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Lebensangst

Teil 3 - Wie der Vater...

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel VII – Blut und Freiheit

„Du bist ja vielleicht ein blödes Arschloch!“

Der Boss findet als Erster seine Fassung wieder. Na ja fast jedenfalls, denn in seiner Stimme schwingt eindeutig Bewunderung mit. Ich bezweifle, dass ihm das bewusst ist.

„Was ist mit den Anderen?“, fragt er dann scharf.

Chris hebt den Schläger und lehnt ihn locker neben seinem Kopf an die Schulter.

„Ich würde nicht auf sie warten.“ Seine Stimme ist leise, fast nur ein Flüstern.

„Und was hast du jetzt vor?“

„Das ist nicht wichtig. Aber an eurer Stelle würde ich von hier verschwinden.“

„Ach, und warum sollten wir das tun?“, will der Boss wissen und stellt den Vorschlaghammer neben sich auf den Boden.

„Weil ich noch ein paar Anrufe gemacht habe, bevor ich deine Freunde getroffen habe“, meint Chris ruhig, wobei er niemals den Boss aus den Augen lässt.

Eine Ewigkeit sehen sich die beiden nur an. Man kann die Spannung förmlich spüren, die zwischen ihnen in der Luft liegt. Es fühlt sich an wie vor einem heftigen Gewitter, kurz bevor der erste Blitz einschlägt. Ich sehe, wie die große Glatze am Tisch nervös von Einem zum Anderen schaut.

„Komm schon! Verschwinden wir von hier.“ Seine Stimme bricht durch alle Tonlagen, als er das hervorbringt.

Keiner der beiden reagiert darauf. Sie stehen einfach nur da und starren sich an. Die Sekunden scheinen sich zu dehnen, wie Kaugummi.

„Du bluffst.“ Die rechte Hand des Boss greift blitzschnell hinter sich und zieht einen Revolver aus dem Hosenbund unter seiner Jacke hervor.

„VORSICHT!“, schreie ich.

Er bewegt die Hand nach vorne. Der polierte Stahl der Waffe blitzt kurz im Licht der Glühbirne auf. Alles läuft wie in Zeitlupe ab.

Ich lasse mich auf meine linke Schulter fallen. Das dreckige Wasser der Pfütze, in der ich knie, spritzt mir ins Gesicht.

Ich hole den Boss mit meinem rechten Bein von den Füßen und er fällt nach vorn.

Als er auf dem Boden aufschlägt verliert er die Waffe. Sie schlittert über den unebenen Beton und bleibt schließlich vor den Füßen der großen Glatze liegen.

Alle Augen sind jetzt auf ihn gerichtet. Die Zeit scheint still zu stehen. Er bückt sich und hebt sie vorsichtig auf. Dann richtet er sie auf Chris, der wie gebannt auf den blitzenden Lauf der Waffe starrt.

„Gut, leg ihn um.“ Der Boss richtet sich auf und geht einen Schritt auf den Großen zu. Der richtet jetzt die Waffe auf ihn und der Boss bleibt abrupt stehen, als hätte ihn jemand geschlagen.

„Was soll das, Mike?“ Unsicherheit mischt sich in seine autoritäre Stimme, als er das sagt. Die große Glatze - Mike – sieht zuerst ihn und dann mich an, so als wüsste er nicht, für wen er sich entscheiden soll. Ich schüttle leicht den Kopf.

„Du hast gesagt, wir erteilen ihm nur eine Lektion. Nicht dass wir ihn umbringen wollen.“ Seine Stimme zittert mindestens genauso, wie der Revolver in seiner Hand.

„Verstehst du nicht, dass es nicht anders geht? Wir müssen sicher sein, dass er nichts erzählen kann.“ Der Boss erklärt das ganz ruhig. In demselben Tonfall, wie man einem Kind erklärt, dass die Herdplatte heiß ist. Nein, das darfst Du nicht anfassen! Das ist heiß!

„Wir wandern alle in den Knast, wenn er zur Polizei geht. Willst du das?“

Nein, fass das nicht an!

Der Große scheint zu überlegen. Seine unruhigen Augen gleiten von einem zum anderen.

„Aber er kann sich doch an nichts erinnern.“

„Und das glaubst du ihm?!“

Und dann begeht Chris einen Riesenfehler. Er macht einen Schritt auf Mike zu. Keine Ahnung, was er vorhat. Vielleicht denkt er, dass er ihn erreichen kann. Aber Mike muss die Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen haben. Er schwenkt die Waffe herum und zielt wieder auf Chris. Darauf scheint der Boss gewartet zu haben. Er stürzt sich auf Mike.

Ich habe noch nie gesehen, dass sich jemand so schnell bewegt.

Er versucht Mike die Waffe zu entreißen und die beiden ringen heftig miteinander. Für einen Augenblick haben beide ihre Hände auf dem Revolver. Aber der Boss ist einfach zu stark. Er dreht die Waffe unerbittlich auf Mikes Brust zu. Dann ein gedämpfter Knall und beide erstarren in der Bewegung. Mikes Augen werden groß und er sieht den Boss ungläubig an. Der flüstert etwas, dass wie ‚tut mir leid’ klingt. Mikes Atem ist nur noch ein leises Röcheln und kommt stoßweise. Er sinkt vor dem Boss auf den Beton und ich sehe ein kleines, ausgefranstes Loch in seiner Jacke.

Unglaublich, dass so etwas Kleines so einen Schaden anrichten kann!

Der Boss steht jetzt mit dem Rücken zu Chris und der nutzt seine Chance. Er hebt den Schläger und macht einen Schritt auf die Glatze zu. Der Boss wirbelt herum und hebt in der Drehung die Waffe. Aber er ist zu langsam.

Chris’ Schlag trifft ihn voll am Kopf knapp über dem linken Ohr. Es gibt ein dumpfes, klatschendes Geräusch und ich sehe, wie sich seine Augen nach oben verdrehen, bis nur noch das Weiß zu sehen ist. Dann sackt er in sich zusammen und bleibt reglos auf dem Boden liegen.

Chris steht noch ein paar Sekunden über ihm, als wisse er nicht genau, wie es jetzt weitergehen soll. Dann kickt er die Waffe mit dem fuß weg und geht leicht humpelnd auf den reglosen Körper von Mike zu. Er kniet sich neben ihm hin und fühlt mit zwei Fingern seinen Puls an der Halsschlagader. Ich halte den Atem an. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Doch dann sieht mich Chris direkt an und schüttelt den Kopf.

Scheiße!

Jetzt kommt Chris langsam auf mich zu und lächelt müde.

„Du bist einfach abgehauen. Und du hast nie angerufen“, sagt er mit seiner ruhigen, rauen Stimme während er hinter mich tritt.

