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Sommermärchen

Teil Drei

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Inhaltsverzeichnis

7. Marcel - Überraschendes Wiedersehen

Ich hatte meine Zusage für Wien! Wie versprochen hatte sich Dr. Lugauer in der Woche nach meinem Vorstellungsgespräch gemeldet: „Wir hatten einen tollen Eindruck von ihnen und würden uns freuen, sie ab 7. Januar bei uns im Serviceteam zu begrüßen.“

„Vielen Dank, und ich freue mich, bei ihnen diese Stelle antreten zu dürfen.“ „Sie bekommen diese Bestätigung in den kommenden Tagen noch schriftlich von mir – und wegen des Arbeitsvertrages melden wir uns noch mal bei ihnen, in Ordnung?“

„Absolut, vielen vielen Dank – und wie gesagt: „Ich freue mich.“

„Ja, wir uns auch.“

Meiner Wiener Zukunft mit Felix stand also nichts mehr im Wege. Mein Vater erholte sich langsam, aber doch stetig von den Folgen seines Herzinfarktes. Aus dem Krankenhaus wurde er wieder entlassen, und bald darauf konnte er im Geschäft zumindest einfache Tätigkeiten wieder ausüben. Mit unserer neuen Auszubildenden war die Besetzung somit komplett, so dass ich wirklich nur noch im äußersten Notfall aushelfen musste – und genügend Zeit hatte, mich auf Wien vorzubereiten.

Dazu gehörte es natürlich auch, mich nach einem WG-Zimmer umzuschauen. Das tat ich, während Felix parallel dazu in Wien nach bezahlbaren Wohnungen Ausschau hielt. Irgendwann in der zweiten Novemberwoche, ich saß mit Fabian und Tobias grade bei einer Runde Rommee auf dem Campingplatz, klingelte mein Handy.

„Dr. Lugauer, grüß Gott. Marcel, wir bräuchten unbedingt noch einen unterschriebenen Arbeitsvertrag. Würde es ihnen etwas ausmachen, noch in diesem Monat ein weiteres Mal nach Wien zu kommen? Dann könnten wir ihnen auch ihre Abteilung vorstellen und versicherungstechnische Fragen klären.“

„Nein, gar nicht.“

„Prima, die Kosten würden wir vollständig übernehmen. Sagen sie uns, wann sie kommen wollen, und wir schicken ihnen dann Hin- und Rückfahrtticket. Und ich bitte sie um Verständnis, das es keine Flugtickets, sondern nur Bahnfahrkarten sein werden. So kurzfristig sind die Züge preisgünstiger.“

„Kein Problem, ich kenne diese Bahnstrecke schon. Und ich würde am 23. November kommen und dann über das Wochenende bleiben.“

„Oh, prima. Gut. Dann schicken wir ihnen die Tickets und freuen uns, sie am 23. um 11.00 Uhr begrüßen zu dürfen. Dann können sie auch ihren künftigen Arbeitsplatz besichtigen.“

„Ich freu mich, meine Adresse für die Tickets haben sie?“ „Oh ja, bis bald und auf Wiederschauen“.

Tobias sah mich an: „Klingt so ein bisschen nach Endgültigkeit?“

„Ja, es ist wohl nicht mehr zu verhindern, dass ich Felix hinterherlaufe. Und was ist mit euch?“

„Wir werden das wohl irgendwie überstehen müssen – aber wir haben ja uns“.

Ich grinste: „Habt ihr euch wirklich?“

Fabian übernahm es, diese nicht ganz unzweideutige Frage zu beantworten: „Ja, wir haben uns. Auch wenn es vielleicht nicht ganz so ist, wie du denkst. Ob daraus mal irgendwann mehr werden kann… Ich weiß es nicht und ich glaube, Tobi weiß es im Moment auch nicht.“

Ich lächelte: „Genau so hätte ich im August die Situation zwischen Tobi und mir auch beschrieben. Ich hoffe für dich Tobi, dass da nicht wieder irgendein Felix dazwischenplatzt, der dich in die Rolle der zweiten Geige drängt.“

„Vielleicht darf ich mir mein Instrument ja auch mal selbst aussuchen?“ Ich schaute Tobias an und konnte nicht ergründen, wie ernst er diese Aussage wirklich gemeint hatte.

Fabian schien den gleichen Eindruck zu haben, denn er versuchte nicht unerfolgreich, vom Thema abzulenken: „Sag mal, Marcel, weiß Felix eigentlich schon, dass du kommst?“

„Nein, ich treffe ihn erst heute Abend im Chat.“

„Überrasch ihn doch einfach. Sag es ihm nicht und überfalle ihn mit deiner Anwesenheit.“

„Na ja... aber wenn er dann am Wochenende arbeiten muss, habe ich überhaupt nichts gekonnt.“

„Mensch, dann kümmere dich drum, dass sein Hotel ihm an diesem Wochenende frei gibt.“

Der Gedanke, ihn zu überraschen, gefiel mir allerdings ausgesprochen gut. Ich musste nicht mal irgendetwas dafür tun. Ein Anruf in Wien brachte Gewissheit: Felix würde am betreffenden Wochenende frei haben. Und damit ich gleich Nägel mit Köpfen machen konnte, verabredete ich mich für den späteren Nachmittag meines Anreisetages mit zwei in Frage kommenden WG’s Somit konnte ich erst den Arbeitsvertrag unterzeichnen, mir dann möglicherweise ein passendes Zimmer aussuchen und dann am Abend meinen Freund im Hotel überraschen, wenn er seine Spätschicht an der Rezeption beenden würde.

Meine neuen Vorgesetzten waren so freundlich, mir für die Fahrt nach Wien einen Platz im Schlafwagen zu reservieren, der tatsächlich eine ganz andere Reise ermöglichte als ein Liegewagen. Ich hatte mich für dieselbe Verbindung wie wenige Wochen zuvor entschieden, und so konnte ich von Hannover aus komfortabel durch die Nacht Richtung Wien reisen.

Nach gut durchschlafener Nacht wurde ich erst dadurch geweckt, dass der Zugbegleiter mir die baldige Ankunft signalisierte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es ziemlich genau noch eine Stunde bis zur Endstation dauern würde. Pünktlichkeit des Verkehrsmittels vorausgesetzt. Wachwerden, auf eine freie Badzelle warten, Frühstück einnehmen (altbackenes Brötchen und billigster Pulverkaffee, genau wie in den Liegewagen also auch) und korrekt anziehen – manchmal vergeht eine Stunde schneller, als man denken kann.

Diesmal wurde ich nicht am Westbahnhof abgeholt, sondern musste mich allein durchschlagen. Viel Zeit blieb mir nicht, aber ich entschied mich doch dafür, vor meiner Stippvisite in der Bank noch rasch das Gepäck in die Pension zu bringen, in der ich mich für die kommenden zwei Nächte angemeldet hatte. Sicherheitshalber... schließlich konnte ich ja nicht wissen, ob Felix ohne Voranmeldung Besuch in seinem kleinen Zimmerchen im Hotel empfangen durfte. Und fragen konnte ich ihn ja schließlich nicht.

Zwei U-Bahnstationen trennten den Bahnhof von meiner Pension, und nachdem mir dort ein Zimmer zugewiesen wurde, war ich mit meiner Wahl äußerst zufrieden: klein aber fein, Doppelbett, Schrank, Fernseher, Balkon auf einen ruhigen und grünen Hof. Für diesen Preis und Wiener Verhältnisse hatte ich hier ein echtes Schnäppchen erwischt.

Zeit, dieses Zimmer zu genießen, würde ich aber vermutlich sowieso eher nicht haben. Kaum war ich angekommen, musste ich auch schon wieder aufbrechen, um die Unterzeichnung des Arbeitsvertrages in der Bank nicht doch noch in letzter Sekunde zu verhindern.

Aber ich war pünktlich, und nach wenigen Minuten des üblichen Vorgeplänkels in Sachen Wetter und Anreise kamen wir zum Thema. Dr. Lugauer legte mir den Arbeitsvertrag vor, in dem mich natürlich zunächst nur die wichtigsten Eckdaten interessierten. Arbeitszeiten, Urlaubstage und Gehalt... und die Informationen, die dort schwarz auf weiß standen, raubten mir zunächst den Atem. Montag bis Freitag, 38,5 Stunden und dazu 14 Gehälter weit über 1000 Euro? Wo war der Haken?

