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Roter Mond

Teil 2 - Equinox

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Inhaltsverzeichnis

Wochenendplanung

»Hölle?«, Sonni zeigte sich überrascht. Hatten der nette Teufel und freundliche Engel nicht gerade etwas anderes behauptet? »Ich dachte, es gäbe keine Hölle.«

Alles in allem hatte sich der Nachmittag weitaus interessanter entwickelt als Kommissar Lundkvist auch nur ansatzweise erwarten konnte. Nach einem mehr verwirrenden als produktiven Vormittag, bei dem auf eine wirklich eigentümliche Unterredung mit seinem Chef ein vollkommen frustrierendes Gespräch mit der KTU folgte, hatte Sonni mit nicht all zu hoch gesteckten Erwartungen das Etablissement Tim Teufels, dem Fachhandel für Lustbekleidung, aufgesucht. Der erste Eindruck des Ladengeschäfts schien dann auch sämtliche Vorurteile zu bestätigen, dass es sich beim teufelschen Betrieb um nicht mehr, als um einen der üblichen Fetischschneider der Stadt handelte. Nicht nur, dass an den Kleiderbügeln und Regalen reihenweise Hosen, Jacken, T-Shirts, Unterhosen, Bodys, Ganzanzüge und Masken hingen oder lagen, sondern auch je nach Geschmack wahlweise aus Leder oder Gummi gefertigt waren. Da passte es wie die Faust aufs Auge, dass Sonni den Herrn Teufel bei keiner anderen Tätigkeit antraf, als dem Zuschneiden einer Kuhhaut.

Allerdings erschöpften sich hier auch schon die Klischees. Soweit der Held dieser Geschichte wirklich glaubte, was er in den darauf folgenden Stunden erlebte, handelte es sich bei Tim Teufel um den wirklichen, echten und wahrhaften Teufel inklusive Hörnern, rot glühenden Augen und Schwanz, der mit einem ebenso wirklichen, echten und wahrhaften geflügelten Engel mit blausilbern funkelnden Augen befreundet zu sein schien..

»Ähm, entschuldige, wenn ich mich ein wenig unglücklich ausgedrückt haben sollte. Die Hölle ist eine Bar und beliebter Treffpunkt für all das übernatürliche Volk, das sich in eurer Welt rumtreibt. Dieser Fluch, der Lalyo, der deinen Kollegen getötet hat… Wenn jemand etwas darüber weiß, werden wir ihn in der Hölle finden. Ich hoffe, du hast noch keine Pläne für dein Wochenende. Der Laden ist dann gerammelt voll. Bester Zeitpunkt, um sich ein wenig umzuhören. Der Lalyo…? Ich kenne da ein paar Hexenmeister, denen ich gerne ein wenig auf den Zahn fühlen möchte. Außerdem sollten wir uns mit dem Alpha des hiesigen Werwolfrudels unterhalten. Nichts geht über den Spürsinn einer Hundenase.«, sinnierte Tim.

»Werwolfrudel? Hexenmeister?«

Wenn der Teufel beabsichtigte, Sonni zu verarschen, war er ziemlich gut darin. Im Normalfall wusste der Kriminalkommissar, wenn ihn jemand auf dem Arm nahm. Tim Teufel sprach aber mit einer Selbstverständlichkeit von Hexenmeistern und Werwölfen, dass Sonni nicht sagen konnte, ob der Teufel wirklich flunkerte.

»Tim erzählt keinen Unsinn.«, mischte sich Felix, der ebenso sympathische wie knuffige Feuerdämon ein. »Ist es wirklich so unvorstellbar, dass es Werwölfe, Vampire, Guhle, Feen und Elfen gibt? Du bist doch über eine viel größere Hürde gesprungen, indem du mir glaubst, dass ich ein Ifrit bin, Tim als Teufel akzeptierst und Raphael als Engel.«

»Okay, lasst mir einfach etwas Zeit, das alles zu verdauen.« Sonni holte tief Luft. »Samstag? Nicht heute Abend oder so?«

»Nein, nicht heute.«, versicherte der Teufel, »Ruh dich aus und lass das Wissen, das du heute erlangt hast, ruhig ein wenig sacken. Ermittle weiter und sprich mit Kevin. Raphael hat mir erzählt, dass sich Gabe um ihn kümmert. Das ist gut. Gabe ist ein ganz lieber Engel, der ihm helfen wird, mit den Erlebnissen eures Falls auf seelischer Ebene klar zu kommen. Er braucht aber auch deine Bodenständigkeit, um wieder geerdet zu werden.«

»Kein Problem. Ich wollte ihn sowieso besuchen.« Sonni überlegte. »Samstag…«

»Samstag.«, versicherte Tim mit nur einem Hauch Unsicherheit in der Stimme, auf die Sonni aber sofort ansprang.

»Wo ist der Haken?«

»Ähm, tja. Da wäre wirklich noch ein klitzekleines Problemchen. Nichts ernstes.«, druckste der Teufel in der Art eines Gebrauchtwagenhändlers herum, der einem Interessenten erklären muss, dass das Objekt der Begierde statt der vermuteten 100.000 km wohl eher 250.000 km auf der Uhr hat. Seine Augen funkelten dabei dunkelrot. »Du zählst nicht unbedingt zum erwünschten Publikum…«

»Nicht?«

»Du bist eben ein Mensch und daher nicht wirklich willkommen. Allerdings…«

»Ja…?«, insistierte Sonni.

»Du könntest mich als mein Sklave begleiten.«

»Sklave?« Sonni blieb ganz ruhig. Den Trick, seine Fragen in ein einziges Wort zu packen, hatte schon viele Verdächtige während eines Verhörs ins Schwitzen gebracht, wobei er nie gedacht hätte, dass es beim leibhaftigen Höllenfürsten ebenfalls funktionierte. Der wirkte tatsächlich ein wenig hilflos und rang verlegen nach Worten.

»Natürlich wirst du meinen Sklaven nur spielen. Wir hübschen dich ordentlich auf und machen einen heißen Kerl aus dir. Ich werde dich dann ein wenig ruppig angehen, dass die ganze Bande glaubt, ich würde dich als meinen Lustsklaven halten und es als standesgemäßes Verhalten meinerseits betrachten. Die werden dich voraussichtlich eine Weile angaffen, vielleicht ein paar anzügliche Kommentare abfeuern und dann zufrieden lassen, wenn nicht sogar ignorieren. Als mein Sklave bist du nämlich unantastbar und solltest dich mehr oder weniger frei in der Bar bewegen können, was du nutzen solltest, um dich umzuhören.«

»Hm…« Sonni war sich nicht sicher, ob ihm dieser Plan gefiel. Doch wie es aussah, blieb ihm kaum eine andere Wahl als dem Teufel zu vertrauen, wollte er mit seinem Fall irgendwie vorankommen.

»Ich werde mitkommen.«, meinte Felix fröhlich, dem die Unsicherheit in den Augen des Kriminalkommissars ebenfalls aufgefallen, »Genau genommen werde ich mich ebenfalls in der Hölle rumtreiben. Es muss ja niemand wissen, dass wir zwei uns kennen. Die Hälfte der Gäste untersteht Tims Jurisdiktion, sind, wie ich, Wesen seiner Domäne. Die werden mich nicht beachten und ich kann unauffällig dein Schutzdämon sein.«

»Ist ja gut. Ich mach ja mit.«, stöhnte Sonni, dem die Idee, Lustsklave des Teufels zu sein, nach wie vor nicht wirklich geheuer war.

»Hey, vertrau mir, es wird dir gefallen.«, strahlte Tim Teufel enthusiastisch, »Du solltest dich geschmeichelt fühlen. Was meinst du, wie viele Jungs sich danach verzehren, Günstling des Teufels zu sein?«

»Ähm…«

Obwohl Tim breit grinste, war Sonni immer noch unsicher, in wie weit der Teufel scherzte und in wie weit er es dann doch eigentlich ziemlich ernst meinte. Der Mann war schließlich ein echter Teufel und mit dem war, glaubte er der landläufigen Meinung, weder zu scherzen aber insbesondere nicht zu trauen. Auf der anderen Seite präsentierte sich dieser spezielle Teufel verdammt, um nicht zu sagen höllisch attraktiv und… Es fiel dem Kriminalkommissar schwer, gegen eine aufkeimende Erektion anzukämpfen.

»Willst du die Hose anbehalten?«, wechselte Tim ebenso abrupt wie unschuldig das Thema. Vom unerwarteten Gedankensprung überrumpelt, beschränkte sich Sonni darauf, seinen Gastgeber verständnislos anzuglotzen. Dieser wiederum wertete das Schweigen seines Gastes als stillschweigende Zustimmung und begann, ganz Einzel- und Großhandelsprofi des Textilgewerbes, Sonnis abgelegte Jeans mit gekonnten Handgriffen zusammenzulegen und in eine Papiertüte mit dem wie ein Teufelsschwanz geschwungenen Schriftzug von Tim Teufels Fachgeschäft für Lustbekleidung zu verfrachten.

»Der Kassenbon liegt drin.«

Tims Scherz brauchte ein paar Sekunden, bis er beim Kriminalkommissar zündete. Der schluckte und nahm zögerlich die Tüte.

»Wegen der Hose… Ich… Was schulde…«

»Nichts!«, fiel Tim mit seinem unverkennbaren Donnergrollen in der Stimme Sonni ins Wort. »Du schuldest mir nichts. Die Hose und die Talismane sind Geschenke. Und mehr will ich darüber weder hören noch reden.«

Der Teufel hatte ein Machtwort gesprochen, das seine Gäste sichtlich zusammenzucken ließ. Langsam keimte beim Mitarbeiter der Berliner Polizei der Anflug einer Ahnung auf, um was für ein machtvolles Wesen es sich bei Tim Teufel in Wirklichkeit handelte. Doch bevor Sonni dieser Ahnung weiter nachgehen konnte, meldete sich sein Magen mit lautem Poltern und Gurgeln zu Wort. Inzwischen war es kurz vor acht Uhr abends und er ziemlich hungrig. Die letzte Mahlzeit hatte aus nicht mehr als einem kleinen und kaum sättigenden Snack gehandelt, den er kurz entschlossen auf dem Weg zu Tim Teufels Laden noch schnell am Winterfeldplatz abgegriffen hatte. Der lag aber inzwischen auch schon ein paar Stunden zurück und durfte nunmehr verdaut gewesen sein. Etwas peinlich ertappt schaute der junge Kriminalkommissar unsicher zwischen Tim und Felix hin und her. Während der Teufel amüsiert den Kopf schüttelte, grinste Felix breit.

»Hungrig?«, fragte der Ifrit.

»Ziemlich«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr, mein Herr und Meister, keine Lust verspürt, mit uns Essen zu gehen?«, wandte sich der Dämon ironietropfend an seinen Schöpfer.

»Lust schon«, seufzte der rothäutige Höllenfürst, »Aber leider fehlt mir dafür die Zeit. Bis Samstag werde ich noch ein paar Dinge vorbereiten müssen. Aber ihr zwei könnt gerne ohne mich gehen. Ich glaube sogar, dass unser menschlicher Freund ganz froh sein wird, wieder an die frische Luft zu kommen. Lassen wir es für heute gut sein. Doch bevor ihr geht, eins noch: Sonni, es wäre gut, wenn du am Samstag so gegen elf Uhr abends wieder her kommst. Dann können wir alles in Ruhe vorbereiten. Und noch etwas: Lege die Talismane nicht ab. Niemals! Es sei denn, du befindest dich in Felix, Raphis, Gabes oder meiner Gesellschaft.«


»Krass!«

»Was?«

»Du!«

»Ich?«

»Ja!«

»Wieso?«

»Schau mal in einen Spiegel!«

Der immer noch fast volle Mond hing hell leuchtend über der Stadt und wirkte nach wie vor ausgesprochen groß. Was hingegen fehlte, war die drohende und unheilvolle Aura. Er war nicht mehr der Blutmond, wie noch am Freitag. Achtundzwanzig Tage, genau genommen waren es nur noch fünfzwanzig – mehr Zeit blieb Sonni nicht, dann würde der Mond wieder seine volle Scheibe zeigen und der Guhl auf Begleichung seiner Rechnung pochen.

