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Erkenntnisse

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Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

Mein Name ist Peter.

Ich weine.

Um ein Leben, das sinnlos vergeudet wurde. Um mein Leben.

Das Schlimmste dabei ist eigentlich, dass ich niemandem außer mir selbst die Schuld geben kann. Das ist hart, und es ist die Wahrheit.

Weißt du, lieber Leser, ich bin Musiker. Sogar ein recht bekannter. Dummerweise wurde ich bekannt durch einen fröhlichen Song, so einen, zu dem man mitsingen und tanzen kann, also so eine „Gute-Laune-Musik“. Und darauf wurde ich dann festgenagelt. Meine Agenten wollten es, meine Manager, mein Publikum.

Also schrieb ich immer weiter, wurde immer berühmter.

Aber eigentlich wollte ich doch ernste Musik schreiben. Musik, bei der die Menschen auch mal träumen können, nachdenken oder einfach die Schönheit der Musik entdecken können.

Ein paar Stücke schrieb ich auch, aber man nahm sie nur höflich zur Kenntnis. Als kleine Ausrutscher eines ansonsten guten Song-Schreibers.

Vom Wesen her bin ich eher schüchtern. Ich lasse die Schultern hängen, ziehe den Kopf ein und hoffe, dass man mich nicht bemerkt.

Kannst du dir vorstellen, lieber Leser, wie ich mich auf diesen Parties fühle? „PR“ nennen sie meine Agenten und zwingen mich, dort zu erscheinen. Leicht und beschwingt soll ich stundenlang über nichts plaudern, charmant mich zwischen diesen Menschen bewegen, deren Gesichter sich so ähneln, deren Namen ich nicht behalten kann. Die mich einfach nicht interessieren.

Von denen ich aber lebe.

Folglich quäle ich mich durch die Abende.

Meine Schüchternheit wird als „interessant“ bemerkt, meine Wortkargheit als Marotte, meine Unbeholfenheit amüsiert die Gesellschaft. Nichts davon nehmen diese Menschen ernst.

Als Künstler hat man so eine Art Narrenfreiheit

Die Damen himmeln mich an, nähern sich mir mit ihren überschminkten Gesichtern, unterscheiden sich für mich nur in der gewählten Farbe des Haares, in der Intensität des Lidschattens, in der Grelle des Lippenstifts.

„Gnä’ Frau haben sich gebissen?“

„Aber nein, meine Lippe wurde für ein Monatsgehalt meines Mannes frisch aufgespritzt!“

Hm, so eine Situation könnte peinlich werden, so ich denn den Mut hätte, einen solchen Satz von mir zu geben.

Selbstverständlich wird mir so etwas niemals passieren.

Schlimm genug ist es, dass die Menschen sich Gedanken darüber machen, wer denn wohl meine Geliebte sei! Verflixt aber auch, noch immer ist es niemandem gelungen, sie kennen zu lernen. Ich muss ja ein ganz Gewiefter sein, dass es mir bis heute gelungen ist, sie geheim zu halten!

Die Reporter sind hinter mir her, verfolgen mich, wann immer sie meiner habhaft werden können. Und eines Tages entdeckten sie eine Frau an meiner Seite, die mich in mein Haus begleitete!

Stunden lagen sie auf der Lauer, photographierten wie doll und verrückt, als sie herauskam. Als sie mich dann auch noch umarmte, und ich ihr einen Kuss auf die Wange gab, da sprangen sie sogar aus ihren Verstecken heraus.

Meine Güte, was bildete ich mir eigentlich ein? Dass ich nun Ruhe hätte? War ich wirklich so naiv? Scheint so. Meine Enttäuschung war jedenfalls gewaltig, als sie schon nach ein paar Stunden herausfanden, dass es sich bei Annette um meine Schwester handelt.

Eines Tages sprachen meine Agenten ein ernstes Wort mit mir: so ginge es nicht weiter. Es müsse einfach eine Frau in meinem Leben geben. Man erwarte das von mir.