Dr. Lugauer hatte mich mit einer dampfenden Tasse Kaffee alleingelassen: „Bitte lesen sie sich den Vertrag in aller Ruhe durch, unterschreiben sie oder kommen sie bei Fragen zwei Zimmer weiter in mein Büro.“

Ich las und unterschrieb ... und war absolut sicher, hier einen totalen Traumjob gefunden zu haben. Ich war von dem Gebäude angetan, ich war von der Herzlichkeit angetan – und ich war von dem Büro angetan, das mir beim anschließenden Firmenrundgang gezeigt wurde.

Meine künftige Chefin machte einen hochgradig sympathischen Eindruck, genau wie meine fünf Kollegen, die mir vorgestellt wurden. Sogar mein Schreibtisch schien bereits auf mich zu warten, und mein Herz schrie laut „JAAA!“ Etwas leiser sagte ich zu Dr. Lugauer und Frau van Barsick, der Leiterin des Serviceteams: „Da möchte ich ja am liebsten gleich loslegen.“

„Herzlich willkommen! Aber jetzt fahren sie zu ihrem Freund, genießen das Wiedersehen, feiern dann noch schön Weihnachten und Silvester in Deutschland und kommen dann voller Elan und mit frischen Kräften zu uns.“ Dr. Lugauer verabschiedete sich von mir, Frau van Barsick lächelte mich an, und ich freute mich schon jetzt auf den 7.Januar.

„Gern – und jetzt geht’s auf Zimmersuche. Frohe Weihnachten und kommen sie gut ins neue Jahr“ „Ein bisschen Zeit bleibt uns noch bis dahin, aber da wir uns ja nicht mehr sehen bis Januar: Danke, ebenfalls!“ Ich verabschiedete mich und fand mich wenig später glücklich und beschwingt im pulsierenden Leben des ersten Bezirkes.

Meine nächste Station war der 22. Bezirk, um dort das erste mögliche WG-Zimmer zu besichtigen. Gut vorbereitet wie ich war, wusste ich natürlich, welche U-Bahn ich nehmen musste. Es ging Richtung Donau, und da mir noch viel Zeit blieb, stieg ich an der Station Donauinsel aus.

Klar sah es hier Ende November anders aus als noch vor wenigen Wochen, als ich hier mit Felix diese einzigartige Oase in den Spätsommertagen genoss – aber der Anblick von Fluss, Nebenstrom und der für mich noch immer atemberaubenden Skyline ließ mich sofort in Gedanken zu meinem ersten Besuch hier zurückschweifen. Aber es waren ja nur noch wenige Stunden bis zum Wiedersehen. Felix, ich liebe dich!!!

Es dauerte ein bisschen, ehe ich in der Hochhauswüste den passenden Aufgang gefunden hatte. Eine nette junge Dame begrüßte mich im 12. Stock – hier hätte ich wirklich gute Gelegenheit, entweder meine Aversion gegen Fahrstühle abzubauen oder aber beim Treppensteigen ordentlich Kondition zu tanken.

Natascha bot mir sofort das du an und erläuterte: „Eigentlich wohne ich hier zusammen mit meinem Bruder, aber der ist seit September zu einem einjährigen Praktikum in Moskau. Tja, und da für mich diese Wohnung allein zu kostenintensiv ist, steht ab Weihnachten wieder ein Zimmer zur Verfügung. Solange wohnt der erste Zwischenmieter hier.“

Was mir Natascha dann zeigte, genügte meinen Ansprüchen vollauf. 20 Quadratmeter, voll möbliert mit TV und Internet. „Die Küche kannst du mitnutzen, und auch der Balkon steht dir uneingeschränkt zur Verfügung – alles für 400 EURO im Monat.“

Das war natürlich ein ganz schön heftiger Preis – andererseits war er ab Januar durchaus leistbar. Und als ich den Balkon betrat, wusste ich, dass es nicht nötig war, die zweite WG zu besuchen: Ein Wahnsinns-Ausblick über die Donau Richtung Innenstadt hatte mich absolut überzeugt.

Natascha spielte ihre Rolle als Amateur-Maklerin weiter perfekt: „Du musst es mal im Dunkeln sehen.“ „Das schau ich mir ab Neujahr für zwei Monate regelmäßig an. Du sagst, ab Weihnachten ist das Zimmer frei?“ Sie nickte. „Gut, ich muss nicht lange überlegen. Ich würde es nehmen und am dritten Januar einziehen. Wenn du damit einverstanden bist, dass ich die erste Miete Mitte Januar überweise, wenn ich mein erstes Gehalt kriege?“

Wir wurden uns schnell handelseinig und nutzten die nächste Stunde, um uns bei einem Kaffee ein bisschen genauer kennenzulernen. Ich vertraute ihr und erzählte die Geschichte, die mich nach Wien gezogen hatte. „Da hast du ja noch einen romantischen Abend vor dir.“ „Oh ja, auf den freue ich mich, seit ich Felix am Westbahnhof das letzte Mal in den Armen hatte.“

Da Felix erst gegen 22 Uhr Feierabend haben sollte, beschloss ich nach dem Abschied von Natascha noch in die City einen Happen essen zu gehen und entschied mich für ein leicht versteckt gelegenes Steakhouse im ersten Bezirk. Ein besseres argentinisches Rinderfilet hatte ich vorher noch nie irgendwo serviert bekommen, und als ich damit fertig war, hatte ich den Eindruck, in den kommenden drei Tagen durchaus auf Frühstück, Mittag und Abendessen verzichten zu können – ich war einfach pappesatt.

Kurz vor halb zehn hielt mich dann nichts mehr auf, alles zog mich zu dem Hotel, in dem Felix arbeitete. Ich betrat das Foyer und wandte mich erwartungsvoll an die Rezeption, wo mich eine langhaarige brünette Dame anstrahlte: „Grüß Gott, was kann ich für sie tun? Haben sie ein Zimmer reserviert?“

„Nein, ich wollte eigentlich zu ihrem Kollegen Felix Schladitz. Ich dachte eigentlich, dass er bis 22 Uhr an der Rezeption sein sollte?“

„Ja, ursprünglich schon. Aber er hat bereits 18 Uhr Feierabend gemacht heute und arbeitet dafür vier Stunden für mich am Samstag.“

Hurra, es lebe die Spontanität mit all ihren uneingeplanten Überraschungen! „Hm, wissen sie, ob er auf seinem Zimmer ist?“

„Möglich, aber ich glaube nicht. Er wollte mit einem Freund etwas unternehmen soviel ich weiß. Gehen sie nachschauen. Wenn sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock fahren, beginnt auf der rechten Seite der Mitarbeitertrakt. Felix wohnt in Zimmer 12.“

Als ich wenige Augenblicke später davor stand, schlug mir das Herz bis zum Halse. Ich klopfte und verstellte meine Stimme ein wenig: „Zimmerservice“.

Aus dem Zimmer lachte es: „Komm rein, Ali.“

Wer war Ali? Ich öffnete die Tür. …. Und wer verdammt war dieser Junge, der da nackt in dem Bett lag, in dem ich eigentlich Felix erwartete? „Hi, ich bin Raffael. Feli is schnell im Bad. Ich hab gedacht, du bist Ali, der Zimmerkellner. Wir haben grade ne’ Flasche Sekt bei ihm bestellt. Und du bist...?“

Ich war außer Stande, auch nur irgendwas zu sagen. Ich stürmte an dem verdutzt wirkenden Raffael vorbei ins Bad – und stand vor Felix, der erstens nackt und zweitens offenbar auf dem Weg zu Raffael war. „Guten Abend. Ist er das wert? Ist es das wert, Felix?“

Er schüttelte den Kopf. „Ich... er... es tut mir leid. Es ist einfach so passiert.“

Ich wurde dann wohl etwas lauter: „Eh hier irgendwas anderes einfach so passiert, gehe ich lieber. Euch beiden einen schönen Abend und eine schöne Zeit. Leb wohl, Felix.“

Was dann geschah, ist relativ schwierig nachzuvollziehen. Klar bei Sinnen war ich erst wieder, als ich am Wiener Westbahnhof vor der großen Zuginformationstafel stand. 23:45 Uhr Euronight nach München, und von dort aus würde ich im Stundentakt Richtung Hannover kommen. Ich wollte jetzt nur weg aus dieser Stadt, die mir grade eben die wohl größte Enttäuschung meines bisherigen Lebens beschert hatte.