»Warum sollte ich in einen Spiegel schauen?«

Mit seinen Gedanken ganz woanders, hatte Sonni nur halb seinem dämonischen Begleiter zugehört. Es ging irgendwie um »Krass« und »Spiegel«.

»Die ganze Zeit der ermittelnde Kommissar, was?«

Immerhin nahm Felix es Sonni nicht übel, dass dieser vor sich hingrübelte. Ganz im Gegenteil wartete er geduldig, bis der Polizeibeamte die Akten in seinem Schädel beiseite gelegt hatte und sich ihm zuwandte.

»Entschuldige bitte! Ich glaube, ich bin ein lausiger Gesprächspartner. Aber mir gehen so viele Dinge durch den Kopf, dass ich nicht weiß, wo ich beginnen soll, um in meinen Schädel wieder ein wenig Ordnung zu bringen. Also, warum soll ich in einen Spiegel schauen?«

»Damit du siehst, wie geil du aussiehst. Tim scheint gewusst zu haben, dass du eine Motorradlederjacke trägst und hat die Hose darauf abgestimmt. Beides zusammen sieht schon mächtig kerlig aus. Ich glaube, in dieser Kombination hast du deinen Aufreißfaktor um einiges vervielfacht.«

»Ähm…«

Und plötzlich blieb dem an sich um kein Wort verlegenen Polizisten die Spucke weg. Daran, dass er mit seiner Lederjacke und der von Tim geschenkten Hose gleichen Materials einigen Jungs die Köpfe verdrehen und locker SM-Meisterausbilder Mike Konkurrenz machen konnte, war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Als Felix und er sich vom Lederscheider und Höllenfürsten verabschiedeten, hatte sich Sonni so wie immer seine Jacke übergestreift und gar nicht daran gedacht, wie sich sein Erscheinungsbild dadurch veränderte. Zwar hatte ihn Andi, des Teufels Verkäuferschlingel, beim Verlassen des Ladengeschäfts lüstern gemustert und sich sogar mit der Zunge über die Lippen geleckt, doch wäre Sonni nicht mal im Traum in den Sinn gekommen, dabei einen Zusammenhang in der Kombination aus Hose und Jacke zu sehen.

»Tim, dieser Teufel«, brach es plötzlich aus Felix heraus, »Er hat dich ausgetrickst. Fragt ganz unverfänglich, ob du die Hose anbehalten willst… Ja, so ist der Chef.«

»Chef?«

»Chef, Meister, Fürst, Gott, Schöpfer, Geist, Freund – such dir was aus. Ich kann es schlecht erklären. Wenn ich es mir genau überlege, kann ich es gar nicht erklären. Auf der anderen Seite, der Schattenwelt der Engel und Teufel, ist Tim so etwas wie…« Felix rang nach Worten »In der Mathematik würdest du von einem lokalen Maximum sprechen. In seiner Domäne ist er die stärkste Kraft, an und nach der sich alles ausrichtet. Wir existieren auf eine andere Weise als ihr, sind deswegen aber nicht minder real.«

»Wie mächtig ist Tim in unserer Welt?«

»Glaub mir, das willst du nicht wissen.« erwiderte Felix ernst, begann aber sofort wieder zu lächeln, »Aber entspann dich. Er wird seine Macht nicht gebrauchen. Es sei denn… Nein, vergiss es. Nein, den alten Teufel treibt etwas ganz anderes um. Im Moment scheint er einen Narren an dir gefressen zu haben. Es kommt selten vor, dass er die Werke seiner Arbeit verschenkt. Oh ja, er mag dich.«

»Aber ich dachte, die Hose wäre nur ein Träger für die Schutzzauber?«

»Klar ist sie das.«, Felix gluckste, »Und so total dezent. Junge, merk mal was! Der Teufel hat nicht nur ein Auge auf dich geworfen, sondern gleich seine ganze Pranke auf dich gelegt, und das lässt er jeden laut und deutlich wissen, der in der Lage ist, die Zeichen zu sehen. Ich frag mich, ob ich dich beneiden oder bedauern soll.«

»Super«, knurrte Sonni mit sarkastischem Unterton und blieb vor einem Restaurant stehen, »Was hältst du von diesem Laden?«

»Oh, gerne. Der ist super.«

Höllenglut und Fegefeuer

Im ersten Moment sah es nicht so aus, als ob die Restaurantwahl mit Erfolg beschieden wurde. Gegen kurz vor neun Uhr abends herrschte Großkampfzeit. Der Laden, eine Institution der schwulen Szene im Bermudadreieck zwischen Lutherstraße, Nollendorf- und Winterfeldplatz, brummte wie ein Bienenschwarm. Sämtliche Tische waren entweder besetzt oder es prangte eines jener weißen Plastikschildchen mit dem wenig erfreulichen Schriftzug »Reserviert« auf der schneeweißen Tischdecke. Kurzzeitig keimte etwas Hoffnung auf, als zwei Männer Mitte Vierzig an einem Zweiertisch erst zahlten und dann ziemlich eilig das Weite suchten, wobei sich die beiden rattig bis debil angafften. Es war völlig klar, wo und womit die beiden den Rest der Nacht verbringen wollten.

Mit der notgeilen Flucht der älteren Herrschaften blieb plötzlich ein Tisch ohne Reservierungsschild zurück. Doch kaum, dass Sonni und Felix ihn ausgemacht hatten und sich niederlassen wollten, kam eine Bedienung, räumte das Restgeschirr ab, wechselte die obere Tischdecke und platzierte eines der vermaledeiten Plastikschildchen auf dem frischen Tuch.

»Sorry Jungs, aber ohne Reservierung läuft heute gar nichts.«, entschuldigte der Held des Gastronomieservice das Fehlen freier Plätze und musterte Sonni mit einem Ausdruck von Bedauern, wobei seine Augen genussvoll über die Ledermontur des Kriminalkommissars glitten.

»Du kannst ja nix dafür.«, entgegnete Sonni charmant und wandte sich an Felix, »Komm, lass uns woanders hingehen.«

Doch in diesem Moment wendete sich das Blatt. Eine weitere Person gesellte sich ihnen hinzu, musterte Sonni sehr genau, um ein paar Sekunden später der ersten Bedienung mehr freundschaftlich als kollegial seine Hand auf dessen Schulter zu legen: »Olek, nimm die Reservierung weg und lass die Zwei sich setzen.«

»Und was mach ich, wenn die Leute mit der Reservierung auftauchen?«

»Schick sie zu mir. Ich werde ihnen erklären, dass es leider zu einer Doppelbuchung gekommen sei und sie irgendwo anders unterbringen. Shit happens.«

»Johannes, du bist der Boss!«

Ein paar Sekunden später hockten Felix und Sonni am Tisch und hielten die Speisekarte in der Hand.

»Was ist da eben passiert?«

Der Laden ist gerappelt voll. Wieso bekommen wir einen Platz? Es war der Polizist in Sonni, der es ihm nicht erlaubte, sich auf die Karte zu konzentrieren. Ihm wollte einfach nicht die Szene mit der Bedienung aus dem Kopf gehen. So attraktiv war er nun auch wieder nicht, dass man ihn in dieser Art bevorzugen müsste. Und wenn es so wäre, würde es ihm nicht gefallen.

»Schau dir den Restaurantleiter genauer an.«, empfahl Felix.

»Nicht unattraktiv. Ziemlich schlank, aber eher drahtig als muskulös und wie er sich bewegt, so geschmeidig, würde ich ihn als Tänzertyp kategorisieren.«

»Nicht schlecht, aber total falsch.«, feixte Felix, »Versuch, ihn auf andere Weise zu betrachten.«

»Oh…«

Wer hätte damit gerechnet, in einem stadtbekannten Szenerestaurant nach übernatürlichen Fabelwesen und Dämonen Ausschau zu halten? Andererseits wurde auch der angesagteste Club von einem Engel betrieben. Vielleicht, so überlegte Sonni, müsse er in anderen Dimensionen denken und versuchte seine erweiterte Wahrnehmung zu aktivieren. Im Gegensatz zum Nachmittag in Tims Wohnung fiel es ihm deutlich schwerer, der Wirklichkeit ihren verhüllenden Schleier zu entreißen. Die vielen Personen im Restaurant lenkten ab und behinderten Sonnis Konzentration, der fühlte, dass ihn der Wechsel deutlich mehr Kraft kostete, als zuvor. Erst als er seine Augen schloss, die Gespräche der Gäste und die Musikberieselung ausblendete, gelang es ihm, die filternde Folie vor seinem inneren Auge zu entfernen.

Das erste, was Sonni erblickte, als er seine Augen wieder öffnete, war Felix, der ruhig und gleichmäßig vor sich hinlodernde Feuerdämon. Offenbar fühlte sich der Ifrit wohl und sehr relaxt. Zumindest wirkten die Flammen so, die ihn unaufgeregt und recht relaxt umringelten. Mit Felix als übernatürlichen Referenzwert ließ Sonni seinen Blick über Gäste und Personal des Restaurants schweifen und war fast ein wenig enttäuscht, nur ganz gewöhnliche Menschen zu entdecken. Bis auf Johannes, den Restaurantleiter, dessen Anblick Sonni zusammenzucken ließ.

»Ist er…?« KK Lundkvist überließ es seiner Begleitung, das Wort auszusprechen.

»Ein Vampir, ja.«, bestätigte Felix Sonnis Befürchtung, »Er gehört zwar einer anderen Domäne an, fühlt sich uns aber verbunden. Er muss Tims Signatur und Schutzzauber auf deiner Hose gesehen haben.«

»Dann werde ich wohl ein ernstes Wort mit diesem hinterhältigen Teufel sprechen müssen. Er ist nicht mein Sugardaddy und ich nicht sein… Ach, was weiß ich?«, knurrte Sonni verärgert, »Ich will keine Sonderbehandlung. Nachher denkt noch wer, ich sei sein Sextoy oder gar Geliebter.«

»Das wäre mal etwas Neues. Soweit ich mich erinnern kann, hat Luzifer, ich meine Tim, in den letzten Jahrhunderten keinen Geliebten mehr gehabt. Aber wenn es dich stört, dann sprich mit ihm.«

»Was anderes. Muss ich mir wegen des Vampirs Sorgen machen? Ich spreche jetzt in meiner Funktion als Kriminalkommissar.«

»Nein, eigentlich nicht. Johannes ernährt sich ausschließlich von seinen Freunden, die dabei in keiner Weise zu Schaden kommen.«

»In was für eine schräge Welt bin ich da nur reingeraten?«, seufzte Sonni.

»In eine, die immer schon da war. Nur habt ihr Menschen verlernt, sie zu sehen.«, gab Felix zu bedenken, »Welchen Platz genießen Naturgeister, wie Feen oder Elfen in eurer hochtechnisierten Welt noch? Oder sieh mich an. Würde mich jeder sehen, wie du mich siehst, dürfte ich wahrscheinlich mit Feuerlöschern mehr Bekanntschaft schließen, als mir lieb ist. Hast du eine Ahnung, wie fürchterlich Feuerlöschpulver juckt? Es geht auch nur ganz schwer aus den Haaren wieder raus.«

Auf diese Enthüllung hin konnte Sonni nicht anders und musste schmunzeln. Dieser Ifrit mochte ein feuriges Kerlchen sein, aber vor allem war er eines, bei dem einem Trübsinn und Ärger schnell vergingen.