Also schleppte ich eines dieser weiblichen Wesen nach einer Party mit zu mir, nachdem ich mir Mut angetrunken hatte.

Natürlich endete es im Fiasko, wie hätte es anders sein können. Zum Glück schob die Dame die Schuld auf meinen Alkoholkonsum. Wir sahen uns nicht wieder. Und da sie niemandem eingestehen wollte….nun, darüber spricht man schließlich nicht, beantwortete sie alle stürmischen Fragen mit einem geheimnisvollen Lächeln, und ich hatte ein wenig Ruhe.

Es war zu dieser Zeit, als ich nachmittags in einem Cafe’ sass. Den ganzen Vormittag hatte ich komponiert, nun wollte ich ein wenig raus. Ich blätterte in der Zeitschrift und beobachtete die Menschen um mich herum.

Und dann sah ich ihn!

Ach, lieber Leser, ich weiß, ich weiß, es klingt so schrecklich klischeehaft, aber etwas anderes kann ich dir nicht erzählen:

Ich dachte, ich erblicke einen Engel!

Seine schwarzen Haare kringelten sich in Locken über seine Schultern. Seine brauchen Augen blickten sanft wie die eines scheuen Rehs: immer wieder schaute er kurz zu mir herüber, blickte schnell wieder fort. Sah ich nicht eine leise Röte über sein Gesicht huschen?

Meine er wirklich mich? Oh ja, natürlich, wie konnte ich auch nur eine Sekunde vergessen, wer ich war. Der berühmte Künstler, der tolle Songschreiber.

Warum aber zögerte er? Warum stürmte er nicht zu mir herüber und wollte für Tante Mausi ein Autogramm von mir?

Wieder einmal blickte er kurz zu mir und diesmal nutzte ich den Moment, um ihm kurz zu zunicken. Zögernd, beinahe ungläubig, erhob er sich und kam auf mich zu. Ich forderte ihn auf, an meinem Tisch Platz zu nehmen. Vorsichtig setzte er sich auf die Kante des Stuhles, schluckte einmal trocken, nestelte nervös ein Stück Papier aus seiner Jackentasche, schob es zu mir hin, flüsterte etwas Unverständliches, räusperte sich und brachte endlich einen verständlichen Ton heraus:

„Guten Tag!“

Ich grinste ein freundliches „Guten Tag, junger Mann“ zurück und fragte ihn:

„Was kann ich für Sie tun?“

Insgeheim hoffte ich, er möge das laute Klopfen meines Herzens nicht hören und nicht die Schweißtropfen bemerken, die sich auf meiner Stirn bildeten.

Lange Wimpern um die Augen, eine feine, gerade Nase, ein Anflug eines Bärtchens, das diese Lippen umspielte, die ich gerne……

….Nun starr ihn doch nicht so an, du alter Depp, sei nicht so peinlich…

„……und mir ein paar Noten draufschreiben würden zusammen mit Ihrer Signatur?“

„Wie bitte? Oh ja, natürlich, ich verstehe, sehr gerne, aber sicher!“

Ich blickte auf das leere Notenblatt, das vor mir lag und gab mir Mühe, mich auf seine Bitte zu konzentrieren.

…….nun mach schon, du kennst das doch: schnell ein paar Noten hingeschmiert, Unterschrift, fertig. Mehr will der Junge nicht……

Also zückte ich den Bleistift

….hör auf zu zittern! Hol mal tief Luft und entspann dich…..ruhig ausatmen, nicht seufzen!.....

und schrieb routiniert ein paar Noten hin, setzte schwungvoll meine Signatur drunter und schon ihm das Blatt wieder hin.

Er bedankte sich artig, aber zögernd, als wisse er nicht, was er nun tun solle. Da ich nichts weiter sagte, stand er auf, verabschiedete sich und ging.

Er setzte sich wieder an seinen Tisch, bezahlte kurz darauf die Rechnung und fort war er.