Vor Stunden noch war ich ob des bevorstehenden Wiedersehens mit Felix im siebten Himmel gewesen, und jetzt wünschte ich ihn in die Hölle. Wer hoch fliegt, kann eben auch tief fallen.

Ich stattete mich im Bahnhofsshop noch mit ein paar Büchsen Bier und einer Schachtel Zigaretten aus. Eigentlich bin ich ja wirklich nur ein gelegentlicher Gelegenheitsraucher, aber auf dieser anstehenden Zugfahrt schien es mir sinnvoll, ein paar Zigaretten dabei zu haben. Ich verstaute meine Einkäufe in den Rucksack und ging langsam Richtung Zug. Die Fahrkarte war sowieso eine Woche gültig, nur auf die Reservierung würde ich wohl oder übel verzichten müssen. Egal, einfach nur weg.

Ich stand am Zug und hatte mir grade die erste Zigarette angezündet und dazu ein Bier aufgemacht, als ich von hinten angesprochen wurde. „Entschuldigung?“ „Ja?“

„Ich möchte hier nicht betteln und ich mach das hier auch grad das erste Mal, aber man hat mir das Portmonee geklaut ich muss zurück nach Hause. Hast du ein bisschen Geld übrig?“

Ich war drauf und dran, den bettelnden Jungen wegzuschicken, als es in mir „klick“ machte. Ich schaute ihn an, und es gab keine Zweifel. Das war der gleiche Junge, der bei meinem letzten Abschied von Wien zwei Euro für eine Reise nach Linz bekommen hatte – mit der gleichen Geschichte.

Um sicher zu gehen, fragte ich ihn: „Wo musst du denn hin?“

„Nach Linz, und ich weiß nicht, was ich heute Nacht machen soll, wenn ich diesen Zug nicht mehr kriege.“

„Rauchst du?“ Er nickte.

Ich bot ihm eine Zigarette an. „Wie lange ziehst du diese Nummer hier schon durch? Du hast mir vor zwei Monaten ungefähr mit der gleichen Geschichte schon mal zwei Euro aus der Tasche gelockt“

„Ich hab ihnen doch gesagt, mein Geld wurde geklaut. Das ist das erste Mal heute, sie verwechseln mich.“

„Pass auf, so ein hübsches Gesicht vergesse ich so schnell nicht. Außerdem bin ich höchstens zwei, drei Jahre älter als du, also bitte hör auf mit dem blöden Gesieze. Ich bin Marcel.“

„Daniel, aber bitte sag Danny zu mir, okay?“

In seinem Kopf arbeitete es sichtbar, in meinem aber nicht weniger. Hatte ich ihm wirklich grade gesagt, dass er ein hübsches Gesicht hat? Nun, es stimmte definitiv. Ich begann, mich mit einem verrückten Gedanken anzufreunden. „Pass auf, du musst nach Linz. Wir werden jetzt zum Fahrkartenautomaten gehen und dir ein Ticket holen. Und unterwegs erzählst du mir deine wirkliche Geschichte. Ich bin morgen wieder in Deutschland, du brauchst dir also keine Gedanken zu machen, das ich dir irgendwas tue, okay?“

Es kam in etwa die Reaktion, die ich erwartet hatte: „Das... das kann ich nicht annehmen.“ Er machte Anstalten, aufzustehen und wegzulaufen. Ich hielt ihn sanft an der Schulter fest: „Danny, du kannst jetzt gehen und weitermachen. Du kannst aber auch meine Einladung auf ein Bier oder eine Cola annehmen – hier oben im Bahnhof gibt es ein ganz nettes Cafe, wenn ich vorhin richtig gesehen habe. Eh der Zug fährt, bleibt uns sowie noch eine halbe Stunde.“

Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, aber er stand auf und sagte: „Okay.“ Bis zum Cafe kamen wir nicht, wir entschieden uns gleich dafür, an der Wettstation ein frisches Pils zu uns zu nehmen. Danny sah mich mit großen Augen an: „Darf ich ne Wurst haben?“

Das konnte ich ihm natürlich schlecht abschlagen, und während er mit sichtbar großem Appetit eine XXL-Bratwurst verschlang, wurde ich mir über einige Dinge klar, die ich in den letzten Minuten wohl einfach ausgeblendet hatte.

Zum Beispiel stand der größere Teil meines Gepäcks noch in der Pension. Und Daniel sorgte dafür, dass ich mir im Moment nicht zuviel Gedanken über einen Menschen machte, den ich geliebt und der mich hintergangen hatte. Allein dafür hatte er meine Aufmerksamkeit verdient. Ich wollte ihm einfach helfen, wenn möglich. Aber dafür musste ich wissen, wie.

„Wie dringend wirst du heute Abend in Linz erwartet von deinen Eltern?“ Er sah mich mit großen Augen an und begann plötzlich zu weinen. Oops, hier hatte ich wohl je nach Betrachtungsweise an der richtigen oder falschen Stelle angesetzt. Ich musste jetzt nicht mehr lange überlegen.

„Kleiner, pass auf: ich hab nicht weit von hier ein Pensionszimmer, das noch zwei Nächte bezahlt ist. Da steht ein Doppelbett drin und wir haben es sicher gemütlicher als hier am Bahnhof. Ich will dich zu nichts zwingen, und ich habe absolut nichts mit dir vor. Weißt du, ich habe heute die Enttäuschung meines Lebens hinter mir und glaube, dass es dir genau so gut tut wie mir, wenn wir uns das ein oder andere Geschichtchen einfach mal von der Seele quatschen. Was meinst du?“

Er konnte wieder lächeln, trank als Antwort sein Bier in einem Zug aus und legte mir seinen Arm um die Schulter: „Lass uns gehen.“

Eine gute Stunde später saßen wir in meinem Zimmer in der Pension. Die von mir herausgeklingelte Wirtin hatte etwas merkwürdig geschaut, dass ich einen zweiten männlichen Gast für mein Zimmer anmeldete, akzeptierte aber vermutlich auch auf Grund meiner Sofortzahlung ohne irgendwelche Nachfragen.

Ich hatte ihm in aller Kürze erzählt, was ich den letzten Stunden in Wien erlebt hatte. Und als ich bei meiner Flucht aus dem Hotel angekommen war, legte er wieder seinen Arm um meine Schulter: „Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.“ Ich wischte ihm vorsichtig eine Träne aus seinem Augen und fragte ihn: „Willst du mir deine Geschichte auch erzählen?“ Er nickte.

„Ich… ich bin vor gut zwei Monaten zu Hause abgehauen. Das war wirklich in Linz, aber es war für mich zuletzt unerträglich, bei meinen Eltern zu wohnen. Keine Liebe, ständig nur Bevormundungen, Kritik, Nörgeleien. Nie mal ansatzweise der Hauch eines Lobes. Tja, und dann sind mir Gerichtsunterlagen in die Hände gefallen. Ich bin nicht das leibliche Kind meiner Eltern, sie haben mich damals vor 17 Jahren nur als Pflegekind aufgenommen. Weißt du, ich hatte eine wirklich gute Kindheit. Aber in den letzten Jahren hat dieses Gefühl der Geborgenheit immer mehr nachgelassen, bis es zum Schluss ganz weg war. Irgendwann hab ich es dann nicht mehr ausgehalten, bin raus und ab nach Wien. Mein großer Bruder arbeitet hier, und dort durfte ich wenigstens übernachten. Unterstützung hab ich von ihm aber auch kaum gekriegt. Wie ich versucht habe, zu ein bisschen Geld zu bekommen, hast du mitbekommen. Und das hat meistens sogar ganz gut funktioniert. Aber das kann ja nicht ewig so weitergehen…“

„Das stimmt allerdings. Bist du mit der Schule fertig?“

„Ja, nicht besonders gut. Aber die Hauptschule hab ich abgeschlossen. Eine Ausbildung hab ich nicht gekriegt, und irgendwie ist das im Moment alles so hoffnungslos. Ich hab vor drei Wochen in Linz angerufen – und weißt du, was mein Pflegevater gesagt hat? „Du hast dich dafür entschieden, den Weg allein zu gehen. Dann mach das jetzt auch.“ Und mein Bruder hat mir jetzt auch die Pistole auf die Brust gesetzt: Bis zum Jahresende muss ich eine andere Schlafstätte haben, sonst sitze ich auf der Straße. Marcel, was soll ich machen?“

Wenig später hatte sich Danny in den Schlaf geweint, eng an mich gekuschelt lag er neben mir. An schlafen war bei mir nicht zu denken, es galt möglichst noch morgen eine Lösung zu finden, die ihn zumindest vorübergehend in sichere Verhältnisse brachte.

