zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Sommermärchen

Teil Vier

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

10. Tobias – Die Wahrheit

Ich hatte mich kurzfristig dafür entschieden, den Beginn des neuen Jahres für einen Kurztrip nach Wien zu nutzen. Da für Marcel doch ein bisschen mehr Gepäck zu transportieren war als bei seinen bisherigen Ausflügen in die österreichische Hauptstadt, war der darüber natürlich sehr dankbar.

Stationsschwester Elke hatte wenig begeistert auf meinen Wunsch reagiert, zwei Tage außerplanmäßigen Urlaub zu bekommen: „Im Normalfall ist so etwas nicht üblich. Nun gut, ein Umzug ist ein triftiger Grund. Sprechen sie mit Fabian, wenn der ihren Dienst übernehmen kann und keine Probleme damit hat, machen wir eine Ausnahme. Sehen sie es als Anerkennung für ihre guten Leistungen.“

Wenn sie das so wollte, sah ich das so. Mir war wichtig, dass ich kein striktes „Nein“ bekommen hatte. Das ich mich auf Fabian verlassen konnte, war mir klar. „Bring mir was Schönes mit. Am liebsten würde ich selbst mitkommen. Aber ich glaube nicht, dass Elke das genehmigen würde.“

Marcels Vater hatte uns den Kleintransporter zur Verfügung gestellt – und so begannen wir nur wenige Stunden nach dem emotionalen Ende der Überraschungsparty, die wichtigsten Bestandteile für Marcels neues Leben für den Transport fertigzumachen und dann auch einzuladen.

„Jetzt weiß ich auch, warum ihr mich eingeladen habt. Damit noch ein Möbelpacker mehr vor Ort ist.“, grinste Danny.

„Nun… sei froh, dass es nicht wirklich darum geht, Möbel zu transportieren. Mein Zimmer dort ist nämlich vollständig ausgestattet.“

„Ah ja. Und was schleppen wir dann hier die ganze Zeit?“

„Fernseher und Computer, weil ich da doch lieber auf eigene Reserven zurückgreife. CDs, Klamotten und so weiter.“

„Wie du das alles in den Zug hättest reinkriegen wollen, ist mir ein echtes Rätsel. Oder wolltest du einen Sonderzug mieten?“

„Nein, in diesem Fall wäre wirklich nur das Wichtigste mitgekommen und der Rest dann später irgendwie nachgeholt.“

An der Stelle empfand ich es empfehlenswert, einzuhaken: „Sag mal Marcel … eigentlich wolltest du doch nur für zwei, drei Monate in diese WG ziehen und dir dann mit Felix eine kleine Wohnung suchen.“

„Ja. Das mit einer kleinen Wohnung in Wien steht immer noch zur Debatte, nur dass sie sehr viel kleiner sein wird als geplant. Der Bruder meiner Vermieterin bleibt bis September in Moskau. Und wenn wir uns gut verstehen, hab ich sicher die Option, bis September dort zu bleiben und viel Zeit, um zu schauen, was wird.“

„Absolute Planungssicherheit ist das zwar nicht, aber der zeitliche Rahmen scheint mir okay.“

Die Stunden auf der Autobahn vergingen ausgesprochen rasch, dafür kam es mir dann umso länger vor, als wir uns in Wien zu Nataschas Wohnung durcharbeiten mussten. Immerhin konnten wir die Tiefgarage nutzen und hatten nur wenige Meter vom Transporter zum Fahrstuhl.

Als wir im 12. Stock angekommen waren, stand eine nette junge Dame an einer Wohnungstür, grinste und wandte sich an Marcel: “Ich hab gedacht, du willst hier allein einziehen. Zu dritt wird es in eurem Zimmer entweder zu eng oder unglaublich kuschlig.“

Auch Marcel grinste jetzt: „Das ist Natascha, meine Vermieterin.“ „Hallo Jungs. Aber wer von euch ist denn nun der Felix, der das Herz von meinem neuen Mitbewohner erobert hat?“

Falsches Statement – ich schaute Marcel prüfend an, der schluckte kurz, hatte sich aber gut im Griff und sagte dann: „Felix gibt es in meinem Leben nicht mehr – er hat mir an dem Tag, als wir hier den Mietvertrag unterschrieben haben, die größte Enttäuschung meines Lebens bereitet. Das hier sind Tobias und Danny. Mein bester Freund und mein kleiner Bruder“, wobei er Daniel kurz über den Kopf wuschelte.

Nachdem wir alle Sachen in den 12. Stock verfrachtet hatten, gingen wir zu viert auf eine kurze Sightseeingtour durch Wien. Donauinsel, Stephansdom, Schönbrunn – für mehr Attraktionen reichte die Zeit nicht mehr aus.

Natascha war dann sogar noch so lieb, uns zum Essen einzuladen – und es war spät, ehe wir wieder in ihrer Wohnung waren. Mit schwerem Herzen verabschiedete sich Danny, nicht ohne sich vorher nochmal ausführlich für die Einladung und die wunderschöne Silvesterfeier zu bedanken. Mit traurigen Augen umarmte er Marcel, und der tröstete ihn: „Hey, Kleiner. Wir wohnen jetzt in der gleichen Stadt! Und wenn Natascha nichts dagegen hat, kannst du jederzeit zu mir kommen.“

Natascha bekräftigte das: „Ja, Danny. Du bist hier jederzeit gern gesehen.“

Auch ich umarmte ihn noch mal, und etwas beruhigter stieg Daniel in den Fahrstuhl, und als sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten, fragte ich mich im Stillen, wann ich ihn wohl das nächste Mal sehen würde. Ich hatte ihn in den letzten paar Tagen echt lieb gewonnen.

Marcel schaute mich an: „Und du willst wirklich durch die Nacht fahren?“

Ich schüttelte den Kopf: „Nein. Ich fahre morgen in aller Frühe los. Ich nehme mir ein Hotelzimmer.“

Auch Natascha hielt das für keine gute Idee: „Hallo? Du kannst natürlich hier bleiben! Entweder bei Marcel oder aber auch im Wohnzimmer auf der Couch.“

„Du, danke, aber erstens möchte ich morgen früh in aller Frühe los. Und warum solltet ihr da aufstehen? Und zweitens hast du doch bestimmt keinen dritten Gast für die Frühstücksspeisekarte. Außerdem spare ich eine Stunde, wenn ich irgendwo am Stadtrand nächtige und morgen früh dem Berufsverkehr entgehen kann.“

„So gern ich dich hätte hier haben wollen – das sind gute Argumente“, bestätigte Marcel. „Ich empfehle das Hotel Kaisergrund.“

„Meinst du das jetzt ernst – das ist doch der Schuppen, wo Felix arbeitet, oder?“ Innerlich allerdings begann ich mich mit diesem Gedanken bereits anzufreunden. Wenn ich ihn wirklich treffen sollte, wäre es nicht schlecht, mit ihm das ein oder andere Wörtchen zu reden.

Marcel nickte: „Ja, schon. Denn von dort bist du erstens in ein paar Minuten auf der Autobahn und zweitens hat er ja dich nicht betrogen, oder?“

Ich stimmte zu: „Ja – und außerdem garantiert ja niemand dafür, dass ich ihn wirklich sehe.“

„Wenn du ihn sehen willst: Dritter Stock, rechte Seite, Zimmer 12.“

Wir verabschiedeten uns – mit der Zielsetzung Wiedersehen im Sommer. Egal, ob in Wien oder in der Altmark.

Keine Stunde später hatte ich in der Tiefgarage des Hotels eingeparkt und mich per Lift eine Etage weiter nach oben befördert. Ich stand vor der Rezeption und läutete. Und plötzlich stand Felix vor mir. „Tobi! Was treibt dich denn nach Wien?“

„Na ja… wie du eventuell weißt hat Marcel am Montag ein Rendezvous mit seiner neuen Arbeitsstelle – und ich hab ihm ein bisschen geholfen, Gepäck hierher zu bringen. Und weil ich Morgen in aller Herrgottsfrühe auf die Autobahn will und in Marcels WG niemanden wecken möchte, brauch ich für heute Nacht ein Hotelzimmer.“

„Du hast Glück Wir haben ein paar Plätze frei. Du könntest aber auch bei mir auf dem Zimmer schlafen. Ich hab sowieso ein Doppelbett drin stehen, und wenn dich das nicht stört, wird es billiger für dich.“

Ich konnte mir eine kleine Spitze nicht verkneifen: „Und wo schläft Raffael?“

„Raffael ist heute... Moment mal, woher weißt du... Marcel hat nichts für sich behalten, wie?“

„Nein, hat er nicht. Warum auch? Üblicherweise haben WIR wenig Geheimnisse voreinander. Im Gegensatz zu dir. Übrigens hätte ich gern ein Zimmer. Zum Quatschen können wir uns natürlich gern auf deinem Zimmer treffen, aber ich für meinen Teil hätte ganz gern noch ein frisch gezapftes Wiener Bier getrunken.“

Kurz nach Felix’ Feierabend saßen wir in einer kleinen gemütlichen Kneipe unweit vom Hotel, und ich erzählte ihm kurz, wie geschockt Marcel von seinem zweiten Wien-Ausflug zurückgekommen war.

