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Lebensangst

Teil 2 - Alte und neue Wunden

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

Zunächst mal möchte ich mich für das Feedback zum letzten Teil bedanken. Ich hätte nicht gedacht, dass er so gut ankommt. Das hat mich wirklich motiviert. Danke nochmal. Dieser Teil sollte eigentlich ganz anders werden, als ich angefangen habe zu schreiben, aber die Figuren haben ein Eigenleben entwickelt und ich konnte sie nicht alles tun lassen, was ich gern gewollt hätte. Vielleicht ist das aber auch gut so, weil ich gelegentlich zu Übertreibungen neige. Dennoch ist dieser Teil um einiges, sagen wir, härter als der erste. Ich hoffe er gefällt euch.

Kapitel IV – Urlaub

Ich erwache nur langsam aus einem, Gott sei Dank, traumlosen Schlaf. Wenigstens liege ich heute in meinem eigenen Bett.

Das ist schon mal ein Fortschritt.

Ich mache eine kurze Bestandsaufnahme meines Körpers. Der Schmerz in meiner Hand ist zu einem leichten Pochen abgeklungen.

Mein Bauch tut zwar noch immer weh, aber es geht, wenn ich keine schnellen Bewegungen mache. Sonst scheint alles zu passen.

Durch das Dachfenster direkt über meinem Bett blinzle ich verschlafen in einen viel zu hellen, wolkenlos blauen Himmel.

Und das erste Mal seit sehr langer Zeit freue ich mich wieder auf einen neuen Tag. Heute werde ich noch mal zu Chris fahren.

Eigentlich weiß ich nicht genau, warum ich mich darauf freue, ich fühle mich einfach gut bei diesem Gedanken. Deshalb brauche ich auch nicht so lange wie sonst, um aus dem Bett zu kommen.

Ich mache mir ein ausgiebiges, fast schon übertrieben opulentes Frühstück, das hauptsächlich aus tiefschwarzem Kaffee in seinen verschiedensten Erscheinungsformen besteht. Dann mache ich noch einen kurzen Abstecher zu meinem Kleiderschrank. Da wird es schwierig, denn im Vergleich zu Chris’ Klamotten sind meine hoffnungslos spießig. Ich glaube in diesem Schrank hängt nichts, das unter 200 € gekostet hat. Allein von den Armani-Sachen könnte man eine dreiköpfige Familie ein Jahr lang ernähren. Und in diesen Sachen kann ich unmöglich zu Chris gehen. In diesen Sachen komme ich wahrscheinlich nicht mal zu seiner Wohnung, ohne zwei- bis dreimal überfallen, zusammengeschlagen und/oder beschimpft zu werden.

Nach einer Ewigkeit entscheide ich mich für ein schwarzes Boss-Shirt und meine ältesten Jeans, die ich normalerweise nur anziehe um meine Eltern zu schocken. Meine Haare bringe ich in geordnete Unordnung.

Jetzt noch einen kurzen Blick in den Spiegel:

Ja, Stefan, Du hast es geschafft. Gratuliere!

Du siehst nicht mehr wie ein Yuppie aus.

Du siehst jetzt wie ein Yuppie aus, der sich verzweifelt bemüht, normal auszusehen. Das Geld dringt bei mir immer noch aus allen Poren.

Aber dennoch: ich fühle mich in diesen Sachen eigentlich ziemlich wohl.

Ich packe Chris Sachen in die Aldi-Tüte von gestern und mache mich lächelnd auf den Weg.

Ich brauche gute 40 Minuten, um Chris’ Wohnung wieder zu finden.

Jetzt stehe ich vor Chris’ Wohnungstür und aus einem seltsamen Grund bin ich nervös und zupfe an meinem Shirt rum.

Das ist doch lächerlich! Ich verhalte mich, als würde ich ein Mädchen besuchen.

Nach einem kurzen Zögern klopfe ich an. Ein paar Sekunden später wird die Tür einen Spalt geöffnet und Chris sieht mich verschlafen an.

Da schläft wohl jemand noch länger als ich.

Als er mich erkennt, lächelt er mich an und alles ist gut.

“Hi, komm rein.” Er dreht sich um und ich kann nochmal seinen blanken Hintern bewundern, der sich schlaftrunken in Richtung Schlafzimmer bewegt.

Ich betrete die Wohnung, die noch genauso aussieht, wie ich sie verlassen habe. Sofort werde ich aufgeregt liebevoll von Wolf begrüßt. Ich schaffe es gerade so ihn von meinem Gesicht fernzuhalten, das er unbedingt ablecken will. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hat, riskiere ich vorsichtig einen Blick ins Schlafzimmer. Chris hat sich auf das Bett geworfen und liegt bäuchlings darauf. Er hat sich nur notdürftig mit einer leichten Decke zugedeckt und sein Gesicht ist in einem dicken Kopfkissen vergraben. Sein Rücken ist erstaunlicherweise frei von irgendwelchen Tätowierungen. Aber ich bemerke ein paar kleine kreisrunde Narben zwischen seinen Schulterblättern und auf seinem unteren Rücken. Sie sind alle ungefähr gleich groß, vielleicht zwei Zentimeter im Durchmesser. Bei normalem Licht wären sie mir wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Aber Chris’ Bett steht genau unter dem Fenster und so sehe ich seinen Rücken im Gegenlicht das durch einen engen Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer fällt. Ich frage mich, woher er die wohl hat. Auf jeden Fall scheint er schon Einiges hinter sich zu haben. Vielleicht ist mir deshalb sein Gesicht so alt vorgekommen.

Ich stehe ein wenig verloren im Zimmer und habe keine Ahnung ob ich lieber wieder gehen soll, als er, durch das Kissen gedämpft, murmelt:

“Ich bin jeden Augenblick bei Dir. Jeden Augenblick…”

Seiner Stimme nach kann es sich nur noch um Stunden handeln.

“Kein Problem, ich habe jede Menge Zeit.” Ich setze mich an den Bettrand und streichle Wolf leicht über den Kopf, was dieser mit einem freudigen Schwanzwedeln beantwortet.

Nach einer Weile beginnt Chris sich langsam zu strecken und zu seufzen. Ich deute das mal als Zeichen, dass er wirklich bald aufstehen will. Endlich rollt er sich zum Bettrand und schwingt die Beine aus dem Bett. Als er dann neben mir sitzt, sieht er mich mit verschlafenem Blick von der Seite an und sagt:

“Morgen Stefan.”

Er sieht aus wie ein junger Hund, der die Augen noch nicht ganz aufkriegt. Ich kann mir ein breites Lächeln nicht verkneifen.

“Morgen Langschläfer. Ich hab dir deine Klamotten mitgebracht. Und…”

Mit einer theatralisch ausladenden Geste greife ich in die Tüte mit den Kleidern und hole eine Flasche ‘Absolut’ heraus, die ich auf dem Weg gekauft hab.

“...ich bringe Dir Geschenke.”

Damit scheint seine Müdigkeit endgültig besiegt und seine Augen öffnen sich weit. Als er dann sieht, was ich ihm mitgebracht habe leuchten seine Augen richtig.

“Für mich?! Wow! Danke! Aber womit hab ich denn das verdient?”

“Soll das ein Witz sein? Das ist dafür, dass Du mich gestern nicht auf der Strasse liegen gelassen hast”, erwidere ich ernst.

Er studiert nachdenklich die Flasche in seinen Händen.

“Hab ich gern gemacht”, sagt er dann nach einer Weile.

Dann reißt er sich von dem unglaublich erotischen Anblick einer vollen Wodka-Flasche los, sieht mir in die Augen und legt seinen Arm auf meine Schulter.

“Danke nochmal! Die werden wir gemeinsam leeren, wenn Du willst?”

Tja, damit haben sich alle meine guten Vorsätze von gestern wieder verabschiedet. Aber, wenn ich ehrlich bin, habe ich natürlich gehofft, dass ich an der Vernichtung der Flasche beteiligt sein werde. Also lächle ich ihn an und sage:

“Klar will ich, was ist denn das für eine Frage? Aber vielleicht nicht jetzt sofort.” Immerhin ist es erst kurz nach 13 Uhr.

Gut, ich gebe zu, dass das in den letzten paar Monaten kein Hinderungsgrund für mich war, aber heute möchte ich gerne noch ein wenig Zeit nüchtern mit Chris verbringen.

“Keine Sorge, vor dem Frühstück kann ich wirklich noch nicht Wodka trinken. Ich hab da mehr an heute Abend gedacht.”

„Hört sich gut an.“

„Klasse! So, dann werde ich mir mal was anziehen.“ Mit diesen Worten steht er auf und verschwindet ins Wohnzimmer. Ich bleibe noch auf dem Bett sitzen und kraule Wolf gedankenverloren den Bauch.

„Ich wollte mit Wolf ein wenig an die frische Luft. Hast Du Lust uns zu begleiten?“ fragt mich Chris aus dem Nebenzimmer.

„Klar. Gern“, antworte ich während ich weiter Wolfs Bauch streichle.

“Da möchte man doch ein Hund sein.” Breit grinsend steht Chris mit verschränkten Armen in der Tür. Außer seinem äußerst kleidsamen Lächeln trägt er eine abgeschnittene Tarnhose und ein beiges T-Shirt.

“Was? …Ach so!” Ich stehe wieder mal unglaublich auf meiner ohnehin schon langen Leitung. Dann sehe ich ihn herausfordernd an und sage:

„Okay, wenn Du willst. Komm her, zieh Dein T-Shirt aus und leg dich auf den Rücken.“

Chris Grinsen wird noch ein wenig breiter bevor er antwortet.

„Jetzt nicht. Aber ich komm darauf zu zurück, darauf kannst Du Dich verlassen.“

„Ach, immer diese leeren Versprechungen.“ Ich versuche meine Stimme gelangweilt klingen zu lassen.

Chris schüttelt lächelnd den Kopf und kommt langsam auf mich zu.

Er macht das jetzt doch nicht wirklich, oder?

Nein, niemand würde...