Am nächsten Morgen waren wir wieder relativ zeitig am Wiener Westbahnhof, um im dortigen Internetcafe nach Möglichkeiten zu suchen – und danach war unser erster Ansprechpartner die Caritas. Noch am gleichen Tag hatten wir ein Gespräch im Wiener Büro, wo Daniel noch einmal seine Geschichte erzählte. Nachdem geklärt war, dass er weder vermisst gemeldet noch drogenabhängig oder irgendwie vorbestraft war, wurde Daniel in ein entsprechendes Hilfsprogramm aufgenommen.

Die Mitarbeiterin der Institution schien wirklich Nägel mit Köpfen gemacht zu haben: „Okay, Daniel. Wir werden versuchen, dich in Kürze in einer betreuten Jugend-WG unterzubringen. Das kann aber bis zu zwei Wochen dauern. Eventuell kannst du solange noch bei deinem Bruder schlafen? Er hat dich doch nie misshandelt oder so, oder?“ Danny schüttelte den Kopf: „Nein, definitiv nicht.“

„Für uns ist wichtig, dass du nicht mehr betteln gehst. Wenn du Hunger haben solltest, wenn du Probleme hast, bitte komm zu uns, komm zu mir. Ich bin Brigitte, und du kannst mich im Notfall 24 Stunden pro Tag erreichen. Wenn Du dann dein Zimmer bei der WG hast, wird es wichtig sein, dass du nicht nur einfach in den Tag hinein lebst, sondern dass du dich um eine Lehrstelle kümmerst. Und nach Möglichkeit noch daran arbeitest, deinen Schulabschluss zu verbessern. Willst du das alles?“

Daniel nickte: „Ich will nur eins: wieder ein geregeltes Leben, in dem nach Möglichkeit auch mal jemand für mich da ist.“ Brigitte antwortete: „Ja, das kann ich verstehen. Aber du hast soviel Glück gehabt, dass sich Marcel um dich gekümmert hat, soviel Glück! Du wirst lernen müssen, ab sofort überwiegend auf eigenen Füßen zu stehen. Marcel, wirst du weiter ein bisschen ein Auge auf ihn haben?“

„Ja, ich bin ab Anfang Januar dauerhaft in Wien – und werde dann für ihn da sein.“

Danny hatte Tränen in den Augen: „Womit hab ich das verdient?“

Brigitte sinnierte und sagte halb zu sich selbst: „Es ist selten genug, dass Jugendliche in deiner Situation den Mut aufbringen, Hilfe zu suchen. Die meisten landen im Drogen- und Obdachlosenmilieu. Denk nicht darüber nach, womit du es verdienst hast. Komm zurück ins geregelte Leben – und nutze deine Chance!“

Und wieder stand ich am Wiener Westbahnhof, um mit einem Zug zurück in die Altmark zu fahren. Aus meiner lieben Überraschung für Felix war eine böse für mich geworden – aber seit Freitag hatte ich unglaublich wenig Zeit gehabt, an meinen Ex zu denken. Danny versprach mir zum Abschied, keinen Mist zu bauen und mich im Notfall jederzeit anzurufen. Wir hatten mit Brigitte vereinbart, über ihren PC per eMail Kontakt zu halten, so dass ich jederzeit auf dem Laufenden sein würde.

Im Zug kam ich ins Grübeln – vor welchem Absturz hatte ich Daniel bewahrt? Auf alle Fälle musste er der Untreue von Felix dankbar sein. Wenigstens hatte dieser schicksalhafte Abend im Hotel auch eine unglaublich gute Seite. Aber was würde daraus werden? Ich hatte nun eine neue Mission für Wien – statt eines glücklichen Lebens mit Felix setzte ich mir als Ziel, Daniel auf dem Weg in ein geregeltes Leben als Freund zur Seite zu stehen, wenn er das auch nur annähernd wollte. Zweifel hatte ich daran keine.

8. Tobias – Partypläne

Irgendwie stand plötzlich Weihnachten vor der Tür. Klar, in den Geschäften war kurz nach Ostern umgestellt worden von Schokoladenhasen auf Kakaoweihnachtsmänner und längst waren gefärbte Eier durch Lebkuchen ersetzt. Doch so richtig ernst wurde es erst, als im Radio jede Stunde mindestens dreimal „Last Christmas“ gespielt wurde. So richtig weihnachtlich würde es dieses Jahr für mich auch gar nicht werden – bei der Stations-Dienstplaneinteilung hatte ich mich dafür entschieden, zu Silvester und Neujahr freizuhaben und dafür eben Weihnachten arbeiten zu gehen.

Zwischen Fabian und mir war seit dem Kneipen-Abend alles in Butter – auf der Station wurden wir die Unzertrennlichen genannt, was die ganze Geschichte auch mit Sicherheit gut umschrieb.

Nach Marcels schockierenden Erlebnissen mit Felix in Wien hatte ich mein schüchternes Bemühen, Fabian als Boyfriend für mich zu gewinnen, komplett eingestellt. Diese Freundschaft bedeutete mir schon nach wenigen Wochen viel zu viel. Und Fabian dachte wohl ähnlich darüber.

„Das mit Felix hätte ich mir gern alles erspart“, hatte Marcel an irgendeinem Abend sinniert, an dem wir uns zu dritt in meiner Wohnung getroffen hatten, um Weihnachten und Silvester zu planen.

„Aber andererseits hättest du dann Daniel nicht kennenlernen und retten können.“ Fabian brachte es auf den Punkt, allerdings war das für mich eigentlich unvorstellbar, irgendeinen wildfremden, bettelnden Jungen mit in mein Zimmer zu schleppen.

„Ich glaube, ich hätte das auch überhaupt nicht gemacht, wenn ich nicht emotional so durch den Wind gewesen wäre. Und als ich seine Geschichte gehört hatte, konnte ich ihn nicht mehr loslassen.“

Ja, das konnte ich gut verstehen. Auch mich hatte diese Geschichte tief berührt, und immer wieder ließ ich mir erzählen, wie es Danny in Wien erging. „Gibt’s Neuigkeiten?“

Marcel schüttelte den Kopf: „Nein, wie ihr ja wisst, wohnt Daniel nun schon seit einiger Zeit in der WG. Mit den Leuten dort kommt er gut klar, und er hat bei einer Gärtnerei einen Praktikumsvertrag mit der Zusicherung, ab Sommer eine Lehre beginnen zu dürfen. Ich denke, er ist auf alle Fälle in sicheren Händen. Brigitte hat auch versucht, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen. Aber die haben sofort abgewimmelt und beharren auf dem Standpunkt, bei soviel Undankbarkeit soll Daniel allein sehen, wie er klarkommt.“

Bei soviel Ignoranz wurde mir vom blanken Zuhören schlecht – ein Pflegekind war doch keine Sache, die man einfach in die Ecke stellen kann, wenn das Interesse nachlässt!

Auf alle Fälle freute sich Marcel auf Wien, und nachdem ich zu später Stunde allein mit Fabian auf meinem Bett saß, sagte ich ihm: „Ich hoffe so sehr, dass Marcel nicht noch mal so doll enttäuscht wird. Ist dir übrigens klar, dass wir vergessen haben, über Silvester zu sprechen?“

Er grinste: „Nun, vergessen würde ich das nicht nennen. Ich habe ganz bewusst nicht mehr davon angefangen. Schau, der Jahreswechsel wird Marcels letzter großer Auftritt hier. Was hältst du davon, wenn wir eine Überraschungs-Abschieds-Party organisieren?“

Dieser Gedanke gefiel mir sofort und wir starteten gleich damit, Pläne zu schmieden. Alte Klassenkameraden, Kollegen von der Ausbildung, Familie und Bekannte… nicht zuviel Leute, aber für eine Party im kleinen Kreis sollte dieser Anlass allemal ausreichend sein.

Nachdem Fabian weg war, begann in mir noch ein weiterer Gedanke zu reifen, aber dazu allerdings musste ich mir auf der Station Unterstützung einer Schwester holen. Wer sagt denn schließlich, dass eine Überraschungsparty ausschließlich für eine Person gut sein kann?