„Tobi, du musst mir glauben, dass ich Marcel niemals betrügen oder verletzten wollte. Ich hab ihn wirklich geliebt. Ich war hier und er war zu Hause. Ich habe viele Abende bei mir im Zimmer gelegen und habe einfach nur geheult weil er nicht da war. Ich habe mich nach seiner Nähe gesehnt, nach seinen Küssen, nach seinen Zärtlichkeiten.“

„So schlimm gesehnt, dass du das, was du von Marcel nicht bekommen konntest, von einem anderen geholt hast?“

„Nein. Als ich 14 oder 15 war, war Tim meine erste große Liebe. Diesen Tim wirst du nicht kennen, Tobi. Ich hab damals noch in Stendal gewohnt“ Er hatte Recht – ich kannte weder diesen noch überhaupt irgendeinen anderen Tim.

Felix fuhr fort: „Er hatte schon damals eine feste Freundin, ist noch heute immer mit ihr zusammen – er war nie wirklich erreichbar für mich. Aber zwei oder drei Jahre lang haben sich alle meine Träume nur um diesen Tim gedreht, bis er dann mit seiner Freundin nach Berlin zog. Eines Tages stand dann im Personalumkleideraum plötzlich Raffael vor mir, von dem du nun ja schon gehört hast. Und Raffael sieht wirklich haargenau so aus wie Tim, sieht man davon ab, dass er ein bisschen dunkleres Haar hat. Als er das erste Mal vor mir stand, hab ich ihn angestiert wie das siebente Weltwunder.“ Felix unterbrach seine Berichterstattung und nahm einen Schluck von seinem Feierabendbierchen.

Die Geschichte entwickelte sich in eine ganz andere Richtung. Marcel war offenbar nicht in einen One-Night-Stand hineingeplatzt, wie ich bislang vermutet hatte. Aber ich war neugierig und fragte Felix: „Wie ging es weiter?“

„Na ja, er wollte von mir wissen, ob wir uns nach der Schicht bei mir oder bei ihm treffen. Da war er natürlich bei mir an der richtigen Adresse. Ich hab ihn dann gefragt, ob er Verwandte in Deutschland hat. Fehlanzeige. Wir haben uns dann wirklich nach der Schicht verabredet, um ein Bierchen trinken zu gehen. Die Geschichte mit Tim hab ich ihm erzählt, und er hat gesagt, dass er keine Freundin hat, auch keine will und das er sich vorstellen kann, meine Jugendträume verspätet zu erfüllen.“

„Und an Marcel hast du nicht gedacht?“ Felix schüttelte den Kopf. „Ich will nicht lügen, Tobi. Nein, nach diesem Treffen hat es bei mir irgendwie total ausgesetzt. Und als ich Marcel im Chat wiedergetroffen habe, war es irgendwie anders. Ich wusste, dass ich seit dem Treffen mit Raffael Marcel nicht mehr so lieben konnte.“

„Meinst du nicht, dass er wenigstens die Wahrheit verdient hat? Ich kann dir nicht sagen, wie er es aufnimmt. Er hat Glück gehabt, dass er in dieser Nacht, als er dich mit Raffael erwischt hatte, noch jemanden kennen gelernt hat, der Hilfe genauso nötig hatte wie er selbst, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene. Ich weiß nicht, wie für Marcel dieser Abend ausgegangen wäre. Aber Felix, bitte versuche dich mit ihm zu treffen und wenn er das will, dann erzähl ihm, was du mir grade erzählt hast. Tief in ihm nagt diese Geschichte noch immer, genau wie seine Liebe zu dir. Glaube ich jedenfalls.“

„Okay. Wie schätzt du meine Chancen ein, ihn zumindest als guten Freund zu behalten?“

„Ich weiß nicht, wie er diese Geschichte aufnimmt. Mich würde es freuen, aber es ist seine Entscheidung.“

Wir sprachen noch ein bisschen über Felix’ Job in Wien, ich erzählte ihm die Daniel-Geschichte ein bisschen ausführlicher, und kurz vor Mitternacht lag ich dann in meinem Zimmer.

Am nächsten Morgen war ich der erste am sehr leckeren Frühstücksbuffet, kam gut auf die Autobahn und hatte am frühen Nachmittag bereits die Altmark erreicht. Es blieb nur wenig Zeit, mich von der Fahrt auszuruhen, am nächsten Morgen wurde ich zur Frühschicht bereits wieder im diakonischen Krankenhaus erwartet.

Zuvor allerdings telefonierte ich noch kurz mit Markus, denn auch diese Angelegenheit wollte ich nicht mehr allzu lange auf sich beruhen lassen. Auch Fabian hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Markus schlug vor, den folgenden Abend bei ihm zu verbringen. Ein Kinobesuch seiner Eltern würde für ein leeres Haus sorgen, in dem sich drei Fast-Noch-Teenager also ungestört zu einer Aussprache treffen könnten.

Der Einzige, der diesem Abend unbeschwert entgegensah, war vermutlich Fabian. Er freute sich auf einen unbeschwerten Abend mit mir und dachte, ich hätte aus Wien einige Geschichten mitgebracht. Klar gab es viel zu erzählen ... nur spielten Wien und meine Person dabei eine eher untergeordnete Rolle. Ich ertappte mich im Tagesverlauf oft dabei, dass ich mir irgendwelche möglichen Handlungsstränge zusammenkonstruierte und fieberte dem Feierabend entgegen. Rasch noch geduscht, und pünktlich zur verabredeten Zeit klingelte Fabian an meiner Tür.

„Warte, ich komme runter.“

„Wieso runter, ich hab gedacht, wir machen es uns bei dir gemütlich?“

„Nein, mir ist noch nach einer Spritztour. Ich hab eine Überraschung. Auch wenn ich dir nicht versprechen kann, dass es ausschließlich positiv verläuft.“

„Wie mit dem Auto? Dann kannst du ja nicht mal `n Schluck trinken. Na, du lässt dich sowieso nicht überreden. Ich warte.“

Keine Viertelstunde später stand mein Auto in der Einfahrt der Bergers – und Fabian sah mich mit großen Augen an: „Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?“

Er schien zu wissen, wem dieses Haus gehörte. Vorsichtshalber fragte ich nach: „Was meinst du? Wir sind hier verabredet.“

„Tobi, in diesem Haus wohnt Markus. Vor diesem Haus hab ich selbst schon zwei, drei Mal gestanden und hab überlegt ob ich klingeln soll. Es war ja kein großer Akt, auf Station an die Adresse zu kommen.“

Es war Zeit, mit offenen Karten zu spielen: „Was du nicht gemacht hast, hab ich erledigt. Ich habe dort geklingelt, und zwar mit dem Ergebnis, das uns Markus jetzt dort drin erwartet und dir mit Sicherheit einige Fragen beantwortet, die dir auf der Seele brennen.“

Fabian nickte, wenig später standen wir vor der Haustür und kurz darauf saßen wir in Markus’ Zimmer. Nach einigen belanglosen Sätzen entschied ich mich, die Beiden allein zu lassen: „So ihr zwei, ich muss mich noch mal kurz verabschieden. Wenn was ist, ihr könnt mich jederzeit telefonisch erreichen.“

Fabian sah mich mit großen Augen an: „Aber du kannst mich doch hier nicht...“ „Doch, kann ich“, unterbrach ich ihn. „Das ist eine Geschichte, die nur euch beide etwas angeht. Und wenn ihr meint, dass ihr Hilfe braucht, dann, und erst dann, werde ich euch zur Verfügung stehen. Also, macht was draus.“

Ich fuhr kreuz und quer durch den Abend und wartete auf eine Nachricht von den Beiden. Ich machte mir so meine Gedanken, und es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis mein Handy endlich klingelte. Es war Fabian, und ich hörte, dass er geweint hatte: „Kannst du mich bitte abholen?“ Ich stellte ihm keine weiteren Fragen, sagte ihm nur: „Okay, ich bin in zehn Minuten da.“

Als ich wieder vor dem Haus der Bergers stand, wurde ich von den Beiden bereits erwartet. „Ist zwischen euch alles klar?“ Markus antwortete: „Ja, zwischen uns ist alles klar. Alles andere besprich mit Fabian, okay? Ich bin sicher, dass wir in der Zukunft noch mehrere Gelegenheiten haben uns miteinander zu unterhalten. “ Ich nickte, dann stieg Fabian wortlos ins Auto und wir fuhren ab.