Er lehnt sich über mich und stützt sich mit seinen Armen rechts und links von mir auf das Bett. Sein Gesicht ist nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Ich wage nicht zu atmen und mein Mund ist staubtrocken. Ich kann ihn einfach nur anstarren.

„Unterschätz mich nicht Stefan. Ich halte meine Versprechen. Immer“, sagt er dann leise.

Sein Atem riecht nach Pfefferminz-Kaugummi. Ich kann nur nicken.

„Übrigens gefällt mir deine Frisur.“ Damit richtet er sich wieder auf und fährt mir mit der rechten Hand durch die Haare.

„Nicht! Weißt Du wie lange ich dafür gebraucht habe?!“ protestiere ich lächelnd und greife nach seiner Hand.

“Was hast Du denn angestellt?” fragt er mich überrascht und starrt auf meine Hand.

Mist, der Verband! Den hatte ich völlig vergessen.

Ich fahre mit den Fingern leicht über den weißen Stoff. Über Nacht hat sich ein kleiner Bluttropfen genau in der Mitte meiner Handfläche an die Oberfläche gekämpft. Der winzige dunkelrote Fleck zeichnet sich deutlich auf dem hellen Verband ab.

“Ich habe mich geschnitten”, sage ich leise. Das ist ja nicht mal eine Lüge.

“Wobei denn?” will Chris weiter wissen.

Na toll!

Was soll ich ihm jetzt sagen?

Dass ich mir manchmal wehtue, um mich zu vergewissern, dass ich noch lebe?

Dass mein Schmerz manchmal das Einzige ist, das ich noch kontrollieren kann in meinem beschissenen Leben?

Oder, dass ich meinen Schmerz brauche, um nicht zu vergessen? Um mich immer an meine Schuld zu erinnern?

Das kann ich ihm nicht sagen!

Er würde mich doch für völlig kaputt halten!

Und das Schlimmste ist, dass er damit wahrscheinlich Recht hätte.

Ich zucke hilflos mit den Schultern.

„Wollen wir langsam los?“ frage ich, um vom Thema abzulenken.

„Ja, gleich.“

Chris geht nochmal ins Wohnzimmer und kommt mit einer schwarzen Hundeleine wieder herein. Wolf weiß natürlich längst, dass es nach draußen geht und freut sich wie ein Schnitzel. Das wiederum macht die Sache mit dem Anlegen der Leine nicht gerade einfacher, weil er Chris ständig über die Hände leckt.

„Fertig?“ fragt mich Chris dann, als er es endlich geschafft hat.

“Klar, wohin gehen wir?” will ich wissen.

“Meistens gehen wir runter zum Fluss. Da kann er auch mal ohne Leine laufen.”

Dort war ich bisher noch nicht oft. Um dahin zu gelangen muss man durch die weniger beschaulichen Teile unserer schönen Stadt. Aber mit Chris macht mir das nichts aus.

Also machen wir uns auf den Weg. Chris kennt einige Schleichwege und knapp 15 Minuten später haben wir unser Ziel erreicht. Der kleine Fußweg, der bisher genau auf den Fluss zugelaufen ist, macht hier eine scharfe Biegung nach rechts und verläuft dann parallel zum Ufer. Das Wasser kann man durch eine Wand aus dichten Laubbäumen aber mehr erahnen, als wirklich sehen.

Chris, dicht gefolgt von Wolf, geht zielstrebig auf eine kleine Lücke in der dunkelgrünen Blätterwand zu und verschwindet darin. Hinter den Bäumen gibt es hier eine Art Strand aus Kieselsteinen. Teilweise finden sich hier auch große, dunkelgraue Felsen. Zum Glück führt der Fluss zurzeit relativ wenig Wasser, denn bei Hochwasser ist das alles hier überflutet.

Jetzt lässt Chris erstmal Wolf von der Leine, der auch sofort losrennt und anscheinend jeden einzelnen Stein beschnüffeln und/oder markieren will.

Eine zeitlang stehe ich einfach nur still neben Chris am Ufer. Wir starren auf das gemächlich dahinfließende Wasser und genießen den tollen Sommertag.

Die Sonne brennt heiß von einem tiefblauen Himmel und ein leichter Wind weht mir meine etwas zu langen Haare aus der Stirn. Ich fühle mich unglaublich lebendig.

“Ich komme recht oft hierher. Hier hat man seine Ruhe.” Chris Stimme hört sich sehr beruhigend an. Er hat eine tiefe und angenehm raue Stimme.

“Ja, es ist wirklich schön hier”, stimme ich ihm zu.

“Setzen wir uns auf die Steine da vorne ans Wasser?” Er zeigt mit der Leine auf ein paar größere Felsbrocken direkt am Ufer. Als wir näher kommen sehe ich, dass das Wasser die Felsen richtiggehend abgeschliffen hat, so dass wir einen recht bequemen Platz haben. Wir setzen uns nebeneinander auf einen der warmen, grauen Felsen und schauen wieder auf den Fluss hinaus. Chris zieht sein T-Shirt aus und legt es neben sich auf den Stein. Ich zögere einen Moment und tue es ihm dann gleich. Auch wenn ich weiß, dass das zu einigen unangenehmen Fragen führen wird. Fragen, die ich wirklich nicht beantworten will. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie mich Chris kurz mustert. Er sagt aber nichts, was ich ihm hoch anrechne.

“Was machst Du eigentlich so? Ich meine, wenn Du nicht gerade zusammengeschlagen wirst, auf Bürgersteigen rum liegst oder bei fremden Jungs aufwachst.” fragt mich Chris nach einer Weile.

Gute Frage.

Ich zögere noch einen Augenblick mit der Antwort. Wo fängt man denn da an?

“Also, ich bin seit ein paar Monaten mit der Schule fertig und werde im Herbst wahrscheinlich zu studieren anfangen.”

“Was willst Du denn studieren?” Chris hat sich ein paar flache Steine vom Strand mitgenommen und fängt jetzt an, sie auf dem Wasser hüpfen zu lassen. Und ich muss zugeben, dass er wirklich gut darin ist.

“Jura”, antworte ich nach einer Weile, “ich werde Jura studieren.”

“Dann willst Du also Anwalt werden?” fragt Chris ohne mich anzusehen.

Ich schaue ihm zu, wie er wieder einen Stein springen lässt.

1…2…3…4-mal schafft er es, bevor er in dem schmutzig grünen Wasser versinkt, also der Stein, nicht Chris.

„Ob ich Anwalt werden will? Nein. Aber ich habe keine Wahl“, antworte ich nach einer kurzen Bedenkzeit.

Jetzt sieht mich Chris verwirrt an.

„Okay, das musst Du mir jetzt erklären.“

„Mein Vater ist Anwalt und ich soll eines Tages seine Kanzlei übernehmen”, sage ich knapp und hoffe, dass Chris das Thema damit fallen lässt.

Chris sieht mich eine Weile nur an und sagt gar nichts. Ich werde ziemlich nervös und schaue bald verlegen weg.

“Was würdest Du denn am liebsten machen?” fragt er mich dann und fügt nach einer kurzen Pause hinzu:

“Ich meine, wenn du die Wahl hättest.”

Höre ich da etwa eine Spur Sarkasmus? Ja, ich bin mir fast sicher. Das war Sarkasmus.

“Hmm, schwierig. Ich denke ich würde am liebsten irgendwas mit Fotografie machen. Das ist mein großes Hobby, aber ich denke, dass ich das auch als Beruf machen möchte.”

“Fotograf…ist doch ein toller Beruf. Warum machst Du es nicht?” kommt dann die nächste Frage.

„Weil ich nicht kann, okay?!“ fahre ich ihn gereizt an. Gleich darauf bereue ich es. Ich atme erst mal tief durch und versuche mich zu beruhigen. Chris kann nichts dafür.

„Tut mir leid. Ich wollte Dich nicht so anfahren“, entschuldige ich mich ein paar Augenblicke später.

„Nichts passiert.“

„Das Ganze ist nur viel komplizierter als Du denkst“, versuche ich zu erklären um gleich darauf festzustellen, dass ich es nicht erklären kann. Nicht hier und nicht jetzt.

Chris wartet noch etwas ab, ob ich doch noch eine Erklärung liefere und meint dann:

„Du willst also gar nicht Anwalt werden, machst es aber trotzdem. Und das nur weil Dein Vater es so will?!“

„Nein, nicht weil mein Vater es so will. Sondern weil ich es ihm schuldig bin, dass ich seine Kanzlei fortführe“, korrigiere ich ihn mit einem bitteren Lächeln.

„Du schuldest es ihm?! Wie das denn?“ will er wissen.

„Das...“

Ich kann nicht.

„...das ist kompliziert“, beende ich lahm meinen Satz.

„Was ist denn mit Dir? Was machst Du denn so?“ versuche ich dann geschickt und unglaublich subtil von mir abzulenken.

Chris hat wieder dieses schelmische Grinsen im Gesicht, als er antwortet:

„Was für ein erbärmliches Ablenkungsmanöver! Aber okay, weil Du es bist, lass ich es Dir durchgehen.“ Er zwinkert mir zu und fährt dann fort:

„Ich habe die Schule schon vor ein paar Jahren abgebrochen und schlage mich seitdem so durch. Im Augenblick arbeite ich auf dem Bau und abends stehe ich ein paar Mal in der Woche hinter der Bar im ‚Underground’.“

„’Underground’? Sagt mir gar nichts.“

„Das ist nur ein paar Straßen vom Barfly weg, wo ich Dich gefunden habe.“

Ich nicke kurz, als wäre damit alles klar. Dummerweise habe ich keine Ahnung, wo diese beschissene Kneipe ist! Aber das werde ich schon noch raus finden.

„Was haben denn Deine Eltern dazu gesagt, als Du die Schule abgebrochen hast?“

Chris Lächeln gefriert regelrecht und Wut kommt in seine Augen.

Prima Stefan, mit traumwandlerischer Sicherheit hast Du wieder mal eine Tretmine gefunden.

„Keine Ahnung. Ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Ich bin von zuhause weg, als ich 15 war.“ Chris versucht seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen, aber ich kann spüren, wie viele Emotionen da noch sind.

„Scheiße.“ Was Besseres fällt mir dazu nicht ein.