In den kommenden Tagen hatten wir nicht nur im Krankenhaus alle Hände voll zu tun, sondern betätigten uns auch als Veranstaltungsorganisator. Wir telefonierten mit potentiellen Gästen – wie erwartet war das Interesse riesig, an dieser Feier teilzunehmen. Marcels Eltern sollten zunächst dafür sorgen, dass ihr Sohn keine weiteren Party-Aktivitäten für Silvester in seinem Veranstaltungskalender berücksichtigte.

Die Ruderstation am Altmärker See war von uns auserkoren, hier sollte die Party steigen. Und als wir eines Abends den entsprechenden Nutzungsvertrag direkt vor Ort unterzeichnet hatten, schlenderten wir an der Uferpromenade durch eisigen Wind zurück Richtung Innenstadt. Im Sommer ein netter Weg, der sich aber bei eisigen Temperaturen und Ostwind unglaublich in die Länge zog.

„Wir hätten wohl doch das Auto nehmen sollen, oder?“

„Ja, aber dann hätten wir auf den tollen Glühwein verzichten müssen. Wenn du dich aufwärmen willst, wie wär’ es dort?“ fragte mich Fabian und deutete auf das Altmarker Seeschlösschen, an dem wir grade vorbeigingen.

„Bist du dir sicher, dass dein Onkel nicht da ist? Aber lass mal… in einer Viertelstunde sind wir bei mir, dann gibt es Glühwein.“

„Du bist ein Engel. Bis dahin schaffe ich es grade noch, nicht zu erfrieren.“ Fabian nahm mich spontan in den Arm und drückte mir einen Kuss auf den Mund.

„Ich wärme dich jederzeit, wenn du magst.“

„Bei so einem Angebot ist man ja sogar geneigt, im Sommer bei 30 Grad zu frieren.“

„Flirtest du grade mit mir?“

Gespielt entrüstet schüttelte Fabian den Kopf. „Neeeeeinn. Übrigens sollten wir irgendjemanden beauftragen, am Neujahrsmorgen Taxi zu spielen. Weil, wenn das zu Silvester auch so saukalt und dann vielleicht noch glatt ist, sollten wir niemandem zumuten, den Weg in die Stadt laufen zu müssen.“

„Daran hab ich bereits gedacht. Marcels Vater steht gern zur Verfügung. Er trinkt seit seinem Herzinfarkt eh’ keinen Alkohol mehr. Übrigens hat er auch angeboten, für den Fall aller Fälle auf dem Campingplatz zwei oder drei Bungalows für Gäste zur Verfügung zu stellen, die von außerhalb kommen. Beheizt sind sie.“

Fabian lachte: „Du hast wirklich an alles gedacht. Meinst du, wir könnten einen Besucher aus Wien einfliegen lassen?“

„Ich glaube nicht, dass es günstig wäre, Felix… Moment, oder meinst du diesen Daniel?“

Fabian nickte. „Ja, damit würden wir glaube ich auch ein gutes Werk tun. Dann kommt er mal raus aus der WG und muss unter Umständen nicht allein ins neue Jahr rutschen.“

„Vielleicht hast du Recht, ich sollte mal mit dieser Caritas-Pflegerin Kontakt aufnehmen.“

Wenig später konnten wir die Kälte hinter uns lassen … das Projekt Silvesterparty hatte deutliche Konturen angenommen.

Marcel machte es mir nicht schwer, an die Wiener Nummer der Caritas zu kommen. Bei seinem nächsten Besuch konnte ich mir die Nummern aus dem Handy abschreiben, während er mit Fabian kurzerhand zum Einkaufen geschickt wurde. Tja, für einen Männerabend braucht es halt auch Zutaten für ein Abendessen (oder zumindest Tiefkühlkost in ausreichenden Mengen) sowie diverse Getränke.

Bereits einen Tag später hatte ich Brigitte an der Strippe und konnte ihr relativ rasch klar machen, worauf ich hinauswollte. „Halten sie das für eine gute Idee?“, fragte ich sie.

„Oh ja, für eine sehr gute. Die WG wird zu Silvester fast leer sein, die meisten Bewohner feiern mit Freunden. Und eine Reise wäre für Daniel sowieso eine prima Sache. Wenn er kommen will, lege ich ihm sicher keine Steine in den Weg. Unter Umständen ist es sogar möglich, dass wir das Ticket zu einem Teil mitfinanzieren. Ich mach mich da einfach mal schlau. Wollen sie mit Daniel sprechen oder soll ich das für sie regeln?“

„Ich glaube, ich würde das schon ganz gern selbst machen“

„Gut, dann gebe ich ihnen mal die Nummer von der Gärtnerei, in der sie Daniel jetzt erreichen können und ich würde sie bitten, einfach heute Abend noch mal bei mir anzurufen.“

So verblieben wir, und es dauerte keine Minute, bis ich Daniel am Hörer hatte. „Hier ist der Tobi. Ich bin ein guter Freund von Marcel, und wie du ja sicher weißt, wird er im neuen Jahr nach Wien kommen. Also wir planen so eine Art Überraschungs- und Abschiedsparty zu Silvester, und wir wollten dich fragen, ob du nicht dabei sein willst?“

Er schwieg einige Sekunden, bevor er zögerlich antwortete: „Ich würde unglaublich gern kommen, aber ich befürchte, ich kann mir das nicht leisten.“

„Du würdest aber schon gern?“

„Unglaublich gern. Ich hab ihm meine Zukunft zu verdanken.“

„Okay, dann mach dir bitte über das Finanzielle keine Gedanken. Die Unterbringung hier ist gesichert, und alles andere kläre ich mit Brigitte, okay?“

„Okay. So gute Freunde wie der Marcel möchte ich auch mal haben.“

„Hast du doch schon. Und vor allem hast du Marcel!“

Schon bald darauf war klar, dass Daniel am 30.12. per Zug anreisen, dann eine Nacht auf dem Campingplatz verbringen und zu Silvester Stargast auf der Party sein würde. Nach meinem Willen und unter Umständen sollte das aber nicht der einzige bleiben.

Während meiner nächsten Spätschicht wendete ich mich zwischen Blutdruckrunde und Feierabend an Heidrun: „Sag mal, du als stellvertretende Stationsschwester hast doch Zugang zum digitalen Patientenarchiv, oder?“

Sie nickte: „Ich ahne schlimmes, wenn du schon so anfängst. Es ist keinesfalls gestattet, Unbefugten Zugang zu diesem Programm zu gewähren.“

„Pass auf, für einen Freund von mir und den Fabian soll es zu Silvester eine Überraschungsparty geben. Und dazu will ich einen ehemaligen Patienten einladen. Fabian hat ihn zu Beginn seiner Dienstzeit hier kennen gelernt.“

„Kannst du ihn nicht irgendwie per Handy erreichen?“

„Ja, das war meine allererste Idee, und es war auch nicht schwer, an die Nummer zu kommen. Aber diese Nummer gibt es nicht mehr.“

„Und es ist nicht möglich, dass der junge Mann nichts mehr mit Fabian zu tun haben will?“

„Genau das will ich rausfinden.“

„Name?“

„Markus“

„Und weiter?“

„Ich weiß es nicht…“

„Weißt du wenigstens, wie alt?“

„18, eventuell auch schon 19.“

„Ich kann dir nichts versprechen, okay?“

Später am Abend saßen wir im Schwesternzimmer, Heidrum war mit Protokollierungen beschäftigt und ich damit, Patientenakten für die Digitalisierung vorzubereiten, als es in einem Patientenzimmer klingelte. Heidrun sah auf: „Lass Tobi, ich gehe. Du kannst solange auf meinen PC aufpassen und schauen, das niemand rangeht.“ Mit einem Zwinkern eilte sie in Richtung Patientenruf, und ein Blick auf ihren Monitor zeigte mir, dass ich gar nicht mehr suchen musste: Markus` Patientendatei war bereits geöffnet, und ich hatte mir schnell Adresse und Festnetznummer notiert. Demnach wohnte er in einem Vorort, und ich nahm mir vor, diesem am kommenden Samstag einen Besuch abzustatten, wohl wissend, dass ich mich damit aber auch jämmerlich verbrennen könnte.