„Wohin?“

„Tobi, du hast gehört, was damals im Krankenhaus zwischen meinem Vater und Markus passiert ist. Und du hast auch gehört, was mein alter Herr damals zu mir gesagt hat. Wenn er das alles so gemeint hat und wenn das seine Einstellung ist, dann bin ich fertig mit ihm.“

„Okay, aber was willst du tun?“ „Bring mich nach Hause, ich werde mit ihm reden. Und wenn er wieder mit dieser unglaublichen Intoleranz aufwartet, dann einfach nur noch weg.“

„Erstens hat er damals zumindest indirekt sowohl dir als auch Markus gegenüber mit Gewalt gedroht. Ich habe alles andere als ein gutes Gefühl, wenn du mit ihm reden willst. Zum anderen, wo willst du hin, wenn es zum schlimmsten kommt?“

„Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, das ich dann auf alle Fälle von zu Hause weg will und weg muss.“

„Pass auf, du kannst im Notfall gern erst mal zu mir kommen. Es ist zwar nur eine Einzimmerwohnung, aber wir zwei, denke ich, kommen klar, oder?“

„Danke, Tobi. Aber ich hoffe immer noch inständig, dass es nicht zum Äußersten kommt.“

„Soll ich mitkommen?“

„Würdest du das tun?“

„Hey, sonst hätte ich dir das kaum angeboten.“

„Danke. Ich glaube, mit ein bisschen Unterstützung im Rücken ist mir bei der ganzen Geschichte wohler.“

Als wir vor Fabians Elternhaus angekommen waren, nahm ich ihn einfach noch mal in die Arme: „Komm, Großer. So schlimm wird’s nicht werden. Und wenn doch, ich bin für dich da. Und Markus mit Sicherheit auch.“

Als Antwort drückte er mir ein Küsschen auf die Wange. Wir waren ausgestiegen, Fabian hatte den Schlüssel aus seiner Hosentasche gekramt, brauchte ihn aber nicht. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann stand vor uns. Offenbar sein Vater – und er schaute wenig vergnüglich.

„Guten Abend. Fabian, wer ist das?“

„Das ist Tobias, ein sehr guter Freund von mir.“

Ich wurde abwertend gemustert: „Ein oder dein Freund?“ Die Drohung, die in dieser Frage mitschwang, war allgegenwärtig. Darüber hinaus standen wir immer noch vor der Tür.

“Was spielt das für eine Rolle?“

„Eine große, mein Sohn. Ich habe es dir schon einmal gesagt: Wenn ich dich einmal beim Rumschwuchteln erwische, fliegst du hier hochkant raus.“

„Ist das dein letztes Wort, Vater?“

„Ja. Ich habe immer gedacht, ich habe mir in der Erziehung nichts vorzuwerfen. Aber offenbar habe ich mich getäuscht, oder? Bist du schwul, Fabian?“

Die entscheidende Frage war gestellt, und ich hätte es verstanden, wenn er jetzt einen Rückzieher gemacht hätte. Aber er war offenbar gewillt, diese Nummer bis zum Ende durchzuziehen.

„Ja, Vater. Aber was hat das mit deiner Erziehung zu tun? Schwul ist man, oder man ist es nicht. Es tut mir nicht leid, es ist nun mal so. Aber du kannst sicher nichts dafür. Soll ich gehen?“

Fabian schaute seinem Vater ins Gesicht. „Du kannst dich bei deiner Mutter bedanken, dass ich dich hier nicht rausprügle. Du hast fünf Minuten, dann bist du hier weg.“ Er sprach ruhig, was die ganze Sache noch bedrohlicher machte.

„Okay. Dann ist es wohl besser so.“ Fabian verschwand im Haus, und ich konnte nicht umhin, eine Frage loszuwerden: „Warum tun sie ihm das an?“

Er lachte abschätzig: „Die Frage muss lauten: Warum tut ihr mir das an? Und nun verlassen sie bitte mein Grundstück.“ Bumm – die Tür war zu. Und mich beschlich plötzlich ein ungutes Gefühl: Was würde dort im Haus jetzt passieren?

Beruhigt war ich erst, als Minuten später Fabian mit zwei gepackten Reisetaschen aus dem Haus kam und sie in den Kofferraum meines Wagens verfrachtete.

Kurz darauf standen wir in meiner kleinen Wohnung, ich nahm Fabian in den Arm und flüsterte ihm ins Ohr: „Du hast es erst mal überstanden. Lass es sacken und versuch dich ein bisschen zu entspannen.“

Fabian lächelte mich an: „Wenigstens einer, der für mich da ist. Es ist bitter, so seine Familie zu verlieren.“

„Markus wird genau so für dich da sein. Oder Marcel, so weit er im Moment auch weg ist. Wir sind jetzt deine Familie, wenn du das magst. Und überhaupt, wer sagt denn, dass in deiner Familie alle so denken wie dein Vater? Aber jetzt mach es dir so gut wie es geht gemütlich, es wird ein bisschen eng, aber das stehen wir durch. Willkommen zu Hause!“

11. Marcel – Die Macht der Gefühle

Von Beginn an hatte ich in meinem neuen Job den Eindruck, in einer Familie gelandet zu sein. Frau van Barsick hatte sich an meinem ersten Arbeitstag viel Zeit genommen, mich in die Aufgaben eines Serviceteams einzuführen und dabei auch sofort Klartext geredet: „Marcel, ich kann ihnen sagen, dass sie in meinem Team mit ihrer Homosexualität keine Probleme haben werden. Sollten sie sich dafür entscheiden, sich zu outen und es kommt im erweiterten Kollegenkreis zu Sticheleien oder Schlimmerem, melden sie sich bei mir. Dr. Lugauer und ich sind uns absolut einig, dass Intoleranz hier nicht geduldet wird. In keinerlei Hinsicht.“

In meinem Team wurde ich fast schon freundschaftlich empfangen, meine neuen Kollegen brachten mir viel Geduld entgegen, obwohl ich ja streng genommen die alltägliche Arbeit in den ersten Tagen nur behinderte.

Das allerdings spielte sich schnell ein, und ebenso schnell stellte sich heraus, dass die Bank beabsichtigte, in Richtung Deutschland zu expandieren und zum Vertrieb und zur Beratung der dortigen Kunden Mitarbeiter einstellte. Mein Kollege Robert kam aus Berlin, hatte zwei Monate vor mir im Serviceteam begonnen und stand für mich als erster kompetenter Ansprechpartner bei allen Fragen zur Verfügung.

Recht bald hatten sich die alltäglichen Abläufe eingespielt, ich war zu einem vollwertigen Mitglied des Teams geworden. Der Alltag hatte sich eingeschlichen, aber es war ein Alltag, den ich gern absolvierte. Um ehrlich zu sein, ich vermisste die Altmark nur sehr wenig. Genauer – eigentlich nur meine Familie und gute Freunde wie Tobias und Fabian.

Leise hatte ich gehofft, dass sich aus diesen beiden ein bisschen mehr entwickeln würde als nur Freundschaft, grade nachdem Fabian bei Tobi eingezogen war. Aber Tobis Hang zu WG-Mitbewohnern, die zwar über die gleiche Orientierung verfügten, auch gern mit ihm zusammen waren, sich aber grundsätzlich anderweitig verliebten, hatte wieder zugeschlagen.

Während eines abendlichen Chats teilte mir Tobi mit, dass Fabian frisch und glücklich verliebt sei, und zwar in Markus. Und der auch in ihn. Wenigstens schien es Tobias nicht zu stören, von soviel Glück umzugeben zu sein. Immerhin war er noch Single, genau wie ich auch.

Mir war die Situation nicht unangenehm, nach Feierabend unternahm ich viel mit Daniel, der sich mittlerweile einem caritasgeförderten Fußballverein angeschlossen hatte und in diesem Umfeld absolut aufblühte. Und fußballerisches Interesse war ja bei mir eh schon immer vorhanden.

Auch mit Natascha verband mit bald ein freundschaftliches Band. Mit ihr konnte ich einfach stundenlang über Gott und die Welt quatschen, außerdem hatten wir unsere gemeinsame Wohnung sehr gut im Griff.

Auch im Kollegenkreis wurde einiges unternommen. Das Serviceteam ging gemeinsam essen oder traf sich zu anderen gemeinsamen Freizeitaktivitäten wie Bowling oder Billard. Auch die Bank ließ sich einiges einfallen, um die Mitarbeiter bei Laune zu halten. In aller Kürze: Nicht eine Minute seit meiner Anwesenheit in Wien war mir langweilig.

Das galt in besonderem Maße, als die Produkte der Bank in Deutschland eingeführt waren und dort auf ein gesteigertes Interesse stießen. Es galt, unendlich viele Vertriebspartner und Kunden telefonisch zu beraten, ihnen Auskünfte zu geben und Informationsmaterialbestellungen entgegenzunehmen. Und das ganze auch noch mal auf mailtechnischer Basis.

Eines Tages, kurz vor Feierabend, kam Frau van Barsick an meinen Schreibtisch: „Marcel, sie werden am Empfang erwartet. Auch wenn gleich Schluss ist, machen sie bitte nicht so lange. Sie sehen oder besser hören ja, das Geschäft brummt.“

Ja, das Klingeln der Telefone signalisierte großes Interesse – aber auch mein Interesse war geweckt. Wer um alles in der Welt wünscht mich hier zu sprechen?

Als ich an den Eingangsbereich unseres Büros betrat, froren mir kurz die Gesichtszüge fest – am Rezeptionstresen stand Felix und lächelte mich an.