„Du sagst es“, stimmt er mir zu und wirft einen Stein mit voller Kraft in den Fluss.

„Wieso bist du abgehauen?“ frage ich leise. Chris lässt sich lange Zeit mit einer Antwort. Gerade, als ich meine Frage wiederholen will, antwortet er schließlich doch. Er nimmt meine rechte Hand in Seine und legt sie auf die Seite seines Brustkorbs. Seine Haut ist durch die Sonne heiß geworden und sie ist erstaunlich weich, nur von einem leichten Flaum überzogen. Ich halte den Atem an.

Dann führt er meine Fingerspitzen langsam an seinen Rippen entlang. Deutlich kann ich die Knochen durch die Haut spüren.

Da...eine Verdickung und an der Rippe darunter das gleiche.

„Mein Vater war ein großer und sehr kräftiger Mann. Außerdem war er ein übler Säufer. Er hat mir im Laufe der Jahre vier Rippen gebrochen und zweimal den Arm. Im Krankenhaus musste ich dann erzählen, dass ich die Treppe runter gefallen sei oder dass ich mit dem Fahrrad gestürzt bin.“ Seine Stimme ist voller Wut und bitterer Verzweiflung.

„Als ob ich jemals ein Fahrrad gehabt hätte.“ Er hält noch immer meine Hand, die noch immer auf seiner Brust liegt. Nach einer Weile blickt er verlegen nach unten und lässt mich los.

„Und die Narben auf deinem Rücken?“ will ich wissen.

Seine Augen werden feucht und seine Stimme zittert etwas, als er mir antwortet:

„Mein Vater hat Kette geraucht. Wenn er betrunken war, hat er sich einen Spaß daraus gemacht, seine Zigaretten auf mir auszudrücken. Er hat gesagt, so sei ich wenigstens zu irgendwas zu gebrauchen.“ Chris starrt weiter hinaus auf den grünen Fluss. In seinem Blick liegt eine rohe, unbeugsame Lebenslust, die ich noch bei keinem Menschen so gesehen habe.

Jetzt löst sich eine Träne und ich beobachte fasziniert, wie sie langsam seine Wange hinunterfließt. Sie glitzert in der Sonne, wie ein flüssiger Diamant.

Wahrscheinlich erinnert er sich gerade an damals. Fühlt nochmal den brennenden Schmerz, hört seine eigenen Schreie und riecht dabei sein eigenes, verbranntes Fleisch.

Als ich ihn so beobachte, wie er auf den Fluss starrt, gefangen in seiner Erinnerung, wird mir Eines klar:

Nach allem, was er durchgemacht hat, nach allem, was er ertragen musste, ist er noch immer viel stärker, als ich es jemals sein werde.

Oder es ist genau anders herum. Vielleicht ist er gerade durch den ganzen Scheiß, den er erlebt hat, so stark geworden.

Wieder einmal habe ich keine Ahnung, was ich sagen oder tun soll. Chris hat mir so viel von sich erzählt. Und das, obwohl wir uns kaum kennen.

Er fährt sich mit dem Handrücken über seine Wange und versucht zu lächeln. Dann dreht er sich zu mir und sieht mich an.

Sein Blick gleitet tiefer und bleibt an meiner Brust hängen.

„Was ist mit Dir? Was ist Deine Geschichte?“ fragt er dann.

Ich fahre mit den Fingern über die Narben auf meiner linken Brust. Es sind genau fünf Narben, alle so um die sechs Zentimeter lang. Sie verlaufen fast parallel von knapp unter meinem Schlüsselbein bis zu meiner Brustwarze. Die Schnitte waren recht tief und ich kann deutlich das feste Narbengewebe unter meinen Fingern spüren.

„Die sind dafür, dass ich nicht vergesse“, beantworte ich Chris’ Frage. Ich kann ihn dabei nicht anschauen und starre auf meine Beine.

„Damit Du was nicht vergisst?“

„Damit ich Sebastian nicht vergesse“, sage ich leise. Wieder sehe ich ihn vor mir, wie er in dieser verdammten Schlucht liegt. Die Augen weit aufgerissen. Sein Bein steht verdreht von seinem Körper ab. Sein roter Anorak, den er sich von mir geliehen hat und der ihm mindestens zwei Nummer zu groß ist, leuchtet hell zwischen dem nassen Grau der Steine. Ich schüttle den Kopf, um die Erinnerung aus meinem Kopf zu drängen, aber das Bild bleibt da. So wie immer.

„Er ist...er war mein kleiner Bruder.“

„Was ist passiert?“ Chris Frage kommt zögernd, so als wisse er nicht genau, wie weit er gehen darf.

„Es war meine Schuld. Er ist gestorben, weil ich nicht aufgepasst habe“, antworte ich leise. Meine Kehle schnürt sich zu und ich muss schlucken. Aber ich will jetzt nicht losflennen. Ich fange an zu erzählen.

„Es war vor sechs Jahren. Sebastian war 10 und ich 13. Wir haben die Herbstferien bei unseren Großeltern in Tirol verbracht. Sebastian hat sich unglaublich auf diesen Urlaub gefreut. Ich glaube nicht, dass er die Nächte vorher überhaupt geschlafen hat. Er war immer so leicht zu begeistern.“ Ich schließe für einen Moment die Augen.

Gott, wie ich ihn geliebt habe!

Er war der beste Bruder, den man sich wünschen konnte. Die meisten Jungs in diesem Alter sind einfach nur anstrengend, aber nicht er. Nicht er.

Ich öffne die Augen wieder und blicke auf den Fluss hinaus.

„Ich glaube, dass ich sein großes Vorbild war. Deshalb hat er sich auch so auf Tirol gefreut. Ferien ganz allein mit seinem großen Bruder! Das war das Höchste für ihn.“ Ich muss lächeln, bei der Erinnerung an damals; an sein begeistertes Gesicht mit den strahlenden, blauen Augen. Es ist ein bitteres, schmerzhaftes Lächeln.

„Die ersten Tage waren auch fantastisch! Wir haben lange geschlafen und haben ein paar Ausflüge gemacht. Am dritten Tag wollten wir uns einen großen Wasserfall in der Nähe von Kitzbühel anschauen. In der Nacht hatte es geregnet, aber der Tag sollte sonnig werden. Wir sind schon früh aufgebrochen, weil es eine recht lange Tour war. Ich habe ihm noch meinen roten Anorak geliehen, weil es ziemlich kühl war. Sebastian hatte zwar seinen Eigenen, aber er wollte immer lieber meine Sachen tragen. Auch wenn sie ihm viel zu groß waren.“

Schmerzhaft deutlich sehe ich ihn vor mir, wie er in unserem Zimmer vor dem großen Wandspiegel steht. Mein Anorak reicht ihm fast bis zu den Knien und seine Hände haben keine Chance, jemals wieder das Tageslicht zu sehen. Trotzdem strahlt er mich an und verkündet zufrieden: „Passt doch!“

Ich weiß noch, wie ich hinter ihn getreten bin und uns beide im Spiegel betrachtet habe. Mir ist damals aufgefallen, wie ähnlich wir aussehen. Die gleichen braunen Haare und blauen Augen. Ich hab einen Arm um ihn gelegt und gesagt: „Wir sehen fast wie Zwillinge aus.“ Dann hat er mich mit großen Augen angeschaut und gefragt: „Echt?“ Ich bin ihm kurz mit meiner Hand durch die Haare gefahren und hab geantwortet: „Echt! Wahrscheinlich verwechseln uns unsere Eltern, wenn wir wiederkommen. Wir sollten uns schon mal Namensschilder machen.“

Chris legt seine Hand auf meine Schulter und meint:

„Du musst nicht weiter erzählen, wenn Du nicht willst.“ Ich sehe ihn dankbar mit feuchten Augen an, und schüttle den Kopf. Ich kann jetzt nicht aufhören. Ich möchte dass er es weiß.

„Wir waren auf den letzten Metern des Anstiegs. Sebastian wollte ein Wettrennen machen. Wer als erster oben beim Wasserfall ist, hat gewonnen. Ich wollte erst nicht, aber es war schwer Sebastian etwas abzuschlagen. Es war natürlich nicht fair. Immerhin war ich ja vier Jahre älter als er. Also habe ich mich zurückgehalten. Ich wollte, dass er gewinnt. Dann ist Sebastian um einen Felsvorsprung gebogen und ich habe ihn aus den Augen verloren. Und dann habe ich den Schrei gehört. Es war ein furchtbarer Schrei, so voller Angst.“

Manchmal, wenn ich im Dunkeln in meinem Bett liege und alles still ist, dann höre ich diesen Schrei noch immer. Selbst jetzt, nach all den Jahren, höre ich ihn noch.

„Als ich dann um den Vorsprung bog, war da nichts. Ich bin zum Rand des Weges gerannt und hab runter geschaut. Sebastian lag gute 50 Meter unter mir auf den nassen Felsen. Er ist mit dem Kopf auf den Steinen aufgeschlagen. Die Ärzte haben gesagt, dass er sofort tot war.“ Jetzt kann ich Chris in die Augen schauen, als ich sage:

„Es war meine Schuld. Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen. Ich hätte ihn nicht aus den Augen verlieren dürfen. Ich...“ Jetzt kommen die Tränen, die ich bisher zurückgehalten habe. Es sind Tränen der Wut. Ich bin wütend auf mich selbst. Sebastian könnte noch leben. Er könnte hier neben uns sitzen, wenn ich nur besser aufgepasst hätte. Ich wische die Tränen mit der Hand weg und versuche mich zusammen zu reißen. Dann lasse ich meine Finger über die Narben auf meiner Brust gleiten.

„Sebastian ist am dritten November gestorben. Und jeden dritten November kommt eine neue Narbe hinzu. Damit ich ihn nie vergesse.“

„Sieh mich an“, sagt Chris sanft. Ich drehe meinen Kopf und schaue in seine tiefen, braunen Augen.

„Du hättest nichts tun können.“ Chris Stimme ist leise, aber bestimmt. Er hat ja keine Ahnung.