Verdammt noch mal, wie bescheuert kann ein Mensch nur sein?

Warum fragte ich ihn nicht nach seinem Namen?

Warum fragte ich nicht, ob er auch Musik komponiere?

Warum fragte ich ihn nicht, welche Songs er am liebsten mag?

Warum fragte ich ihn nicht…irgendetwas?

Aber nein, da saß ich mit hochroten Ohren und schaute ihm nach, wie er um die Ecke verschwand.

Na toll!

Ich schlich also nach Hause, begleitet von einem Gesicht, das ich einfach so hatte ziehen lassen. Durch meine eigene Dummheit!

Lieber Leser, kennst du dieses Gefühl? Man möchte sich treten, aber man kommt nicht ran.

Das war wieder dermaßen typisch für mich.

Irgendwie brachte ich den Abend hinter mich.

Im Bad zog ich mich aus und betrachtete mich eingehend. Was ich dort im Spiegel sah, riss mich nicht gerade zu Begeisterungsstürmen hin.

Wie hieß es doch in einem Song von mir:

„…und im Herbst des Lebens…“

Nun ja, der Herbst beinhaltet sowohl den goldenen Oktober als auch den trüben grauen November, und meine Stimmung war durchaus als trüb und grau zu bezeichnen. Dem entsprechend sah ich mich:

Dünne Beine, flacher Po, schlaffer Bauch mit reichlich Ansatz, spärlich behaarte Brust, leicht hängendes Kinn, dünne Lippen, schiefe Nase, wässrige blaue Augen, helle Wimpern, schütteres Haar…..erschüttert wandte ich mich ab.

Am nächsten Tag ging ich in die Stadt. Nachdem ich mir eine Liste aller Dinge aufgeschrieben hatte, die ich nun wirklich nicht brauchte, klapperte ich nach und nach die Geschäfte ab und zog dabei immer enger werdende Kreise um das Cafe’.

Ich schalt mich einen riesigen Deppen, einen Narren…aber was sollte ich tun? Meine Füße bewegten sich wie von selbst.

Mit Pudding in den Knien, schweißnassen Händen und erhöhtem Blutdruck betrat ich schließlich den Raum, in dem ich einen Tag zuvor einen Engel erlebte und ihn wieder gehen ließ.

Ich ließ mich an einem Tisch nieder, schaffte es sogar, mich nicht neben den Stuhl zu setzen, kramte umständlich die Zeitung heraus, gab meine Bestellung auf und linste dann vorsichtig durch den Raum.

Mein Engel war natürlich nicht da.

Hatte ich es nicht vorher gewusst? Er hatte doch erhalten, was er sich wünschte, wozu sollte er wiederkommen? Um mich träumenden alten Deppen wieder zu sehen?

Ich hatte das Gefühl, als würden mich alle hier anwesenden Leute verhöhnen. Natürlich war es nur dieses bekannte, ungute Gefühl, das vielleicht auch du, lieber Leser, schon einmal kennen gelernt hast.

Meinen Kaffee trank ich, ich las die Zeitung, ohne etwas zu verstehen. Immer wieder blickte ich zur Tür, wenn diese sich öffnete.

Dann gab ich auf. Ich hatte eine Chance vertan, basta. Punkt. Ende.

Ich raffte meine Einkaufstüten mit all den überflüssigen Kleinigkeiten und ging nach Hause.

Er saß auf der Treppe.

Und stotterte mir verlegen etwas entgegen, das ich nicht verstand, weil mein Blut in den Ohren nur so rauschte.

……nun steh nicht so da, Herrgott noch mal, beweg’ dich! Geh auf ihn zu, begrüße ihn, frage ihn, was er hier will, sei locker und freundlich und heb vorher die Tüten wieder auf, du ungelenker Trottel!.......