„Was willst du hier?“

„Ich möchte, dass du mir zuhörst. Fünf Minuten lang.“

„Aber sicher nicht jetzt und hier, oder? Ein bisschen arbeiten muss ich schließlich auch noch.“

„Gut, mach einen Vorschlag. Wann würde es dir passen, und wo wollen wir uns treffen?“

„Felix, es mir eigentlich egal. Ich hatte dich gebeten, mir Zeit zu lassen. Aber fünf Minuten kann ich grade noch investieren. Am Freitagabend im Kaisergrund?“

„Gut, ich habe Spätschicht bis um zehn. Treffen wir uns dann in der Hotellobby?“

Ich nickte: „Okay, passt. Dann entschuldige mich jetzt bitte. Meine Chefin und meine Kollegen brauchen mich dringend am Telefon. Schöne Woche dann!“

Nach Schichtende ging ich mit meinem Kollegen Robert noch ein Feierabendbierchen trinken und entschied mich dann, zu Dannys Training zu fahren. Er freute sich immer, mich dort zu sehen. Und mir machte es Spaß, ihm zuzuschauen, wie er die Bälle daran hinderte, ins Tor zu fliegen. Schon als kleiner Junge war Daniel als Torwart in Linz aktiv, verlor dann aber parallel zur Liebe seiner Pflegeeltern auch die Lust am Fußballspielen.

Aber in seinem neuen Leben hatte der Fußball wieder Platz – und immer wenn ich ihn sah, hatte ich den Verdacht, von seinen Fähigkeiten während seiner längeren Pause nichts verlernt zu haben.

Als ich den Sportplatz erreichte, kam Daniel bereits auf mich zu: „Hey, Marcel, super! Woher hast du gewusst, dass wir heute ein Spiel haben?“

Ich zwinkerte ihm zu: „Tja, man hat halt so seine Informationsquellen!“, nur um ihm nicht sagen zu müssen, dass meine Anwesenheit mehr oder weniger reiner Zufall war.

„Wenn du da bist, kann ja überhaupt nichts mehr schief gehen. Drück uns die Daumen!“

„Mach ich – und dir ganz besonders. Halt den Kasten sauber!“

Danny lächelte optimistisch: „Wird schon!“, und verschwand auf dem Platz.

Also würde es doch ein längerer Abend werden – in den nächsten gut zwei Stunden war nicht daran zu denken, vom Sportplatz zu verschwinden. Es galt, ein Fußballspiel anzuschauen, von dem ich nicht mal wusste, wer der Gegner von Dannys Team war und ob es um irgendetwas ging.

Aber diese Informationslücke konnte ich schließen. Wenige Minuten, nachdem das Spiel begonnen hatte, erspähte ich Brigitte, Dannys Betreuerin bei der Caritas, und schlenderte zu ihr.

„Hallo! Wo deine Schützlinge sind, bist du nicht weit, oder?“

Sie lachte: „Ja, das stimmt. Manchmal, wenn ich spät abends nach Hause komme, fragt mich mein Mann, wer ich denn bin und was ich hier will um diese Zeit.“

„Ja, das glaube ich. Was passiert denn hier heute? Auch wenn ich Fußballfan bin, weiß ich nicht, welche Meisterschaft hier grade ausgespielt wird.“

„Das ist das Halbfinale des Austria-Caritas-Champion-Turniers. Der Gewinner steht im Endspiel gegen die Caritas-Fußballer aus Salzburg. Hier sehen wir die niederösterreichische Auswahl gegen unsere Wiener.“

„Nicht schlecht. Und was winkt dem Gewinnerteam, sieht man mal von dem obligaten Pokal, vielen Urkunden und Medaillen ab?“

„Ein Trainingslager an der Ostsee im Sommer. Und du kannst dir vorstellen, dass von den Jungs“, Brigitte deutete auf den Platz, „noch nie jemand das Meer gesehen hat?“

„Ja, das glaube ich gerne – wann ist denn das Endspiel?“

„Wenn wir heute gewinnen, was unglaublich schwer wird, spielen wir am nächsten Samstag in St. Pölten das Endspiel. Wenn nicht, wird das Finale hier ausgetragen. Ohne uns.“

Ich nickte: „Dann lass uns mal hoffen, dass wir am Wochenende einen Ausflug nach St. Pölten unternehmen können.“

„Ach Marcel, noch was: Die Jungs wissen noch nicht, um was es geht. Im Moment spielen sie für den Titel und einen Überraschungspreis. Ich würde es gerne dabei belassen. Wenn sie mitkriegen, dass es ans Meer geht, befürchte ich, dass sie zu verbissen an die ganze Geschichte rangehen, okay?“

„Ich werde schweigen, versprochen. Bis du mir grünes Licht gibst.“

„Nichts anderes habe ich von dir erwartet. So, aber nun lass uns mal schauen hier.“

Dabei gab es wenig zu sehen in dieser ersten Halbzeit. Wenig Torraumszenen und dementsprechend auch wenig Gelegenheiten für Danny, sich auszuzeichnen.

In Durchgang zwei wurde es nur wenig besser, das Team aus Wien konnte sich sogar ein, zwei gute Möglichkeiten erspielen. Kurz vor dem Ende aber schlugen die Niederösterreicher erbarmungslos zu: nach einem langen Pass lief einer ihrer Stürmer ganz allein auf Daniel zu, der aus seinem Kasten kam und seinen Gegenspieler nur noch durch ein Foul stoppen konnte.

Der Schiedsrichter pfiff sofort Elfmeter – und zeigte Daniel die rote Karte. Klare Sache, er war letzter Mann und hatte eine Torchance vereitelt.

Danny sah den Mann mit der Pfeife fassungslos an und rannte dann vom Platz, wortlos an mir und Brigitte vorbei in die Umkleidekabine. „Kannst du zu ihm gehen bitte?“, bat mich Brigitte.

„Ja“. Immerhin bekam ich noch mit, dass der Spieler aus Niederösterreich den fälligen Strafstoß an den Pfosten setzte und die Wiener somit in die Verlängerung rettete.

Mittlerweile war auch der für den Ersatztorwart vom Feld genommene Spieler am Sanitärtrakt angekommen, verständlicherweise war er sichtlich - und auch hörbar - angefressen.

Ich entschied mich, ihn direkt anzusprechen: „Hey, servus. Beruhig dich bitte erst mal fünf Minuten, eh du da jetzt in die Kabine gehst.“

„Mann, durch den Scheiß verpassen wir das Endspiel!“

„Okay, wie heißt Du?“

„Justin“

„Ich bin Marcel. Justin, hör mir zu. Was wäre passiert, wenn Daniel nicht gefoult hätte? Es hätte so ziemlich sicher das 0:1 gegeben, richtig?“ Justin nickte, ich fuhr fort: „Und klar ist auch, dass Danny den Ball spielen wollte, oder?“ Erneutes Nicken. „Das hat aber nicht geklappt, und somit war euer Keeper der letzte Mann, der logischerweise Rot kriegen musste. Der Elfmeter ist nicht reingegangen, es gibt Verlängerung und alles ist möglich, oder?“ Drittes Nicken. „Gut. Dann gehe ich jetzt da rein, mache ihm das auch noch klar. Und du warte bitte fünf Minuten.“

„Hast Recht, Mann! Nur das wir jetzt ein Mann weniger sind.“

Ich zuckte nur kurz die Schultern: „Auch solche Spiele kann man gewinnen.“ Damit ließ ich ihn allein und klopfte wenige Sekunden später an die Kabinentür des Wiener Teams. Als ich keine Antwort vernahm, öffnete ich und hörte bereits ein herzzerreißendes Schluchzen. Daniel hockte wie ein Häufchen Elend auf der Bank und hatte mich offensichtlich überhaupt nicht mitbekommen.

„Hey, Großer... es ist doch alles okay!“ Er sah auf, mir in die Augen und fiel in meine Arme, wo er sich völlig gehen ließ: „Ich hab’s versaut!“, und das wiederholte er ständig, bis mir die Hutschnur platzte. Obwohl ich gar keine entsprechende Kopfbedeckung aufhatte.

„Danny, hör auf! Du hast ein klares Gegentor verhindert. Das ist dein Job als Torwart. Es ist schiefgegangen, okay. Aber es ist niemand verletzt und da draußen steht es immer noch 0:0, was ohne dein Missgeschick wahrscheinlich nicht mehr der Fall wäre“!

Langsam beruhigte er sich und fragte: „Und die haben den Elfer nicht reingemacht?“ „Nein. Und jetzt geh dich duschen und komm. Zeig dich der Truppe und den Zuschauern! Ich warte auf der Tribüne bei Brigitte!

Als ich gehen wollte, hielt mich Daniel noch kurz zurück: „Marci, warte!“ Er kam auf mich zu, nahm ich in die Arme und drückte mir eine Kuss auf die Lippen: „Du bist der Allerbeste. Wenn du nicht schon mein allerbester Freund und großer Bruder wärst, würde ich mich glatt in dich verlieben. Aber so muss mein Traumprinz auch mal sein - wie du.“

Ich ging, sonst hätte ich Tränen in den Augen gehabt - diesmal vor Rührung. Und so ganz nebenbei war das auch ein Outing gewesen – viele Fußballer dürften sich bislang noch nicht in einer Umkleidekabine geoutet haben.