Ich hatte die Verantwortung. Ich sollte auf ihn aufpassen. Und jetzt ist er tot. Es war meine Schuld“, sage ich ebenso bestimmt.

„Es war ein Unfall. Du hättest es nicht verhindern können. Selbst wenn Du neben ihm gegangen wärst, hätte es passieren können.“

Ich schüttle den Kopf.

„Nein.“ Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern.

Selten hatten wir einen so schönen Sommer wie in diesem Jahr. Und obwohl es recht spät im Jahr ist, eigentlich schon die Zeit der ersten Herbststürme, zeigt sich der Sommer an diesem Tag noch einmal von seiner besten Seite. Wir haben sicher über dreißig Grad und am Himmel ist nur eine einzelne, einsame Schleierwolke zu sehen. Der Wind hat ein wenig aufgefrischt und sorgt für genau die richtige Temperatur auf der Haut. Es ist ein perfekter Spätsommertag.

Chris und ich gehen nebeneinander an dem steinigen Ufer entlang ohne viel zu sagen. Es ist nicht nötig. Das Schweigen ist nicht peinlich.

Ab und zu wirft Chris den Tennisball weit in den Fluss und Wolf sprintet fröhlich bellend hinterher um ihn dann brav wieder zurückzubringen, damit das Spiel von Neuem beginnen kann.

“Was machst du denn heute Abend?” bricht Chris dann nach einiger Zeit das Schweigen. Es hört sich fast ein wenig schüchtern an. Irgendwie passt das nicht ganz zu ihm.

“Bis jetzt noch nichts. Wieso?”

„Wenn Du willst könnten wir heute zusammen weggehen. Einfach irgendwas unternehmen.“

Natürlich möchte ich, aber ich will ihn noch ein bisschen zappeln lassen.

“Hmm. Ich weiß nicht so recht. Du bist ja ganz nett, aber ich wollte heute eigentlich lieber etwas mit meinen richtigen Freunden unternehmen”, sage ich und warte ich ein paar Sekunden. Chris’ Gesicht wird immer länger und eine Spur von Wut kommt in seine Augen.

Hey, ihm scheint ja wirklich daran zu liegen, dass ich heute Abend dabei bin.

Ich lächle breit und sage dann:

“Natürlich bin ich heute Abend dabei. Ich kann doch einem Jungen mit einer vollen Flasche Wodka nichts abschlagen.”

Jetzt merkt Chris, dass ich ihn verarscht habe und reagiert mit Emotionslosigkeit in ihrer allerhöchsten Form.

“Du Arsch!” Er packt mich an der Hüfte und schleift mich in das erstaunlich kalte Wasser.

“Hey, das war doch nur… “ Weiter komme ich nicht, denn er hat mich mit einem gekonnten Hüftwurf unter Wasser befördert. Prustend komme ich wieder hoch und versuche Chris ins Wasser zu zerren. Wolf hat sich uns angeschlossen und tobt bellend um uns herum. Nach einem ausgiebigen Ringkampf, bei dem wir beide mehrfach unter Wasser sind, geben wir schließlich auf.

Wir schleppen uns ans Ufer und liegen nebeneinander auf den glatten Steinen. Wolf scheint sich auch ausgetobt zu haben und liegt neben Chris, der ihm den Bauch krault. Apropos Bauch, meiner beschwert sich schon wieder heftig. Mit der nächsten Runde sollte ich wohl warten, bis ich wieder ganz fit bin.

„Nur fürs Protokoll: Ich habe gewonnen!“ meine ich, nachdem ich wieder Luft bekomme.

„Träum weiter. Ich hab dich nur geschont“, antwortet Chris lachend.

„Ach ja?“

Chris dreht sich blitzschnell zu mir, schwingt sein rechtes Bein über mich und setzt sich auf mich. Meine beiden Hände hält er weit auseinander am Boden und grinst mich herausfordernd an.

„Ja!“

Sein Gesicht ist nur ein paar Zentimeter über Meinem. Sein Atem riecht noch immer leicht nach Pfefferminz und ich bin total gefangen in seinem Blick. Ich spüre, wie meine Hose deutlich zu eng für ihren Inhalt wird.

„Und jetzt?“ frage ich ihn.

„Da fällt mir schon was ein“, meint er.

Sein Gesicht kommt meinem noch näher und

„MAMA! Kommst Duuu?“ Unsere beiden Köpfe schnellen herum und wir sehen ein kleines Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, das bei den Felsen steht, auf denen wir gesessen sind. Es sieht zu den Bäumen und schreit schon wieder mit dieser unglaublich hellen, enervierenden Stimme:

„MAMAAA!“

Chris sieht mir wieder in die Augen und meint lächelnd:

„Vom Gong gerettet. Glück gehabt.“ Damit lässt er meine Hände los und steht auf.

Er streckt mir seine Hand hin und hilft mir hoch. Als ich aufgestanden bin meint Chris grinsend:

„Das solltest Du lieber wegstecken. Du erschreckst sonst das Kind.“ Verwirrt folge ich seinem Blick zu meinem Schritt und sehe, was er meint. Meine Hose geht mir im Augenblick ziemlich genau 16 cm voraus.

„Shit!“ Schnell klemme ich meinen Schwanz in den Hosenbund und versuche dabei verzweifelt nicht wie ein Perverser auszusehen.

Wieder könnte ich schwören, Gott irgendwo lachen zu hören.

Gemeinsam gehen wir zu den Felsen zurück und ziehen uns unsere T-Shirts wieder an. Dann bricht auch schon die Mutter der kleinen Göre schnaubend durchs Unterholz. Sie ist eine unglaublich dicke Person in einem riesigen, knallgelben Sommerkleid. Sie erinnert mich an einen Bären, der sich in einem Zirkuszelt verheddert hat. Mit kleinen funkelnden Augen und bebenden Nüstern steht sie da und sieht zu uns herüber. Dann gewinnt ihr gewaltiger Mutterinstinkt die Oberhand und sie brüllt quer über den Strand:

„JANINE! Komm sofort hierher!“

Zumindest ist damit klar, von wem die Kleine ihre liebliche Stimme hat. Das Mädchen sieht uns nochmal interessiert an und folgt dann der geballten Autorität der großen gelben Gefahr.

„Was habe ich Dir über Fremde gesagt?!“ fährt die Bärenmutter ihr Junges an während sie es am Arm zurück ins schützende Dickicht zieht. Chris und ich sehen uns an und lachen los.

„Komm, machen wir uns auf den Rückweg.“

Während wir zurück zu Chris Wohnung gehen, reden wir über alles Mögliche. Wir führen eine angenehm belanglose Unterhaltung und tun so, als wäre nichts passiert.

Gut, genau genommen ist ja auch nichts passiert. Mich beschäftigt eher, das, was da fast passiert wäre. Wenn nicht dieses laute Gör mit ihrer Bärenmutter aufgetaucht wären.

Ich hätte ihn fast geküsst!

Dieser Gedanke hallt immer wieder durch meinen Kopf.

Was mir dabei vor allem Angst macht ist, dass es mir gefallen hat. Als ich Chris berührt habe, war ich unglaublich aufgeregt und es fühlte sich so unbeschreiblich gut an. So weich und warm und so... lebendig.

Na toll, ich hätte fast einen Jungen geküsst!

Zum Glück sind wir inzwischen wieder bei Chris Wohnung angekommen, und er reißt mich aus meinen Gedanken.

“Ich lass Dir den Vortritt in der Dusche, ich muss sowieso erstmal Wolf füttern”, schlägt Chris vor während er die Tür aufschließt. Wolf scheint genau zu wissen, was jetzt kommt, denn er starrt Chris schwanzwedelnd und voller Erwartung an. Fehlt nur noch sein Futternapf im Maul.

“Okay, ich beeil mich”, sage ich lächelnd und trete ein.

“Nimm einfach irgendein Handtuch, ist egal welches. Sind sowieso alle dreckig”, ruft Chris mir hinterher. Ich bleibe abrupt stehen, drehe mich um und blicke wieder mal in Chris grinsendes Gesicht.

“Nur ein Scherz”, meint er dann verschmitzt und fügt hinzu:

“Die sind sauber. Hab ich erst vor einem Monat gewaschen.” Dieser Junge macht mich noch fertig. Kopfschüttelnd gehe ich ins Bad und ziehe meine Sachen aus. Noch immer lächelnd blicke ich in den Spiegel.

‚Schwuchtel!’ Eine kleine gemeine Stimme in meinem Hinterkopf spricht schließlich aus, wovor ich Angst habe. Ich sehe, wie mein Lächeln gefriert.

Nein!

‚Schwanzlutscher!’

Nein!

‚Verfluchter Hinterlader!’

NEIN!“

„Alles klar bei Dir?” fragt Chris durch die geschlossene Tür. Anscheinend habe ich laut gedacht.

“Ja alles klar“, presse ich hervor, während mich dieser Junge aus dem billigen Spiegel voller Verachtung anstarrt.

‚Schwul? Ich?’

Das kann nicht sein!

Oder?

Okay, ich mag Chris wirklich. Aber deshalb bin ich doch nicht gleich schwul.

Nein, er ist nur ein Freund. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Genau! Nur ein Freund.

Dann sehe ich Chris, wie er auf mir sitzt und meine Arme am Boden festhält. Sein lächelndes Gesicht mit den unglaublichen Augen nur Zentimeter über mir. Sein Mund nur eine kleine Bewegung von einem Kuss entfernt. Diesmal gibt es kein kleines Gör, das uns stört. Keine Bärin bricht durchs Geäst. Diesmal küssen wir uns. Als unsere Lippen sich endlich sanft berühren gibt es eine stille Explosion in meinem Bauch.

Mein Schwanz steht knallhart von meinem Körper ab.

Verliebt!

Scheiße, bin ich wirklich dabei mich in Chris zu verlieben?

Ich schüttle den Kopf um diesen Gedanken schnell wieder los zu werden.

‚Und wenn schon?’ Das ist eine andere Stimme, ruhiger, gefasster.

Wie, und wenn schon? Ich habe mich in einen Jungen verliebt!

‚Ja, Du hast Dich verliebt. Und ja, in einen Jungen. Na und?’