»Ah, da kommt unser Essen.«, jubilierte Felix begeistert, »Was hast du bestellt?«

»Seeteufel«


Der Abend mit Felix entwickelte sich sehr nett. Der Chemiestudent präsentierte sich als ein ausgesprochen kultivierter und überaus gebildeter Mann, was vielleicht damit zu tun haben konnte, dass sein Geist weitaus mehr Jahre zählte als sein Körper. Wobei der junge Mann einschränkte, dass in seiner Welt Zeit nicht in der gleichen Weise verstrich, wie in der der Menschen. So verlief sie insbesondere nicht immer linear, konnte Schleifen und Verzweigungen bilden und sogar Haken schlagen, was aus menschlicher Sicht recht verblüffende Effekte nach sich ziehen konnte. So etwas wie Kausalität - Ursache und Wirkung - gab es in Felix Welt nicht. Es könnte zum Beispiel gut möglich sein, dass er die Entscheidung, für eine Weile als Mensch zu leben, in seiner Welt noch nicht getroffen hatte oder sie längst revidierte. In Sonnis Ohren klang dies alles sehr verwirrend.

»Du solltest uns besuchen kommen.«, schlug Felix vor. »Du wirst dann zwar auch nicht mehr verstehen, aber um verstehen geht es auch gar nicht, sondern um fühlen und bewusstes existieren.«

»Ein Besuch in der Hölle?«

»Die hat es dir angetan, was?« Felix grinste auf eine sehr kryptische Weise, die viel Spielraum für Interpretation zuließ. Die beiden Männer hatten das Restaurant verlassen und schlenderten durch die mondbeschienenen Straßen Schönebergs. »Die gute Nachricht lautet, es gibt weder Himmel noch Hölle. Jedenfalls nicht in der Art, wie ihr sie euch vorstellt. Dantes Inferno ist gleichzeitig Quatsch als auch ein ziemlich treffendes Bild. Denn die schlechte Nachricht lautet, Himmel und Hölle existieren, wenn auch völlig anders, als ihr euch vorstellen könnt. Ich kann es dir auch nicht richtig erklären, da mir dafür nicht nur die Begriffe fehlen, sondern wir insbesondere durch das Korsett der Naturgesetze dieser Welt gebunden sind. Allerdings…«

Felix blieb stehen, musterte Sonni und schien etwas zu überlegen oder miteinander abzuwägen. In diesem Moment fiel KK Lundkvist auf, dass sie direkt vor seiner Wohnung standen.

»Wenn du noch Lust auf einen Kaffee hättest, könntest du es mir oben erklären.«, schlug der Kommissar vor und blickte mit seinen Augen in Richtung seiner Wohnung.

»Einen Kaffee?«, fragte der Chemiestudent keck nach.

»Dir hat doch Tim nicht etwa verboten, mit mir Kaffee zu trinken, oder?«

»Nicht dass ich wüsste. Ja, ich glaube, ich hätte wirklich Lust… Auf einen Kaffee.«

Für einen kurzen Moment meldete sich der Teil von Sonnis Gehirn, der für Vor- und Umsicht zuständig war und auch für das Auslösen von Fluchtreaktionen verantwortlich zeigte. Doch sein Einwand, dass es vielleicht nicht wirklich schlau sei, einen unbekannten Mann, korrigiere, Dämon in die eigene Wohnung zu lassen. Wer weiß, was dieser für Absichten hegte. Genau an dieser Stelle schaltete sich das Lustzentrum ein und meinte, dass es hoffentlich nur die wildesten Absichten seien, die der Ifrit hegte. Dem wusste niemand etwas entgegenzusetzen. Von all dem bekam Sonni bewusst nichts mit, nur sein Griff in die Jackentasche, mit dem er nach seinem Haustürschlüssel angelte, zeigte, welche Entscheidung in seinem Schädel gefällt wurde.

Die Treppe zur Wohnungstür war schnell, wenn auch nicht hastig genommen. Dort angekommen, kam der Wohnungsschlüssel zum Einsatz. Sonni öffnete die Tür und ließ Felix eintreten, um anschließend selbst seine Wohnung zu betreten. Verlief der Abend bis hierhin recht locker und freundschaftlich, sollte sich dies schlagartig ändern. Mit einer animalischen Brutalität, die Sonni nicht für möglich gehalten hätte, packte er Felix an dessen Schultern, wirbelte ihn um hundertachtzig Grad herum und drückte ihn mit einem kräftigen Schubs von innen gegen die Wohnungstür, die laut krachend ins Schloss fiel.

Vollkommen von diesem Überfall überrumpelt, glotzte Felix Sonni entgeistert an. Der lächelte nur, ließ Felix Schultern los, um stattdessen dessen Kopf zu packen und diesen zu sich heranzuziehen, während er ihre beiden Körper gegen die ächzende Wohnungstür drückte. Letzteres ließ es beim Ifrit Klick machen, der seine freien Hände nutzte, um nun seinerseits Sonni fester und enger an sich heranzuziehen.

»Verdammt, küss mich endlich!«

Die beiden Männer fielen übereinander her. Münder trafen aufeinander, verschlangen sich gegenseitig. Körper pressten gegeneinander, rieben sich, verlangten nacheinander. Die Interaktion war dermaßen wild und stürmisch, dass weder Felix noch Sonni es schafften, sich auch nur ihrer Jacken zu entledigen. Das Verlangen aufeinander war einfach stärker, so dass Kleidung keine Rolle spielte. Irgendwie fanden ihre Hände unter die Hemden und T-Shirts und griffen nach nackter, samtig weicher Haut.

»Wow!«, japste Felix nach Luft, dessen Flammen ein kräftiges Rot angenommen hatten, »Junge, ich hab dich unterschätzt.«

»Selber Wow!«, japste Sonni ebenfalls nach Luft, den der Sauerstoffmangel zu einer Unterbrechung seiner Liebkosungsattacke gezwungen hatte, »Wie sollte ich einem attraktiven Mann wie dir widerstehen?«

Die Entfernung von Wohnungstür zu Sonnis Schlafzimmer betrug vielleicht sieben Meter. Doch so weit kamen die zwei triebgesteuerten Männer nicht. Ihr Weg durch die Wohnung endete in der Küche, genaugenommen endete er für Felix auf dem Küchentisch. Mit dem Rücken auf der Tischplatte liegend nestelte er hektisch an Gürtel und Hosenstall, schaffte es, beides zu öffnen und schob seine Jeans zu den Kniekehlen hinunter, wobei er seine Unterhose gleich mitnahm. Während dieser Aktion war Sonni nicht untätig geblieben und hatte seinerseits die neue Lederhose der Erdanziehungskraft überantwortet.

»Gleitgel?«, stöhnte Felix, dessen Geilheit nur eins wollte: Sonnis bestes Stück tief in seinem Rektum. Nun zählen Gleitmittel für anale Penetrationen nicht zu den typischen Küchenutensilien. Entsprechende Flaschen fanden sich nur sehr selten in Gewürzregalen zwischen Nelken, Currypulver und Bohnenkraut. Allerdings machte Lust bekannterweise erfinderisch und half, auch die konventionellsten Denkmuster zu überwinden. Mit einem schnellen Griff nach dem in Reichweite seiner Hände befindlichen Kühlschrank angelte Sonni nach einer Margarinepackung, die definitiv nicht damit gerechnet hatte, statt als profanes Bratfett in einer Pfanne, auf Genital und im Rektum zweier vollständig lustgesteuerten jungen Männer zu landen.

»Mach!«, war alles, was Felix sagte und sagen musste. Der Deckel des Pflanzenfetts flog von dannen. Sonni griff mit seinem Finger beherzt in die weiche gelbliche Substanz, bekam eine ordentliche Portion zu fassen und beförderte diese zum erwartungsvoll zuckenden Schließmuskel des auf dem Küchentisch liegenden Dämons. Der seufzte erregt auf, als das Fett in Kontakt mit der zarten Haut seiner rosigen Rosette trat und Sonni begann, es an Ort und Stelle großzügig zu verteilen. Ein zweiter Griff in die Plastikschachtel und die zweite Komponente der bevorstehenden Vereinigung erhielt die für diesen Vorgang notwendige Gleitfähigkeit.

Sonni setzte an. Ein fragender Blick zu Felix, ein Nicken und die Sache kam in Fahrt. Gut gefettet glitt Sonnis Schwanz ohne nennenswerten Widerstand in Felix ein, der diesen Vorgang zwar stöhnend und jammernd, aber ansonsten sehr willkommen hieß. Das konnte auch damit zu tun haben, dass sein Partner sehr genau wusste, wie er mit seinem Werkzeug umzugehen hatte, um beiden Teilnehmern des Liebesspiels gleichermaßen höchste Lust zu bereiten. Es wird daher auch niemanden verwundern, dass beide Männer nach wenigen, zu wenigen Minuten zum Höhepunkt kamen. Während sich Sonni in Felix entlud, landete dessen Beitrag auf seinem T-Shirt, dessen er sich in der Hitze des Gefechts nicht entledigt hatte.

»Ähm…«, ließ sich Felix nach einer Weile vernehmen, der sich auf dem Tisch zurückgelegt hatte und nun aus Sonnis Küchenfenster schaute, dass sich am anderen Ende befand.

»Was?«

»Ich glaube, wir haben deinen Nachbarn eine ziemlich gute Show geliefert.« Das Küchenfenster verfügte über keine Vorhänge und die Jalousie, mit der es sich prinzipiell verhüllen ließ, war hochgezogen.

»Oh«, erwiderte Sonni, wägte einen Moment ab, ob ihm der Vorfall peinlich sein sollte und entschied sich dann dagegen. »Wir haben niemanden zum Spannen gezwungen, oder?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Trotzdem sollten wir in Erwägung ziehen, diese Sache hier an einem anderen Ort fortzusetzen. Du willst sie doch fortsetzen, oder?«

»Hey, ich bin ein Dämon. Ich will immer!«


Der Umzug ins Schlafzimmer stellte sich schwieriger als gedacht heraus. Es begann damit, dass Felix über seine Hosenbeine stolperte, die er von seiner Geilheit getrieben nur bis zu den Knöcheln heruntergeschoben hatte, und dabei fast auf die Nase fiel, hätte ihn Sonni nicht aufgefangen. Da die Lederhose des Polizisten ebenfalls an dessen Füßen fest hing, hatte er mit den gleichen Bewegungsbehinderungen zu kämpfen, wie sein Gast. Den beiden blieb nichts anderes übrig, als ihre Hosen wieder hoch zu ziehen, um halbwegs unfallfrei ins Schlafzimmer zu stolpern. Die ganze Aktion entbehrte nicht einer gewissen Komik, was sich in massenweise Gelächter und albernem Gekichere äußerte, während sich Sonni und Felix gegenseitig auszogen.

Nach mehreren Minuten lustvollen Auspackens, schlüpften die zwei endlich gemeinsam unter die Bettdecke und holten nach, was der ersten wilden und animalischen Nummer fehlte: Zärtlichkeit. Die beiden schmusten miteinander, streichelten sich gegenseitig und berührten sich auf sehr sinnliche Weise. Der typisch männliche Wunsch, möglichst schnell zur Sache zu kommen, fehlte. Stattdessen konnte sich das Gesinnungspärchen alle Zeit der Welt lassen, bis sich dann wieder ein kritisches Maß Lust aufgebaut hatte, womit beiden der Sinn nach einer zweiten Runde stand, wenn auch ein klein wenig überlegter.

Es begann damit, dass Sonni sein Nachtschränkchen durchforstete und eine Pumpflasche silikonbasiertes Gleitgel und ein Kondompäckchen zu Tage beförderte. Letzteres hielt er mit einem sichtbar schlechten Gewissen Felix vor die Nase, der sofort verstand, was ihn der Kriminalpolizist ohne Worte fragte: Haben wir einen potenziell fatalen Fehler begangen?

Doch Felix grinste breit, schüttelte seinen Kopf und fachte sein Feuer dermaßen an, dass Sonni ohne es zu wollen sein besonderes Sehvermögen für übersinnliche Wesen anschaltete. »Ich bin ein Dämon. Wir können uns gerne die Lümmeltüten überziehen. Nötig ist es nicht. Ich bin in jeder Hinsicht immun. Ich kann dich auch nicht infizieren.«

»Echt?«

»Yupp!«

Womit Sonni das Verhüterli in die nächste Zimmerecke entsorgte, anschließend eine ordentliche Portion Gleitgel erst in seine Hand pumpte und dann auf Felix hartem und steifem Schwanz verteilte.

