Alles klar. Ich ließ die Tür des Kühlschranks zuknallen und trottete in Schlafsachen in das zugestellte Wohnzimmer.

Jonas fand es albern, dass wir ein Telefon mit Star Wars Aufdruck hatten, aber ich fand es cool. Meine Mutter war nicht nur bequem und lässig, sie war sogar ein Fan von spannenden Weltraumkriegen und salzigem Popcorn. Hauptgewinn, meiner Meinung nach.

Mein Handy-Akku war leer und somit blieb mir nichts anderes übrig als Wasilij per Telefon zurückzurufen. Und es war Wasilij, mit Garantie.

Keine Ahnung wieso, aber er sagte Leuten am Telefon nie seinen Namen. Als ich das erste Mal auf Wasilijs Handy angerufen hatte, wollte er mir erst gar nicht glauben, dass ich wirklich ICH war und kein Polizist, der einen seiner Brüder suchte.

Das käme halt schon mal vor, hatte mir Wasilij anschließend erklärt und dabei geklungen, als würde er mit mir gerade über das verdammte Wetter plaudern.

Ich hatte Jonas nichts davon gesagt, weil dieser Idiot vermutlich Wasilij an den Ohren zur Grenzpolizei gezerrt und hysterisch heulend verlangt hätte, den russischen Mistkerl sofort auszuweisen.

Aber ich glaub, die Grenztypen konnten Wasilij gar nichts. Er hatte seit einer Weile schon einen deutschen Pass, glaub ich.

Es tutete ewig. Vermutlich ging Wasilij nicht gleich ans Handy, weil er zuerst nachschauen musste, ob die Festnetznummer auf seinem Display mit der Nummer übereinstimmte, die ich ihm vor einer Weile nach dem Fußballtraining rasch auf einen Papierfetzen geschmiert hatte.

„Bin ganz Ohr“, erklang es schließlich.

Wasilij war vielleicht ein wenig komisch und härter drauf als andere Typen in unserem Alter, aber er verhielt sich trotzdem irgendwie reifer.

Patrick, ein Kumpel vom Training, nahm immer mit den Worten ‚Was läuft, du Fotze?!‘ ab. Meiner Meinung nach hatte ‚Bin ganz Ohr‘ eindeutig mehr Stil und Klasse. Es war fast schon elegant.

„Hier ist Viktor“, sagte ich und ließ mich auf das Sofa fallen. „Du hast angerufen?“

„Korrekt.“ Wasilij schien kurz zu überlegen. „War das vorhin deine Mutter?“

Auch so was. Wasilij sagte nicht Fotze, Alte oder Erzeugerin. Er sagte Mutter, ganz ohne blödes Getue.

„Korrekt“, machte ich ihn aus Spaß nach. „War meine Mutter, Mann.“

„Klingt voll jung. Wie alt ist die?“

„Auf alle Fälle zu alt für dich, Alter!“

Kurzes Lachen. „Ne, thanks. Ich verzichte. Aber sag jetzt.“

„Sie ist 39, zufrieden?“

„Ehrlich?!“

„Kein Scheiß.“

„Ist ja voll jung! Meine ist 50 oder so…“

Jetzt lachte ich und Wasilij lachte kurz mit. Dann schwieg er wieder.

„Was ist?“, fragte ich also. „Es ist gerade mal halb neun, Mann. Um diese Uhrzeit lieg’ ich eigentlich noch im Bett…“

„Ehrlich?“

„Ehrlich.“

„Hast du Zeit?“

Ich tat kurz so, als würde ich angestrengt überlegen müssen, dann stimmte ich brummend zu. „Klar. Ich hab immer Zeit. Ist ja nicht so, als wäre ich VIP und müsste von einer Party zur anderen…“

„Vielleicht doch.“

„Was?“

„Du. Lust. Auf. Party?“, fragte Wasilij schließlich und betonte dabei jedes Wort.

Ich blinzelte kurz verwirrt und sah zur Kontrolle auf die Uhranzeige des Telefons. Es war wirklich noch keine neun Uhr am Morgen.

„Jetzt oder was?“

Wieder Gelächter, dann ein gezischtes: „Doch nicht jetzt, du Idiot! Heute Nacht in der alten Fabrik.“

Ich überlegte kurz und versuchte mich daran zu erinnern, ob Wasilij diese Party schon einmal erwähnt hatte. Hatte er nicht, da war ich mir ziemlich sicher.

„Alte Fabrik? Ist das nicht erst ab 18? Meine Cousine ist 17½ und hat da mal richtig Stress bekommen, als sie versucht hat reinzukommen…“

„17½ gibt’s ja auch nicht“, schnaufte Wasilij. „Entweder man ist 17 oder 18. 17½ ist Bullshit, Mann. Kein Wunder, kam die Tussi nicht in den Laden…“

„Ja, okay. 17½ ist wirklich Bullshit, aber wir sind 16, Mann! Die Türsteher boxen uns zurück in den Kinderwagen!“

Erneutes Gelächter. Diesmal dauerte es aber etwas länger.