Als Heidrun zurückkam, lächelte ich ihr kurz zu: „Vielen Dank“

„Wofür?“

„Dafür, dass du auch mal selbst zur Klingel gegangen bist.“

„Oh, kein Problem. Aber jetzt mach Feierabend es ist grad mal so schön ruhig. Die restliche halbe Stunde schaffe ich auch noch allein. Vielleicht willst du ja noch jemanden besuchen?“

Ja, am liebsten wäre ich noch an diesem Abend gefahren, aber die Vernunft siegte über die Neugier und ließ mich brav bis zum Samstag warten. Gegen elf stand ich vor der Adresse, und fast hätte mich in letzter Sekunde noch der Mut verlassen. Mit schlotternden Knien stand ich vor der Tür. Berger stand am Klingelschild. Der Name stimmte – also Augen zu und durch.

Ich läutete, und eine nette Frau Ende 40 öffnete die Tür: „Guten Tag! Bitte?“

„Ich würde gerne zum Markus! Ist er da?“

„Ja, schon, aber er schläft noch. Er hat Nachtschicht gehabt. Ist es dringend, soll ich ihn wecken?“

„Nein, nein, nicht nötig. Ist er heute Abend wieder arbeiten? Sonst würde ich dann nochmal vorbeikommen. Ist vielleicht ein bisschen komplizierter.“

„Mama, wer war das?“, rief jemand aus dem Hausinneren. Markus` Mutter schaute mich erwartungsvoll an.

„Mein Name ist Tobias Rittler. Der Witz an der Sache ist: Markus wird mich nicht kennen, es geht um eine Überraschungsparty mit etwas kompliziertem Hintergrund.“

„Das klingt ja spannend. Kommen sie erstmal rein.“ Frau Berger wandte sich dann ins Hausinnere an ihren Sohn: „Wenn du eh schon wach bist, mach dich rasch fertig und komm runter. Hier ist jemand, der zum Frühstück `ne Tasse Kaffee trinken möchte. Erschreck dich nicht, du kennst ihn vermutlich nicht.“

Daraufhin brachte sie mich in die Küche und komplimentierte mich an einen liebevoll gedeckten Kaffeetisch: „Ich vermute mal, dass sie schon gefrühstückt haben. Aber für eine Tasse Kaffee ist es nie zu spät, oder?“

Diese Einladung konnte ich natürlich nicht abschlagen – und mit einem Blick auf die fürstlich gedeckte Frühstückstafel bedauerte ich es, vor meinem Besuch so ausgiebig gefrühstückt zu haben, dass mein Magen noch kein grünes Licht für einen Brunch bzw. Mittagessen gab. Frau Berger hatte sich entschieden, einen diskreten Rückzug anzutreten: „Markus müsste gleich da sein. Mich entschuldigen sie bitte, der Wochenendeinkauf ruft! Auf Wiedersehen!“

Ziemlich genau, nachdem der Kaffeespiegel in meiner Tasse auf null gesunken war, stand Markus in der Tür: „Guten Morgen!“

Hoppala! Ich konnte Fabian sehr gut verstehen. Der Junge, der da grade eben in die Küche kam, hätte meine Gefühle vermutlich auch durcheinander gebracht. „Guten Morgen, Markus. Sorry, wenn ich deine Nachtruhe einfach so gestört habe.“

„Kein Problem. Wenn ich viel länger geschlafen hätte, hätte ich dieses Frühstück verpasst. Greif zu, wenn du magst und sag mir, was ich für dich tun kann.“

„Zunächst mal sollte ich mich vorstellen. Mein Name ist Tobias, und ich bin aktuell Zivi im diakonischen Krankenhaus.“ Ich wartete kurz auf eine erste Reaktion, aber Markus nickte nur leicht und kaute weiter an seinem Brötchen.

„Gemeinsam mit meinem Kollegen Fabian, den du kennen dürftest, organisiere ich für Silvester eine Überraschungsparty für einen gemeinsamen Freund, der ins Ausland geht. Und irgendwann kam ich auf die Idee, dass du eventuell Überraschungsgast für Fabian sein könntest. Ich bin jetzt einfach mal mit der Tür ins Haus gefallen, schließlich weiß ich nicht, was damals war und warum du so einfach weg bist von der Station.“

Es dauerte einen Moment, ehe Markus antwortete: „Zuerst mal danke ich dir, dass du gekommen bist. Das war mit Sicherheit kein Fehler von dir. Ich denke mal, dass du so ziemlich alles weißt, oder?“

„Was meinst du?“

„Das Fabian mir eine Liebeserklärung gemacht hat.“

„Ja, er hat sie mir sogar gezeigt. Ich glaube, er hat nie wirklich überwunden, dass du einfach so weg bist damals. Für dich hat er sich sogar bei seinen Eltern geoutet, was allerdings ziemlich in die Hosen ging.

Markus` Augen bekamen einen traurigen Schimmer: „Ich weiß. Ich hätte ihm geantwortet, wahnsinnig gern geantwortet. Aber am nächsten Morgen stand plötzlich Fabians Vater bei mir im Zimmer – und drohte mir damit, mir alle Knochen zu brechen, wenn ich seinen Sohn auch nur einmal anfasse. Ich könnte mir dieses Bett dann hier dauerhaft reservieren lassen. Vielleicht kannst du dir vorstellen, wie sehr mich das geschockt hat.“

Ich konnte nur nicken. „Fabian hat mir gesagt, dass seine Eltern damit Probleme haben. Große Probleme! Aber das überschreitet sämtliche Grenzen. Wir müssen ihm das sagen, findest du nicht?“

„Ja. Aber meinst du nicht, dass eine Überraschungsparty dafür der falsche Zeitpunkt ist?“

„Mit diesen Infos kann ich dir da nur zustimmen. Vertagen wir uns aufs neue Jahr?“

„Okay. Ich würde mich freuen, wenn wir in Verbindung bleiben und im Januar eine kleine Überraschungsveranstaltung im kleinen Kreis vereinbaren. Du, ich und Fabian. Auch wenn ich nicht glaube, dass es dann eine Party wird.“

„Markus, darf ich dir noch eine Frage stellen?“

„Ja, sicher.“

„Hat Fabian Chancen bei dir?“

Er lächelte und nickte: „Hat er.“

„Danke für deine Ehrlichkeit. Wenn das so weitergeht, haben wir die Ortsgruppe bald vollständig.“

Er überlegte einen Moment und lachte dann: „Ich bin gerne dabei.“

9. Marcel – Happy new year

Weihnachten ganz in Familie – in diesem Jahr hatte das für mich eine ganz besondere Bedeutung. Klar, wenn zwischen mir und Felix alles klar gewesen wäre, hätte ich ihn tierisch vermisst. Aber so freute ich mich, im Kreise meiner Lieben zu sitzen und vor allem meinen Vater neben mir zu haben. Das hätte auch ganz anders aussehen können.

Meine Weihnachtsgeschenke freuten mich unglaublich, zeigten mir aber auch, dass ich ab Januar unwiderruflich in ein neues Leben starten würde. Ein liebevoll gestaltetes Fotoalbum, das Bilder von mir der letzten 19 Jahre zeigte und eine Wiener U-Bahn-Jahreskarte. Ja, die würde ich brauchen können. Mit den sogenannten „Öffis“, den öffentlichen Nahverkehrsmitteln, ging es in der österreichischen Weltmetropole deutlich schneller vorwärts als mit dem Auto. Vorausgesetzt, man ist nicht nachts um drei unterwegs.

Meine Mutter riss mich aus meinen Gedanken: „Marcel, wir haben noch eine große Bitte an dich. Was machst du zu Silvester?“

„Ich werde mich mit Fabian und Tobias treffen. Ihr werdet lachen, aber was wir genau machen, wissen wir noch gar nicht.“

„Wir werden dich ja im nächsten Jahr eher selten zu Gesicht bekommen, wenn es schlimm wird, nur zu Ostern oder Weihnachten. Wir möchten dich bitten, Silvester mit uns am Campingplatz zu feiern.“

Das passte ja nun überhaupt nicht in meine Planung, aber natürlich konnte ich meiner Familie diesen Wunsch nicht abschlagen. Und mit Sicherheit würde es nicht langweilig werden. In meiner jüngeren Jugend wurde dort regelmäßig das neue Jahr begrüßt.

Ich erinnerte mich an eine Silvesterfeier – ich war noch zu jung, um mit Sekt anzustoßen – in der es besonders feucht-fröhlich zur Sache ging. Feucht im doppelten Sinne des Wortes: Weit nach Mitternacht waren einige Dauercamper auf die Idee gekommen, mit dem Vorsatz „Fit durchs Jahr“ sofort zu beginnen und waren mit Hurra und zwei Promille in den Altmarker See gestürmt.