„Tut mir leid...ich wurde aufgehalten“, bringe ich hervor und möchte losheulen vor Glück und Erleichterung. Ich höre wie ein Taschenmesser aufschnappt und dann werden meine Fesseln durchgeschnitten.

Ich reibe meine Handgelenke und richte mich auf. Mit leicht wackeligen Beinen drehe ich mich zu Chris um. Er steht da, wie ein Boxer nach der zwölften Runde. Aber er steht noch. Ich sehe ihm tief in seine dunkelbraunen Augen. Der Cut über seinem linken Auge blutet zwar nicht stark, aber sein Auge beginnt langsam zuzuschwellen.

Jetzt muss es einfach sein!

Ich nehme sein Gesicht in meine Hände und küsse ihn sanft auf den Mund. In diesem fantastischen Moment scheine ich tief zu fallen, und mein Kopf ist absolut leer. Mein ganzer Körper ist nur noch Gefühl und Empfindung. So als würde ich nur noch in diesem unglaublichen Kuss leben.

Es ist verrückt, wir stehen hier in diesem stinkenden, dreckigen Keller, um uns herum ist Schmerz, Blut und Tod, aber ich möchte um keinen Preis an einem anderen Ort sein. Viel zu früh lösen wir uns schließlich voneinander.

Das war natürlich nicht mein erster Kuss. Aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass ich später immer daran als meinen ersten Kuss denken werde. Der Einzige der zählt.

Erst nach ein paar Sekunden, wage ich es die Augen aufzumachen und sehe Chris, der einen leicht abwesenden Eindruck macht.

“Wow!”, meint er und nimmt mir damit die Worte aus dem Mund.

„Danke“, sage ich leise. „Danke, dass du gekommen bist.“

Chris lächelt etwas verlegen.

„Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen.“

„Alles klar bei dir?“

„Dieses Arschloch da...“, er macht eine Kopfbewegung in Richtung des Frettchens, „hat mich mit dem Schläger am Knie erwischt. Aber es geht schon.“

„Und dein Auge?“, will ich wissen.

„Einer hat am Eingang gewartet. Er hat einen Glückstreffer gelandet. Aber morgen, wenn er aufwacht wird er das noch bitter bereuen. Glaub mir.“ So wie Chris das sagt, läuft es mir eiskalt den Rücken runter.

„Wie hast du mich eigentlich gefunden?“

„Ich erzähle dir die ganze Geschichte, versprochen. Aber vielleicht nicht gerade jetzt und hier.“

„Du hast Recht, verschwinden wir lieber.“

Ich drehe mich um und bücke mich nach der Waffe. Es ist eine 38er Smith&Wesson Modell 66. Der polierte Edelstahl glänzt gefährlich im hellen Licht der Glühbirne über meinem Kopf. Eine schöne Waffe. Mein Vater hat die gleiche in der .357 Ausführung. Nachdem ich den Sicherungshebel umgelegt habe, stecke ich sie unter mein T-Shirt in den Hosenbund. Ich zucke kurz zusammen, als der kalte Stahl meine Haut berührt.

„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, meint Chris mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck, den Blick auf die Waffe gerichtet.

„Keine Sorge, mein Vater ist ein ziemlicher Waffennarr. Ich konnte sämtliche Revolver und Pistolen seiner Sammlung schon zerlegen und wieder zusammenbauen bevor ich mich rasieren musste.“

Ich sehe mich noch mal im Raum um, um mich zu vergewissern, dass nichts zurückbleibt, was unsere Anwesenheit verraten würde. Denn ich möchte ungern die Fragen der Polizei beantworten müssen, wenn sie Mikes Leiche hier finden.

Da fällt mein Blick auf den Boss, der bewegungslos auf dem Boden liegt.

Er weiß es. Er hat die Antworten.

Ich zögere.

Ich will nicht weglaufen.

Vielleicht ist es an der Zeit erwachsen zu werden.

„Warte!“

„Was ist?“, fragt mich Chris, der gerade auf dem Weg zur Tür ist.

„Du hast doch nicht wirklich die Polizei gerufen!?“, sage ich zweifelnd, den Blick immer noch auf den Boss gerichtet.

„Nein, natürlich nicht“, gibt er zu. „Wieso?“

„Weil wir dann noch etwas Zeit haben.“

„Zeit wofür?“

„Ich möchte unserer Oberglatze hier gern ein paar Fragen stellen.“

„Ach, komm schon!“, meint Chris genervt. „Können wir nicht einfach verschwinden?“

„Wenn wir jetzt gehen, werde ich nie erfahren, warum sie mich umbringen wollten“, versuche ich zu erklären. „Und wer sagt uns, dass sie es nicht noch mal versuchen werden?“ Ich sehe Chris in die Augen.

„Sie haben dir nichts gesagt?“, fragt Chris ungläubig.

„Der Boss hat nur gemeint, dass ich vorgestern etwas gesehen habe, was ich besser nicht gesehen hätte. Das war alles.“ Chris sieht zu dem reglosen Körper am Boden und scheint zu überlegen.

„Bitte, Chris. Ich muss es wissen. Ich muss wissen, was ich vergessen habe.“

Chris kaut gedankenverloren auf seiner Unterlippe und schaut sehnsüchtig zum Ausgang. Schließlich seufzt er und gibt achselzuckend nach.

„Okay, was soll’s. Ich hatte heute sowieso nichts mehr vor.“

„Danke. Ich schulde dir was.“

„Oh ja. Und glaub’ mir, das werde ich nicht vergessen“, mein Chris lächelnd. „Wie willst du ihn eigentlich zum Reden bringen?“

Gute Frage. Nächste Frage.

„Hmm, mal sehen...“

Ich lasse meinen Blick noch mal durch den Raum gleiten. Doch der gibt nicht viel her.

Schließlich gehe ich zu dem rostigen Klapptisch. Darauf liegen, neben einer großen Taschenlampe und einer alten Playboy-Ausgabe, ein paar Kabelbinder aus weißem Plastik. Damit haben sie mich wohl gefesselt.

„Denkst du wirklich, dass er dir einfach so erzählt, was du wissen willst?“, fragt Chris skeptisch.

Ich nehme die Kabelbinder und drehe mich zu Chris um.

„Er wird mir alles erzählen, was ich wissen will. Ich muss nur richtig fragen.“

„Was hast du vor?“ Chris scheint noch immer zu zweifeln.

„Siehst du gleich.“

Ich knie mich neben dem Boss auf den Boden und taste ihn ab. In der linken Gesäßtasche finde ich sein Portemonnaie. Es ist ein schöner Geldbeutel aus weichem, schwarzem Leder. Ich klappe ihn auf und schon lacht mir sein Personalausweis entgegen.