»Du bist dran!«


»Hast du das vorhin, vor deiner Wohnung, eigentlich ernst gemeint? Willst du wirklich wissen, was es mit der Hölle auf sich hat?«

Nach eineinhalb Stunden erfüllenden Liebesspiels lagen die beiden Männer entspannt nebeneinander. Sonni war so nett gewesen und war schnell und kurz in die Küche gehuscht, um Felix und sich etwas zu trinken und ein paar Salzstangen zum knabbern zu organisieren.

»Ja, auf jeden Fall.«, antwortete Sonni verblüfft über Felix Frage, aber auch sehr wissbegierig.

»Vielleicht sollte ich dir erzählen, wofür ich in… der Hölle… verantwortlich bin.«

»Wofür bist du in der Hölle zuständig?«, baute Sonni eine Brücke, weil er fühlte, dass sich Felix hin- und herwandte. Er kannte dieses Verhalten von Zeugen, aber insbesondere von Verdächtigen. Letztere befanden sich in einem Zwiespalt widersprüchlicher Gefühle. Einerseits beherrschte sie meistens der Wunsch, sich endlich jemandem mitteilen zu dürfen und von den Dingen zu sprechen, über die sie sonst immer nur schwiegen und die sie für sich behalten mussten. Ihre Motive waren dabei sehr unterschiedlich und reichten von Scham über Schuldgefühle bis hin zu ganz banalen rechtlichen Gründen. Wer wollte schon verknackt werden? Auf der anderen Seite kam es immer wieder vor, dass ein Täter sich mitteilen wollte, und sei es nur, damit jemand seinem Ego schmeichelte und ihn für seine Genialität bewunderte. Auf jeden Fall war die Redewendung »Seiner Seele Luft verschaffen« für viele Kriminalisten alles andere als leeres Geschwätz.

Und warum verspürte Felix den Wunsch, sich Sonni gegenüber zu erklären? Sonni ahnte, warum. Der Tätigkeitsbereich eines Dämons dürfte ziemlich spezieller Natur sein und so vorsichtig, wie sich Felix an das Thema herantastete, dürfte er dazu angelegt sein, zumindest auf Menschen abstoßend zu wirken.

»Ich bin ein Feuerdämon, ein Hüter der Flammen der Hölle und Verwalter des Fegefeuers.«

»Klingt irgendwie passend für einen Feuerdämon.«, erwiderte Sonni, der nicht wusste, worauf der nette Mann neben ihm im Bett hinaus wollte. Der rollte sich herum und sah seinen Gastgeber direkt an.

»Verstehst du denn nicht?«, hakte er fast flehend nach, »Ich lasse mein Feuer in die sich selbst verdammten Seelen eindringen und… Nun ja, es ist eben die Hölle und das Fegefeuer. Wie Tim es immer so treffend formuliert: Jede Seele wählt die Art der Verdammnis, die sie meint zu verdienen. Kannst du dir vorstellen, ewig zu brennen oder zu verbrennen? Wie ich schon sagte, es gibt keine Zeit in meiner Welt. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, nur eines; das Jetzt, die Ewigkeit.«

»Ich verstehe, du bist ein Folterknecht.«, meinte Sonni abwägend, während er überlegte, wie er diese Information bewerten sollte. Was bedeutete es für ihn, dass der Mann, dem er die letzten Stunden sehr, sehr nahe gekommen war, verdammte Seelen in der Hölle röstete? Im Endeffekt eigentlich nichts. Es war nicht seine Seele und wenn Sonni es richtig verstanden hatte, wählten sie ihr Schicksal selbst. »Ich glaube, es ist okay.«

»Echt?«, Felix wollte sein Glück kaum fassen, »Du verachtest mich nicht?«

»Verachten? Nö. Wieso sollte ich? Wie könnte ich? Ich kann dich nur nach dem beurteilen, was du in meiner Welt anstellst. Sollte ich irgendwann über einen Aschehaufen stolpern, der zuvor ein Mensch war, weiß ich, an wen ich mich wenden muss. Für mich bist du ein ebenso liebes wie fantastisches Kerlchen, mit dem ich eben höllisch guten Sex hatte, wenn du mir das Wortspiel erlaubst. Allerdings…«

»Was?«, fragte Felix ängstlich, der befürchtete, dass dann doch noch ein dickes Ende nachkam.

»Wie fühlt sich das an, wenn du eine Seele brennen lässt?«

Wenn jemand von dieser Frage überrascht war, dann Sonni selbst. Wieso wollte er wissen, wie sich ein Aufenthalt im Fegefeuer anfühlte? Doch seltsamerweise, erregte ihn der Gedanke. Dabei war die harte Gangart eigentlich nicht sein Ding, weshalb Mike mit seinem Vorschlag, Sonni könne etwas experimentierfreudiger sein, auch immer auf Granit biss.

»Wirklich?«, fragte Felix verblüfft, der mit einer derartigen Frage nun wirklich nicht gerechnet hatte.

»Ähm… Ich weiß nicht wieso, aber ja. Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber die Nummer vorhin macht uns wohl zu ganz guten Freunden, oder?«

»Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt?«, gab Felix zu bedenken, »Es ist sehr… intensiv

»Ob ich mir sicher bin und verstehe, worauf ich mich einlasse? Wo denkst du hin? Überhaupt nicht. Auf der anderen Seite… Du weißt, dass ich bis zum Hals in einem Fall stecke, der sowohl meine als auch eure Welt berührt. Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe das Gefühl, tiefer in der Sache drin zu stecken, als wir alle du, ich, Tim und sogar Raphael, vermuten.«

»Und deswegen soll ich dich grillen?«, wollte Felix wissen, der nicht so recht wusste, worauf Sonni eigentlich hinaus wollte, was primär daran lag, dass der es ebenfalls nicht wusste. »Wenn du es willst, mache ich es. Ich habe kein Problem damit. Meine Neuronen brennen eh.«

»Wer weiß, vielleicht entwickle ich eine ungeahnte Lust auf SM-Sex?«, scherzte Sonni, was wiederum Felix nachdenklich die Stirn kräuseln ließ.

»Die Idee ist gar nicht so schlecht.«, meinte der Ifrit, »Komm her!«

Die letzten zwei Worte klangen anders. Sie wurden nicht von Felix, dem lieben und knuffigen Chemiestudenten gesprochen, sondern von Felix dem Feuerdämon. Sie klangen hart, befehlend, sogar zwingend. Die Augen des Ifrit glühten rot, wie die Flammen, die ihn umgaben. Trotz des sehr mächtigen mentalen Befehls gelang es Sonni, sich gegen den Zwang seines Freundes zu stemmen.

»Du hast einiges an Widerstandskraft«, lobte Felix, wobei er im wahrsten Sinne des Wortes diabolisch grinste, »Mir ist bisher kein Mensch untergekommen, der einem solchen Befehl widerstehen konnte. Nichts desto trotz wirst du mir gehorchen. Sonni Lundkvist, komm her! Lass dich von mir umarmen! Jetzt!«

Die Worte knallten wie Peitschenschläge. Sonni zitterte und begann schwer und keuchend zu atmen. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Mit aller Kraft versuchte er sich der Stimme Felix zu widersetzen. Doch sein Körper hörte nicht auf ihn. Langsam robbte er zu Felix, der ihn mit ausgebreiteten Armen empfing. Ob er wollte oder nicht, Sonni schmiegte sich an den brennend heißen Körper des Ifrit. Der packte ihn, schlang seine Arme um den Polizisten und hielt ihn wie ein Schraubstock fest. Diesem Dämon war ein Mensch nicht ansatzweise gewachsen. Was wie ein junger, schlank-schlacksiger Mann aussah, war in Wirklichkeit eine Naturgewalt.

»Küss mich! Küss deinen Dämon!«

Ängstlich, aber auch bis zum Reißen erregt, öffnete Sonni sehr, sehr zögerlich seinen Mund. Die glühenden Dämonenaugen funkelten ihn voller diabolischem Verlangen an. Langsam näherte sich Sonni Felix, der ebenfalls seinen Mund öffnete. Eine heiße Stichflamme schoss heraus und leckte brennend über Sonnis Gesicht, dass der zurückschreckte und sich losreißen wollte. Nicht aber im Schraubstockgriff des Dämons in seinem Bett. Er wollte ausprobieren, was es hieß, einen Bewohner der Hölle sein Handwerk machen zu lassen. Jetzt würde er es erleben. Felix hielt Sonnis Kopf mit der Kraft einer Schraubzwinge fest, näherte sich mit seinem Flammen schlagenden Mund dem seines Opfers und presste seine Lippen auf die anderen.

»Brenne!«

Und Sonni brannte. Mit einer freien Hand hielt Felix ihm die Nase zu und saugte gleichzeitig über den Mund alle Luft aus den Lungenflügeln des Menschen. Der wollte weg, fliehen, ausbrechen, doch diesem Dämon und seinem eisernen Griff war er nicht gewachsen. Panik keimte auf als ihm langsam der Sauerstoff knapp wurde. Verzweifelt saugte er an Felix Mund, doch der wartete und wartete und wartete. Plötzlich holte der Dämon durch seine Nase Luft, atmete tief, sehr, sehr tief ein und presste diese Luft in Sonnis Lungen.

Wäre nicht ein Mund auf seine Lippen gepresst, er hätte gebrüllt. Heißes brennendes Gas strömte in seinen Rachen, durchquerte seine Bronchien und füllte seine Lungen mit Feuer. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde hatte Sonni das Gefühl, sein Körper würde beginnen von innen zu verbrennen. Eine infernalische Glut breitete sich in ihm aus. Sein Blut nahm das flammende Gas auf und wurde von seinem Herz bin in jede Faser, in jede Kapillare gepumpt. Das Höllenfeuer erreichte seine Nasenspitze und seine Ohrläppchen, seine Lippen schienen in Flammen zu stehen, jeder Finger, jede Zehe, selbst sein Schwanz brannte. Selbst seine Augen fingen von innen Feuer und ließen ihn die Welt nur noch durch einen Vorhang lechzender, verzehrender Glut sehen. Sein Blut begann zu kochen. Seine Nerven feuerten Impulse, die nur eine Botschaft kannten: Schmerz, unvorstellbarer Schmerz und reinste Agonie. Das Erlebnis wäre in der Tat die Hölle auf Erden, ein Alptraum der Grausamkeit, hätte es da nicht einen unerwarteten Begleiteffekt gegeben, den Sonni nicht und Felix nicht so stark erwartet hatte: Der Polizist platzte fast vor Geilheit. Sein Schwanz schien zwar wie ein in einem Kamin prasselnd brennender Holzscheit zu sein, doch war er gleichzeitig hart, ultrahart, so hart, wie ihn Sonni noch nie erlebt hatte.

Nach ein paar Sekunden, die sich für den brennenden Kommissar wie Stunden anfühlten und in Folge des kompletten Kurzschlusses seines Nervensystems, die seinen körperlichen Widerstand zusammenbrechen ließ – der Mann wurde kraftlos und schlapp wie ein entgräteter Fisch – lockerte Felix seinen Griff und löste sich von Sonni, was aber nicht hieß, dass dessen Leiden damit auch nur ein Deut abnahm. Ganz im Gegenteil hielt der Feuerdämon dem Kommissar seine rechte Hand vor die Augen, damit dieser sehen konnte, wie diese endzeitmäßig aufflammte. Die Finger schienen jedem Bunsenbrenner Konkurrenz machen zu können. Und genau mit diesem fünffingrigen Flammenwerfer begann Felix Sonni zu streicheln, was diesen aufstöhnen und wimmern ließ und ihm Tränen in die Augen trieb, die allerdings sofort in der Glut verdampften.