Mein Schweigen hält er wohl für Ärger über seine Verwegenheit, sich einfach auf meine Treppe zu setzen und auf mich zu warten. Also versucht er mir in schnellen, verhaspelten Sätzen klar zu machen, dass es ihm leid tue…er aufdringlich sei..ich ihn entschuldigen möge…er möchte doch auch komponieren…ob ich ihm helfen, vielleicht so gütig sein würde, er könne auch gerne ein anderes Mal, wenn es mir jetzt nicht passe…

Endlich gelingt es mir, ihm die Hand zu geben und ihn hinein zu lassen. Meine Tüten lasse ich einfach im Flur fallen, er hebt sie wieder auf, trägt sie hinter mir her. Im Wohnzimmer drehe ich mich um, biete ihm einen Stuhl an. Ich verschränke die Arme und blicke ihn an. Diesmal ist seine Erklärung etwas verständlicher, auch mein Blut beruhigt sich. Ich befinde mich in einem Traum, das muss es sein. Und diesen Traum werde ich auskosten. Also nicht nervös werden, sonst wache ich zu schnell auf und alles ist vorbei.

Komponist möchte er also werden. Ich brühe uns einen Tee auf und lasse ihn erzählen. Wie er heißt, wie alt er ist,

…hast du dir sein Alter gut gemerkt, alter Trottel?......

wie der Wunsch in ihm entstand, zu komponieren, dass seine Eltern ihn unterstützten, dass er auf der Musikhochschule sei, er nun Praxis brauche, einen Mentor suche.

Und es als Fingerzeig des Schicksals nahm, als er mich gestern im Café traf. Und daher die Frechheit besäße, mich einfach zu überfallen.

Endlich fand ich das wieder, was man so im Allgemeinen als ‚Fassung’ bezeichnet und so entwickelte sich bald ein reges Gespräch.

Ich erzählte ein wenig von meinem Werdegang als Musiker.

Die Zeit verging, was soll sie auch sonst tun.

Als die alte Standuhr uns lärmend die frühen Abendstunden ankündigte, sprang er auf. Viel zu lange schon habe er mich aufgehalten, er sei mir sehr dankbar für das Gespräch. Ob er wiederkommen dürfe?

Wir verabredeten uns für den kommenden Montag nachmittag pünktlich 14 Uhr. Hier bei mir.

Lieber Leser, soll ich dir die Tage und Abende beschreiben? Nein, ich werde dich verschonen, sicher kannst du dir meine Gefühle vorstellen, samt der Grausamkeit des Wartens.

Etliche Jahre später wurde es endlich Montag.

Ich probierte den Inhalt meines Kleiderschrankes von der Badehose bis zum Smoking, entschied mich dann für Jeans und mein altes Lieblingshemd. Ich brauchte diese Sachen, um innerlich gestärkter zu sein. Denn ich hatte mich entschieden. Jawohl, ich würde ihn als Schüler nehmen, ich würde sein abgeklärter, älterer Mentor sein, ihn teilhaben lassen an den Erfahrungen meines Schaffens, meines Könnens und was man sich sonst noch für einen Blödsinn einredet, wenn man sich selbst belügt.

Als er kam, hatte ich mir diese Schüler-Mentorgeschichte so weit einreden können, dass ich sie beinahe selbst glaubte und recht locker mit ihm umgehen konnte.

Er war nicht unbegabt, ihm fehlten wirklich Anleitung und Praxis. Also arbeiteten wir intensiv, tranken unseren Tee und unterhielten uns. Seine Scheu mir gegenüber, das heißt, dem erfolgreichen Künstler, verlor sich nach und nach. Er wurde immer fröhlicher und unbeschwerter. Er war witzig, aber nicht frech, er war erheiternd, erfrischend, höflich, hatte eine unglaublich rasche Auffassungsgabe, ging gekonnt mit der Musik um….soll ich noch weiter schwärmen?

Wenn wir so miteinander sprachen, hatte ich natürlich die Sorge, er spräche einmal von seiner Freundin, seiner Frau, seiner Geliebten. Aber da kam nichts.