„Dirk Kehrmann. Seltsam...“

„Was ist daran seltsam?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Nichts. Ich finde nur, dass er nicht wie ein Dirk aussieht. Findest du, dass er wie ein Dirk aussieht?“

Chris sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Und vielleicht hat er Recht damit. Im Augenblick erkenne ich mich selbst nicht wieder. Es ist, als würde ich alles durch die Augen eines Fremden sehen. Und dieser Fremde weiß genau was er tun muss. Und, was noch wichtiger ist, dieser Fremde kann alles tun. Er kann all das tun was nötig ist, ohne dabei von Mitgefühl, Moral oder von seinem Gewissen behindert zu werden. Für ihn sind das nur nichts sagende Begriffe, leere Worthüllen ohne jede Bedeutung. Dieser Fremde, zu dem ich geworden bin, fühlt gar nichts mehr. Er will nur Antworten auf seine Fragen. Und er wird sie bekommen.

Egal wie.

Ich stecke den Ausweis ein, den Geldbeutel werfe ich auf den Boden, nachdem ich ihn an meinem T-Shirt abgewischt habe.

„Hilf mir mal.“

Gemeinsam setzen wir den Boss, der erstaunlich schwer ist, auf den weißen Klappstuhl in der Mitte des Raumes und ziehen ihm seine Jacke aus. Während Chris ihn aufrecht hält fessle ich seine Arme und Beine an das Stahlgestell des Stuhls. Als ich fertig bin kann er sich praktisch nicht mehr bewegen.

Ich hole mir einen weiteren Stuhl und stelle ihn verkehrt herum vor dem Boss auf.

„Willst du dabei sein?“, frage ich Chris.

Chris nickt nur leicht mit dem Kopf. Ich hatte irgendwie gehofft, dass ich das hier alleine erledigen kann. Denn ich weiß noch nicht genau, wie weit ich gehen muss, bis er mir erzählt, was ich wissen will. Aber ich kann Chris jetzt nicht wegschicken, nach allem, was er für mich getan hat.

„Okay, kann ich dein Messer haben?“

Er sieht mich fragend an, gibt mir aber nach einem kurzen Zögern das Messer. Es ist ein Springmesser, vielleicht zwölf Zentimeter lang, mit einem abgewetzten, schwarzen Plastikgriff. Ich drücke auf den kleinen Metallknopf im Griff und die Klinge schnellt heraus. Der glänzende Stahl sieht fast poliert aus und die Schneide wurde erst vor kurzem geschärft.

Chris passt anscheinend gut auf seine Sachen auf.

Ich schiebe die Klinge wieder in den Griff zurück und setze mich rittlings auf den Stuhl vor den Boss. Es ist beinah' dieselbe Situation, wie vor ein paar Minuten, nur mit vertauschten Rollen.

Ich gebe ihm ein paar leichte Ohrfeigen und nach ein paar Sekunden bewegt sich sein Kopf träge von links nach rechts. Er stöhnt und schafft es dann endlich seine Augen aufzumachen.

„Guten Morgen, Sonnenschein!“, begrüße ich ihn, noch immer lächelnd.

Er grunzt etwas Unverständliches und schließt die Augen wieder.

„Sieh' einer an, ein Morgenmuffel. Du wirst mir glatt noch sympathisch.“

Jetzt hebt er den Kopf und sieht mich erschöpft an.

„Was willst du?“

„Ich dachte mir, ich bleib noch ein wenig hier und wir unterhalten uns etwas.“

„Und worüber?“

„Das Wetter, die Lage im Nahen Osten, warum du mich umbringen wolltest. Du weißt schon, Smalltalk eben.“

Er sieht mir direkt in die Augen.

„Fahr zur Hölle!“

„Na, na, wer wird denn gleich unhöflich werden, Dirk.“

Als ich seinen Namen erwähne, blitzt für einen kurzen Moment Überraschung in seinen Augen auf. Er hat sich aber schnell wieder unter Kontrolle.

„Du verschwendest deine Zeit. Ich werde dir nichts erzählen.“

Ich zucke mit den Schultern und lasse Chris’ Messer aufschnappen.

„Wir werden sehen.“

Er starrt gebannt auf das Messer, dann sieht er mir wieder in die Augen und versucht cool zu sein.

„Du machst mir keine Angst.“

„Okay“, sage ich ruhig und bewege das Messer auf seine Kehle zu.

Er starrt auf die Messerspitze, die immer näher kommt und lehnt sich so weit es geht zurück. Ich warte einen Moment, lasse die Angst ihre Arbeit tun. Dann greife ich mit der linken Hand den Kragen seines weißen T-Shirts und fange an es von oben nach unten zu zerschneiden.

„Hey, das war teuer!“ Er versucht noch immer cool zu bleiben, aber seine Stimme zittert und er weiß dass ich es bemerkt habe. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

Ich klappe die Reste des T-Shirts zur Seite weg und mustere seinen Oberkörper. Abgesehen von einem leichten Bauchansatz scheint er gut in Form zu sein. Vielleicht etwas zu muskulös für meinen Geschmack.

„Weißt du, was für mich immer die schlimmsten Schmerzen waren?“, frage ich ihn im Plauderton. Seine Augen sind noch immer auf das Messer gerichtet. Ich folge seinem Blick.

„Das? Nein! Ein Schnitt hat mir nie viel ausgemacht.“ Ich schließe das Messer wieder und stecke es ein. Dann hole ich mein Zippo aus meiner Tasche und lasse es vor seinem Gesicht aufschnappen.

„Die schlimmsten Schmerzen waren für mich immer, wenn ich mich verbrannt habe.“ Ich drehe an dem Rad und eine kleine blau-gelbe Flamme lodert zwischen unseren Gesichtern auf. Aufmerksam beobachte ich ihn. Er starrt auf das Feuerzeug in meiner Hand. In seinen stahlblauen Augen spiegelt sich die flackernde Flamme. Und dahinter sehe ich endlich das, worauf ich gewartet habe. Angst.

„Ich stelle dir jetzt ein paar Fragen. Wenn ich keine Antworten bekomme, oder wenn ich das Gefühl habe, dass du mich belügst, wirst du erfahren, was echte Schmerzen sind.“

Es ist kühl in diesem Kellerraum, trotzdem hat sich auf seiner Stirn ein leichter Schweißfilm gebildet. Er schluckt hart.

„Was hast du vorgestern in dieser Gasse gemacht?“

„Leck mich“, presst er hervor.

„Letzte Chance, dann fange ich mit deiner linken Brustwarze an.“

Er starrt mich mit einer wilden Mischung aus Hass und Angst an, sagt aber nichts.

„Wie du willst.“ Ich führe das Zippo näher an seine Brust. Langsam müsste er die Hitze spüren. Ein Schweißtropfen hat sich auf seiner Stirn gesammelt und rinnt auf seine Nase. Die Flamme ist jetzt nur noch knappe zwei Zentimeter von seiner Brustwarze entfernt. Seine Brust ist leicht behaart und mir steigt der widerliche Gestank nach verbrannten Haaren in die Nase.