Zurück auf der Tribüne erkundigte ich mich bei Brigitte: „Wie siehts aus?“ „Nicht so gut, Niederösterreich drückt und Daniels Ersatzmann ist unter uns gesagt ein Fliegenfänger. Wie geht’s Daniel?“

„Ich musste erst den Justin beruhigen und dann ihn. Beide sind jetzt den Umständen entsprechend wieder auf dem Damm, glaub ich.“

„Du scheinst gute psychologische Talente zu haben. Gut gemacht.“

„Sag mal, weißt du ob Daniel spielen könnte, wenn Wien das Endspiel erreicht? Oder wäre er wegen der roten Karte gesperrt?“

Ein Raunen ging durch die Menge, der Wiener Keeper hatte eine Flanke unterlaufen, die ein Abwehrspieler in höchster Bedrängnis von der Linie köpfen musste.

Brigitte wischte sich den Angstschweiß von der Stirn: „Nein, er wäre wieder einsatzberechtigt. Die Durchführungsbestimmungen besagen klar, dass nur eine Verletzung des Gegenspielers mit einer Sperre zu belegen ist. Und dem geht’s gut wie du grade eben gesehen hast.“

„Fast zu gut.“

Umso länger die Verlängerung dauerte, umso mutiger wurden die Niederösterreicher. Danny saß mittlerweile genau wie Justin neben uns, beide mit düsteren Minen. Die Wiener Mannschaft stand nur noch hinten drin. „Mit dem Torwart gewinnen wir das Elfmeterschießen nicht“, raunte mir Danny zu.

Kurz vor Ablauf der Verlängerung boxte der Wiener Torwart einen Ball von der Linie, der dann von der Abwehr aus der Gefahrenzone befördert wurde. Genau in den Lauf des einen übriggebliebenen Stürmers, der allein auf den Torwart der Niederösterreicher zulief, ihn umkreiste und den Ball ins leere Tor schob. 1:0 für Wien – und die Tribüne stand Kopf.

Während um mich herum alles jubelte, was aus Wien kam, musste ich an das WM-Halbfinale zurückdenken. Das entscheidende Tor kurz vor Ablauf der Verlängerung zu kassieren – ich wusste, wie sich die Niederösterreicher jetzt fühlen mussten. Danny hingegen saß neben mir, hatte die Faust geballt und flüsterte immer wieder nur „Gott sei Dank.“

Nachdem sich die größte Euphorie ein bisschen gelegt hatte, kam Brigitte auf mich zu: „Marcel, kommst du als Mannschaftsbetreuer mit nach St. Pölten?“

Ich musste nicht lange überlegen, sagte zu und hatte vorher „nur noch“ das Wiedersehen mit Felix zu überstehen.“

Wir trafen uns wie verabredet in der Lobby und entschieden uns, eine nahegelegene Kneipe aufzusuchen.

„Marcel, danke, dass du mir zuhörst. Ich weiß, wie sehr ich dich enttäuscht habe. Ich weiß auch, wie sehr ich dich geliebt habe und du mich. Ich habe im Hotel Abende lang geweint, weil du nicht da warst. Aber dann wurde von einer Sekunde auf die Andere alles anders, als Raffael in mein Leben trat. Ich habe diese Geschichte vor kurzem schon mal Tobi erzählt, und er hat mir geraten, dir die Wahrheit zu beichten. Und das hast du auch verdient. Auch wenn sie dir vermutlich nicht gefällt.“

Und dann erzählte er mir die Geschichte von seiner Jugendliebe Tim, die er in Raffael wieder gefunden hatte. „Als er vor mir stand, wusste ich, dass ich im Unterbewusstsein immer Tim geliebt hatte, das aber vermutlich zum Selbstschutz erfolgreich verdrängt hatte. Meine Gedanken an dich waren seitdem anderer Natur.“

In mir focht ich einen Kampf aus. Sollte ich ihm Lebewohl sagen? Ich entschied mich ziemlich schnell dagegen.

„Felix, es bleibt dabei: Das war die bislang größte Enttäuschung meines Lebens. Aber du bist ehrlich zu mir gewesen. Du hast es mehr oder weniger nicht mit Absicht gemacht. Gegen die Macht der Gefühle ist man chancenlos, leider. Aber wann wolltest du es mir sagen?“

„Nicht im Chat und nicht am Telefon. Bei deinem nächsten Wienbesuch. Das der nun so überraschend kam, dass du es auf eine Art und Weise erfahren hast, die ich niemals gewollt habe, konnte ich nicht ahnen.“

„Ja, das glaube ich dir. Stellst du mir deine Jugendliebe, die es ja eigentlich nicht ist, wenigstens mal noch richtig vor?“

„Bist du sicher, dass du das willst?“

„Ja, bin ich.“

Über Felix’ Gesicht huschte ein Lächeln: „Ich hätte mir niemals zu träumen gewagt, dass du das zu mir sagst.“

„Ich hätte das auch nicht von mir erwartet. Aber ich bin mir jetzt sicher, dass ich das möchte. Und jetzt werde ich gehen, ich muss morgen nämlich nach St. Pölten. Dort spielt die Caritas-Elf aus Wien um zwei Wochen Ostsee-Trainingslager gegen Salzburg. Und ich werde als Mannschaftsbetreuer gebraucht.“

Als wir uns vorm Hotel verabschiedeten, bat ich ihn: „Bitte, gib mir noch ein bisschen Zeit. Die Wunden sind tief, aber ich glaube, sie können heilen.“

Keine zwölf Stunden später stand ich in St. Pölten auf dem Sportplatz, und wünschte den Jungs nichts sehnlicher als diesen Titel. Und einem von ihnen ganz besonders. So schnell würde Daniel nicht noch einmal die Chance bekommen, zwei Wochen Ostsee zu erleben. Aber davon wussten die Spieler immer noch nichts, und das war so gut so.

Das Match begann, und zwar äußerst schlecht. Die Salzburger hatten Anstoß und erwischten Danny kalt: Einer ihrer Stürmer sah, dass er viel zu weit vor seinem Kasten stand und hob die Kugel aus fast 40 Metern in die Maschen. Ein frühes Traumtor, leider für die falsche Mannschaft.

Die Qualität des Spiels wuchs, und es wogte hin und her. Daniel wuchs über sich hinaus, genau wie sein Kollege auf der anderen Seite. Der dann aber irgendwann Mitte der zweiten Halbzeit gegen einen Kopfball chancenlos war. Ausgerechnet Justin hatte den Ausgleich erzielt, und voller Freude stürmte er über den ganzen Platz in die Arme von Danny, der ihm als erster zu diesem Treffer gratulieren durfte.

Weitere Tore fielen in der regulären Spielzeit nicht, und in der Verlängerung wurden die Salzburger immer stärker. Aber Danny verteidigte den ihm anvertrauten Kasten wie ein Löwe, zeigte traumhafte Paraden und rettete das Wiener Team ins Elfmeterschießen.

Die Mannschaft stand im Mittelkreis, und der Coach bestimmte die Schützen. Ich ging einfach hin zu der Traube – und redete drauflos, nachdem der Trainer fertig war: „Jungs, ihr habt mich als Zuschauer, der ich ja eigentlich nur bin, tief beeindruckt. Ihr könnt schon jetzt stolz sein. Ihr habt im Halbfinale kurz vor dem Aus gestanden, und euch in Unterzahl nie aufgegeben. Ihr habt eine Chance gehabt. Eine Chance. Aber die habt ihr genutzt. Ihr habt heute einen frühen Rückschlag verkraften müssen, und ihr habt geantwortet. Ihr habt dann gegen eine Mannschaft, die euch körperlich eigentlich überlegen ist, bravourös gekämpft. Allen voran euer Torwart, der ja nicht ganz unschuldig war am 0:1. Aber grade auf ihn wird es jetzt ankommen, auf seine Nervenstärke. Und auf die der fünf Schützen. Es ist wie gegen Niederösterreich: diese eine Chance habt ihr jetzt, diesen Titel zu holen heute. Platziert schießen, konzentriert. Schaut euch den Salzburger Torwart an. Vielleicht verrät der irgendwas. Gesten, Blicke. Holt den Pokal nach Wien!“

Ich hatte mich in Rage geredet, und die Jungs antworteten mit einem vielstimmigen und vielhändig beklatschtem „Yes!!!“

Der Trainer kam auf mich zu: „Donnerwetter. Diese Rede war stark. Wenn wir das Ding jetzt nicht holen, dann nie mehr.“

Und tatsächlich sah es schnell nach nie mehr aus: Nachdem ein Salzburger als erster getroffen hatte, war Justin an der Reihe. Und er schoss scharf und platziert. Der Ball war für den Torwart unhaltbar – aber er landete am Pfosten (der Ball!!!).

Die nächsten drei Schützen aller beider Mannschaften trafen sicher, so dass jetzt nur noch zwei Mann einen Salzburger Triumph verhindern konnten. Der letzte Salzburger Schütze oder Danny.