Feige wie ich nun mal bin, fragte ich auch nicht nach. Ich wollte darüber lieber nichts wissen, denn in meinen Träumen….nun ja.

Er allerdings fragte auch nicht nach meiner Frau oder Freundin, irgendwie schien dieses Thema nicht existent.

Wir verstanden uns so gut, dass seine Besuche immer häufiger wurden. Er lernte eine Menge bei mir, aber ich hatte außerdem den Eindruck, dass er auch meinetwegen gerne kam. Er schien sich in meiner Gesellschaft wohl zu fühlen.

Es wurde zeit für einen neuen Song. Meine Agenten maulten, ich solle etwas arbeiten. Und da machte ich ihm den irrwitzigen Vorschlag, gemeinsam mit mir etwas zu komponieren.

Erschrocken lehnte er ab, soweit sei er noch nicht.

Aber im Überschwang meiner Gefühle, die ich nicht ausleben durfte, drängte ich ihn, es zu versuchen.

In den wenigen ehrlichen Momenten mir selbst gegenüber gestand ich mir, dass ich einen Grund suchte, ihn noch zu halten. Dass ich Angst hatte, ihm bald nichts mehr bieten zu können. Dass er sich einen anderen Lehrer suchte. Weil ich doch nur ein Song-Schreiber war.

Also setzten wir uns hin und erarbeiteten den neuen Song. Er war mit einer rührenden Ernsthaftigkeit bei der Sache, das Komponieren ging uns flott von der Hand. Wir trafen uns mit dem Texter, ich zeigte ihm Aufnahmestudios, und mit der Neugier eines aufgeregten Jagdhundes sog er alles in sich hinein.

Als auch die letzte Note zu Papier gebracht war, kam der große Moment der Aufnahme. Ich gestehe, dass dieser Song niemals ein großer Hit wurde, er stürmte nie die Charts, aber er war flott anzuhören. Kein Meisterwerk, aber ein solides Lehrlingsstück.

Während der Aufnahme saß er im Studio, nervös, aber mit leuchtenden Augen. Dann war es vorbei, die Aufnahme nach mehreren Proben gut eingespielt.

Abends lud ich ihn zum Essen ein. Das hatte ich noch nie getan. Aus Unsicherheit vor mir selbst, es durfte einfach nicht zu privat werden, auch ich habe meine Leidensgrenze.

Aber dieser Abend sollte die Ausnahme sein, die Belohnung für uns beide.

Gegessen haben wir beide nicht viel. Ich kaute auf irgendetwas herum, vielleicht war es ein Stück Brot, vielleicht auch meine Serviette, ich weiß es nicht. Mein Engel saß vor mir, der Kerzenschein fiel auf sein leuchtendes Gesicht. Seine Begeisterung kannte keine Grenzen, er floss schier über. Er hatte mit mir zusammen einen Song geschrieben! Beim Essen dirigierte er mit Messer und Gabel immer haarscharf an meinem Ohr vorbei, er goss mir ein Glas Wein ein und goss und goss und goss, zum Nachtisch schälte er seinen Apfel bis auf das Gehäuse herunter.

Verstehst du, lieber Leser, dass ich mich nach dem Essen noch nicht von ihm trennen konnte?

Aber hatte ich mir nicht geschworen……ach was! Was sind denn schon heute die Schwüre von gestern….heute ist alles anders, heute darf gefeiert werden, was ist denn schon dabei!

Zu Hause machte ich uns erst einmal einen starken Kaffee, wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich. Er zog die Beine hoch und leuchtete von innen einfach so vor sich hin. Träumend.

Ich setzte mich vorsichtig neben ihn, wollte ihn nicht stören. Schweigend tranken wir unseren Kaffee.

Er setzte sich auf, rückte ein Stück neben mich, blickte mich an. Ich erwartete eine Frage, eine Bemerkung, aber was kam, war seine Hand.

Sanft wie ein Hauch legte sie sich um meine Hand und blieb dort. Ich schaute auf unsere Hände runter, blickte fragend zu ihm auf.