Und ...und ...

Mir fällt nichts ein.

Das ist jetzt alles zu viel für mich. Zuerst die Erinnerungen an Sebastian und dann auch noch dieser Beinahe-Kuss. Dieser Tag war bis jetzt eine einzige emotionale Achterbahnfahrt.

Mit einer gewaltigen Anstrengung schiebe ich diese ganzen Gedanken zur Seite und ziehe mich aus. Mechanisch steige ich in die Dusche und versuche alles abzuwaschen.

Und tatsächlich fühle ich mich etwas besser, als ich mich hinterher in eines von Chris Handtüchern wickele. Dann fällt mir ein, dass ich ja keine Sachen zum Wechseln dabei hab also gehe ich nur mit dem Handtuch bekleidet ins Wohnzimmer. Dort haben es sich Chris und Wolf mittlerweile auf der Couch bequem gemacht. Chris hat die Augen geschlossen und krault leicht Wolfs Kopf, der auf seinem Oberschenkel liegt.

Es ist ein unglaubliches Bild; so voller Frieden und Vertrauen. Ich stehe eine Ewigkeit einfach nur da und versuche jede Einzelheit dieses Bildes in mich aufzunehmen, unfähig es zu stören. Chris Kopf ist ein wenig zur Seite geneigt und er hat einen unglaublich zufriedenen Gesichtsausdruck.

Tief in mir weiß ich, dass ich hier und jetzt genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit bin. Es ist ein Gefühl, wie wenn man nach einer langen Reise wieder nach Hause kommt. Man weiß einfach, dass man an diesen Ort und zu diesen Menschen gehört.

“Also ich will euch ja nicht stören, aber das Bad wäre jetzt frei”, sage ich leise.

Chris öffnet leicht die Augen und wieder habe ich das Gefühl von ihm gemustert zu werden. Er lächelt leicht.

“Bin schon unterwegs.” Und macht keine Anstalten aufzustehen.

Ich setze mich also neben Chris, und beginne auch Wolfs Kopf zu streicheln. Der muss sich inzwischen wie im siebten Hundehimmel fühlen, bei der Aufmerksamkeit, die er bekommt.

Ich merke wie ich ruhiger werde und mich entspanne.

Ich habe mich in Chris verliebt.

Das ist eine Tatsache.

Kapitel V: schmerzhafte Neugier

Ich denke wir müssen beide ein wenig eingenickt sein, denn das nächste, was ich weiß ist, dass Chris Kopf an meiner Schulter lehnt und er selig schlummert. Es ist inzwischen dunkel geworden. Nur das fahle Licht einer Straßenlampe, die vor dem Fenster hängt, taucht das Wohnzimmer in ein angenehmes, gelbliches Licht. Ich möchte Chris eigentlich nicht aufwecken, aber mein Arm ist inzwischen eingeschlafen und außerdem muss ich aufs Klo. Also versuche ich so behutsam wie möglich Chris Kopf auf die andere Seite zu bewegen. Natürlich wird er trotzdem davon wach.

“Hmm, noch fünf Minuten.” Er sieht wieder aus, wie ein kleines Hundebaby und ich muss lächeln.

“An sich gerne, aber dann wirst Du wohl einen neuen Couchbezug brauchen”, versuche ich ihm den Ernst meiner Lage zu erklären.

“Okay, brauche ich sowieso”, meint er und bringt seinen Kopf in eine angenehmere Lage an meiner Schulter, macht aber keinerlei Anstalten mich gehen zu lassen.

Ich seufze leise und schiebe unter leichtem Protest seinen Kopf weg. Als ich im Bad fertig bin und zurück ins Wohnzimmer komme, hat sich Chris komplett auf die Couch gelegt und sieht mich an. Mir fällt ein, dass ich noch immer nur ein Handtuch trage.

“Ich hasse es, Dich zu fragen, aber hast Du vielleicht nochmal was zum Anziehen für mich?” meine ich verlegen.

“Klar, ich bin sowieso der Meinung, dass Du in meinen Sachen viel besser aussiehst, als in Deinen eigenen.” Na toll ein Kompliment und eine Beleidigung in einem Satz, der Junge ist wirklich gut.

“Bedien’ Dich einfach, Du weißt ja, wo alles liegt.” Das weiß ich allerdings. Es ist ja nicht zu übersehen. Es liegt alles auf der Matratze. Also beginne ich mich durch Chris gesammelte Garderobe zu wühlen und entscheide mich schließlich für eine an mehreren Stellen zerrissene Jeans und ein T-Shirt mit einem Bandnamen, den ich noch nie gehört habe.

Na ja, ich hoffe zumindest, dass das ein Bandname ist.

Jetzt stellt sich nur noch die Frage, wo ich mich umziehen soll.

Es ist ja auch blöd, wenn ich dafür ins Bad gehe. Und Chris hat mich ja sowieso schon nackt gesehen. Also drehe ich ihm den Rücken zu und löse das Handtuch von meinen Hüften. Sofort höre ich einen anerkennenden Playboy-Pfiff von Richtung Couch. Und sofort werde ich rot, muss aber auch etwas schmunzeln.

“Schon eine Idee, was wir heute machen könnten?” frage ich, um ihn von meinem Hintern abzulenken.

„Hmm, Stefan?“

„Ja?“

„Nur so als kleiner Rat: Du solltest so eine Frage nie stellen, wenn Du jemanden deinen nackten Hintern entgegenstreckst“, ermahnt mich Chris während mein Körper wieder mal ausprobiert, wie viel Prozent meines Blutes in meinen Schädel passen. Im Augenblick ist er bei 60%, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er die 70%-Marke heute noch knacken wird.

„Guter Rat. Sprichst Du dabei aus eigener Erfahrung?“ will ich wissen, während ich die Jeans zuknöpfe.

„Wenn Du wüsstest...“, antwortet Chris lachend.

„Was ist jetzt mit heute Abend? Ideen? Wünsche? Anträge?“

“Keine Ahnung. Wir machen, was immer Du willst.” Chris richtet sich langsam auf, und stupst Wolf leicht an, dass er von ihm runter geht.

„Ich würde eigentlich gern nochmal ins Barfly gehen um zu sehen, ob ich mich vielleicht an irgendwas erinnern kann“, schlage ich vor.

„Klar, wenn Du willst. Aber hältst Du das für eine gute Idee? Wenn man bedenkt, wie dein letzter Besuch geendet hat...“ Chris zeigt mit dem Finger auf meinen doch recht farbenfrohen Oberkörper.

„Genau genommen hat mein letzter Besuch hier bei Dir geendet. Gut, das war schon sehr unangenehm, aber es muss ja nicht jedes Mal in einer Katastrophe wie dieser hier enden“, meine ich mit ernstem Gesicht.

„Da mach Dir mal keine Sorgen, das nächste Mal las ich Dich sowieso liegen. Jetzt, wo ich dich kenne...“, erwidert Chris mit einem Gähnen.

„Schön, dass wir uns da einig sind.“

„Du sagst es.“ Damit macht er sich jetzt auf den Weg ins Bad.

Mit keinem meiner bisherigen Freunde hätte ich mir eine Unterhaltung wie diese vorstellen können. Chris scheint genau zu wissen, wann ich etwas ernst meine, und wann nicht. Ich mag ihn von Minute zu Minute mehr.

Chris kommt wieder aus dem Bad und geht zu dem gewaltigen Kleiderhaufen auf der Matratze. Nach ein paar Minuten hat er gefunden, was er sucht, und beginnt sich umzuziehen. Ich versuche verzweifelt und äußerst erfolglos nicht hinzusehen. In dem trübgelben Licht der Straßenlampe vor dem Fenster sieht er einfach fantastisch aus. Er hat genau die richtige Menge an Muskeln. Nicht übertrieben muskulös aber gut definiert. Und sein Hintern ist einf...

„Wenn Du mich noch länger so anstarrst, verlange ich Geld dafür.“

Was? Wie zur Hölle...?

Scheiße!

An der Wand gegenüber hängt ein Spiegel!

Und aus dem schaut mich Chris frech grinsend an während er seine zerschlissenen Jeans hochzieht. Jetzt hat mein Körper locker die 70%-Marke geknackt.

„Ich...ähh...wollte nur...ahh...“ Na toll, wieder einmal ein genialer Satz von unserem schlagfertigen Stefan. Man möchte meinen, mit so viel Blut im Kopf müsste ich einen vernünftigen Satz zusammenbringen.

„Ist schon okay, ich fasse das einfach als Kompliment auf“, erlöst mich Chris schließlich von meinem Leiden.

Nachdem Chris sich fertig angezogen hat machen wir uns auf den Weg ins Barfly. Wolf scheint ganz glücklich zu sein, dass er in der Wohnung bleiben darf. Jedenfalls schläft er schon tief, als wir beide aufbrechen.

Ich liebe meine Stadt bei Nacht.

Oft streife ich in der Dunkelheit durch ihre leeren Strassen. Atme den dunklen Geruch in ihren verlassenen Gassen ein und höre auf ihre Geräusche; das entfernte Auto, das heisere Bellen eines großen Hundes, die leise Musik, die aus einem hellen Fenster zu mir herabfällt. Das geschäftige Treiben des Tages ist um diese Zeit nur noch ein entferntes Echo, das von den hohen Häusern wider hallt.

Und meist stelle ich mir dabei vor jemand anders zu sein.

Aber nicht heute Nacht.

Heute Nacht bin ich glücklich neben Chris durch die engen kopfsteingepflasterten Gassen meiner Stadt zu gehen. Es ist angenehm warm und wir haben fast Vollmond.

Nach etwa 15 Minuten biegen wir in eine schmale Seitengasse ein und sind am Ziel. Eine nervös flackernde, blaue Neonschrift über der Tür verrät uns, dass wir hier richtig sind.

Na ja, genau genommen verrät uns die hyperaktive Neonschrift, dass wir vor dem „B rfly“ stehen. An einer Straßenlampe ein paar Meter neben dem Eingang lehnt ein Mann, der sich gerade herzhaft übergibt. Gedämpfte Rockmusik dringt durch die beschädigte Holztür zu uns nach draußen. Ich zweifle langsam daran, ob das hier wirklich eine gute Idee ist. Die Gegend hier ist alles andere als sicher. Und selbst wenn ich mit Chris neben mir keine Angst habe, ganz wohl fühle ich mich auch nicht.