Für alle, die nicht mit drin waren im mit vier Grad wohltemperierten Wasser, war das auch ganz lustig. Und auch alle anderen konnten später dann auch darüber lachen, als die Lungenentzündungen verklungen waren.

Ich antwortete meinen Eltern: „Na klar feiere ich mit euch. Ist dann fast so ein bisschen wie der endgültige Abschied meiner Jugendzeit. Ich hab grad an die Nacht gedacht, wo ein paar Leute bei minus fünf Grad unbedingt baden gehen wollten.“

Wir begannen, in alten Zeiten zu schwelgen, und es dauerte eine ganze Weile, bevor sich unsere familiäre weihnachtliche Runde auflöste. Ich klemmte mir das Fotoalbum unter den Arm, krallte mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank und ging in mein Zimmer.

Ich hatte mir fest vorgenommen, noch ein bisschen in Gedanken in der Vergangenheit zu schwelgen, wollte aber zuvor wenigstens noch versuchen, Daniel im Chat zu erreichen. Das war immer ein kleines Glückspiel, denn in seiner WG gab es nur einen internetfähigen PC, der natürlich bis in die späten Nachtstunden hinein optimal frequentiert war.

Ich grübelte vor mich hin, immerhin war es sein erstes Weihnachten ohne Familie. Fast ganz allein in der heiligen Nacht – so was verkraftet nicht jeder.

Es war wie vermutet, Danny war nicht zu erreichen. Ich beschloss, ihm wenigstens noch eine Email zu schicken und stellte bei der Sondierung meines Posteinganges fest, dass er mir zuvor gekommen war.

Hallo Marcel!

Ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest! Genieße diese Stunden bei deiner Familie, ehe du nach Wien kommst, worauf ich mich übrigens sehr freue. Ich weiß, dass du dir Gedanken machst, wie es mir geht. Brauchst du aber nicht – es ist alles okay. Brigitte hat für diejenigen, die keine Familie mehr haben, ein ganz tolles Fest organisiert. Wir sind hier wenigstens unsere Ersatz-Familie, und das mit dem Zusammenhalt klappt ganz gut. Der einzige, der mir wirklich fehlt, bist du. Du hast mir das Leben gerettet, und dafür danke ich dir und werde ich dir ewig dankbar sein.

Ich freue mich auf dich, komm gut ins neue Jahr!

Dein Danny

Ich antwortete gleich:

Hi Danny!

Vielen, vielen Dank für deine lieben Weihnachtsgrüße. Und auch von mir noch schöne Stunden. Mach DU dir nicht zu viele Gedanken, du bist auf dem richtigen Weg. Und ich bin stolz auf dich. Du musst mir nicht dankbar sein, zeig mir, dass du stark genug bist, deinen Weg allein zu gehen. Und wenn du Hilfe brauchst, werde ich da sein, um dir zur Seite zu stehen.

Auch ich freue mich auf dich – guten Rutsch, aber vielleicht telefonieren wir vorher noch mal!

LG, Dein Marcel

Was wäre aus Daniel geworden, wenn ich Felix nicht in flagranti erwischt hätte? Unzählige Male war mir diese Frage schon durch den Kopf gegangen – und ebenso oft war ich zum Schluss meiner Gedanken dabei gelandet, dass es viel besser wäre, das nicht zu wissen.

Plötzlich saß ich wie eine eins im Sessel, eine weitere Email hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Sie kam von Felix. Ich kämpfte mit mir, ob ich sie öffnen und lesen sollte, entschied mich dann aber doch dafür.

Hallo Marci,

zunächst mal für dich, deine Angehörigen und Freunde ein frohes Weihnachtsfest. Ich habe lange überlegt, ob ich dir schreiben soll oder nicht. Ich weiß, dass ich unglaublich großen Mist gebaut habe und du mir sicher nicht wirklich verzeihen kannst. Darum bitten möchte ich dich trotzdem.

Für das neue Jahr wünsche ich dir alles Gute, insbesondere für deine Zeit in Wien, und vielleicht können wir uns ja einfach mal treffen und über das, was war, reden.

Liebe Grüße, Dein Felix

.

Dein Felix…. was wollte er? In meinem Kopf spielte sich alles noch einmal ab – das WM-Aus, die Lehrlingsabschiedsfeier, unser erster Tag in Wien und der Abend im Hotel. Und ich spürte, wie groß die Enttäuschung in mir noch immer war. Anderseits wollte ich die Tür noch nicht komplett zuschlagen – und ich antwortete ihm kurz und knapp:

„Bitte gib mir Zeit!“

Um mich abzulenken, tauchte ich in meine Familiengeschichte und das entsprechende Fotoalbum ein. Ich als Baby, als Kleinkind auf dem Campingplatz , bei der Einschulung, auf Klassenfahrten, bei der Schulabschlussfeier und zu Beginn meiner Lehre im Hotel.

Das vorletzte Bild hatte mein Vater aufgenommen – entstanden an dem Tag, als ich Felix nach Wien verabschieden musste. Wir hatten uns beide in den Armen und Tränen in den Augen.

Auf dem letzten Foto war mein Papa zu sehen, kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Ein ganzes Leben, was da in dieser Weihnachtsnacht in Fotos noch mal vor und in mir ablief. Festgehalten in einem liebevoll zusammengestellten Fotobuch.

Viel hätte ich dafür gegeben, mir das Buch der nächsten Jahre schon mal im Voraus anschauen zu können, und irgendwann zwischen Vergangenheit und Zukunft versank ich dann in Morpheus Armen. Ein paar menschliche wären aber auch nicht schlecht gewesen.

Am Tag vor Silvester hatte ich versucht, Daniel noch mal zu erreichen. Aber weder in der WG noch in der Gärtnerei konnte ich ihn an die Strippe bekommen, was insofern ungünstig war, dass er kein eigenes Handy besaß. Auch Brigitte konnte mir nichts sagen, nur, dass er wohl mit der Firma wichtige Außentermine hatte. Hallo? Mit denen hatte ich doch grade telefoniert! Hätten die mir das nicht vielleicht sagen können?

Auch am 31. war es nicht möglich, Dannys Stimme an mein Ohr zu bekommen. Eine WG-Silvesterparty außerhalb – und dorthin waren die Jungs schon ab 12 Uhr am Mittag unterwegs. Na, die schienen es ja ordentlich krachen zu lassen. Ich musste mich wohl an den Gedanken gewöhnen, Daniel erst im nächsten Jahr hoffentlich erst zu Gehör und dann zu Gesicht zu bekommen.

Irgendwie war überhaupt niemand telefonisch erreichbar … es legte wohl niemand Wert darauf, von mir gute Wünsche für das neue Jahr zu bekommen. Vermutlich gab es einige, die es mir übel genommen hatten, dass ich mich zum Jahreswechsel für meine Familie entschieden hatte, anstatt mich noch mal mit einer großen Party zu verabschieden.

Egal, ich freute mich auf diesen letzten Abend des Jahres 2006. Kurz nach 19 Uhr fragte ich meinen Vater: „Sag mal, wann soll es denn eigentlich losgehen?“

„Wir hatten so an um acht gedacht, ich vermute, dass die Meute zwar schon seit heute Vormittag vorglüht, aber wenn wir zur besten Tageschau-Zeit am Campingplatz sind, ist das okay. Wir müssen vorher eh’ noch mal an der Ruderstation vorbei. Die waren so lieb, ein paar kalte Platten zu machen.“

Kalte Platten? Seit Jahren wurde zu Silvester auf dem Campingplatz der Grill angeschmissen, und so großes Regenwetter, dass der heiße Rost samt Auflage weggespült werden würde, herrschte nicht.

Ich sah meinen Vater zweifelnd an: „Meinst du nicht, dass für kalte Platten eher ein gepflegtes Desinteresse herrscht? Soweit ich das in Erinnerung habe, interessieren sich die Camper zunächst für heiße Würste und kaltes Bier, später für kalte Würste und hochprozentiges in allen Ausführungen. Oder wird das schon das Katerfrühstück?“

Na, gut, mein alter Herr musste wissen, was er tat. Und wenn es ohne kalte Platten eben nicht ging… bitte schön!