Er sah mich eine Weile stumm an. Und flüsterte nur ein Wort:

„Erzähle“

Und noch ehe ich ihn fragen konnte, was ich denn erzählen solle, kamen stockend die ersten Worte. Unsicher wie ein Kind bei seinen ersten Schritten stolperte ich durch die Sätze.

Ich beschrieb ihm meine Jugend, mein Erkennen über mich, mein namenloses Grauen. Die Zeit, in der ich mich von der Welt zurückzog, die Musik für mich entdeckte, sie zu meinem Leben machte.

Immer flüssiger, fast hektisch spie ich all das Ungesagte aus, das jahrelang in mir verborgen bleiben musste, weil es mir an Mut fehlte. An dem Mut, meiner Familie, meinen Freunden,

der Gesellschaft zu erklären, dass ich schwul sei.

Ich erzählte ihm von meinen Ängsten, entdeckt zu werden, ich erzählte ihm auch von den flüchtigen Stunden bezahlter Erotik. Von dem Ekel anschließend, den ich mir selbst gegenüber empfand. Von den Sehnsüchten und Träumen.

Und meinem Versagen. Immer und immer wieder versagte ich. Ich wurde berühmt. Hätte ich mich da hinstellen und meiner Fangemeinde erklären sollen, dass ich schwul bin?

Ja, lieber Leser, ich weiß, genau das hätte ich tun sollen!

Aber ich, dem das Leben in der Öffentlichkeit ohnehin schon schwer fiel, sollte ich mich wirklich den Haien zum Fraße vorwerfen?

Statt mich zu recken und zu strecken, mich groß zu machen, den staunenden Menschen um mich herum ins Gesicht schauend, ihnen zeigend:

’ seht her, hier stehe ich! Ich bin schwul und werde es auch bleiben. Findet Euch damit ab oder Ihr bekommt keine Songs mehr von mir’

wurde ich immer kleiner und mickriger.

Mit dem Maße, mit dem meine Songs Berühmtheit erlangten, wurde die Flamme meines Selbstbewusstseins immer geringer. Aus Angst, nicht mehr anerkannt zu werden, aus Angst, verstoßen zu werden, aus Angst, in Nichts zu fallen.

Man kann es auch kürzer ausdrücken: Feigheit!

Ich spie ihm meine Wut über mich entgegen, meine Hilflosigkeit, meine Ohmacht, mich aus diesem selbstgebauten Gefängnis zu befreien. Mein Unvermögen, zu mir selbst zu stehen.

Unter Tränen schilderte ich mein Verlangen nach Liebe, nach Geborgenheit. Nach Partnerschaft, Freundschaft. Nach einem ehrlichen Gefühl.

Ich erzählte von meinen Träumen und meinen Tränen. Von der Flucht in die lustige Musik, beschwingend, lebensbejahend. Eine Illusion. Meine Illusion!

Meine heimlichen Kompositionen, die nicht veröffentlicht in der Schublade lagen. Die mein wahres Ich erzählten, Note für Note. Von Tränen verwischte Noten. Zerrissene Blätter, die meinen Papierkorb füllten, zerrissene Gefühle.

War es Stunden später, als ich bemerkte, dass seine Hand nicht mehr sanft, sondern fest die Meine umschloss? Dass sein Arm meine Schulter hielt? Dass er mich festhielt? Dass in seinen Augen Tränen schimmerten?

Als seine Lippen mich berührten, war es ein Hauch. Ein Hauch des Lebens. Ein Erwecken, ein Erkennen.

Unsere erste Nacht verbrachten wir Seite an Seite, Hand in Hand, einfach daliegend, irgendwann schlafend.

Als ich am kommenden Morgen erwachte, lag er neben mir auf der Seite, die Hand aufgestützt. Er blickte mich an.

Und wurde zum Lehrer, ich war sein Schüler.