„Willst Du lieber wieder gehen?“ fragt mich Chris, der mein Zögern wohl bemerkt hat.

Hmm, gute Frage. Will ich?

Eigentlich möchte ich im Augenblick nichts lieber, als wieder neben Chris auf seiner Couch zu sitzen. Aber irgendwas ist passiert, als ich das letzte mal hier war und ich habe keine Ahnung, was das war.

Okay, die Fakten sind klar: ich wurde zusammengeschlagen und dann einfach im strömenden Regen auf dem Bürgersteig abgelegt. Aber ich möchte zu gern wissen, wie es dazu gekommen ist.

„Stefan? Alles klar?“

„Ja, alles klar. Lass uns reingehen“, antworte ich und versuche dabei zu lächeln.

„Okay.“ Chris öffnet die schwere Tür und wir treten ins Halbdunkel.

Ich folge Chris durch einen kleinen Vorraum in einen schmalen Gang, der nach etwa 10 Metern in den eigentlichen Gastraum mündet. Dichter Zigarettenrauch hängt in der Luft und zeichnet deutlich die Lichtstrahlen der Thekenbeleuchtung nach. Es riecht nach schalem Bier und nach längst abgelaufenen Träumen. Die dunkelbraune Holztheke, die in der Mitte des Raumes steht, ist u-förmig und recht lang. Sicher an die sieben Meter auf jeder Seite. Rechts und links davon stehen einfache Holztische an der Wand. Dort sitzen auch schon einige Leute, die uns abschätzend mustern. Die einzigen Lichtquellen sind allerdings die Strahler, die über der Theke hängen, so dass die Tische im Halbdunkel stehen und ich die Gesichter nicht richtig erkennen kann.

An einem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite der Theke sitzen ein paar Glatzen und diskutieren recht lebhaft über irgendwas. Einer wird auf uns aufmerksam und sieht mich direkt an. Für einen Augenblick meine ich Überraschung in seinem Blick zu erkennen. Sicher kann ich mir allerdings nicht sein, weil er zu weit weg ist, und mich das Licht von der Theke blendet. Aber irgendwie kommt er mir bekannt vor. Chris hat sich in der Zwischenzeit auf einen freien Hocker an der Bar gesetzt und ich setze mich daneben. Kaum habe ich Platz genommen, steht auch schon der Barkeeper, wie aus dem Nichts vor uns.

„Was?“ schnauzt er uns an. Er ist ein fetter Kerl, Mitte dreißig, mit einem gewaltigen Bierbauch, der über seine fleckige, weiße Schürze hängt. Auf seinem schwarzen T-Shirt, das aussieht als würde es jeden Augenblick aus allen Nähten platzen, steht in grünen Buchstaben: ‚The customer is always wrong!’

Sein Atem stinkt widerlich nach totem Bier. Seine tiefliegenden Augen verschwinden fast unter einer einzigen buschigen Augenbraue und er sieht uns an, als würde er Alles andere lieber tun, als uns zu bedienen.

Wir sollten einen Anthropologen anrufen. Der Neandertaler hat es doch in die Neuzeit geschafft.

„Ein Corona und einen braunen Tequila“, antwortet Chris freundlich.

„Für mich das gleiche“, schließe ich mich an.

Er sieht mich einige Zeit nur an und sagt dann:

„Ich will hier keinen Ärger, ist das klar?“ Okay, ich war wohl wirklich schon mal hier.

„Hey, ich sitze hier ganz friedlich“, verteidige ich mich, während ich seinem Blick standhalte.

„Ja, genau wie das letzte Mal.“ Damit dreht er sich um und holt unsere Getränke.

„Tja, anscheinend hat er dich schon mal kennen gelernt“, meint Chris mit einem Grinsen.

„Anscheinend. Dummerweise kann ich mich noch immer nicht erinnern. Das alles hier kommt mir schon irgendwie bekannt vor, aber das war’s auch schon“, meine ich resigniert.

Von unserem Platz aus haben wir einen recht guten Blick auf die Glatzen, die schon wieder heftig am diskutieren sind. Ab und zu blickt der eine oder andere in unsere Richtung. Das liegt wahrscheinlich an Chris. Immerhin sieht man recht deutlich an seinem Irokesenschnitt, dass er ein Punk ist. Und da ich Chris’ Sachen trage könnte man mich wohl auf diese Entfernung und bei diesem Licht auch für einen Punk halten. Jetzt steht einer von ihnen auf, sieht noch einmal zu uns her und verschwindet dann in einem Gang, der zu den Toiletten führt.

Mit einem lauten Knall stellt der Barkeeper unsere zwei Corona und zwei Schnapsgläser auf den Tresen wobei er mich noch mal böse anfunkelt. Kurz darauf kommt er wieder und schenkt die Tequilas ein.

Chris hebt seinen Tequila hoch, sieht mich an und sagt:

„Auf uns.“ Dem schließe ich mich gerne an.

„Auf uns.“

Eine zeitlang sieht mich Chris einfach nur weiter an und ich verliere mich fast in seinen dunkelbraunen Augen. Die Zeit hat keinerlei Bedeutung mehr für mich. Ich könnte ewig in diese Augen blicken und wäre zufrieden.

„Auf uns“, wiederholt Chris schließlich und kippt sich den Tequila hinter die Binde. Nach einem kurzen Zögern tue ich es ihm gleich.

Gott, tut das gut!

Dann spülen wir das ganze mit einem kräftigen Schluck Corona hinunter. Es ist immer wieder ein tolles Gefühl, wenn man seine guten Vorsätze in Alkohol ertränkt.

Zwei weitere Tequilas und ein Corona später fordert schließlich die Natur ihren Tribut.

„Ich bin gleich wieder da. Bestellst Du mir noch einen Tequila?“ frage ich Chris während ich von meinem Barhocker rutsche.

„Klar.“

Ich mache mich auf den Weg durch den dichten Rauch nach hinten, wo ich die Toiletten vermute. Am Ende des Raumes ist eine dunkle Holztür.

Ich zögere etwas vor der Tür, weil ich nirgends ein Schild finden kann, gehe aber dann doch hindurch. In dem engen, gefliesten Gang ist es noch dunkler als in der Bar. Aber dem Geruch nach zu urteilen müssen hier die Toiletten sein. Der Gang führt geradewegs auf eine schwere Eisentür zu, wahrscheinlich der Hinterausgang. Auf der linken Seite sind zwei Türen. Die Erste ist verschlossen und die Zweite hätte es besser sein sollen.

Auf den dreckigen Fliesen, direkt hinter der Tür kniet ein Junge, etwas älter als ich, in seiner eigenen Kotze. Der säuerliche Geruch von Erbrochenen liegt schwer in der Luft und reflexartig muss ich würgen. Schnell mache ich die Tür wieder zu.

Bleibt nur noch der Hinterausgang.

Über der Eisentür hängt ein defektes Notausgang-Schild, das ständig flackert und nur noch an einem dünnen Draht hängt. Mit einiger Mühe und unter lautem Quietschen drücke ich die schwere Tür auf und gehe hindurch.

Ich stehe in einer engen Gasse, gerade breit genug für ein einzelnes Auto. Rechts endet die Gasse nach ein paar Metern an einem hohen Gitterzaun. Links geht sie weiter und trifft im rechten Winkel auf eine größere Strasse. Eine einzelne Straßenlaterne wirft ihr gelbes Licht auf die trostlose Szene. Auf dem unebenen Kopfsteinpflaster liegt jede Menge Müll und der intensive Geruch von menschlichem Urin hängt in der schwülen Sommerluft. Ich versuche nur noch flach zu atmen. Rechts neben der Tür steht ein großer, roter Müllcontainer, der schon gut gefüllt ist.

Das wird gehen.

Ich pisse hinter dem Container an die dunkelgraue Wand und habe dabei ein ungutes Deja-vu-Gefühl.

Hier war ich schon mal.

Ich versuche mich zu erinnern. Aber je mehr ich mich anstrenge, desto mehr scheint mir die Erinnerung zu entgleiten. Es ist wie wenn man Götterspeise in der Hand hält. Je fester man die Hand schließt, desto weniger kann man davon festhalten.

Ein leichter Windhauch kommt auf und weht durch den Gitterzaun. Ich halte mein Gesicht in den warmen Sommerwind und erlaube mir das erste mal seit ich hier draußen bin wieder normal zu atmen. Die Luft riecht frisch und vertreibt ein wenig den dunklen Gestank in dieser Gasse.

Da höre ich ein Auto, das näher kommt. Es ist das tiefe, kraftvolle Brabbeln eines großen Motors knapp über Leerlaufdrehzahl. Kurz darauf wird er abgestellt und es ist wieder still. Aber diesmal ist es eine gespannte Stille. Fast wie ein kurzes Innehalten der Welt. Es ist die Art von Stille, bei der sich einem die Nackenhaare sträuben und sich jeder Muskel unwillkürlich anspannt.

Ich habe das überwältigende Verlangen wieder Reinzugehen und unter Menschen zu sein.

Schnell packe ich meinen Schwanz ein und trete hinter dem Müllcontainer hervor.

Am anderen Ende der Gasse steht ein schwarzer Sportwagen. Wahrscheinlich irgendein amerikanisches Fabrikat. Mustang, oder Corvette vielleicht. Geduckt, wie ein Raubtier, scheint er dort zu warten, füllt fast die gesamte Breite der Gasse aus.

Worauf wartet der?

Wenn ich ehrlich bin, dann will ich es eigentlich gar nicht wissen.

Ich gehe zurück zur Tür.

Scheiße! Da ist kein Griff!

Klar, wie bei den meisten Notausgängen!

Ich hätte was in die Tür klemmen sollen. Ich bin ein Idiot!

Ich fahre mit den Händen am Türspalt entlang und versuche Halt zu finden. Aber ohne Erfolg.

Okay, dann muss ich wohl außen rum gehen.