„Warte!“, stößt er hervor. Ich halte das Zippo in seiner Position.

„Ich höre!“

„Ich habe mich mit jemandem getroffen, für den wir ein paar Dinge erledigt haben.“

„Was für Dinge?“

„Nichts Schlimmes. Wir haben nur dafür gesorgt dass einige Mieter aus ihren Wohnungen ausgezogen sind.“

„Wieso?“

„Keine Ahnung! Hat er uns nicht gesagt und wir haben nicht gefragt.“

„Und wer ist dieser Kerl?“

„Keine Ahnung!“

„Falsche Antwort“, sage ich enttäuscht und halte die Flamme noch näher an seine Brustwarze. Ein Zentimeter. Schön langsam müsste es wehtun.

„Warte! Warte!“

Sein Atem ist schnell und kommt stoßweise. Seine Stirn ist jetzt schweißbedeckt.

„Also, wer ist er?“

Er hebt den Kopf und sieht mir direkt in die Augen.

„Ich weiß nicht, wer er ist. Ich hab ihn nur ein einziges Mal gesehen und das war vorgestern in dieser Gasse.“

„Was habt ihr da gemacht?“

„Er hat mir mein Geld gegeben. Und dann haben wir dich bemerkt, als du gerade wieder rein gegangen bist.“

„Und weiter?“

„Er hat mir gesagt, dass ich mich um dich kümmern soll. Er hat gemeint, dass er sich keine Zeugen leisten kann.“

Ich denke ich werde unserem großen Unbekannten mal einen kleinen Besuch abstatten müssen.

„Wie kann ich ihn erreichen?“

Er schüttelt den Kopf.

„Gar nicht. Er hat mir ein Handy geschickt über das er mich anruft, wenn er unsere Hilfe braucht.“

Hmm, da ist jemand aber sehr vorsichtig. Das macht die Sache nicht gerade einfacher.

„Wo ist dieses Handy jetzt?“

„In meinem Auto. Im Handschuhfach.“

„Und wo ist das Auto?“

„Steht draußen vor dem Haus.“

Seine Antworten kommen jetzt schnell und scheinen genau zu sein. Das ist gut.

Ich sehe tief in das helle Blau seiner Augen und versuche eine Lüge darin zu entdecken. Aber alles was ich erkennen kann ist Angst und eine Spur von Wut.

„Okay.“ Ich lasse das Zippo zuschnappen und stecke es wieder ein.

Er atmet hörbar auf und schließt die Augen. Ich drehe mich zu Chris um. Der sieht mich an, als könne er nicht glauben, was er da gesehen hat.

„Also, ich bin fertig. Wenn du willst können wir verschwinden.“

Chris nickt und bringt ein leises Lächeln zustande.

„Na endlich.“

Ich stehe auf und wende mich zum Gehen, als Dirk sich nochmal zu Wort meldet:

„Hey, wartet! Ich könnt mich doch nicht einfach hier lassen.“

Ich drehe mich zu ihm um und sehe wieder die Angst in seinem Gesicht. So muss ich auch ausgesehen haben, als er mit dem Vorschlaghammer über mir stand.

„Und warum nicht? Du wolltest mich doch auch hier lassen, oder?“

Seine Augen gleiten wild von mir zu Chris und wieder zurück zu mir.

„Aber das...das war geschäftlich. Ich meine ich habe nichts gegen dich. Bindet mich los. Bitte.“

Es ist fast schon peinlich ihm zuzusehen, wie er bettelt. Ich sehe ihn mit ausdruckslosem Gesicht an und erinnere mich an die Wut, die ich vorher in seinen Augen gesehen habe. Sobald er wieder frei ist, wird er sich rächen. Er wird mich suchen.

Nein, er wird uns suchen.

Das kann ich nicht zulassen.

Ich weiß, was zu tun ist.

Es muss hier enden.

„Du hast Recht.“ Sage ich ruhig und ziehe den Revolver aus meinem Hosenbund hervor. „Es ist nur geschäftlich.“

Seine Augen werden groß, als ich die Waffe auf ihn richte und sie entsichere.

„Hey, warte!“ stammelt er.

„Stefan, was machst du?“ fragt mich Chris entgeistert. Ich spanne den Hahn.

„Mach’s Gut, Dirk.“ Sage ich kalt und drücke ab.

Ein lautes metallisches Klicken erfüllt den Kellerraum, als der Hahn auf die leere Kammer trifft.

„NEIN!“ Dirks’ Schrei hallt von den dreckigen Betonwänden wider und klingt noch lange nach. Er hat die Augen geschlossen und hält den Atem an. Nur langsam wird ihm bewusst, dass er noch am Leben ist. Der Schweiß rinnt ihm in Strömen über das Gesicht und über seine Brust. Sein ganzer Körper zittert. Er öffnet vorsichtig die Augen und sieht mich voller Panik an.

„So was“, murmle ich und betrachte verwundert die Waffe, „ein Blindgänger.“

Ich zucke mit den Schultern.

„Versuchen wir es eben nochmal.“ Ich richte den Lauf auf Dirks Kopf, warte ein paar Sekunden und drücke wieder ab.

Wieder gibt es ein lautes Klicken, als Metall auf Metall trifft.

„Seltsam...Na ja, aller guten Dinge sind drei.“ Und noch mal ziele ich auf seinen Kopf. Aber dann sehe ich, dass er genug hat.

Dirk hat die Augen geschlossen. Sein Kopf liegt auf seiner Brust. Er schluchzt hemmungslos und Tränen laufen ihm die Wangen herunter. Auf ihrem Weg nach unten vermischen sie sich mit ein paar Schweißtropfen und fallen auf seinen Oberkörper.

„Hör auf! Bitte! Bitte“, fleht er mich weinend an. Ich bemerke einen größer werdenden dunkeln Fleck im Schritt seiner Jeans. Der scharfe Gestank von frischem Urin und Angstschweiß erfüllt den Raum. Langsam tut er mir doch etwas leid. Aber eine Sache muss ich noch klar stellen.

„Sieh mich an“, sage ich leise.

„Bitte nicht“, schluchzt er weiter ohne mich anzusehen.

„Sieh mich an!“, sage ich noch mal, etwas lauter als vorher.

Vorsichtig hebt er den Kopf und sieht mich an wie ein geprügelter Hund.

„Wenn ich dich nochmal irgendwo sehe. Ganz egal wo. Dann ist diese Waffe geladen. Dann mach ich dich kalt. Ist das klar?“

Dirk nickt heftig. Ich suche in seinen stählernen Augen nach einer Spur der Wut von vorhin, aber sie ist weg. Ausgelöscht.