Und Daniel fischte den Ball mit einem sensationellen Reflex und der Fingerspitze aus der rechten oberen Ecke – es war alles wieder offen. Wiens letzter Schütze traf, so dass nun auch das Elfmeterschießen verlängert werden musste.

Salzburgs sechster Mann wollte besonders clever vorgehen, entschied sich für die gleiche Ecke wie sein erfolgloser Kollege vor ihm. Aber wieder hatte Danny den richtigen Riecher gehabt und den Ball von der Linie gekratzt – nun hatte es der nächste Wiener Schütze in der Hand. Aber wer? Der Coach hatte nur fünf nominiert, und nun gab er die Entscheidung an die Mannschaft weiter: „Freie Wahl!“

Es meldete sich ewige Sekunden lang niemand. Dann schnappte sich Danny den Ball: „Okay, einer muss es machen“.

Das entscheidende Elfmeterduell, Torwart gegen Torwart. Daraus wurden schon einige Fußballgeschichten geschrieben. Anlauf, linke Ecke, Tor! Das Spiel war aus, und Wiens Caritas-Teams hatte das Champion-Turnier gewonnen. Die nächsten Minuten ertranken in restlosem Jubel, der sich intensivierte, als die Mannschaft bei der Siegerehrung erfuhr, dass es nun im Sommer ab an die Ostsee gehen sollte.

Die „Meisterfeier“ fand dann am Abend bei einem Grillfest auf dem Gelände der Wiener Caritas statt, wo es feuchtfröhlicher zuging, als es vielleicht hätte zugehen dürfen.

Kurz nach Mitternacht setzte sich Danny neben mich: „Duuu, Marci? Kann ich heute Nacht bei dir schlafen? In der WG hab ich mich abgemeldet.“

Brigitte selbst fuhr uns nach Hause, wo an diesem Samstag niemand wartete: Natascha verbrachte das Wochenende bei einer Freundin in Innsbruck. Es sprach also überhaupt nichts dagegen, dem Held des Abends diesen Wunsch zu verwähren.

Wir öffneten noch jeder ein Bier und setzten uns auf mein Bett. „Ohne dich wäre ich ein Nichts, Marci. Und so bin ich heute der glücklichste Mensch der Welt. Dank dir. Na ja, jedenfalls fast.“

„Was fehlt dir denn zu deinem Glück?“

„Im Moment nur diese eine Nacht mit dir.“

Und wir erlebten diese Nacht – und als wir am nächsten Morgen erwachten, lächelte mich Danny an: „Marcel, es war wunderschön. Aber ich bleibe dabei: Du bist mein bester Freund und großer Bruder. Und das will ich mir nicht von Liebe kaputt machen lassen. Aber dieses eine Mal hat sie gesiegt, die Macht der Gefühle.“

12. Tobias – Entlassung, Sommer 2007

Mit strahlenden Augen stand Fabian vor mir und fragte mich: „Du, Tobi? Hast du etwas dagegen, wenn ich bei dir ausziehe?“

Es kam mir wie gestern vor, dass er nach der Flucht aus seinem Elternhaus bei mir Unterschlupf gesucht und gefunden hatte. Ja, ich hatte diese Zeit genossen. Auch nachdem mein Mitbewohner sein persönliches Happy End mit Markus gefunden hatte, wurde ich nicht wie das dritte Rad am Motorrad oder das Fünfte am Wagen behandelt.

Ich mochte es einfach, mit Fabian oder/und Markus zu reden, und es war mehr als einmal vorgekommen, dass wir einfach die ganze Nacht durch gequatscht hatten.

Und nun diese Frage…. Ich konnte nichts dagegen haben, auch wenn es mir unglaublich Leid tat, ab sofort wieder allein wohnen zu müssen.

„Wo willst du denn hinziehen?“, erkundigte ich mich bei Fabian.

„Markus’ Eltern haben mir angeboten, für mich das Zimmer neben ihm zu renovieren. Bislang wird es als Abstellkammer benutzt, aber dafür kann genauso gut auch der Keller herhalten, meinen die Bergers.“

Ich grinste: „Und warum ziehst du nicht in den Keller?“

„Da hab ich doch jetzt schon ein paar Monate gewohnt.“

Genau diese Witzeleien und Neckereien würden mir fehlen – es konnte nur noch heißen, die letzten Tage noch zu genießen.

Auch meine Zivildienstzeit im diakonischen Krankenhaus bog allmählich auf die Zielgrade ein, und im Stillen hoffte ich, dass mir die Direktion das gleiche Angebot wie Fabian machen würde: seine Zivizeit war bereits im Januar abgelaufen, und das Krankenhaus hatte ihm eine weiterführende Beschäftigung mit einer parallel laufenden Krankenpflegerausbildung offeriert.

Das hatte er natürlich gern angenommen, und gelegentlich hatten wir sogar noch gemeinsam Dienst, wenn Fabian auf meiner Station eingeteilt war. Er wurde nun zum Kennenlernen aller Bereiche und als Springer quer durch alle Abteilungen geschickt.

Zu tun gab es im Sommer sowieso an jeder Ecke, und auch ich wurde noch einmal richtig gefordert – viele Schichten kamen mir so vor, als wären es die Abschlussprüfungen für mich. Aber Stress herrschte natürlich im gesamten Krankenhaus.

Die Stationen waren voll belegt, einige Extremfälle an Patienten kosteten nicht nur ein Maximum an Einfühlungsvermögen, sondern auch eine Vielzahl an Nerven.

Ein ganz besonderes Exemplar, mit dem ich es zu tun hatte, war Herr Vachall. Schon seine Ankunft war einmalig. Schwester Elke zitierte mich ins Dienstzimmer und konfrontierte mich mit folgender Anweisung: „Oben in der Aufnahme sitzt ein Herr für unsere Station. Schnappen sie sich einen Rollstuhl und holen sie den Herren nach unten in Zimmer eins!“. Das war deshalb ungewöhnlich, weil die Neuzugänge entweder zu Fuß auf die Station kamen oder aber von Sanitätern direkt bis zum Zimmer chauffiert wurden, wenn notwendig.

In der Aufnahme war reichlich Betrieb, also wandte ich mich an die diensthabende Schwester. „Ich suche Herrn Vachall“. „Das bin ich!“, antwortete ein dicklicher, ungepflegt wirkender Mann, bei dem mir eins sofort ins Auge fiel: die unnatürlich dicken Beine. Ich stellte mich vor und bat ihn, im Rollstuhl Platz zu nehmen.

„Ich kann doch laufen!“ „Das werden sie nicht zu tun! Setzen sie sich hin!“, widersprach die Aufnahmeverantwortliche und wandte sich an mich: „Herr Vachall hat striktes Verbot, sich zu Fuß fortzubewegen“. „Das Ärzte immer so übertreiben müssen!“. Vachall schien mit der Sofortmaßnahme seines Hausarztes, die auf dem Einweisungsschein dick markiert war, überhaupt nicht einverstanden.

Nachdem ich seine Papiere in Empfang genommen hatte, begaben wir uns Richtung Station. Dort nahm uns bereits Oberarzt Wernicke in Empfang. „Herr Vachall, setzen sie sich bitte vorsichtig auf `s Bett. Nein, auspacken können Sie nachher. Machen sie bitte vorsichtig den Oberkörper frei“. Vachall schien der bisherige Aufenthalt im Krankenhaus sehr durstig gemacht zu haben. „Kann ich bitte was zu trinken haben?“ „Erst machen wir die Untersuchungen fertig. Tobias, danke“. Damit machte mir Dr. Wernicke deutlich, dass er mich bei den folgenden Untersuchungen nicht brauchen würde.

Die Aufnahme von Flüssigkeiten war für Patient Vachall das zentrale Thema. Wasser in den Beinen verhinderte eine ausreichende Durchblutung der Gehwerkzeuge, die sich entsprechend in einer bläulichen Färbung präsentierten. Entsprechend zeigte sich somit der Maßnahmen-Katalog des Oberarztes. Punkt eins war die drastische Reduzierung der täglichen Flüssigkeitsaufnahme auf 1000 ml, die vom Pflegepersonal penibel in ein Heftchen notiert werden musste und keinesfalls überschritten werden durfte. Für Flüssigkeitsfanatiker Vachall die Höchststrafe, das gleiche galt für Küchenpersonal und Zivildienstleistende. Denn der Patient hatte für diese Anordnung keinerlei Verständnis. 1000 ml, gleichbedeutend mit fünf Gläsern à 0,2 Liter, nichts für einen Mann, dessen sonstiger Tageskonsum weit über 7 Liter lag.

„Warum kriege ich hier nichts zu trinken?“, seine Standardfrage in den ersten Tagen. Unsere Küchenfee Frau Pflitzner, kurz Pflitzi, erklärte es ihm: „Das Wasser muss aus ihren Beinen raus“. „Dann kann ich doch aber Orangensaft trinken“, argumentierte der durstigste Patient aller Zeiten. Pflitzi drehte sich zu mir und verleierte viel sagend die Augen. „Da ist doch aber auch Wasser drin. Sie wollen doch schnell wieder gesund werden!“ Vachall meldete seine medizinischen Bedenken an: „Wenn ich verdurste, kann ich nicht gesund werden!!“ Küchenfees Argumente gingen zur Neige: „Wenden sie sich an Dr. Wernicke!“

Der Oberarzt hatte als Punkt zwei des Maßnahmenkataloges jede eigene Fortbewegung des Patienten untersagt, um die Wasserbeine so gut wie möglich zu entlasten. Das machte die Versorgung des Patienten mit Ente und Schieber unumgänglich, wiederum sehr zum Ärger des Patienten, der nicht verstand, warum er nicht selbst wenigstens auf Toilette gehen durfte.