Während ich versuche die aufkeimende Angst in mir zu unterdrücken, gehe ich langsam die Gasse entlang, den Blick auf den Boden gerichtet, auf das schwarze Auto zu.

Nach ein paar Schritten, flammen plötzlich die Scheinwerfer auf und tauchen alles in gleißende Helligkeit.

Geblendet bleibe ich stehen. Ich schirme meine Augen mit der Hand ab und versuche meinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen.

Dieser Wichser!

Da höre ich, wie hinter mir die Tür des Notausgangs geöffnet wird. Dumpfe Musik dringt in die enge Gasse.

‚..Hide my head, i wanna drown my sorrow. No tomorrow. No tomorrow...’

Meine Rettung!

Schnell drehe ich mich um und mache einen Schritt auf die Tür zu. Dann erkenne ich, wer die Tür geöffnet hat und bleibe abrupt stehen. Zwei der Glatzen von vorhin sehen sich im grellen Scheinwerferlicht um.

Hinter mir wird eine Autotür geöffnet.

‚...And i find it kind of funny, i find it kind of sad...’

Die beiden Glatzen sehen mich und kommen breit lächelnd auf mich zu. Der eine ist ein paar Zentimeter kleiner als ich und kräftig. Er hat eine schiefe Nase, und sieht wie ein Schläger aus. Der Andere ist sehr groß, fast zwei Meter würde ich schätzen und schlank. Er sieht eigentlich ganz und gar nicht, wie ein typischer Skin aus. Beide tragen Bomberjacken und Jeans. Hat etwas von Dick und Doof, wie sie auf mich zu kommen.

‚...The dreams in which i’m dying are the best i’ve ever had...’

Die haben es auf mich abgesehen.

Das war geplant.

Ich bin sowas von im Arsch!

‚...I find it hard to tell you. I find it hard to take...’

„Du hättest nicht wieder herkommen sollen“, meint der Kleinere mit einem Kopfschütteln und dem enttäuschten Gesichtsausdruck eines Vaters, der seinen Sohn beim Klauen erwischt hat.

‚...When people run in circles...’

„Ich hätte nicht gedacht, dass Du so blöd bist.“ Ich will ihm gerade sagen, dass ich keine Ahnung habe, wovon er redet, da höre ich ein Knirschen hinter mir.

Ein stechender Schmerz explodiert in meinen Hinterkopf.

Der Kerl aus dem Auto!

Dann versinken die schmutzige Gasse und die Glatzen in gnädiger Dunkelheit und von ganz weit weg höre ich noch leise die Musik.

‚...it’s a very, very... mad world...’

Kapitel VI: Böses Erwachen

Ich liege neben Chris in seinem Bett. Sein Kopf liegt auf meiner Brust und seinen rechten Arm hat er um meine Hüfte geschlungen. Vor ein paar Minuten ist er eingeschlafen.

Ich spüre, wie er ganz ruhig atmet; er scheint sich sehr wohl zu fühlen. Irgendwo am Fußende des Bettes liegt Wolf. Ab und zu spüre ich, wie er im Traum zuckt. Wahrscheinlich jagt er wieder seinem Tennisball hinterher.

Abgesehen von dem gelegentlichen Geräusch eines vorbeifahrenden Autos ist es absolut still im Zimmer. Wir haben die Fenster offen gelassen, weil es heute verflucht heiß war. Ein leichter Wind weht die orangen Gardinen ins Zimmer und bringt etwas Abkühlung. Vorsichtig ziehe ich die dünne Decke, die über unseren Beinen liegt, über Chris Oberkörper. Ich weiß, wie schnell er friert. Dann küsse ich ganz sanft seinen Kopf und streiche über seinen kurzen Irokesenschnitt. Er bewegt sich leicht und murmelt irgendwas. Dann kuschelt er sich stärker an mich.

Ich habe noch nie jemanden so geliebt, wie Chris in diesem perfekten Moment. Und ich bezweifle, dass ich jemals wieder so lieben werde.

Wieder werden die Gardinen ins Zimmer geweht. Die Luft, die hereindrängt, ist diesmal viel kälter und feuchter. Faulig und schwer vom Gestank nach Kot und Urin schwappt sie in den Raum. Von draußen hört man aufgeregtes Diskutieren und schallendes Gelächter. Chris hebt seinen Kopf von meiner Brust und sagt sanft:

„Zeit aufzuwachen.“ Dann schlägt er mir mit voller Wucht in den Magen.

Ich krümme mich zusammen. Der Schmerz ist überwältigend und füllt meine gesamte Welt. Mein Atem kommt nur noch stoßweise und ich habe den widerlichen Geschmack von Magensäure im Mund. Ich schlucke heftig.

Jetzt bloß nicht übergeben.

„Ich hoffe ich habe Dir nicht wehgetan.“ Die Stimme trieft geradezu vor Sarkasmus. Die Bemerkung wird mit rauem Gelächter quittiert.

Das ist nicht Chris.

Ich öffne die Augen.

Ich liege in einer braunen, dreckigen Pfütze auf hartem, kaltem Beton. Jemand steht über mir und sieht auf mich herab. Schwer zu sagen, wer das ist, weil die einzige Lichtquelle genau hinter ihm zu sein scheint und so sehe ich nur seinen Schattenriss. Aber Eines kann ich genau erkennen: Er hat eine Glatze. Wenn ich raten müsste, dann würde ich sagen, dass es der Dicke von Dick und Doof ist.

„Schön, dass Du uns hier Gesellschaft leistest.“

Das ‚hier’ scheint eine Art Kellerraum zu sein; recht groß, mindestens 5 auf 10 Meter schätze ich. Genau sagen kann ich es nicht, weil ich nicht weiß, wie der Raum hinter mir weiter geht. Die Wände sind mit schlechtem Graffiti und obszönen Zeichnungen übersät. Auf dem Boden liegen einige schmutzig-graue Matratzen. Soweit ich sehen kann gibt es keine Fenster. In der Wand zu meiner Rechten ist eine Türöffnung ohne Tür. Es ist dunkel dahinter. Ich versuche mich aufzurichten und merke, dass meine Hände gefesselt sind. Wahrscheinlich mit Kabelbindern, dem Gefühl nach. Mit einiger Mühe und unter scharfem Protest meines Bauches schaffe ich es schließlich doch mich hinzuknien. Von dem Schmerz und der Anstrengung bin ich ziemlich außer Atem. In der dreckigen Pfütze in der ich knie sehe ich mein Spiegelbild. Mein Gesicht ist schmutzig und meine Haare hängen mir nass und strähnig in die Stirn.

Na ja, warum sollte ich auch besser aussehen, als ich mich fühle.

Das Pochen in meinem Magen ist ein wenig abgeklungen und ich habe nicht mehr das Gefühl jeden Augenblick kotzen zu müssen. Aber mein Kopf hämmert wie verrückt und ich habe Probleme mich zu konzentrieren.

„Was wollt ihr?“ bringe ich schließlich erschöpft hervor. Mit den Händen prüfe ich wie eng die Fesseln sitzen. Ziemlich fest, Scheiße!

„Sicherheit“, antwortet der Schatten und tritt zur Seite. Ich werde von dem Licht einer einzelnen, nackten Glühbirne geblendet. Sie hängt in der Mitte des Raumes an einem dünnen Draht von der Decke. An der gegenüberliegenden Wand sitzen zwei weitere Glatzen an einem verrosteten Klapptisch und grinsen mich überlegen an. Ich möchte ihnen den Schädel einschlagen. In dem Einen erkenne ich den Großen von Dick und Doof. Den Anderen kenne ich nicht. Er hat in etwa meine Größe und ist eher schmächtig. Sein Gesicht ist schmal und scharf geschnitten. Kleine dunkle Knopfaugen, funkeln mich böse unter tiefschwarzen Augenbrauen an. Er erinnert mich irgendwie an ein großes Frettchen. Aber der Typ, der mit mir gesprochen hat, scheint eindeutig der Boss hier zu sein.

„Sicherheit? Was soll das denn heißen?“ frage ich, wobei ich mich bemühe meine Stimme noch etwas brüchiger als vorher klingen zu lassen. Was nicht weiter schwierig ist, denn schön langsam wird mir klar, in welcher Situation ich bin. Ich versuche meine wachsende Angst zu unterdrücken. Ich muss unbedingt einen klaren Kopf bewahren.

Der Boss nimmt sich einen weißen Plastik-Klappstuhl, der an der Wand lehnt und kommt auf mich zu. Etwa einen Meter vor mir stellt er ihn mit der Lehne zu mir auf und setzt sich rittlings darauf. Die Arme hat er auf der Lehne verschränkt und sieht mich ernst an. Er ist etwas älter als ich. Ich schätze ihn auf 25 vielleicht 26. Er hat ein markantes, männliches Gesicht mit einem kantigen Kinn und schmalen Lippen. Im linken Ohr funkelt ein kleiner goldener Stecker. Das Licht der Glühbirne spiegelt sich in seiner gut polierten Glatze. Das bemerkenswerteste an ihm sind allerdings seine stahlblauen Augen, mit denen er mich intensiv mustert. Seltsam, fast glaube ich Mitleid in ihnen zu erkennen.

„Wahrscheinlich ist das Alles meine Schuld. Vielleicht habe ich mich bei unserer letzten Begegnung einfach nicht klar genug ausgedrückt“, fängt er dann an zu reden. Er hat eine tiefe, verrauchte Stimme, die in dem großen leeren Raum etwas hallt.

„Wovon redest Du überhaupt?“ frage ich müde.

„Ich habe Dich vorgestern nur aus einem einzigen Grund so glimpflich davon kommen lassen.“ Er macht eine kurze Pause und fährt dann in ernstem Ton fort:

„Weil ich dich respektiere.“ Ich sehe ihn erstaunt an. Was soll das denn jetzt?

„Ja, wirklich! Ich respektiere Dich. Ich meine, so wie Du diesen Idioten mit seiner abgeschlagenen Bierflasche ausgeknockt hast. Mit nur zwei Schlägen! Wow! Du hast mich an mich selbst erinnert. Du bist ein echter Kämpfer.“

Ich sehe ihn einfach nur an und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich keine Ahnung habe, was er da erzählt.