Es wird Monate dauern, bis sie wieder kommt. Monate in denen er schweißgebadet mitten in der Nacht aufwachen wird und in denen er sich ständig umdrehen wird, immer in Angst mich zu sehen.

„Gut. Dann ist ja alles geklärt.“ Ich sichere den Revolver wieder und stecke ihn zurück in meinen Hosenbund.

Dann drehe ich mich um und gehe zu Chris.

Der sieht mich prüfend an und meint dann ernst:

„Ich glaube ich hab dich unterschätzt.“

„Das passiert mir öfter“, sage ich lächelnd. „Komm, verschwinden wir von hier.“ Als wir gehen wollen fällt mir auf, dass Chris immer noch den blutigen Baseballschläger in der Hand hält.

„Kann ich den haben, oder willst du ihn mitnehmen?“

Chris zuckt mit den Schultern und gibt mir den Schläger.

„Ist da auch dein Blut dran?“ frage ich.

„Nein, das ist nur seines.“ Chris macht eine Kopfbewegung in Richtung des Frettchens.

„Okay.“ Ich beginne den Griff gründlich mit meinem T-Shirt abzuwischen und lasse den Schläger dann fallen.

„So, jetzt aber los.“ Ich lege Chris’ linken Arm auf meine Schultern, damit er sein Bein nicht so stark belasten muss und dann humpeln wir zur Türöffnung.

Das leise Schluchzen von Dirk begleitet uns bis zur Treppe.

Kapitel VIII – Nach Hause

Mühsam schleppen wir uns die Treppen hoch. Chris verzieht jedes Mal das Gesicht und beißt die Zähne zusammen, wenn er mit dem linken Bein auftreten muss. Mehrmals machen wir eine Pause bis wir schließlich oben sind. Chris ist schweißgebadet und atmet schwer.

„Wie geht’s dir?“, frage ich besorgt.

„Gib mir ein paar Minuten. Das wird gleich wieder“, stößt Chris erschöpft hervor. Er setzt sich auf die oberste Stufe und schließt die Augen.

„Okay. Lass dir Zeit“, sage ich sanft und streichle über seinen kurzen Irokesen.

Ich beginne mich umzusehen. Wir sind im Erdgeschoß des Hauses in einem recht großen quadratischen Raum. Wahrscheinlich das Foyer. Direkt gegenüber der Treppe, an deren Ende ich stehe, ist eine große Glastür mit Metallrahmen. Von dem Glas stecken allerdings nur noch ein paar Splitter in der Einfassung. Durch die zerbrochene Tür fällt helles Mondlicht in den Raum und taucht alles in ein kühles, unwirkliches Licht. Auf dem grauen Betonboden liegen ein paar Dosen, zerfledderte Zeitungen und jede Menge Scherben. Rechts und links von mir ist jeweils eine Türöffnung, die den Blick in einen langen, dunklen Gang frei gibt. In der Ecke zu meiner Rechten liegt ein Haufen alte Lumpen auf dem Beton. Gerade als ich mich wieder zu Chris umdrehen will, fällt mir eine große schwarze Taschenlampe auf, die in der Nähe der Lumpen liegt. Ich gehe ein paar Schritte auf die Lumpen zu und dann erkenne ich es.

Es sind keine Lumpen.

Es ist ein Junge, der zusammengekrümmt, mit dem Gesicht zur Wand, auf dem Boden liegt.

‚Das muss Markus sein’ schießt es mir durch den Kopf

Der Andere, von dem der Boss geredet hat und den das Frettchen suchen sollte.

Chris scheint auch hier ganze Arbeit geleistet zu haben. Ich knie mich neben ihm hin und drehe ihn auf den Rücken. Er gibt ein unwilliges Grunzen von sich. Etwas Metallisches fällt klirrend auf den Beton und glänzt im Mondlicht. Es ist ein blutiger Schlagring aus Stahl.

Dann werfe ich einen Blick auf sein Gesicht.

„Heilige Scheiße!“, rutscht es mir leise heraus.

Ich war schon in einige Schlägereien in meinem Leben verwickelt, aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der so übel zugerichtet worden ist. Seine Nase ist nur noch ein blutiger Brei. Sie scheint an so vielen Stellen gebrochen, dass kein Arzt der Welt sie wieder korrigieren können wird. Seine Oberlippe ist aufgeplatzt und mindestens zwei seiner Schneidezähne sind unsauber abgebrochen. Auf seiner linken Wange hat er eine große Wunde und ich kann den zersplitterten weißen Knochen darin sehen. Er blutet ziemlich stark aus einem tiefen Riss über seinem linken Auge. Das Blut glänzt tiefschwarz in dem blassen Mondlicht. Er sieht aus wie ein Darsteller in einem alten Zombiefilm.

Wut.

Unbändige, rohe Wut war hier am Werk.

Sag’ mir, hast du jemals im fahlen Mondlicht mit dem Teufel getanzt?

Dieses komische Filmzitat kommt mir in den Sinn und hallt in meinem Kopf wider.

Chris!?

Sag’ mir

Chris ist zu so etwas fähig?!

Hast Du jemals

Wie viel Wut ist nötig, um einen Menschen dermaßen zu verletzen?

Im fahlen Mondlicht

Ich drehe mich zu Chris um.

mit dem Teufel getanzt?

Er hat sich mittlerweile aufgerichtet und lehnt an der Wand neben der Treppe. In diesem Licht ist es schwierig seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber ich denke er sieht mich fragend an.

„Was denkst du jetzt?“, will er wissen.

Nach einer kurzen Pause antworte ich ihm

„Ich denke, dass ich dich auch unterschätzt habe.“

„Er hat mich angegriffen.“

Eine Weile sage ich gar nichts. Mir fällt dazu nichts ein. Aber eines ist klar: Chris hat sich nicht nur verteidigt. Er hat immer weiter auf diesen Jungen eingeschlagen. Er hat ihn regelrecht zerstört. Er hat

mit dem Teufel getanzt?

Mir wird klar, dass ich diesen Jungen, der mir gerade das Leben gerettet hat, eigentlich gar nicht kenne.

„Lass uns gehen“, sage ich und stehe auf. Chris stützt sich wieder auf mich und gemeinsam gehen wir nach draußen. Ein paar Meter vor dem Eingang steht der schwarze Sportwagen, den ich schon aus der Gasse hinter dem Barfly kenne.

„Warte mal kurz hier. Bin gleich wieder da.“ Damit gehe ich zur Fahrerseite und werfe einen Blick ins Innere.

Abgeschlossen! War ja klar.

Ich sehe mich um und finde bald einen passenden Schlüssel. Nun ja, Manche würden ihn Ziegelstein nennen, ich persönlich sehe ihn mehr als Autoschlüssel. Beim ersten Schlag verwandelt sich das durchsichtige Sicherheitsglas in ein milchiges Spinnennetz. Beim zweiten Versuch zersplittert die Seitenscheibe schließlich in tausend kleine Teile, die auf dem schwarzen Leder des Vordersitzes wie Eiskristalle funkeln.