Neben der Aufnahme von Flüssigkeiten hatte der Patient einen weiteren Faible: die Lindenstraße. „Ich hab` alle Folgen gesehen!, erklärte mir der durstige Fan, für den sich Pflitzi etwas besonderes hatte einfallen lassen. Das Geheimrezept: Eiswürfel. Ab sofort hatten wir davon stets eine nette Reserve im Kühlschrank und in Maßen für den durstigsten aller Patienten zur Verfügung, der die zu lutschende Alternative halbwegs akzeptierte.

Es dauerte... und dauerte... und dauerte. Aber: Vachall begriff, das es am besten für ihn wäre, zu kooperieren. Sehr langsam erholte er sich, genoss jede Folge der Lindenstraße mit sämtlichen dazugehörigen siebzehn Wiederholungen und außerdem Flüssigkeit in den vorgeschriebenen Mengenbereichen. Außerdem erlebte er wenige Tage vor seiner Entlassung einen Stationskrimi direkt in seinem Zimmer mit.

Sein Nachbarbett in dem Zweimann-Zimmer belegte Herr Waurich. Durch einen früher erfolgten Luftröhrenschnitt hatte er ein Loch im Hals – atmen und mündliche Verständigung verliefen für ihn, letzteres auch für seine Mitmenschen, ausgesprochen schwierig.

Ich kannte ihn bereits von einem Aufenthalt wenige Monate zuvor und hatte ihn als netten, unkomplizierten Krankenhausbürger in Erinnerung – jemand, für den es auch wichtig war, ein bisschen mehr Zeit aufzubringen. Diesmal war er zur Medikamentenumstellung bei uns und verhielt sich unauffällig – drei Tage lang.

Eines Nachmittags bemerkte ich, dass im Stationsflur ungewohnte Hektik herrschte:

Kurz vor dem Schichtwechsel eigentlich ungewöhnlich, und Zugänge waren keine mehr angemeldet. Patienten, bei denen akute Notfälle eintreten könnten, waren eigentlich auch nicht in den Zimmern – aber: Irgendetwas musste sein. Ich bemühte mich also, dem merkwürdigen Treiben hübsch unauffällig aus der Küche von meinem derzeitigen Arbeitsplatz zwischen Geschirrspüler und Tellerschrank zu folgen.

Schwester Heidrun rief irgendwo aus dem vorderen Teil laut nach einem Arzt, bald darauf traten Elke und Dr. Wernicke aus einem Zimmer, in dem sie grade mit der Visite beschäftigt waren – wahrscheinlich jedenfalls.

Hektisch wurden sie in Richtung Zimmer eins gewunken und verschwanden darin. Pflitzi fragte mich: „Was is denn da los? Hat der Vachall `n unkontrollierten Saufanfall gekriegt oder dem Waurich seinen Orangensaft weggepichelt?“

Eine völlig blasse Heidrun, von Haus beziehungsweise Natur aus sowieso nicht mit übermäßiger Gesichtsfärbung ausgestattet, verließ fluchtartig das bewusste Zweibettzimmer und stürzte in den Personalbereich, wo neben Horst auch noch Fabian und Birigit saßen. „Der Waurich bedroht den Doktor mit `m Messer! Ruf die Polizei!“

Pfleger Horst, wie immer die Ruhe in Person, sprang auf: „Quatsch“, meinte er und begab sich schnellen Schrittes Richtung „Tatort“, Fabian folgte ihm.

Es war aber tatsächlich so: In einem unkontrollierten Aggressionsausbruch bedrohte der Patient Waurich seinen Arzt – die Situation war durchaus Ernst zunehmen, dauerte aber nicht sehr lange. Fabian, Horst und Dr. Wernicke konnten gemeinsam dem aufgebrachten Mann das Messer entreißen.

Die Situation war entschärft, Wernicke aus dem Gefahrenbereich und zudem sichtlich mit Schweißperlen versehen.

„Was war denn?“ Fabian hatte einen ähnlichen Kenntnisstand wie ich und wollte auf den aktuellen Stand gebracht werden.

Der Doktor rang nach Worten, schilderte aber in klaren Worten die Ereignisse: „Der hat mir so `n Gartenmesser an den Hals gehalten“

„Um Gottes Willen – haben sie sich verletzt?“

„Nicht der Rede Wert, geht schon“ Ich stellte fest, das der Doktor kaum merklich blutete, von Elke aber bereits bestens versorgt wurde.

Horst hatte zwischenzeitlich Handfesseln aus der Reservatenkammer besorgt. Es war unbedingt erforderlich, den Patienten ruhigzustellen und unvermeidbare Sicherheitsvorkehrungen zu ergreifen. Während ich dabei half, die Hände von Patient Waurich zu fixieren, schaute er mich halb traurig, halb wütend an und sagte irgendetwas Unverständliches. „Warum haben sie das gemacht?“, wollte Horst wissen. Kopfschütteln in Richtung Zimmertür.

Es war, jedenfalls für mich, nicht mehr möglich, die Ursache für diese Attacke herauszubekommen. Zwar wurde auf der Station tagelang spekuliert, aber wirklich stichhaltige Erklärungen fand keiner – von falschen Medikamenten bis hin zu unbedachten Äußerungen des Arztes reichten die Vermutungen. Der Patient wurde auf ein Einzelzimmer verlegt, an medizinische Überwachungsgeräte angeschlossen und beobachtet. Sein Gesundheitszustand allerdings verbesserte sich nicht, eher im Gegenteil.

Anders war das bei unserem stets flüssigkeitsaufnahmebereitem Herrn Vachall, dessen Zustand sich sichtlich verbessert hatte. Mit Hilfe des Flüssigkeiten-Zufuhrplanes, den er mit zunehmender Dauer respektierte und sogar einhielt, war es tatsächlich gelungen, das Wasser halbwegs aus seinem Körper zu bekommen.

Am Tag seiner Entlassung bekam er klare Anweisungen von den Ärzten und durfte zurück ins traute Heim.

Drei Tage später hatte er wohl aber alle guten Vorsätze über Bord und mehrere Flaschen Flüssigkeiten in den Einkaufswagen geworfen, berichtete jedenfalls Dr. Lehmann nach Schilderungen eines Notarztkollegen.

Demnach hatte sich Vachall binnen einen Tages sieben Liter Wasser, Saft und ähnliches einverholfen – der Körper reagierte völlig überfordert und stellte sämtliche Kreislauftätigkeiten ein. Im Gegensatz dazu noch nicht eingestellt wurde von bestimmten Programmgestaltern bislang seine Lieblingsserie. Das Happyend der „Lindenstraße“ (wann auch immer) wird Herr Vachall leider nicht mehr miterleben.

Keine gute Nachricht, aber davon wollte ich mir den bevorstehenden Abend nicht mehr kaputtmachen lassen: Fabian und ich wollten Abschied feiern, am kommenden Wochenende sollte endgültig der Umzug zu den Bergers über die Bühne gebracht werden. Ich freute mich auf das Abendessen, dass Fabian kochen wollte – aber als ich das Wohnzimmer betrat, saß Fabian auf der Couch und hatte offensichtlich Tränen in den Augen.

„Um Gottes Willen, was ist denn los? Irgendwas mit Markus?“

Er sah auf, schaute dann auf die Uhr und lächelte mich an: „Tobi, mein Gott. Ist es jetzt wirklich schon so spät? Ich hab unser Essen total vergessen. Nein, im Gegenteil, es ist alles in Ordnung, Hier, lies.“

Ich nahm den Brief, den er mir hinhielt.

Mein lieber Fabian!

Es tut mir so unendlich leid, was in den letzten Monaten passiert ist. Aber leider hatte ich viel zu wenig Kraft, um mich gegen deinen Vater aufzulehnen. Natürlich kam dein Outing damals viel zu plötzlich und überraschend für mich, aber nichts, gar nichts hat sich dadurch an meiner Liebe zu dir geändert. Ich hätte einfach nur ein paar Tage gebraucht, um damit klarzukommen.

Aber dein Vater steht dieser ganzen Geschichte viel zu verbohrt gegenüber. Für ihn war klar, wenn du homosexuell bist, gehörst du eben nicht mehr zur Familie. Ich bin unglücklich gewesen, sehr unglücklich, nachdem du damals Hals über Kopf das Haus verlassen hast.

Oft wollte ich dich anrufen, unzählige Male hatte ich den Telefonhörer in der Hand. Und hab mich dann doch nicht getraut, weil ich gedacht habe, du möchtest mit mir in deinem neuen Leben nichts mehr zu tun haben, nachdem ich es verpasst habe, dir uneingeschränkte Rückendeckung zu geben, die du so sehr gebraucht hättest.