Die kommende Zeit, wie soll ich sie beschreiben? Er kam weiterhin zum Arbeiten, aber ging abends nicht nach Hause. Er erzählte von sich, beschrieb seine Vergangenheit. Wir redeten ernsthaft, wir blödelten, wir spielten, wir alberten, ich lebte!

Nachdem wir es uns eines Nachmittags im Bett gemütlich gemacht hatten..man kann schließlich nicht immer arbeiten….schlich ich mich Stunden später ins Bad. Trat vor den Spiegel und betrachtete mich. Wie war das doch? Hatte ich nicht erst vor noch gar nicht langer Zeit hier gestanden und meine Beine mit den gut geformten Waden, meinen knackigen Hintern, meinen strammen Bauch mit dem lustigen Ansatz, meine lustig geringelten Brusthaare, mein energisches Kinn, meinen fröhlicher Mund, meine gut geformte Nase, meine leuchtend blauen Augen und meine Denkerstirn betrachtet? Sah ich nicht einfach umwerfend gut aus? Ich streckte mir die Zunge entgegen und ging wieder ins Schlafzimmer, in dem eingekuschelt mein Liebster noch lag.

Er hatte allerdings eine strenge Auflage von mir bekommen: nicht in der Öffentlichkeit!

Überaus erregte Diskussionen hatten wir geführt, aber er musste nachgeben. Er tat es auch überraschend schnell, er war wohl einsichtig. Man kann sich nicht von jetzt auf nun einfach ändern!

Als wir in einem Restaurant saßen, und er von der Toilette kam, strich er mir leicht über den Kopf! Daraufhin bekam er zu Hause eine Stunde Knutschverbot. Dummerweise war ich es, der die Stunde nicht durchhielt.

Machte ich mir Gedanken über die Zukunft? Nein. Überlegte ich mir, wieso ein dermaßen zauberhafter Engel sich ausgerechnet in mich verliebte? Nein.

Ich dachte überhaupt nicht. Ich lebte und liebte einfach.

Es war an einem Sonntag morgen. Ich kam ausgeschlafen aus dem Badezimmer, als das Schicksal mir ohne Vorankündigung grausam die rosarote Brille von der Nase schubste.

Mein Engel saß im Sessel und rauchte.

Schon vom ersten Tag an untersagte ich ihm das Rauchen in der Wohnung. Ich bin Asthmatiker. Wenn er rauchte, dann draußen im Garten. Er rauchte nicht einmal im Restaurant in meiner Gegenwart und blitzte jeden Gast böse an, dessen Rauch zu mir hinüber wehte. Stets achtete er darauf, dass ich mein Asthmaspray in greifbarer Nähe hatte.

Nun saß er da und rauchte. Blies genüsslich den Rauch durch den Raum. Seine braunen Augen taxierten hart meinen Körper, seine Nase kräuselte sich verächtlich, seine Lippen verzogen sich spöttisch.

Und mir wurde bewusst, dass auch Luzifer als Engel galt.

Seine Hände streckten sich mir wie Klauen entgegen. Er wollte Geld. Und nur das hatte er von Anfang an gewollt.

Ein Freund von ihm war Reporter. Von diesem wusste er, wie hoch eine Zeitschrift der Marke ‚ Die grüne Frau im blinden Spiegel’ jemanden bezahlt, der Licht in das geheimnisvolle Leben eines gewissen Komponisten bringen würde.

Er studierte ja Musik, also beschloss er, mich einfach mal kennen zu lernen. Und als er mich sah, wusste er alles andere auch. Man erkennt sich.

Durch seine eigenen Homosexualität öffnete er sich die Türen, alles weitere war doch ein Kinderspiel.

Und da ich so fleißig im Plaudern gewesen war, hatte er die Story schlechthin! Aber er wollte sie nicht an die Presse verkaufen, oh nein, das genügte ihm nicht. Natürlich wollte er Geld. Eine Menge Geld. Aber von einer Zeitschrift hätte er eine stattliche Summe bekommen, und das wäre es gewesen. Wie langweilig.