»Das, mein Freund, ist die erste Stufe des Fegefeuers.«, erklärte Felix genüsslich und musterte den leidenden aber auch hochgradig erregten Sonni, wie dieser sich kraftlos wand und versuchte, den Berührungen des Dämons auszuweichen. »Versuch nicht dagegen anzukämpfen. Das macht es nur noch schlimmer. Fühle! Nimm mein Feuer an! Hier…«

»Ahhhhh!«, brüllte Sonni. Felix hatte mit seiner Bunsenbrennerhand den Schwanz des Polizisten gepackt und damit begonnen, ihn langsam aber mit festem und brennendem Griff zu massieren. Das Gefühl war jenseits allem, was sich Sonni oder überhaupt ein lebender Mensch vorstellen konnte. Es sprengte jede Begrifflichkeit. Es war die Synthese von Geilheit und Schmerz, aber auch viel, viel mehr, für das es keine Worte gab.

»Ah, ich sehe, es gefällt dir!«, lachte Felix ein höllischen Lachen, »Ich glaube, ich habe mich in dir getäuscht. Du verträgst noch deutlich mehr. Was hältst du davon, wenn wir die restlichen Stufen des Fegefeuers einfach überspringen und gleich in die kuschelige Wärme der Hölle eintauchen?«

Da Sonni nicht in der Lage war, sich in irgendeiner Art mitteilen zu können, konnte die Frage nur rhetorisch gemeint sein und entsprach damit der typischen Ironie des Höllenvolkes, das nie um einen Scherz auf Kosten ihrer Klienten verlegen war. Aus dem gleichen Grund setzte Felix noch einen drauf: »Bereit?«

Definitiv nicht! hätte Sonnis Antwort gelautet, doch so blieb ihm nichts anderes übrig, als dem zu harren, was da kam, und das kam mit Macht. Felix schlang sich um ihn, nahm Sonni in seinen Schoß und ließ sein dämonisches Genital in den lustvoll leidenden Mann gleiten. Kaum hatte er dieses Etappenziel erreicht, zündete Felix seinen Nachbrenner. Es gab ein Fauchen und der Dämon verwandelte sich in pures, gleißendes Feuer, in eine einzige Höllenflamme, die Sonni einhüllte. Der sah nichts mehr. Alles, was seine Augen sahen, war blauweißes Feuer. Wobei er überhaupt nicht dazu kam, überhaupt etwas zu sehen, denn Sonni befand sich in einem Zustand der körperlichen Auflösung – von außen, aber auch von innen. Felix Schwanz stieß in kräftigen und tiefen Stößen zu, wobei er jedes Mal mehr Feuer in den jungen Mann pumpte.

»Ah, so ist es gut!«, stöhnte Felix und zog Sonni fester zu sich heran, dass sie sich Brust an Brust berührten. Der Dämon begann den Menschen erneut zu küssen und auch über den Mund mehr Feuer in sein Opfer zu pumpen. Und plötzlich passierte etwas überraschendes, mit dem weder der Ifrit noch der Mensch gerechnet hätte. Letzterer begann die im wahrsten Sinne des Wortes feurigen Liebkosungen des Dämons zu erwidern. Der unvorstellbare Schmerz wurde überraschenderweise nicht nur erträglich, sondern absolut geil, so geil, dass Sonni kurz davor war, zu kommen. Dies spürte auch Felix und meinte »Wow!«, stieß kräftiger und tiefer zu, ließ alle Selbstkontrolle fallen und kam tief und intensiv in seinem menschlichen Freund. Dieser fühlte den Erguss, als ob jemand einen Hochofen abgestochen und das geschmolzene Metall direkt in seine Eingeweide geleitet hätte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sonni explodierte, sein Schwanz explodierte. Noch nie hatte er einen derartig intensiven Orgasmus erlebt. Er war dermaßen überwältigend, dass der junge Polizist nach endlosen Sekunden schwerelosen Fliegens, in eine willkommene Besinnungslosigkeit driftete.

Freunde mit Extras

»Sonni?«

Die Stimme klang schüchtern, fast ein wenig ängstlich. Sonni grunzte verschlafen, öffnete seine Augen und schaute in die eines unsicher dreinschauenden Felix.

»Hey, du!«, erwiderte der Polizist und rekelte sich genüsslich in seinem Bett. Er fühlte sich ausgesprochen erfrischt und überhaupt nicht müde, obwohl er gerade aus einem ziemlich tiefen Schlaf erwacht war. Beide Gründe sorgten dafür, dass es ein paar Sekunden brauchte, bis Sonnis Erinnerung an seine Begegnung mit echtem Höllenfeuer zurückkehrte. »Wow, das war heftig.«, meinte er verschmitzt.

»Sonni, ich… Ich glaube, ich bin ein wenig über's Ziel hinaus geschossen, oder?«, fragte Felix ängstlich. Der Dämon wirkte ausgesprochen kleinlaut. Sein Feuer glimmte nur auf ganz kleiner Flamme.

»Meinst du?«, stichelte Sonni frech grinsend, während er seine Arme demonstrativ hinter seinem Kopf verschränkte.

»Ich bin nicht zu weit gegangen?«

»Jein.«, erwiderte Sonni ernst, »So erbarmungslos, wie du mich behandelt hast, hast du mir mächtig Angst eingejagt. Allerdings… Wenn du nicht so kompromisslos gehandelt und mir die Wahl gelassen hättest, hätte ich gekniffen und ein Erlebnis verpasst, das ich zwar nicht verstehe und wohl auch niemals verstehen werde, aber nicht missen möchte.«

»Du bist erstaunlich«, meinte Felix ein wenig beruhigter. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du noch mit mir sprichst. Es ist mit mir wirklich durchgegangen. Aber du… Oh!« Felix stutzte und musterte Sonni mit einem besorgten Ausdruck.

»Was?«

»Deine Augen…«, druckste Felix herum.

»Was ist mit meinen Augen?«, bohrte Sonni ungeduldig nach.

»Ich glaube, du solltest dir das selbst ansehen…«, erwiderte der Ifrit mit einem sehr verlegenen Gesichtsausdruck, was Sonni veranlasste, sich aus dem Bett zu wühlen und zum Badezimmerspiegel zu hoppeln. Nach dem Höllenritt der vergangenen Nacht quälten ihn gewisse Koordinationsprobleme.

»Feeee - lix!«, schrie es wenig später aus dem Badezimmer, »Was hast du getan?«

»Ähm, ich weiß es nicht.«, gestand der Dämon und sprang ebenfalls ins Badezimmer. Dort stand sein neuer Freund vor dem Spiegel und starrte seine Reflexion an, genaugenommen seine Augen. In den Tiefen der Pupillen loderten Flammen, die dort definitiv nicht hingehörten. In Sonnis Augen funkelte Felix Höllenfeuer. Der wiederum zuckte ebenso rat- wie hilflos mit den Schultern.

»So was ist mir noch nie passiert.«, meinte ein selten verlegener Feuerdämon, »Aber meine Klienten sind üblicherweise auch tot.«

»Toll!«, knurrte Sonni wenig begeistert, »Und wie soll ich so unter Menschen gehen? Ich kann ja schlecht dauernd mit einer Sonnenbrille rumlaufen.«

Statt irgendeinen unüberlegten Unsinn von sich zu geben, hielt Felix lieber den Mund, griff vorsichtig nach Sonnis Wangen und schaute sich die Flammen in dessen Augen genauer an. Es war unzweifelhaft sein Höllenfeuer, das dort in den Tiefen der Augäpfel des Kriminalkommissars loderte.

»Erstaunlich«, überlegte er nachdenklich, schaute nochmals genau hin und meinte dann, »Ich glaube, du musst dir keine Sorgen machen. Eine Mütze Schlaf und du solltest wieder ganz der Alte sein, oder es zumindest soweit an- und abstellen können, wie deine erweiterte Wahrnehmung.«

»Eine Mütze Schlaf? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Es ist halb sieben. In einer halben Stunde muss ich aufstehen. Wo soll ich da noch eine Mütze Schlaf hernehmen.«, knurrte Sonni, bemerkte dann aber Felix betrübten Blick neben sich im Badezimmerspiegel und meinte, »Entschuldige, ich meinte das nicht so und wollte nicht… Ich bin dir echt nicht böse. Ganz im Gegenteil.«

Die nächsten Sekunden zeichneten sich durch ein unangenehmes Schweigen aus, bis erst beim einen und dann auch beim anderen die Mundwinkel zuckten und sich beiderseits ein hintersinniges Grinsen in den Gesichtern ausbreitete. Etwas vom schlechten Gewissen geplagt, Felix zu heftig und vielleicht auch ein wenig unfair angegangen zu haben, angelte Sonni nach seinem Dämon, schlang seinen Arm um ihn und zog ihn zu sich heran.

»Beim Thema Schlafmangel kann ich dir möglicherweise helfen.«, meinte Felix, der die Zuneigung sichtlich genoss, aber auch Sonnis Verwirrung sah. »Zeit ist nicht absolut. Lass uns schlafen gehen. Ich garantiere dir, dass du beim Aufwachen erholt und ausgeschlafen sein wirst. Dämonenehrenwort.«


Gefühlte sechs Stunden später, die real tatsächlich nur einer halben Stunde entsprachen, erwachte Sonni aus einem sehr erholenden und erfrischenden Schlaf. Erfreut stellte er fest, dass Felix eng an ihn geschmiegt neben ihm lag und verträumt genau in dem Moment die Augen aufschlug, als der Kriminalpolizist seine Blicke über den Körper des Dämons wandern ließ.

»Und, gut geschlafen?«

»Ähm, ja«, gestand Sonni erstaunt, »Sogar ziemlich gut. Als hätte ich eine Nacht durchgeschlafen. Hast du was gemacht?«

»Wie ich schon sagte. Zeit ist relativ. Für die Welt da draußen«, Felix deutete aus dem Schlafzimmerfenster, »mag nur eine halbe Stunde vergangen sein, für uns waren es sechs. Du hast eine Nacht geschlafen und dich dabei von unserem… Liebesspiel erholt. In deinen Augen lodert auch kein Höllenfeuer mehr, es sei denn, du veränderst deine Wahrnehmung oder willst es.«

»Sehr gut und jetzt… Frühstück!«

Das war das Schlüsselwort. Die beiden Männer sprangen aus dem Bett. Während Sonni Felix den Vortritt im Badezimmer überließ, kümmerte er sich um eben jenes Frühstück, was hieß, den Kaffee aufzusetzen und den Tisch zu decken. Als sein dämonischer Gast frisch geduscht die Küche betrat, war alles was noch fehlte ein paar Brötchen.

»Ich spring nur schnell unter die Dusche, dann hol ich Schrippen.«, meinte Sonni und verschwand in Richtung Badezimmer, um seinem morgendlichen Reinigungsritual nachzugehen. Etwa eine Viertelstunde später, Sonni war gerade mit Ankleiden fertig, wobei er nicht vergaß, einen von Tims Talismanen anzulegen, klingelte es an der Wohnungstür. Sich noch fragend, wer ihn zu so früher Stunde besuchte, zeigte sich der Kriminalkommissar ziemlich überrascht, einen mit Brötchentüten beladenen Felix vor seiner Tür stehen zu sehen.

»Oh, nett von dir.«, meinte der Polizist zugleich verblüfft und erfreut, während er seinen Gast wieder in seine Wohnung hinein ließ.