Na also!

Ich habe das ganze Schlüssel-Schloss-Prinzip sowieso nie wirklich verstanden. Schlüssel sind meiner Meinung nach total überbewertet.

Ich greife hinein und öffne die Tür.

Das Innere ist erstaunlich sauber und aufgeräumt. Abgesehen von dem ganzen Sicherheitsglas natürlich.

Das Handschuhfach sieht zunächst sehr leer aus, aber als ich hinein greife fühle ich ein kleines Handy das ganz hinten liegt. Ich stecke es in meine Tasche und beginne damit meine Fingerabdrücke zu entfernen.

Dann gehe ich zurück zu Chris. Er hat sich inzwischen auf die gefliesten Stufen vor dem Eingang gesetzt und hat die Augen geschlossen. Er sieht aus, als würde er jeden Augenblick zusammenklappen.

„Chris?“

„Hmm?“ Er öffnet die Augen und sieht mich müde an. Sein linkes Auge beginnt jetzt schon zuzuschwellen. Das Blut auf seinem T-Shirt ist im Mondlicht schwarz und er sieht aus, wie ein Opfer in einem Teenie-Horrorfilm.

„Zieh dein T-Shirt aus.“ Er sieht mich überrascht an, dann lächelt er.

„Okay, aber ich weiß nicht, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Kannst du nicht warten, bis wir zuhause sind?“ Ich verdrehe die Augen und seufze leicht.

„Du siehst aus, als würdest du direkt vom Schlachtfeld kommen. Und wir können es uns nicht leisten aufzufallen.“

„Ja klar, du willst mich nur oben ohne sehen“, meint Chris und zieht sein Shirt aus. Dann helfe ich ihm hoch und wir machen uns auf den beschwerlichen Heimweg. An einer Telefonzelle halten wir kurz an und ich rufe bei der Polizei an. Ich sage ihnen, dass sie sich das Haus in dem wir waren mal etwas genauer ansehen sollen. Vor allem den Keller. Als mich der Beamte nach meinem Namen fragt, lege ich auf.

Nach guten zwei Stunden sind wir endlich wieder bei Chris in der Wohnung. Ich bin total fertig.

Die letzten Meter musste ich Chris fast tragen, weil er praktisch nicht mehr auftreten konnte. Mein Kopf pocht wie verrückt und mein Rücken bringt mich um. Aber im Augenblick bin ich dankbar für diese Schmerzen, denn sie zeigen mir, dass ich noch am Leben bin. Dank Chris bin ich noch am Leben. Sobald Chris die Tür aufgeschlossen hat, kommt uns Wolf schon entgegen. Er zögert einen kurzen Augenblick und ich könnte schwören, dass er überrascht aussieht. Dann kommt er näher und leckt Chris’ Hand, als wolle er ihm helfen. Mit letzter Kraft schleppe ich Chris ins Schlafzimmer und er setzt sich mit einem erleichterten Seufzen auf den Bettrand.

„Endlich.“

„Ja, endlich“, pflichte ich ihm bei. Er sieht unglaublich müde aus und kann die Augen kaum mehr offen halten.

„Warte noch einen Moment mit dem Einschlafen. Ich möchte mir zuerst den Cut über deinem Auge ansehen.“ Chris nickt leicht.

„Okay, aber ich garantiere für nichts.“

Ich gehe ins Bad und finde nach einigem Suchen ein Handtuch, ein paar Pflaster und eine kleine Flasche mit Desinfektionsmittel. Als ich wieder ins Schlafzimmer komme, liegt Chris schon auf dem Rücken im Bett.

„War ja klar!“, sage ich leise.

„Ich bin wach. Zumindest teilweise“, kommt es leise murmelnd von Chris.

Ich knie mich neben seinen Kopf auf das weiche Bett und sehe mir die Verletzung etwas genauer an. Der Cut ist recht lang, scheint aber nicht tief zu sein. Ich gebe etwas von dem Desinfektionsmittel auf das Handtuch und tupfe damit sanft seine Augenbraue ab. Chris verzieht zwar das Gesicht, lässt sich aber sonst nichts anmerken. Obwohl es brennen muss wie die Hölle. Unwillkürlich muss ich an den Jungen in dem Abrisshaus denken, den Chris so übel zugerichtet hat.

Ich nehme zwei Pflaster und klebe sie so, dass sie den Cut etwas zusammen ziehen.

„Okay, besser krieg ich das nicht hin. Aber ich denke, das sollte genäht werden.“

„Danke. Du bist eine tolle Krankenschwester.“ Chris Stimme hört sich schon sehr müde an.

„Schlaf jetzt erstmal“, meine ich und stehe auf.

„Stefan?“

„Ja?“

„Bleib heute hier“, bittet mich Chris.

„Okay, ich bin gleich nebenan.“

„Nein, bleib hier. Ich will heute Nacht nicht allein sein.“

„Okay, ich gehe jetzt kurz ins Bad und dann komm ich gleich wieder.“

„Okay.“

Nach einer kurzen Katzenwäsche im Bad und nachdem ich meine dreckigen Sachen ausgezogen habe, gehe ich zurück ins Schlafzimmer. Chris hat sich auf die Seite gedreht, so dass ich bequem neben ihm Platz habe. An der Decke muss ich allerdings etwas ziehen, denn Chris hat sich wie eine Mumie darin eingewickelt. Dann, als ich endlich zur Ruhe komme, merke ich wie müde ich eigentlich bin. Na ja, es war ja auch ein anstrengender Tag.

„Gute Nacht, Chris“, sage ich leise.

„Gute Nacht“, kommt es von der anderen Seite des Bettes noch leiser zurück.

Kurz bevor ich einschlafe höre ich noch ein vertrautes Tapsen. Ich spüre, wie etwas auf das Bett springt und sich zu unseren Füßen hinlegt.

Kapitel IX – Nachbeben

Als ich die Augen öffne scheint die Sonne durch die orangen Gardinen ins Zimmer. Ich bin noch etwas benommen und meine Kopfschmerzen sind auch noch da. Also mache ich die Augen wieder zu und versuche noch ein wenig zu schlafen. Das Kissen ist etwas hart, aber dafür ist es angenehm warm. Und es macht recht beruhigende Geräusche. Als es sich dann auch noch bewegt mache ich doch die Augen auf und nach ein paar Sekunden der Orientierungslosigkeit ist die Situation klar.

Ich liege auf Chris Brust.