Als wir die Ruderstation erreichten, erweckte nichts auch nur annähernd den Anschein, dass hier irgendjemand anwesend war. Weder eine Partygesellschaft noch irgendjemand, der für eine winterliche Campingplatzbesetzung kalte Platten aus dem Hut zaubern könnte. Mein Vater schüttelte bedenklich den Kopf: „Das ist ja merkwürdig. Geh mal klopfen“

Das wiederum fand ich nun merkwürdig: „Warum? Zur Unterhaltung der Holzwürmer? Ist doch offensichtlich, dass hier niemand ist. Kein Licht in der Hütte, oder meinst du, der Koch der kalten Platten wartet im abgedeckten Kerzenschein darauf, dass ein paar Campingfreaks Schnittchen abholen?“

„Versuche es wenigstens – sonst heißt es nachher, sie waren ja nicht mal schauen und ich bezahle viel Geld für nichts.“

Diskutieren war sowieso zwecklos, und ehe ich den Frieden der Silvesternacht aufs Spiel setzte, beschloss ich, meinem Vater den Gefallen zu tun und an einer offensichtlich unbesetzten Ruderstation an die Tür zu klopfen. Solang mich niemand sehen konnte…

Ich klopfte betont laut an die Hüttenpforte und war maßlos erstaunt, als tatsächlich jemand herein rief. Na, dann mal ran an die kalten Platten. Ich gab meinem Vater einen Wink, mir zu folgen, öffnete die Tür - und stand zuerst im Dunkeln.

Dann wurde auf einmal eine bunte Beleuchtung eingeschaltet, und ein munterer Haufen schrie mir aus ca. 15 Kehlen ein fröhliches „Überraschung!!!“ entgegen. Ich brauchte einen Moment, um klarzukriegen, was hier grade passierte.

Direkt neben mir strahlten meine Mutter und mein Vater. Ich sah ein paar wirklich gute Freunde aus der Schulzeit, entdeckte Kollegen meiner Ausbildung und konnte Fabian und Tobi ausmachen, die hinter einer Musikanlage und unter einem Transparent „Alles Gute in Wien!“ standen und wie die sprichwörtlichen Honigkuchenpferde grinsten. Natürlich wusste ich sofort, wer hinter dieser Aktion steckte.

Sogar ein DJ war im Haus oder besser in der Hütte, während ich hingegen vor Freude ganz aus dem Häuschen war. Er sorgte für die musikalische Umrahmung, während ich die Gäste begrüßte – und über jeden einzelnen freute ich mich.

Tobi griff sich das Mikro: „Marcel – in drei Tagen wirst du die Altmark in Richtung Wien verlassen, während einige deiner Freunde und deine Familie hier bleiben werden. Natürlich wissen wir, dass du uns gelegentlich besuchen kommst. Aber trotzdem, es wird nichts mehr so sein wie früher. Wir haben gedacht, das Beste was wir für dich tun können, ist, dir einen würdigen Abschied zu bereiten und dafür zu sorgen, dass du uns so schnell nicht vergisst. In dem Sinne: Uns allen einen guten Rutsch ins neue Jahr!“

Ich hatte mit Sicherheit den ersten feuchten Schimmer in den Augen, und mir war völlig klar, dass da heute und nächstes Jahr noch viel mehr kommen würde. Ich ließ mir das Mikro geben: „Danke, danke, danke. Danke, dass ihr es mir so schwer wie möglich machen wollt. Ich habe nicht die geringste Ahnung gehabt. Bis zuletzt habe ich geglaubt, ich bin hier, um ominöse kalte Platten zu holen. Papa, Mama: das mit der Campingplatzfete war ein überzeugender Vortrag. Schön, dass ihr alle da seit, und hätte ich die Gästeliste für heute Abend zusammenstellen dürfen, sie hätte nicht anders ausgesehen. Aber jetzt lasst uns….“

Tobi bedeute mir, kurz Pause zu machen: „Wenn du noch einen Gast mehr einladen dürftest, wer würde das sein?“

Diese Antwort fiel mir nicht wirklich schwer: „Die meisten von euch wissen, dass ich in Wien mit Felix eine Riesen-Enttäuschung erlebt habe. Wer das nicht weiß, wir haben nachher sicher Zeit, ein bisserl zu plaudern. Aber durch diese Geschichte habe ich einen Jungen kennen gelernt, der mir unglaublich ans Herz gewachsen ist, den ich vielleicht vor einem Leben auf der Straße bewahrt habe und der nun einem geregelten Leben entgegenstrebt. Heute ist er zwar mit seiner WG auf einer Party, aber sonst weitgehend allein. Ihn hätte ich gern hier.“

Tobi lächelte: „Dreh dich um.“ Das tat ich – und blickte in Dannys strahlende Augen. „Danke, Marci. Das war glaube ich das Schönste, was mir jemand im Leben gesagt hat. Ich kann dir nur immer wieder danken und dir versprechen, dass ich alles versuchen werde, um mein Leben in den Griff zu kriegen. Wahnsinn, was du hier für Freunde hast. Ich bin stolz, dass ich dazu gehören darf.“

Das war ein Hauch zuviel… für uns beide. Wir fielen uns in die Arme, Tränen des Glücks leiteten einen wirklich unvergesslichen Abend ein.

Ich weiß nicht, wie oft ich die Geschichte von Danny und mir erzählt habe. Ich weiß nicht, wie viel gute Wünsche ich mit auf den Weg bekam. Und ich weiß auch nicht, wie viel liebevoll ausgesuchte Abschiedsgeschenke meine Freunde mir überreichten. Aber ich weiß noch, wie schnell die Zeit verging und wir kurz nach Mitternacht auf dem Anlegesteg der Ruderstation standen und auf das Feuerwerk schauten, dass von überall her den Altmarker See in viele bunte Lichter tauchte und uns den Beginn des Jahres 2007 verkündete.

Ab zwei Uhr verabschiedeten sich langsam die Gäste, und kurz vor vier waren nur noch Daniel, Tobi und ich in der Ruderstation, während mein Vater Fabian nach Hause brachte und wir auf seine Rückkehr warteten.

Wir standen am Strand, und auf das Seeschlösschen deutend erzählte ich Daniel kurz, was sich im Sommer dort ereignet hatte.

„Eigentlich müsste ich deinem alten Chef dankbar sein, dass er euch doch nicht übernommen hat. Aber wie auch immer, es war ein wunderschöner Abend heute hier.“

Ich nahm Tobi in den Arm und streichelte ihm über den Kopf: „Ja, das war es. Das werd ich nie vergessen, was ihr hier für mich gemacht habt. Und wenn ich auch Hunderte Kilometer weg bin: Wenn irgendwas ist – du kannst dich jederzeit bei mir melden, okay? Ich verspreche dir, dass wir per Chat und Mail ständig in Verbindung bleiben.“

Mit einem Kuss auf seine Wange besiegelte ich dieses Versprechen, und er antwortete, küsste mich sanft und scheu auf die Lippen.

„Hey, und ich?“, meldete sich Danny.

Ich giggelte: „Ja, wir werden auch per Chat und Mail ständig in Verbindung bleiben“, nahm ihn dann aber auch in die Arme und schaute ihm in die Augen: Dir verspreche ich, dass ich in Wien immer für dich da sein werde – solange du mich nicht schwer enttäuschst. Und wenn du bis heute keine echte Familie hattest: ich würde mich freuen, dein Bruder sein zu dürfen.

Neben dem im neujährlichen Mondschein glitzernden See glaubte ich nun auch, Daniels glitzernde Augen zu erkennen. Er flüsterte leise: „Ja...“

Tobi schmunzelte: „Das ist ja wie bei ´ner Hochzeit hier.“

Daniel bekräftigte: „Ganz unrecht hast du nicht – geht ja schließlich um Familie“, ging kurz zum Tisch der Ruderstation-Strandbar und kam mit drei Becherchen und einer offenen Sektflasche zurück. „Dann sollten wir aber auch Brüderschaft trinken“.

Und das taten wir auch, und zwar nicht nur Daniel und ich, sondern Tobi wurde gleich mit ins brüderliche Boot geholt. Eintrittskarte war der obligate Bruderkuss, der bei uns allen vermutlich herzlicher und ehrlicher ausfiel, als das üblich war.

Plötzlich hatte ich zwei Brüder, die auch noch unglaublich gut küssen konnten... ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich hier jetzt mit nur einem von den beiden gewesen wäre.

Tobi stand am Wasser und blickte sinnierend auf den See: „Was uns dieses Jahr wohl bringen wird?“

Ich schüttelte den Kopf: „Ich weiß es nicht.“

Daniel antwortete: „Lasst es uns erleben. Happy new year…“

Fortsetzung folgt…

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