„Hast du keinen gefälschten Ausweis, Baby-Vicky?“

Was?! „Was?!“

„Alles klar. Hast du jetzt Lust, oder was?“

„Ne, Mann. Nicht bei dem Laden. Ich hab kein Bock auf Stress…“

Wasilij seufzte kurz. „Bist du ein Jonas oder ein Viktor?“

„Äh… ein Viktor?“

„Eben, nur ein Jonas hat keine Lust auf Stress. Ich bring uns da rein, alles klar? Mein Bruder kennt den Türsteher.“

„Welcher?“

„Was?“

„Welcher Bruder? Du hast doch mal gesagt, du hast mehrere…“

Wasilij schwieg kurz. Es knisterte im Hintergrund und dann erklangen Stimmen. Ich glaub, es war gehetztes Russisch, was im Hintergrund gesprochen wurde.

„Ich hab zu viele Brüder, Mann“, sagte Wasilij nur und dann: „Treffen um halb zehn bei der Post, alles klar?“

Dann legte er einfach auf. Ganz cool und völlig locker, als wäre die Sache bereits in Stein gemeißelt. Ich hatte ihn nicht mal fragen können, warum er gestern Abend so schnell am Bus vorbei gelaufen war.

Ich lag noch eine Weile auf dem Sofa herum, drückte wahllos auf den Tasten des schnurlosen Telefons herum und schaltete schließlich den Fernseher ein.

Es lief irgendeine blöde Frauenserie und ich war so von der Rolle, dass ich mir den Schwachsinn komplett anschaute. Ich erwischte mich sogar dabei, wie ich gegen Mitte der Sendung darüber entsetzt war, dass dieser blöde Carlos die naive Birgit so hinterhältig hintergangen hatte.

Mistkerl. Macho-Arsch. Wichser. Der gehörte doch ans Kreuz genagelt!

„Hey, Spatzenhirn! Mach mal Platz!“

Schwachkopf war okay, meine Mutter meinte es nämlich witzig-nett, aber Spatzenhirn ging gar nicht. Vor allem ging es nicht, weil es von Lotte kam.

Lotte war eine von Mamas tausenden Freundinnen, wohnte direkt in der Wohnung über uns und war fast schon fünfzig oder so. Sie hatte gefühlte vierzig Hunde bei sich hausen und rauchte wie ein Bauarbeiter. Kein Scheiß, die Frau rauchte wahrscheinlich sogar im Schlaf. Reiner Instinkt oder so.

„Mach dir doch selber Platz!“, fauchte ich, rückte jedoch brav zur Seite. Eigentlich war Lotte schon irgendwie okay. Zwar war sie mit ihren schlecht gefärbten Haaren ziemlich neben der Spur, aber ansonsten ganz nett. Sie beschwerte sich nie, wenn ich die Musik in meinem Zimmer zu laut aufdrehte und hatte mir vor zwei Jahren sogar das Schnitzen beigebracht.

Lotte konnte mit einem Messer und einem Stück Holz die krassesten Sachen machen. Ich bekam mit Mühe und Not gerade noch so eine kränkliche Schildkröte hin. Das einzige Tier, was ich ohne tragische Verletzungen einigermaßen gebacken bekam.

„Was guckst du da für einen Müll?“ Lotte kündigte sich nie an. Sie klingelte nicht mal, sondern öffnete einfach die Wohnungstür, lugte kurz auf den Flur und trat dann ein.

Manchmal könnte man glatt meinen, Lotte würde bei uns wohnen und hätte einfach nur ihr Zimmer zum Schlafen ein Stockwerk über uns.

„Das ist kein Scheiß“, sagte ich. Natürlich war es Scheiß, aber Birgit tat mir echt leid. „Dieser Carlos ist voll der Flachwichser.“

Lotte nickte. Sie hatte das gleiche Nicken wie diese Hunde mit diesen blöden Wackelköpfen.

„Natürlich. Wer ist denn Carlos?“

„Der Kerl, der ständig ohne T-Shirt durchs Bild läuft.“

Lotte lachte. „Das stört dich? Also ich finde ihn ganz schnittig.“

„Klar, weil du fast hundert Jahre als bist. Wenn ich so aussehen würde wie dieser Carlos, würde ich mein T-Shirt anbehalten. Der ist doch abartig haarig!“

Lotte klopfte mir noch kurz auf das rechte Bein und erhob sich wieder vom Sofa. „Ich entführe deine Mutter kurz zum Einkaufen. Willst du mit? Wir gehen danach vielleicht noch ins Eiscafé.“

Ich schüttelte nur mit dem Kopf und wartete darauf, dass Lotte lautlos wieder abzischte. Sie war fast immer lautlos.