In der letzten Woche hat sich nun auch mein Leben endgültig komplett geändert. Dein Vater, der Hüter der Moral, hat ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Ich habe die beiden in flagranti erwischt und ihn hochkant rausgeschmissen sowie die Scheidung eingereicht.

In dieser letzten Woche habe ich sehr viel nachgedacht, und ich glaube erst jetzt ist mir klar geworden, wie idiotisch ich mich in den Tagen benommen habe, als du mich am meisten gebraucht hast. Dafür möchte ich dich um Verzeihung bitten – die Tür zu unserem Haus steht dir jederzeit offen.

Ich möchte den Neuanfang wagen – und dazu hoffe ich, dass wir wieder ein Mutter-Sohn-Verhältnis aufbauen können, wie es früher einmal war. Hilfst du mir dabei?

Deine dich liebende Mutter

„Wie wirst du reagieren?“, fragte ich ihn.

„Ich habe bereits reagiert. Wir haben vorhin fast zwei Stunden lang telefoniert, und sie wird morgen bereits beim Umzug tatkräftig mithelfen. Bei der Gelegenheit, du hast 15 Uhr Feierabend morgen, oder?“

„Ja, es ist mein allerletzter Samstag auf Station.“

„Hat sich schon mal jemand wegen einer möglichen Übernahme geäußert?“

„Ja, ich hab Dr. Wernicke unlängst gefragt, und er hat mir signalisiert, dass die Chancen nicht schlecht stehen, dass ich genau das gleiche Angebot bekomme wie du.“

„Prima … und wie krieg ich mein schlechtes Gewissen in den Griff?“

„Was hast du denn für ein schlechtes Gewissen? Weil du mich hier wieder allein zurücklässt?“, stichelte ich.

„Nein, eigentlich wollten wir einen ruhigen Abend mit leckerem Essen verbringen. Aber die Küche ist aus …äh… familiären Gründen kalt geblieben.“

„Kein Problem. Lad mich zum Essen ein!“

Es wurde wieder eine lange bzw. unglaublich kurze Nacht. Als wir um vier endlich feststellten, dass es langsam an der Zeit wäre, sich in Morpheus Arme zu begeben, hatte das für mich kaum noch Sinn – schließlich musste ich um 6:30 Uhr auf der Station sein.

Natürlich schaffte ich es nicht, mich wachzuhalten. Noch heute frage ich mich, wie es mir gelang, pünktlich auf Station zu sein.

Immerhin versprach dieser Samstag relativ entspannt zu verlaufen, zum ersten Mal nach längerer stressintensiver Zeit. Die morgendliche Bettenrunde verlief komplikationslos, und es blieb ruhig.

Elke verteilte kurz vor der Visite ihre Aufgaben: „Viola, du verteilst die Medikamente. Tobias, sie kümmern sich in der Zwischenzeit um die Blutdruckmessung, und gemeinsam bezieht ihr dann das Bett vom Herrn Waurich. Bitte nur gemeinsam, ok?“

Wir nickten und starteten durch. Ich ging die wenigen Blutdrücke messen, die alle normaler nicht hätten sein können und überprüfte, ob sich die zum Wochenendausgang angemeldeten Patienten alle bereits entfernt hatten. Natürlich hatten sie. Wer bleibt schon freiwillig im Krankenhaus, wenn nicht erforderlich?

Da Viola offensichtlich ihre Medikamentenrunde dazu genutzt hatte, mit dem ein oder anderen Patienten ein kleines Schwätzchen zu halten, schnappte ich mir den Bettenwagen, kontrollierte die Anwesenheit aller wichtigen Bestandteile und schob ihn langsam in Richtung des Zimmers von Patient Waurich. Ich stellte ihn vor der Tür ab und ging hinein, um ihn auf das Kommende vorzubereiten. Der Mann lag ruhig in seinem Bett – zu ruhig. Ein Blick auf den Bildschirm der Überwachungsanlage zeigte mir drei waagerechte Linien – das Dauer-EKG registrierte keinen Herzschlag mehr. Der Mann war offensichtlich tot.

Umgehend betätigte ich den Personalnotruf – nichts passierte. Den Standort der Visite konnte ich nicht ermitteln – ein entsprechendes Leuchtzeichen über der Zimmertür hätte ihn mir anzeigen können, ja sogar müssen, war aber nicht aktiviert. Auch Viola war weder im Sprechzimmer noch sonst wo auffindbar. Lediglich Küchenfee Pflitzi, in die schönsten Mittagsvorbereitungen vertieft, hatte etwas mitbekommen und steckte ihren Kopf aus der Küchentür. „Junge, was wetzt Du denn so durch die Gänge wie ein aufgescheuchtes Huhn“

„Ich suche Elke mit dem Arzt – der Waurich ist gestorben“.

Küchenfrauen sind wohl von Natur aus neugierig. Und anstatt mir beim Suchen nach Fachpersonal behilflich zu sein, tippelte Pflitzi in das betreffende Zimmer, um sich selbst von der Sache ein Bild zu machen. Als sie wiederkam, stieß sie fast mit Elke zusammen, die wohl zur Visite noch ein paar Unterlagen aus dem Stationszimmer benötigte.

Unverdrossen teilte die Küchenfee ihre Diagnose mit: „Der Waurich is` umme.“ Elke schaute ein, zwei Sekunden und stürzte dann in das betreffende Krankenzimmer, in dem auch Doktor Wernicke wenig später feststellen musste, dass der Patient endgültig erlöst war.

Nicht erlöst war ich – für mich begann das Drama jetzt erst. Die Stationsschwester machte mich vor versammelter Mannschaf zur Schnecke. „Wie kommen sie eigentlich dazu, die Küchenfrau zu einem Toten zu bestellen? Haben wir keine Ärzte oder wenigstens Schwestern im Haus? Das kann doch nicht sein... Sie können sich doch hier nicht als Gott aufspielen...“ Den kompletten Vortrag wiederzugeben, würde den Rahmen sprengen. Meine Versuche, mich zu verteidigen, wurden niedergeschmettert. Die Küchenfrau, die hätte es nun wirklich nicht sein dürfen. Nur leider war sie die Einzige, die mir in diesem Notfall über den Weg lief.

Während Elke und der Doktor ob meines angeblich unüberlegten Handelns entsetzt waren, sah Viola das ganze später, als wir das Bett desinfizierten, von der praktischen Seite: „Ich weiß gar nicht, was die wollen. Hätten ihn halt auf die Intensivstation bringen müssen – da geben die Überwachungsgeräte wenigstens Alarm. Die Dinger, dir wir haben sind doch eh’ nur Pseudokontrolle. Und wen hättest du rufen sollen? Schließlich war ja kein anderer da. Konntest Dir ja keinen Arzt irgendwoher zaubern.“

Offensichtlich hätte ich aber genau das tun müssen – Elke sagte mir zum Dienstschluss: „Ich werde mich dafür einsetzen, dass ihre geplante Übernahme gestrichen wird. Die Verantwortung, die dieser Beruf voraussetzt, scheint ihnen zu fehlen.“

Da ich nichts mehr zu verlieren hatte, hielt ich dagegen: „Ihnen wohl auch, oder? Warum war denn bei der Visite die Kontrollleuchte nicht aktiviert? Dann hätte ich sie finden können.“

„Verlassen sie die Station. Sie sind in der kommenden Woche dienstfrei gestellt.“

So abrupt hatte ich mir das Ende meiner Zivildienstzeit nicht vorgestellt, aber die Pflegedienstleitung hatte mir am Montag noch einmal bestätigt, dass Elke mich nicht mehr auf ihrer Station wünschte. Ich schilderte kurz die Vorkommnisse des Samstags und äußerte meine Bedenken, nun Ärger mit dem Bundesamt zu bekommen.

„Machen sie sich keine Gedanken, ihr Zivildienst gilt als abgeleistet. Und was die Geschichte vom Samstag angeht, wir werden sie untersuchen und uns gegebenenfalls noch mal mit ihnen in Verbindung setzen. Fest steht, dass der Patient tot war, als sie ihn fanden. Inwiefern sie die Dienstvorschriften verletzt haben, werden wir sehen. Ich allerdings glaube ihnen.“

Am Abend saß ich nun nach langer Zeit zum ersten Mal wieder allein in meiner kleinen Wohnung, von der Gewissheit geplagt, dass niemand mehr kommen würde.

Und von der beruflichen Ungewissheit geplagt. Die Übernahme war geplatzt, und meine eher sporadisch erfolgten Bewerbungen waren bislang alle erfolglos im Sande verlaufen.

Ein Monat blieb mir noch - eine freigestellte Woche und drei Wochen Urlaub, die noch das Bundesamt zahlen würde. Und dann? Ich musste mich jetzt wohl intensiv drehen.

Mein Handy klingelte. Am andere Ende war Marcel: „Hallo Tobi. Ich habe hier ein ziemlich akutes Problem in Wien.“

wird fortgesetzt…

Lesemodus deaktivieren (?)