Lieber war es ihm, etwas zu besitzen, was er brauchte: Macht!

Macht über einen Menschen, Macht über mich.

Ich war in einer Sackgasse. Ich fühlte mich hilflos und ausgeliefert, erfüllte all seine Forderungen. Jeden Monat eine gewisse Summe an Geld, dafür arbeitete ich so hart wie noch nie. Komponierte einen Song nach dem Anderen. Ab und zu ein Abendessen in einem Restaurant. Dort musste ich mich fröhlich und jovial geben, schließlich wollten wir ja nicht auffallen.

Am Schlimmsten waren die Abende, an denen er nicht sofort ging.

Verstehst du mich, lieber Leser? Kann mich überhaupt jemand verstehen? Meinen Hass, meine Wut…auf mich! Auf meine Schwäche, meine Erbärmlichkeit.

Lieber Leser, wahrscheinlich stehen dir gerade die Nackenhaare zu Berge, und du willst mir zurufen:

„Wehre dich doch endlich! Tu was! Mach ihn fertig! Geh du an die Öffentlichkeit, grabe ihm doch einfach das Wasser ab, zeige ihn an….sei doch endlich stark!“

Ach, lieber,lieber Leser, ich weiß ja, du meinst es gut mit mir, aber schau, ich kann es einfach nicht. Es ist einfach nicht mein Naturell. Weil ich etwas versäumt habe.

Als ich zu der Erkenntnis meiner Homosexualität kam, war ich entsetzt. Ich schämte mich, wollte mich nur noch verkriechen. Ich versäumte, mich anzuerkennen, mich zu mögen, mich so zu akzeptieren, wie ich nun mal war.

Und so wurde ich zu dem, was ich heute bin. Schwach, hilflos.

So komme ich denn zum Schluss. Und damit du nicht gar zu enttäuscht bist von mir, so möchte ich dir noch schildern, was ich in all den letzten Monaten, diesen grauenhaften Monaten tat:

Ich komponierte! Ich kramte die angefangen Fragmente aus der Schublade hervor, ich setzte sie neu zusammen, ich schrieb sie um. Note für Note schrieb ich mir meine Not von der Seele.

Es ist ein großes Werk geworden.

Nun ist es beendet, auf dem Wege zu meinen Agenten. Mögen sie es der Öffentlichkeit weitergeben.

Es hat so gut getan, diese Musik zu schreiben. Mein wahres Ich erscheinen zu lassen, wild, stark, frei, verzweifelt, wütend, traurig….ein Leben.

Nun werde ich gehen.

Lieber Leser, wenn ich dir meine Geschichte erzählt habe, dann aus dem Grunde, dass ich dir zurufen möchte:

„Liebe! Liebe dich! Erkenne dich an, sei einfach begeistert von dir! Du hast nur dieses eine Leben. Nutze es! Sei du selbst. Schultern gerade und Kopf hoch! Und wenn es mal nicht klappt, wenn die Schultern hängen, der Kopf sich neigt und du dich mies und einsam fühlst, so richtig ‚bäh!’ dann denke an mich und wende dich Freunden zu. Lass dich trösten. Gib Freundschaft und nimm sie an. Bleib nicht alleine, so wie ich es tat aus Scham.

Darf ich dich darum bitten?

Auf Wiedersehen, lieber Leser, lieber Freund.“

Werde nun meine Reise antreten.

Und wer weiß, vielleicht finde ich am Ziel einen wirklichen Engel?

Ich lächle.

Nachwort

Wollt Ihr das Werk hören, das unter dem Einfluss dieser Gefühle entstanden ist? Dann hört rein in die Pathetique von Tschaikowsky, insbesondere in den 3. Satz. Nein, ich bin nicht Peter Tschaikowsky. Ich bin PetraPan - aber diese Story ist entstanden, als ich die Pathetique wieder einmal gehört habe und die akustischen Reize in Sprache fassen wollte.

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