Meine Mutter verabschiedete sich nach einer Weile mit einem „Tschüss, lass die Wohnung ganz!“ und ich gammelte fast bis zum Mittag auf dem Sofa herum.

Es war selten ruhig. Auch wenn ich mit meiner Mutter alleine lebte, herrschte Durchgangsbetrieb. Meine Mutter war kein Mensch, der Ruhe ertragen konnte und so hingen entweder die Nachbarn bei uns rum, mein Onkel aus der Vorstadt mit meiner nervigen 17½ Jahre alten Cousine oder Valerie.

Und da der Durchgangsbetrieb nicht einfach abzustellen war, klingelte es auch dann noch an der Tür, wenn meine Mutter weg war. Zuerst wollte ich nicht öffnen, aber als ein ganz bestimmtes Klingelzeichen erklang, war die Sache klar.

Jonas, natürlich. Scheinbar hatte der Typ zu oft die Vorstadtkrokodile gelesen, denn er hatte irgendwie das Bedürfnis, kindische Klingelzeichen zu verwenden. Ich blieb also auf dem Sofa liegen und wartete, bis er sich ausgetobt hatte.

„Hey“, sagte ich anschließend genervt, kaum hatte ich den Türsummer gedrückt und sah Jonas dabei zu, wie er die Treppe nach oben hetzte.

„Hey!“, keuchte er und zog brav seine Schuhe aus. Meiner Mutter war es total schnuppe, ob jemand die Schuhe in der Wohnung trug oder nicht, aber Jonas darauf hinzuweisen hätte genau so viel Sinn, wie einem streng gläubigen Menschen die Sache mit dem Urknall zu erörtern.

„Was gibt’s?“

Jonas wirkte verwirrt. „Wie, was gibt’s? Es ist Samstag?“

„Ja und?“

„Mann, du hast es also wirklich vergessen?!“

„Was vergessen?“

„Schwimmen?! Andreas Einladung?!“

Schwimmen? Ich wusste nichts von… ach du Scheiße!

„Alter! Das ist heute?!“

„Ja und ich wusste, dass du es vergisst! Ich hab Andrea ja gesagt, sie braucht dich eigentlich gar nicht erst einladen!“

Scheiße. Scheiße. Scheiße!

Andreas Geburtstagsfeier. Da Andrea eines dieser Mädchen war, die nichts von Alkohol und Partys hielt, feierte sie ihren 16. Geburtstag an einem Samstag im städtischen Freibad nach, da ihr eigentlicher Geburtstag am Montag war. Scheiße und ich war eingeladen, hatte es vergessen und kein Geschenk. Wieso hatte es Jonas, dieser blöde Idiot, auch nicht gestern im Game-Shop nochmals erwähnen können?

Ich glaub, Andrea würde das mit dem Geschenk noch locker sehen, aber ich fühlte mich da nicht wohl bei. Außerdem war ihre halbe Klasse vom Gymnasium eingeladen und ich wäre nur wieder der belämmerte Realschüler ohne Plan. War doch immer so.

„Scheiße“, sagte ich und Jonas nickte.

„Mist, ganz genau! Weißt du, wie blöd das von dir ist? Da lädt dich meine Freundin ein, einfach weil sie nett ist und dich mag, und du vergisst es?!“

„Reg dich ab, ich mach das schon irgendwie klar…“

„Und wie?! Andrea ist bereits im Schwimmbad und ich hab ihr gesagt, wir kommen zusammen dahin!“

„Mann, Jonas! Brüll nicht so rum…“

„Ich brüll nicht, ich bin empört!“

Empört, meine Fresse. Welcher 16-jährige Typ sagt auch schon empört? Mit dem Kerl war doch was nicht ganz knusper im Kopf.

„Gib mir zehn Minuten, okay?“

„Nein, ich geh jetzt!“

„Jonas…“

„Schon gut! Aber nur zehn Minuten!“

Ich nickte, sprang schnell unter die Dusche und zog mir frische Kleider an. Dann nahm ich schnell zwanzig Euro aus Mamas Spardose, schrieb eine kleine Notiz und versprach ihr darin, es ihr sofort zurückzuzahlen, vorausgesetzt, ich würde Jonas’ Tobsuchtsanfall überleben.

Jonas ging wirklich fast an die Decke, als ich ein großes Handtuch in meine Sporttasche drückte und ihm dabei gestand, noch schnell Blumen oder so für Andrea kaufen zu müssen.

Er war daraufhin den ganzen Weg zum Schwimmbad beleidigt und ich hielt es für besser, ihm wegen Wasilijs Anruf lieber nichts zu sagen.

Erst verpeilte ich den Geburtstag seiner langweiligen Freundin und dann wollte ich am gleichen Abend mit dem russischen Gangster aus der Dummenklasse weg? Never!

Also schwieg ich und sagte lieber nichts.

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