Anscheinend habe ich mich im Schlaf richtiggehend an ihn geschmiegt, denn meinen linken Arm habe ich um seine Hüfte geschlungen. Und es fühlt sich verdammt gut an. Ich kann spüren, wie sich seine Brust unter mir gleichmäßig hebt und senkt. Ich kann seine warme, weiche Haut auf meinem Gesicht spüren. Und ich kann sein Herz schlagen hören.

So will ich jeden Tag aufwachen!

Da merke ich, wie eine Hand leicht über meinen Kopf streichelt.

“Guten Morgen, Großer”, sagt Chris leise.

“Morgen.” Meine Stimme hört sich noch sehr verschlafen an. Ich räuspere mich erstmal “Tut mir leid, ich hab wohl in der Nacht was zum Festhalten gebraucht”, sage ich dann, mache aber keine Anstalten ihn loszulassen.

“Kein Problem”, meint Chris und streicht weiter durch meine Haare. ”Ich hab trotzdem sehr gut geschlafen.”

“Ich auch. So gut, wie schon lange nicht mehr.” Ich zögere einen Moment und frage dann:

“Wie geht’s dir?”

„Besser als gestern auf jeden Fall. Und dir?“

„Abgesehen von den üblichen Kopfschmerzen geht’s mir hervorragend.“

Ich hebe meinen Kopf von Chris’ Brust und sehe ihn an.

„Und das habe ich dir zu verdanken.“

Der Cut über seinem Auge ist nicht so stark angeschwollen, wie ich befürchtet habe, hat aber eine recht schöne purpurne Farbe angenommen. Trotzdem strahlen seine braunen Augen mich an und ich bin wieder mal total gefangen in seinem Blick.

„Wenn du gestern nicht gekommen wärst, dann hätte mir dieses Arschloch wirklich den Schädel eingeschlagen.“ Ich sehe den Boss vor mir, wie er den schweren, rostigen Vorschlaghammer immer höher hebt und mich dabei auch noch angrinst. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Chris streicht über meine Haare und lächelt.

„Hab ich gern gemacht.“

„Wie hast du mich eigentlich gefunden?“ stelle ich die Frage, die mich gestern auf dem langen Heimweg schon beschäftigt hat.

„Na ja, ich hab drinnen auf dich gewartet. Ein paar Minuten nach dir sind zwei der Glatzen nach hinten gegangen. Da hab ich mir gedacht, ich schau lieber mal nach. Ich meine, bei deinem Talent in Schwierigkeiten zu geraten...

Also hab ich erstmal die Klos gecheckt und dann den Hinterausgang. Dort hab ich gerade noch das schwarze Auto wegfahren sehen.“

„Aber wie hast du das Abrisshaus gefunden.“

„Geduld, Großer“, ermahnt mich Chris schmunzelnd und fährt dann fort:

„Also, ich stehe in dieser Gasse und hab keine Ahnung, was ich tun soll. Da geht die Tür auf und wer steht einen knappen Meter vor mir und starrt mich überrascht an? Die dritte Glatze. Anscheinend haben sie ihn dort gelassen, damit er mich im Auge behält.“

„Und er hat dir einfach so gesagt, wo seine Freunde hinfahren?“ frage ich zweifelnd.

„Na ja, zuerst war die Unterhaltung schon etwas einseitig, aber dann habe ich meine Fragen ein wenig...ahh...deutlicher gestellt und am Ende war er ziemlich redselig.“

„Will ich wissen, was du getan hast?“

Sag’ mir, hast du

Chris schüttelt den Kopf und weicht meinem Blick aus.

Ich muss wieder an Markus denken, das Gesicht zu Brei geschlagen, wie er

auf dem kalten Betonboden liegt. Er sah aus als hätte er

mit dem Teufel getanzt?

Ich weiß schon recht gut, wozu Chris wirklich fähig ist. Ich weiß nicht, ob ich mehr wissen will.

„Auf jeden Fall habe ich mich dann auf den Weg gemacht. Ich habe sicher eine halbe Stunde gebraucht und die ganze Zeit war ich überzeugt zu spät zu kommen.“

„Aber das bist du nicht.“

„Nein, zum Glück nicht.“ Chris fährt mir wieder durch die Haare und lächelt mich glücklich an.

„Aber es war knapp. Vor dem Haus hab ich schon dieses Angeber-Auto stehen sehen. Da wusste ich, dass ich an der richtigen Stelle war. Drinnen bin ich dann gleich recht herzlich von einer der Glatzen empfangen worden.“ Er fährt mit seinen Fingern leicht über die Pflaster über seinem linken Auge.

„Markus“, sage ich. Chris zuckt mit den Schultern.

„Ich habe ihn aber davon überzeugen können, dass er mich vorbei lässt.“

„Nett formuliert. Der Junge sah aus, als wäre er von einem Bus überfahren worden!“, werfe ich ein. Chris sieht mich überrascht an.

„Er ist mit einem Schlagring auf mich losgegangen. Was hätte ich denn tun sollen? Eine Diskussion über den Sinn und Unsinn von körperlicher Gewalt anfangen?! Ich kenne diese Arschlöcher! Glaub mir, Gewalt ist die einzige Sprache die sie verstehen.“

„Sich zu wehren ist eine Sache, jemanden zu einem blutigen Klumpen zu prügeln ist eine ganz Andere.“

„Ach komm schon, übertreib’ mal nicht.“

Ich kann nicht glauben, dass er das herunterspielen will. Wenn ich nur daran denke, wird mir schon schlecht. Das ganze Blut, schwarz im Mondlicht, und der weiße Knochen, der in der Wunde nass glänzt. Ich richte mich auf und sehe Chris in die Augen.

„Chris ich habe ihn gesehen. Ich habe gesehen, was von seinem Gesicht noch übrig war. Und das war nicht mehr viel. Du willst mir doch nicht wirklich erzählen wollen, dass du dich nur gewehrt hast?!“ Chris richtet sich jetzt auch auf und lehnt seinen Oberkörper gegen das Kopfteil des Bettes.

„Was weißt du schon davon? Du warst nicht dabei! Also erspar mir bitte dein Plädoyer.“

„Nein, ich war nicht dabei, aber ich hab das Ergebnis gesehen. Das hat mir schon gereicht.“

Chris Stimme wird nicht lauter, sondern einfach nur etwas schärfer, als er sagt:

„Ich werde mich sicher nicht entschuldigen für das, was ich getan habe. Du hast gestern richtig tief in der Scheiße gesteckt und ich hab dich rausgeholt. Das hab ich gern gemacht und du schuldest mir auch nichts dafür. Aber ich muss mich sicher nicht vor jemandem rechtfertigen, der nur noch lebt, weil ich ihn gerettet habe. Und ich glaube auch nicht, dass du in der Position bist zu kritisieren, wie ich das getan habe. Ich fände es am besten, wenn du dich einfach bedankst und wir die Sache damit vergessen würden. Ansonsten, kannst du beim nächsten Mal gern ausprobieren wie gut du allein zu Recht kommst.“

Damit steht Chris wütend auf und fällt fast sofort mit einem Schmerzensschrei wieder zurück aufs Bett.