„Aber ich habe gedacht, dass Du mich auch respektieren würdest. Wir hatten eine klare Abmachung. Du hättest Dich nur von dieser beschissenen Bar fernhalten müssen, dann hättest Du Dir diese ganze Scheiße hier ersparen können.“ Er macht wieder eine kurze Pause. Sein Gesichtsausdruck ist seltsam. Es mischen sich zu gleichen Teilen Wut und Enttäuschung darin. Und da wird mir Eines klar:

Er glaubt diesen Scheiß wirklich, den er da verzapft!

Jetzt gewinnt die Panik langsam die Oberhand. Bisher dachte ich, dass sie mir nur eine Abreibung verpassen wollen und das war’s dann. Aber dieser Typ lebt in seiner ganz eigenen Welt. Und er ist wirklich angepisst. Ich fange unweigerlich an zu schwitzen während er seinen kleinen Monolog weiterführt.

„Und wenn Du Dich schon nicht an so eine einfache Abmachung halten kannst, wie kann ich dann sicher sein, dass Du bei der anderen Sache dicht hältst? Siehst Du, darum geht es hier: Sicherheit. Unsere Sicherheit und die unseres Geschäftspartners. Wie können wir sicher sein, dass Du nicht zur Polizei rennst und erzählst, was Du vorgestern in der Gasse gesehen hast?“

Das wird mir jetzt doch langsam zu viel. Ich schüttle den Kopf und kann mir ein bitteres, ironisches Lachen nicht verkneifen. Wahrscheinlich werde ich langsam hysterisch.

„Oh Nein, Darum geht es hier? Ich soll nicht erzählen, was ich gesehen habe?“ frage ich noch immer lachend.

„Was zur Hölle ist daran so komisch?!“ schnauzt er mich wütend an.

„Ob Du es glaubst, oder nicht, aber Ihr seid absolut sicher. Ich kann mich nämlich an nichts mehr erinnern, was an diesem Abend passiert ist“, sage ich noch immer lachend. Das Lachen, so hysterisch und angespannt es auch klingt, hilft mir meine Angst zu unterdrücken.

Seine Faust trifft mich voll an meinem linken Auge. Die Wucht des Schlages lässt mich zur Seite fallen und ich schlage mit dem Kopf auf dem Beton auf. Kurz wird mir schwarz vor Augen und ich sehe Sterne. Meine Kopfschmerzen steigern sich von einem dumpfen Pochen zu einem wütenden Hämmern. Der Schmerz ist so überwältigend, dass mir davon wieder schlecht wird.

„Für wie blöd hältst Du mich eigentlich?“ Mir liegt eine Antwort auf der Zunge, aber ich glaube es ist besser, jetzt den Mund zu halten.

„Selbst wenn ich dir glauben würde, dass Du Dich nicht erinnern kannst. Ich kann das Risiko einfach nicht eingehen. Ich bin vorgestern schon ein Risiko eingegangen, als ich Dich liegen gelassen habe. Nochmal mache ich nicht so einen Fehler.“

Er schüttelt den Kopf, steht langsam auf und geht durch die Türöffnung in den Nebenraum. Als er wieder herein kommt, schleift er einen riesigen Vorschlaghammer hinter sich her. Der schwere, rostige Eisenkopf hinterlässt eine rotbraune Spur auf dem grauen Betonfußboden.

Oh Scheiße!

Er wird es tun.

Mein Gott! Er will mich wirklich umbringen!

Dieser Gedanke hallt immer wieder in meinem Kopf.

Gut einen Meter vor mir bleibt er stehen und sieht auf mich herab.

„Ich möchte, dass Du weißt, dass ich das hier nicht gerne mache. Aber Du lässt mir keine Wahl“, sagt er dann und hat dabei wieder diesen enttäuschten Gesichtsausdruck drauf.

„Keine Sorge, es geht ganz schnell. Du wirst kaum was spüren.“

Na toll, jetzt bin ich beruhigt. Und ich hatte schon Angst, dass mein Tod langsam und schmerzhaft wird. Ich bin schon ein Glückspilz.

Dann ein lautes Poltern über uns, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Vier Köpfe fahren hoch und starren an die graue Betondecke, als könne man durch sie hindurch sehen. Der Boss dreht sich zu den beiden anderen Glatzen um und sagt:

„Andi! Nimm Dir eine der Taschenlampen und sieh nach, was das war. Und versuch, Markus zu finden!“ Das Frettchen nickt eifrig und nimmt sich eine große, schwarze Maglight und einen Baseballschläger von dem Klapptisch. Dann sieht er noch mal zu mir her und ich glaube Enttäuschung in seinen kleinen Knopfaugen zu sehen. Als wolle er unbedingt dabei sein, wenn mir der Boss den Schädel einschlägt.

Ich blicke zu dem Größeren von beiden, der mich gebannt anstarrt. Irgendwas ist seltsam. Wie gesagt, er sieht einfach nicht aus, wie ein Skinhead. Und in seinem Blick liegt Mitleid und Überraschung. So als hätte er keine Ahnung gehabt, auf was er sich da eingelassen hat. Vielleicht haben sie ihm erzählt, dass sie mir nur erschrecken wollen. Ich versuche so Mitleid erregend wie möglich auszusehen. Ein Funken Hoffnung keimt in mir auf.

„Die Unterbrechung tut mir leid“, meint der Boss dann freundlich lächelnd. „Wollen wir weitermachen?“ Mein Blick geht an ihm vorbei zu dem Großen. Ich kann sehen, wie es in seinem Gesicht arbeitet.

Ich ignoriere die Schmerzen und richte mich wieder auf. Nach einer Ewigkeit schaffe ich es schließlich wieder in eine kniende Position.

„Wie wollt ihr eigentlich meine Leiche loswerden?“ frage ich um Zeit zu gewinnen und dem Großen noch mal klar zu machen, um was es hier geht.

Der Boss lächelt noch immer als er mir antwortet.

„Ahh, das ist das Geniale an dem Ganzen. Wir können Dich nämlich einfach hier liegen lassen. Siehst Du, das Gebäude wird in den nächsten Tagen abgerissen.“

Scheiße!

Er scheint sich das wirklich überlegt zu haben. Irgendwie hatte ich gehofft, dass er das Ganze noch nicht richtig durchdacht hat.

„Früher oder später werden sie mich doch finden, wenn sie den Schutt wegräumen“, versuche ich ihn zu verunsichern, doch sein Lächeln wird nur etwas breiter.

„Natürlich, werden sie das. Und dann werden sie eine Autopsie durchführen. Und weißt Du, was sie feststellen werden?“ Er macht eine kurze Pause und fixiert mich mit seinen stahlblauen Augen. Dann geht er in die Knie, so dass unsere Köpfe auf der gleichen Höhe sind. Den Vorschlaghammer legt er quer auf seine Oberschenkel und fährt dann leise fort.

„Genau das, was man erwartet, wenn jemand unter einem Haufen Beton und Stahl begraben wurde. Jede Menge gebrochene Knochen und einen zerschmetterten Schädel. Es wird wie ein Unfall aussehen“, meint er zufrieden, während er den Griff des Vorschlaghammers tätschelt.

Okay, ich muss zugeben, dass das funktionieren könnte.

Mist!

Nichts ist schlimmer, als ein intelligenter Schläger!

Mein Blick gleitet wieder zu der großen Glatze im Hintergrund. Er starrt auf den Boden vor sich und schüttelt leicht den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hat.

„So, wenn Du keine weiteren Fragen hast, würde ich jetzt gerne weitermachen. Siehst Du, ich habe leider nicht allzu viel Zeit.“ Sein Lächeln wird noch ein wenig breiter. „Aber Du ja auch nicht...“

Damit steht er auf und nimmt den Hammer in beide Hände.

„An Deiner Stelle würde ich still halten.“

Nein, das kann nicht sein. Ich kann doch jetzt nicht draufgehen.

Ich kann doch nicht in diesem stinkenden Keller sterben.

Verzweifelt suche ich nach irgendwas, das ich noch sagen könnte. Irgendwas das ihn aufhalten könnte. Doch mein Kopf ist wieder mal völlig leer. Ich kann nur gebannt zusehen, wie er den Hammer immer höher hebt. Panik schnürt mir die Kehle zu. Ich halte den Atem an und frage mich, ob es wehtun wird.

Mit einem lauten Keuchen und einem gedämpften Schmerzensschrei landet das kahle Frettchen auf allen Vieren in der Nähe der Türöffnung auf dem Boden. Er hustet und spuckt dunkles Blut auf den grauen Beton unter ihm. An seiner linken Schläfe klafft eine große Fleischwunde und seine gesamte linke Gesichtshälfte ist blutüberströmt.

„Andi?“ Der Boss scheint völlig perplex zu sein. Das Frettchen dreht langsam seinen Kopf und sieht zu uns her.

Okay, ich glaube nicht, dass er uns wirklich sieht. Seine Augen sind fast geschlossen, so als koste ihn schon das Öffnen zu viel Kraft.

„Was zur Hölle ist denn passiert?“ fragt der Boss dann.

Andi bewegt leicht den Kopf von links nach rechts und bricht dann zusammen.

„Er ist die Treppe runter gefallen.“ Die Stimme aus dem Dunkel der Türöffnung klingt ruhig und sachlich. Es ist eine angenehm raue Stimme. Und ich würde diese Stimme überall wieder erkennen.

Langsam tritt Chris durch die Türöffnung ins Licht.

Er versucht sich aufrecht zu halten, aber ich sehe, dass es ihm schwer fällt. Seinen linken Fuß zieht er ein wenig nach. In der rechten Hand hält er einen blutigen Baseballschläger.

Über dem einen Auge hat er einen üblen Cut und er bekommt es nicht mehr richtig auf. Sein früher mal weißes T-Shirt ist in einem breiten Streifen quer über seine Brust mit Blut bespritzt. Ich hoffe, dass es das Blut von dem Frettchen ist. Trotz allem lächelt er mich an und mein Herz setzt kurz aus.

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