Das Frühstück, für den Kriminalkommissar, in Anbetracht der eher zweifelhaften Qualität der Kantine im LKA, mit Abstand die wichtigste Mahlzeit des Tages, konnte beginnen, obwohl Sonni dieses spezielle Frühstück mit leicht mulmigem Gefühl anging. Meistens erfolgte die kalte Dusche zwischen Marmeladebrötchen und der zweiten Tasse Kaffee. Seine Gäste drucksten dann, wenn sie denn überhaupt bis zum Frühstück geblieben waren, erst ein wenig rum, um dann mit dem dicken Ende zu kommen. Diejenigen, bei denen Sonni durchaus an etwas längerem interessiert war, erklärten dann im Allgemeinen, dass er, Sonni, zwar ein total netter und lieber Kerl sei, der Sex auch super gewesen wäre, aber es dann wohl doch bei einer einmaligen Nummer bleiben würde. Er sei schließlich ein Bulle, und das sei schlecht fürs Image. Umgekehrt neigten diejenigen Typen dazu, bei denen sich umgekehrt Sonni keine weitere gemeinsame Zukunft vorstellen konnte, nervenaufreibende und wenig erfreuliche Szenen zu machen. Irgendwelche Abstufungen dazwischen schienen nicht zu existieren. Von einem Mr. Right gar nicht zu sprechen.

»Hey, Sonni, was ist?«, riss Feuerdämon und Chemiestudent Felix den Kriminalkommissar aus dessen trüben Gedanken.

»Ach nichts.«, versuchte dieser abzuwiegeln.

»Für ein Nichts stocherst du aber ziemlich brutal in deinem Frühstücksei herum.«, erwiderte der kleine Unterteufel mit wahrhaft diabolischem Grinsen.

»Oh!«, schreckte Sonni auf und starrte auf ein ziemlich zugerichtetes Biohühnerei der Güteklasse A. »Also gut, wenn du es genau wissen willst. Es ist das Frühstück. Wenn ich mal jemanden kennenlerne… Nun, nach dem gemeinsamen Frühstück sehe ich sie meistens nie wieder. Spätere Begegnungen fallen dann immer etwas bizarr aus. Mache Typen tun sogar so, als hätten wir uns nie zuvor gesehen.«

»Was für Arschlöcher.« Das diabolische Grinsen wurde noch ein wenig diabolischer und von einem mehr als beunruhigenden Höllenfeuerglühen in Felix Augen begleitet. »Nenn mir einfach ihre Namen und ich drehe eine Runde in der Hölle mit ihnen.«

»Ähm, soweit wollte ich eigentlich nicht gehen. Ich fragte mich nur, was wir…«

»Hey!«, stoppte Felix Sonnis Satz und klang dabei fast wieder so scharf wie ein Peitschenhieb, »Kein weiteres Wort! Wenn du glaubst, ich würde mich nach der letzten Nacht einfach verpissen, hast du dich geschnitten. Junge, merk mal was! Ich habe dich komplett durchgeknuspert, gegrillt und auf kleiner und großer Höllenfeuerflamme geröstet. Du bist jetzt mein Buddy. Ob du es willst oder nicht, aber wir sind von nun an Kumpel. Weißt du, für einen Menschen bist du nämlich richtig cool.«

»Wow!«

»Ach was wow… Mach dich nicht kleiner, als du bist. Wir werden uns bald wiedersehen und ich werde definitiv nicht vorgeben, dich nicht zu kennen.«

»Kumpel?«, hakte Sonni nach, dem der leicht angestaubte Begriff ganz gut gefiel.

»Freund ist mir zu doppeldeutig.«, erwiderte Felix, »Aber wenn du auf eine Konkretisierung unserer Beziehung wert legst, kann ich auch deutlicher werden. Unseren momentanen Status würde ich als Freunde mit Extras beschreiben. Lass es uns einfach laufen lassen und schauen, wo es uns hinführt.«

»Klingt gut.«, gab Sonni zu, der nicht wirklich wusste, was er zu diesem Zeitpunkt für eine Beziehung mit Felix führen wollte. Kumpel oder Freunde mit Extras klang da mehr als gut. Etwas, womit er leben konnte.

»Gut, dann wirst du mir auch verzeihen, dass ich dich jetzt verlassen werde. Die Uni ruft. Ich habe Laborzeit, die ich nicht verpassen will.«

»Das passt sich gut. Ich muss ins Büro.« Sonni wirkte zufrieden, runzelte dann aber doch seine Stirn und meinte, »Und wie erreich ich dich?«

»Es gibt da so eine neumodische Technik, kleine Kistchen, in die du reinsprechen kannst und aus denen dann Stimmen kommen, ohne dass die von bösen Geistern besessen sind.«

»Okay, ich habe verstanden. Wenn du mir jetzt aber noch deine Handynummer geben würdest, könnte ich später auch mit dem magischen Kistchen sprechen.«

»Besserwisser!«


Bestens gelaunt, wie es nach gutem Sex meist der Fall war, betrat Sonni Lundkvist sein Büro und begann gleich noch ein wenig mehr zu strahlen. Kevin war wieder da und kochte Kaffee Für zwei, sich und Sonni. Da die Kaffeemaschine unter einem akuten Asthmaanfall litt, war Kevin Sonnis Kommen entgangen. Erst als er sich umdrehte, bemerkte er seinen Kollegen und begann freudig zu lächeln.

»Hi Chef! Ich hab dich schon erwartet.«

»Kev!«, freute sich Sonni, musterte seinen Partner und schien mit dem zufrieden zu sein, was er sah. Kevin wirkte ausgeglichen, entspannt und irgendwie in sich ruhiger. Der wirre und nervöse Blick, der psychische Schmerz in seiner Miene war verschwunden. »Dir geht es besser?«

»Ja, mir geht es besser, dank Gabe. Der Mann ist ein Engel.«

Du hast ja keine Ahnung, wie recht du damit hast. Oder wusste Kevin etwas? Hatte ihn Schutzengel Gabriel in seine wahre Identität eingeweiht?

»Ich weiß gar nicht, wie ich ihm danken soll.«, fuhr Kevin nachdenklich fort, »Er war die ganze Zeit bei mir. Hat mich aber weder bedrängt noch irgendwie angemacht. Er saß nur neben mir am Bett, schwieg, hörte zu und nahm mich in den Arm, als ich es nicht mehr aushielt und… Ja, ich bin zusammengeklappt. Was ist das nur für ein beschissener Fall, an den wir da geraten sind? Egal. Ich weiß eigentlich nicht, was Gabe tat, aber in seiner Nähe wurde ich ruhiger. Die grauenvollen Bilder von Trollmann, dem Juwelier und dem Kollegen Ott, der sich selbst in den Kopf schoss, sind noch da, aber ihr Schrecken lastet nicht mehr so schwer auf meiner Seele. Ich kann darüber sprechen, aber vor allem kann ich wieder ermitteln. Sonni, ich will das Schwein finden, das für diese ganze Scheiße verantwortlich ist. Obwohl… Ja, ich will den Verantwortlichen auf alle Fälle dingfest machen. Aber nicht, weil ich Rache will. Es ist seltsam, aber Gabe scheint mein Denken verändert zu haben.« Verschwörerisch schaute sich Kevin um, duckte sich ein Stück und raunte Sonni zu: »Du wirst es mir nicht glauben, aber ich habe mit Gabe gekuschelt. Dabei kenn ich den Mann erst seit ein paar Tagen. Ich musste ihn fast schon ins Bett zerren. Der Mann ist ja so was von zurückhaltend und wollte auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass ich glaubte, er würde mich anmachen. Doch am Ende gab er nach. Ich wusste nicht, dass sich ein Mann so anfühlen kann – gleichzeitig hart, aber auch weich, kräftig, männlich und doch sanft. Er hielt mich einfach in seinen Armen und drückte mich an sich. Wir hatten keinen Sex, oder war das schon Sex? Egal was es war. Es war sehr sinnlich. Gabe ist erstaunlich. Wenn du ihn in seinem Cluboutfit siehst, musst du ihn zwangsläufig für eine typische Partyschwuppe und einen Dünnbrettbohrer halten. Aber der Kerl hat nicht nur richtig Kraft, der trug mich nach meinem Kollaps vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer als ob ich nichts wiegen würde. Er hat auch mächtig was auf dem Kasten. Der steckt uns beide intellektuell locker in die Tasche. Ach ja…« Kevin griff in seine Jackentasche und nestelte nach einem Papierschnipsel, »Gabes Telefonnummer. Ich weiß nicht, warum ihm das so wichtig war, aber ich sollte sie dir geben.«

In diesem Moment klingelte Kevins Schreibtischtelefon und unterbrach damit recht unsanft dessen Schilderung, vereitelte insbesondere aber auch Sonnis Versuch, nachzuhaken. Stattdessen verstaute er den gereichten Papierzettel kommentarlos in seiner Brieftasche.

»Bredow«, meldete sich der KK z.A. knapp. »Was? Gut, führen Sie sie bitte rauf. Wie ist schon unterwegs? Manieren haben die Leute.« Der Polizeiazubi wandte sich mit gekräuselter Stirn seinem Kollegen zu, »Da ist eine Polizeioberrätin vom BKA, die uns sprechen will. Hast du eine Idee, was die will?«

»Vom BKA?«, erwiderte Sonni verwundert, »Ich habe nicht den blassesten Schimmer.«

In diesem Moment klopfte es an der Tür, was darauf hindeutete, dass der unerwartete Besuch eingetrudelt war.

»Herein!«

»Kornmüller, Dorothea Kornmüller« Mit diesen Worten stürmte eine resolute Enddreißigjährige das Büro. POR Kornmüller präsentierte sich wenig vorteilhaft als das Klischee einer Karrierefrau, was aber zu ihrem forschen Auftritt passte. Ein strenger Businessdress verlieh ihr etwas gouvernantenhaftes und wirkte auf fast alle heterosexuell veranlagten männlichen Kollegen und Arbeitspartner regelmäßig wie ein rotes Tuch, das sie automatisch und unterschwellig gegen sie aufbrachte. Mehr als einem war dabei der Begriff »Kampflesbe« durch den Kopf gegangen, obwohl dies überhaupt nicht der Realität entsprach. Die Tragik der Dorothea Kornmüller lag darin begründet, dass sie eine absolute Expertin ihres Fachs war, ihr dies von den meisten Leuten aber in Folge ihres ungestümen Auftritts nicht angerechnet wurde. Von all dem ahnte weder Sonni noch Kevin etwas. Die sahen nur eine Frau, die durch ihr Auftreten von Anfang an klare Fronten schaffen wollte und dabei auf jegliche diplomatische Konventionen pfiff und sich so selbst im Wege stand.

»Lundkvist, Sonni Lundkvist« Sonni hatte sich von seinem Stuhl erhoben und war auf die Kornmüller zugegangen, um ihr, für diese unerwartet, formvollendet die Hand zu reichen. »Darf ich Ihnen meinen Kollegen, KK z.A. Kevin Bredow, vorstellen?«

Auch dieser war aufgesprungen und zur überrumpelten BKA-Mitarbeiterin geeilt, die mit einem freundlichen Empfang erfahrungsgemäß nicht gerechnet hatte und deswegen nur sehr zögerlich die ihr entgegengebrachten Hände ergriff.

»Was können wir für Sie tun?«, hakte Sonni offen und freundlich nach und kalkulierte darauf, ihren Gast noch mehr aus dem Konzept zu bringen, was auch tatsächlich gut funktionierte. Normalerweise schlug der Polizeioberrätin wenig Gegenliebe und meist sogar kaum verdeckte Feindschaft entgegen. Die BKA-Leute galten bei LKA-Mitarbeitern gemeinhin als arrogante Typen, die alles besser wussten und den einfachen Polizisten von der Front nicht richtig ernst nahmen. Inwieweit dieses Vorurteil der Realität entsprach, spielte kaum eine Rolle, seine Existenz reichte aus, um üblicherweise vom Start weg für schlechte Stimmung zu sorgen, wodurch sich das Vorurteil dann doch in Realität verwandelte, weil viele BKA-Leute genau so reagierten, wie es von ihnen erwartet wurde – arrogant, forsch, fordernd, oberlehrerhaft und auf den Dienstgrad berufend.

»Was ist das hier?«, knurrte POR Kornmüller, die mit Sonnis Freundlichkeit nicht richtig klar kam, weil sie sie nicht einschätzen konnte.