„SCHEIßE!“

Mit geschlossenen Augen und zusammengepressten Lippen hält er sein linkes Knie, das fast doppelt so groß ist, wie es sein sollte. Ich möchte ihn berühren, ihm helfen, weiß aber, dass ich es damit im Augenblick wahrscheinlich noch schlimmer machen würde. Wolf schießt durch die Tür ins Zimmer, zögert kurz und trottet dann auf Chris zu. Sanft stupst er gegen Chris’ Hände.

Ich atme erstmal tief durch und warte bis sich Chris wieder etwas gefangen hat.

„Tut mir leid, Chris. Das kam alles falsch raus. Natürlich bin dankbar, dass du mich gerettet hast. Sogar mehr als dankbar. Ich...ach Scheiße! Du hast mich einfach überrascht. Als ich gestern den Jungen da liegen sah, war ich geschockt. Nicht nur wegen der Verletzungen. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass du zu so was fähig bist. Das hat mich erschreckt, ehrlich gesagt.“

Chris hat sich inzwischen zurückgelehnt und stützt sich auf seine Ellenbogen. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und ein paar Schweißtropfen haben sich auf seiner Stirn gebildet.

„Da haben wir etwas gemeinsam“, sagt er ruhig, den Blick an die Decke gerichtet.

Dann dreht er den Kopf zu mir und sieht mich an.

„Wie du diesen Kerl fertig gemacht hast. Wahnsinn! Ich wette er zittert immer noch. Aber am Ende hast du übertrieben. Ich meine, Herr Gott nochmal, er hat sich in die Hose gepisst.“

„Ich weiß. Aber es ging nicht anders. Ich musste ihm so viel Angst machen, damit er seine Wut vergisst. So haben wir zumindest eine kleine Chance, dass er uns in Ruhe lässt.“

Chris sieht mich forschend an.

„Du hast dir das wirklich überlegt, oder?“

„Das mit dem Revolver? Ja und Nein. Ich hab vorsichtshalber die Kugeln raus genommen. Aber ich wusste nicht genau, ob ich ihn benutzen würde.“

„Du bist absolut cool gewesen gestern. Das hat mich beeindruckt. Und es hat mich etwas erschreckt. Niemand ist dermaßen cool in so einer Situation.“

Ich überlege kurz. War ich wirklich so cool?

„Das gestern in diesem Keller, das war nicht wirklich ich.“

Chris sieht mich verwirrt an. Gott, ist das schwer zu beschreiben.

„Es war, als würde ich jemand Anderen beobachten, der das alles macht. Ich glaube, diese Seite an mir habe ich noch nie erlebt. Und sie hat mir selbst Angst gemacht. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wie weit ich wirklich gegangen wäre. Und ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.“

Was ich Chris nicht sage, ist, dass mir diese Seite an mir auch gefallen hat. Ich hatte die volle Kontrolle über die Situation. Und das ist etwas, das ich bisher in meinem Leben kaum erlebt habe, wovon ich aber auf jeden Fall mehr haben will.

Ein warmer Sommerwind weht die orangen Gardinen ins Zimmer und von draußen dringt helles Kinderlachen herein. Die Luft riecht frisch und rein. Es ist ein wunderbarer Sommermorgen. Chris und ich sehen uns eine Weile nur an und versuchen herauszufinden, was der Andere gerade denkt.

„Können wir uns wieder hinlegen und diesen Tag nochmal von vorn anfangen?“, frage ich dann unsicher.

Chris nickt und schwingt seine Beine vorsichtig wieder auf die Matratze. Ich lege mich neben ihn und weiß nicht genau, ob ich mich wieder an ihn kuscheln darf.

„Aber dann machen wir es auch richtig“, meint Chris grinsend, greift nach meinen linken Arm und legt ihn um seine Hüfte. Endlich kann sich mein Kopf wieder auf dem tollen Kissen, mit den Tätowierungen und dem beruhigenden Geräusch, ausruhen. Chris streicht durch meine etwas zu langen Haare und ich schließe meine Augen. So sollte es immer sein.

„Ich hab gestern die Kontrolle verloren“, sagt Chris nach ein paar Minuten. „Dieser Kerl, Markus, hat mich geschlagen und da bin ich einfach ausgetickt. Niemand darf mich schlagen. Nie mehr! Das hab ich mir geschworen.“

Chris macht eine kurze Pause und fängt dann an zu erzählen:

„Ich bin durch die kaputte Glastür in das Foyer gestiegen und wollte mich gerade umsehen. Da stürzt sich auch schon dieser Kerl aus dem Dunkel auf mich. Ich hatte keine Chance mehr zu reagieren. Er hat mich voll erwischt mit diesem beschissenen Schlagring. Aber dann hat er einen Fehler gemacht. Er hat gezögert, anstatt weiter zu schlagen. Vielleicht war er ja selber überrascht von seinem ersten Treffer. Keine Ahnung. Aber er hat gezögert. Den nächsten Schlag hab ich dann blocken können und dann hab ich zugeschlagen. Das nächste, was ich noch weiß ist, wie ich in der Ecke über ihm knie und gerade wieder zuschlagen will. Dabei ist mir ein Gedanke durch den Kopf geschossen.“

Chris schluckt und fährt dann leise fort:

„Ich hab gedacht: Mein Vater wäre sicher stolz auf mich, wenn er mich so sehen könnte. Wie der Vater...“ Chris zittert und er schluckt noch mal, bevor er weiter erzählt.

„Da hab ich aufgehört. Ich hab mich selbst gehasst in diesem Moment.“

Chris streichelt noch immer meinen Kopf und eine Zeitlang liegen wir einfach nur da, ohne etwas zu sagen. Mir fällt nichts ein.

„Mir war auch nicht klar, dass ich zu so was fähig bin. Vielleicht bin ich wirklich wie mein Vater.“

„Du bist nicht wie dein Vater“, sage ich bestimmt.

„Woher weißt du das? Du hast doch gesehen, was ich getan habe.“

„Aber du hast aufgehört, bevor es zu spät war. Und du hast erkannt, dass du zu weit gegangen bist. Du bist nicht wie dein Vater, glaub mir.“

„Er ist mein Vater. Ein Teil von ihm ist in mir. Wer weiß, vielleicht kann man das nicht ändern. Vielleicht werden wir ja alle wie unsere Eltern.“

„Nein!“

Das kann nicht sein!

Denn wenn das so wäre, dann kann ich mir gleich die Kugel geben.

Den Revolver dazu hätte ich ja jetzt.

Dann klingelt das Handy in der Tasche meiner Jeans.

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