»Einen Kaffee, bio und fair gehandelt, Frau Kornmüller?« Eine probate Methode Kriminalkommissar Lundkvists mit Aggressivität umzugehen bestand darin, nicht auf sie einzugehen.

»Transferbiokaffee? Sind Sie schwul oder was?«

»Ich weiß zwar nicht, welche Rolle meine sexuelle Orientierung für die Frage spielt, ob Sie einen Kaffee möchten, aber wenn es Ihnen bei Ihrer Entscheidung weiter hilft, ja, ich bin schwul.«

»Ähm…?«, mit dieser Reaktion hatte die Beamtin des BKAs nicht gerechnet, was sie vollends aus dem Konzept brachte. Mit leerem Gesichtsausdruck glotzte sie wechselweise von Kevin zu Sonni und wieder zurück.

»Ich nicht«, fügte Kevin freundlich lächelnd hinzu, als er den fragenden Blick ihres Gastes auf sich spürte.

»Vielleicht sollten wir noch mal von vorne beginnen. Ich bin KK Sonni Lundkvist und dies ist KK z.A. Kevin Bredow. Lassen Sie uns alle einen Kaffee trinken und Sie erklären uns, was wir für Sie tun können.«, meinte Sonni freundlich und setzte sein bestes Schwiegersohnlächeln auf.

»Also gut. Bitte schenken Sie mir auch einen Kaffee ein, mit Milch und Zucker.«

Mit diesen Worten gab POR Kornmüller ihren Widerstand auf und erlaubte sich sogar den Hauch eines Lächelns. Wer permanent auf Kampf programmiert war, fiel es schwer, nicht in jedem anderen Menschen einen Konkurrenten oder Widersacher zu sehen. Als Frau, diese Erfahrung hatte Dorothea Kornmüller sehr früh machen müssen, kämpfte sie sogar ständig an zwei Fronten zugleich – sie war sowohl Frau als auch vom BKA. Für die einen stellte ihre Dienststelle ein rotes Tuch dar, weil Kompetenzstreitigkeiten als vorprogrammiert galten. Wobei sich zum Glück derartige Schwierigkeiten notfalls rein formal lösen ließen. Als wesentlich unerquicklicher präsentierte sich das Problem, eine Frau in einem immer noch männerdominierten Umfeld zu sein. Wie sie es auch drehte, konnte sie es kaum jemandem recht machen. Die älteren Beamten im BKA oder den LKAs mit denen sie zu tun hatte, nahmen sie im Allgemeinen nicht ernst. Was weiß denn eine Frau von Polizeiarbeit? Diese Gruppe ließ sich manchmal durch Kompetenz für sich gewinnen. Bei den sehr jungen Polizisten hatte sie am wenigsten Probleme, da diese oft mit weiblichen Kollegen ihre Ausbildung absolviert hatten und mit diesen tagtäglich zusammenarbeiteten. Kniffelig waren die Kollegen ihrer Altersklasse, die es sich regelmäßig nicht verkneifen konnten, Dorothea Kornmüller weniger als Kollegin sondern als Sexobjekt zu betrachten.

Wie sollte sie damit umgehen? Es dem Vorgesetzten melden? Eine dumme Idee. Entweder war er selbst scharf darauf, POR Kornmüller nachdienstlich näher zu kommen, oder die Meldung wurde als unkollegiales Petzen betrachtet, was direkt zum Mobbing führte. Da sich der dienstliche Weg einer Meldung ausschloss, musste sie persönlich auf die Anmache reagieren. Doch dies entpuppte sich als noch kniffeliger. Reagierte sie distanziert und zurückweisend, wurde sie prompt als frigide Lesbe abgestempelt, versuchte sie freundlich die Annäherungsversuche zurückzuweisen, betrachteten es viele Kollegen als Aufforderung, ihre Bemühungen noch zu intensivieren oder, wie es ein besonders zudringliches Exemplar der Gattung Mann einst formulierte »Wenn eine Frau Nein sagt, meint sie eigentlich Ja.« Da dieses spezielle Individuum seinen Leitsatz auch während einer Fortbildung bei einer anderen Kollegin umzusetzen versuchte, diese aber in solchen Dingen berufsbedingt keinerlei Spaß verstand – sie leitete eine Sondereinheit Stalking und sexuelle Gewalt – endete die Fortbildung für ihn mit einem Strafprozess und Disziplinarverfahren und für die betroffene Polizistin in einem anschließenden Mobbingspießrutenlauf als Nestbeschmutzerin.

Am Ende war es POR Kornmüller leid, ständig zwischen Anmache und Kompetenzgerangel zerrieben zu werden und legte sich eben einen rauen, abweisenden Panzer zu. Sollten sie ihre Kollegen doch für eine verkappte, peitschenschwingende Domina halten. Das schützte wenigstens vor Zudringlichkeiten und steigerte abartigerweise auch die ihr zugeschriebene Kompetenz.

»Einmal mit Milch und Zucker!«, meinte Kevin und reichte dem Besuch einen gut gefüllten Becher des koffeinhaltigen Heißgetränks aus frisch gemahlenen Bohnen.

»Wow, der ist ja wirklich gut.« Nach zwei vorsichtigen Schlucken schlich sich ein Anflug von Lockerheit in die strenge Miene der Polizeioberrätin.

»Den holen wir uns bei einer kleinen Privatrösterei.«, erklärte Sonni, »Die Plörre aus dem Kaffeeautomaten ist nicht nur ungenießbar, ich bin auch überzeugt, dass sie Löcher in den Magen frisst. Aber Sie sind sicherlich nicht hier, um unseren Kaffee zu genießen.«

»Nein, leider nicht.« POR Kornmüller rückte sich ein wenig zurecht und wirkte prompt wieder deutlich förmlicher. »Sie ermitteln wegen eines Tötungsdelikts an einem Dr. Thorsten Breitkopf?«

Dass sich eine Polizeioberrätin nicht aus reinem Jux und Tollerei in die Untiefen einer ordinären Mordkommission verirrte, war den beiden Ermittlern grundsätzlich bewusst. Der Name ihres Opfers sorgte dann doch für Überraschung. Sonni und Kevin sahen sich fragend an.

»Wenn Sie die Antwort nicht wüssten, wären Sie jetzt nicht hier, oder? Aber ja, wir ermitteln im Fall Breitkopf.«

»Touché«, gab POR Kornmüller zu, »Ist Ihnen im Zusammenhang Ihrer Ermittlung der Name Dr. Fritz Lugner begegnet?«

Irgendetwas klingelte in Sonnis Hinterkopf und er bedachte daraufhin Kevin mit einem fragenden Blick, der daraufhin »Der Anwalt« als Stichwort gab.

»Richtig, der Anwalt. Vielleicht solltest du die Informationslage schildern. Du hast mit der Witwe gesprochen.«, schlug Sonni vor und überließ Kevin das Feld.

»Ich hatte die Gelegenheit, Frau Professor Dr. med. Claudia Breitkopf, die Witwe des Opfers vor fünf Tagen telefonisch zu befragen. In diesem Zusammenhang fiel auch der Name Dr. Lugners. Der Mann war unserem Wissen nach Anwalt des Toten und hatte ihn in der Vergangenheit auch vor Gericht vertreten. Hier stach insbesondere ein Prozess mit einer us-amerikanischen Investmentgesellschaft hervor, den Lugner für Breitkopf furios gewonnen hat. Wenn ich Frau Breitkopf richtig verstanden habe, scheinen die beiden Männer auch privat befreundet gewesen zu sein.«

»Das klingt aber nicht sehr überzeugt?«

»Das liegt daran, dass die Witwe ebenfalls nicht sehr überzeugend klang, was diese Freundschaft betraf. Bei allen Aspekten des persönlichen Umfelds ihres Mannes wirkte sie auf mich sehr zurückhaltend und reserviert.«

»Wir hatten geplant, mit der Witwe heute noch direkt zu sprechen.«, fügte Sonni hinzu, »Wir wollten gerade unsere Gesprächsführung miteinander abstimmen, als uns Ihr Besuch gemeldet wurde. Zu einem späteren Zeitpunkt hatten wir außerdem geplant, auch Dr. Lugner einen Besuch abzustatten. Allerdings… Der Mann scheint sehr gut vernetzt zu sein, und, soweit ich erfahren habe, über weitreichende Kontakte auch in politische Kreise zu verfügen. Es würde mich nicht wundern, wenn er versuchte, Einfluss auf unsere Ermittlungen zu nehmen, weswegen wir uns seine Befragung für den Schluss aufheben wollten. Wie ich auf seiner Website erfahren habe, hält er die Tage mehrere Vorträge vor Vertreten verschiedener Wirtschaftsverbände. Heute ist er für 15:00 Uhr im Ludwig-Erhard-Haus mit einem Beitrag mit dem Titel „Den verborgene Schatz heben - Über die Erschließung ungenutzter Urheberrechte“ angekündigt.«

»Ein Tipp«, ergriff nun Dorothea Kornmüller das Wort, »Betrachten Sie Lugner als eine entsicherte Handgranate und behandeln ihn genau so. Eine falsche Bewegung und er explodiert Ihnen direkt in den Händen.«

»So schlimm?« Kevin schluckte hörbar und schien ein wenig blass um die Nasenspitze.

»Schlimmer«, erwiderte POR Kornmüller und sah sich um, als wenn sie befürchtete, ungebetene Ohren im Arbeitszimmer zu entdecken. »Lugner ist der Grund meines Besuchs.«

»Von welcher Abteilung sagten Sie noch, waren Sie?«

»Oh, Sie sind gut.« Dorothea Kornmüller musste lachen. »Ich habe nicht gesagt, in welcher Abteilung ich arbeite. Aber ich werde es Ihnen verraten. Ich arbeite in Abteilung ST, polizeilicher Staatsschutz.«

»Oh…kay – das ist jetzt etwas heftig.«, murmelte Kevin. »Ich nehme nicht an, dass Lugner das Finanzwesen durcheinander bringt, oder?«

»Das wäre unsere kleinste Sorge. Hier, unterzeichnen!«, erwiderte die Dame vom BKA und reichte den beiden Kriminalpolizisten je einen kleinen zusammengehefteten Stapel eng bedruckter und sehr amtlich aussehender Formulare.

»Und was ist das?«

»Ihre Geheimhaltungserklärungen. Sie wissen schon: Paragraph 94 StGB – Offenbaren von Staatsgeheimnissen, Paragraph 95 StGB – Ausspähung, Paragraph 96 StGB – Preisgabe von Staatsgeheimnissen und schließlich noch diverse Nebengesetze in Paragraph 97 StGB. Mit anderen Worten: Wenn ihr zwei etwas von dem ausplaudert, was ihr im Verlauf meiner Ermittlungen erfahrt, wird der Bundesstaatsanwalt euch anklagen, ein Gericht verurteilen, wir euch einsperren und schließlich den Schlüssel wegwerfen. Noch Fragen?«

»Nicht wirklich.«, grummelte Kevin und bedachte seinen Kollegen mit einem skeptischen Blick. Sonni zuckte mit den Schultern und blätterte die Erklärung nachdenklich durch. An einer Stelle kam er ins Stutzen und begann den entsprechenden Passus ganz genau zu lesen. Am Ende schüttelte er den Kopf.

»Ich bedaure sehr, aber unter diesen Bedingungen werden wir nicht zusammenkommen.« Kevin hatte Sonni selten so entschlossen erlebt. »Wenn wir dies unterschreiben, können wir unsere Ermittlungen auch gleich einstellen. Wir könnten nicht nur nichts mehr für unsere Ermittlungen verwenden, auch unsere bisherigen Erkenntnisse fielen rückwirkend unter Geheimhaltung. Die Staatsanwaltschaft wird Fragen stellen, warum wir zu keinen Ergebnissen kommen, aber selbst dazu dürften wir nichts sagen. Wenn ich diese Erklärung richtig verstehe, fällt sie selbst unter die Geheimhaltung und stellt ihre Erwähnung bereits eine Straftat dar. Haben Sie sich das Dokument eigentlich schon mal durchgelesen? Ich glaube nicht, denn ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass Sie von mir erwarten, meinen MK-Leiter zu belügen. Nein, so wird das nichts.«

Mit dieser Reaktion schien POR Kornmüller nicht gerechnet zu haben. Unwirsch entriss sie Sonni das Formular, starrte darauf und meinte: »Wo steht das?«

»Dort und Ziffer 3 und hier unter den Ziffern 5, 6, 7 und 14.«, erwiderte Sonni verärgert und zeigte auf die entsprechenden Textstellen. »Sie haben das nie durchgelesen, oder?«

»Völliger Quatsch. Das ist eine stinknormale Standardgeheimhaltungserklärung«, grummelte die Frau vom BKA und begann zu lesen. Zuerst schien sie nichts ungewöhnliches zu sehen, doch plötzlich kräuselte sich auch ihre Stirn. Ihre Lesegeschwindigkeit nahm rapide ab. Ein Kopfschütteln gesellte sich zum Faltenwurf des Vorderschädels. Von einem Impuls gepackt, blätterte POR Kornmüller hektisch vorwärts und rückwärts durch den Formularstapel. »Das ist nicht die Erklärung, die ich ihnen vorlegen wollte.«, stöhnte die Bundeskriminalbeamtin, »Wo kommt der Scheiß denn her?«

»Das fragen Sie uns?«, entgegnete Kevin skeptisch, »Ich will ja nicht den große Verschwörungstheoretiker spielen, aber könnte es sein, dass jemand uns kaltstellen will?«

»Ähm… Moment!« Statt auf den Einwurf direkt einzugehen, griff POR Kornmüller in ihre Tasche, kramte ein Mobiltelefon hervor und wählte allem Anschein nach eine Nummer aus der Favoritenliste. »Kornmüller hier. Ich muss den Chef sprechen… Was? Wer hat das angeordnet? Einen Moment, aber so geht das nicht. Paulsen? So ein Idiot. Der kann sich so sehr aufregen wie er will, aber ich bin ihm nicht weisungsgebunden. Wenn er mich von dem Fall abziehen will, muss er sich an Odenthal wenden. Ach, das will er gar nicht. Was will er denn? Wie? Auf gar keinen Fall! Niemals! Oh, ja, wenn er darauf besteht, kann er das von mir auch schriftlich bekommen. In dreifacher Ausfertigung!«

Aus purer Neugier aktivierte Sonni seine übersinnliche Wahrnehmung. POR Kornmüller war eindeutig ein Mensch, der allerdings vor Wut blutrot glühte. Aus ihren Nasenlöchern schienen gelborange Flammen zu züngeln. Die Frau kochte wirklich. Um dies zu erkennen hätte er sich seinen Dämonenblick aber auch sparen können. Die Kornmüller drückte betont nachdrücklich die rote Gesprächsendetaste und pfefferte anschließend ihr Mobiltelefon zurück in die Unendlichkeit ihrer Tasche. Es war anzunehmen, dass man als Handy bei dieser Frau hart im Nehmen sein musste.

»Ich habe gerade erfahren, dass sich mein Chef krank gemeldet hat. Ein Kollege einer anderen Abteilung meint nun, unsere AG leiten zu müssen, was vollkommen gegen alle Regeln verstößt. Ich frage mich, was in Wiesbaden los ist. Mein angeblicher neuer Vorgesetzter soll mich angewiesen haben, ihm alle Kennworte zu unseren Akten auszuhändigen, was ich auf keinen Fall ohne schriftliche Anweisung unseres Dezernatsleiters tun werde. Entschuldigen Sie, aber ich nehme alles zurück. Diese Geheimhaltungserklärung ist in der Tat ein Witz, ein ziemlich schlechter. Herr Bredow, sie haben vollkommen recht, wenn Sie an eine Verschwörung glauben.«

»Kevin – einfach nur Kevin.«, korrigierte KK z.A. Bredow und erfreute damit Sonni Lundkvist, den die distanzierte Art seiner anderen Kollegen immer fürchterlich ärgerte. Warum sollte er die Leute, mit denen er zusammenarbeitete, wie Fremde behandeln, obwohl sie einen Großteil ihres täglichen Lebens miteinander verbrachten. Manche Kollegen sahen sich mehr und häufiger als ihre Ehe- oder Lebenspartner. Zufrieden mit Kev, wie der Jungbulle meistens nur genannt wurde, wollte Sonni seinem Zimmerpartner ein freundliches Lächeln schenken, hätte sich dabei aber vor Schreck fast an seiner eigenen Spucke verschluckt. Da sein Dämonensichtmodus immer noch voll aktiviert war, präsentierte sich Kevin Bredow in einem krass anderen Licht. Den jungen Polizisten zierten breite, strahlend blausilberne Leuchtbänder. Ein Paar lief links und rechts über seine Schultern, kreuzte sich in der Mitte seiner Brust, um von dort über die Flanken zum Rücken zu laufen. Entfernt erinnerten sie an ein Geschirr oder Harness, wie es die Lederkerle gerne trugen, um ihre Muskelpäckchen zur Geltung zu bringen. Nur waren diese Bänder nicht aus schwarzer, gegerbter Kuhhaut, sondern aus elastischen, etherischen Energiebändern oder was auch immer Gabe dafür verwendet hatte. Dass der Engel für die Leuchtstreifen verantwortlich war, stand für Sonni außer Frage, was er sich, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, fragte, war, welche Funktion sie erfüllten. Genau in diesem Moment fiel ihm eine weitere Besonderheit auf, die er bei der Helligkeit und Dominanz des Lichtharnesses fast übersehen hätte. Kevins Stirn, seine Wangen, Arme und Hände, alle unbedeckten Hautpartien, waren mit einer filigranen, funkelnden Schrift übersät. Es sah aus, als hätte ein Tätowierer seine allerfeinste Nadel und eine blausilberne, selbstleuchtende Tinte verwendet. Bei allem, was Sonni in den letzten Tagen erlebt hatte, überraschte es ihn nicht sonderlich, dass er die Schriftzeichen lesen und sogar verstehen konnte. Es waren zum einen Schutz- und Bannzauber, die Kevin vor Flüchen, bösen Blicken und Zaubersprüchen schützten. Zum anderen bedeckten ihn aber auch Segens- und Heilsprüche, deren Zweck zu sein schien, seine angeknackste Psyche zu stabilisieren, stützen und wieder aufzurichten. In der Tat, Gabe war ein wirklicher Schutzengel.

»Danke, Gabriel!«, flüsterte Sonni leise vor sich hin.

Die Frau vom BKA

Nach der für POR Kornmüller überraschenden Entwicklung schien sich diese in eine Schmollecke verkrochen zu haben. Ihr bisher ebenso forsches wie forderndes Auftreten verkehrte sich ins Gegenteil. Die Frau wurde zur schweigenden Sphinx und damit zu einer Herausforderung für Sonni, der natürlich wissen wollte, was das BKA mit Dr. Lugner zu tun hatte.

»Stellen wir uns vor, wir, KK Bredow und ich, hätten eine angemessene Geheimhaltungserklärung abgegeben, was würden Sie dann von uns wissen wollen und was könnten Sie uns interessantes zu unserem Fall erzählen?«

Die angesprochene Polizeioberrätin schaute sich um, überlegte einen Moment und fand dann ihren Befehlston wieder: »Fahren Sie die Computer runter und schalten ihn aus!«

Noch während Kevin Bredow seinem vorgesetzten Kollegen einen doppelt fragenden Blick zuwarf – soll ich? und Hat die Alte noch alle Tassen im Schrank? – hatte die BKA-Frau damit begonnen, die RJ45-Stecker der Telefone aus ihren Buchsen zu pulen. Damit fertig schnappte sie sich ihr Mobiltelefon und entfernte dessen Akku.

»Nehmen Sie auch die Akkus aus ihren Handys«, wies sie Kevin und Sonni an, die anlässlich der verbissenen Entschlossenheit ihres Gastes ihre Arbeitsplatz-PCs tatsächlich herunterfuhren. Sonni sah die Sache pragmatisch. Entweder war POR Kornmüller aus Erfahrung einfach nur sehr vorsichtig, dann war es gut, ihr zu vertrauen. Oder die Frau war schlichtweg paranoid, dann sollten sie ihr erst recht Folge leisten.

»Ich kann meinen Akku nicht entfernen.«, gab dann auch Sonni brav zu bedenken, während er sein iPhone hoch hielt.

»Ein Smartphone«, knurrte die Kornmüller und verdrehte die Augen als ob sie sagen wollte, wie man nur so blöd sein konnte, ein Smartphone zu benutzen. »Geben Sie her.«

Die BKA-Expertin mochte paranoid sein, aber sie verstand ihr Handwerk. Ein suchender Blick durchs Büro und sie wurde fündig. Dorothea Kornmüller schnappte sich kurzerhand die Alutüte mit den Kaffeebohnen und füllte deren Inhalt in eine leere Schale um. Anschließend nahm sie Sonnis Telefon und verstaute es in der Tüte, die sie anschließend obendrein in eine Blechdose mit ehemals dänischen Butterkeksen stopfte.

»Halten Sie mich ruhig für verrückt.«, kommentierte die Bundespolizistin ihr Handeln, während sie in ihrer Handtasche nach einem elektronischen Gerät grub, fündig wurde, zwei Antennen ausklappte, es einschaltete und damit den Raum absuchte. »Es wäre nicht das erste Mal, dass unsere Ermittlungen ausgespäht wurden. Hm… Aber hier scheint alles clean zu sein.«

»Soll ich vielleicht den Wasserhahn aufdrehen, um mit dem Rauschen irgendwelche Wanzen zu stören?«, fragte Kevin ein wenig patzig.

»Wenn Sie gerne Trinkwasser verschwenden wollen, nur zu. Gegen Wanzen hilft das gar nichts. Das Rauschen filtert Ihnen mein Neffe mit den richtigen Programmen in zwei Minuten raus.«

»Glauben Sie wirklich, dass jemand unser Büro verwanzt hat?«, wollte Sonni wissen.

»Wie ich schon sagte. Es wäre nicht das erste Mal. Wer sich mit Dr. Lugner beschäftigt, sollte mit allem rechnen. Wanzen sind bei ihm noch Kinkerlitzchen. Sie könnten eines Morgens auch genauso gut mit durchgeschnittener Kehle aufwachen, wie es einem Kollegen passierte. Doch zu derart drastischen Mitteln greift er höchst selten. Seine schärfste Waffe ist seine Fachkompetenz. Dieser Anwalt weiß, wie er Gerichte zu nehmen hat. Bevor sie auch nur Piep sagen können, hat er auch schon eine einstweilige Verfügung gegen das Piep erwirkt. Sie können sich denken, dass wir dem ehrenwerten Herrn Anwalt bisher nichts nachweisen konnten. Aber wir…«

»Moment!«, hakte Sonni nach, »Durchschnitten oder durchgebissen?«

»Verdammt woher…?«, rief die Kornmüller entsetzt und verriet damit, dass die Kehle eben nicht durchgeschnitten wurde.

»Lassen Sie mich raten«, fuhr Sonni fort, »Es wurde nicht nur die Kehle durchgebissen. Eine andere Körperregion zeigte ebenfalls Bissspuren.«

»Ja, dass taten sie.«, die BKA-Beamtin wurde blass.

»Ihm wurden die Genitalien abgebissen, oder?«

Die Antwort beschränkte sich auf ein bejahendes Kopfnicken.

»Wann war das?«, bohrte Sonni nach, »Bitte, ich brauch das genaue Datum.«

»Vor etwa einem Monat. Am… Moment, ich muss nachschauen.«, erwiderte Dorothea Kornmüller, angelte nach einem profanen Notizheft aus Papier und Pappe in ihrer Handtasche, schlug es auf und suchte die genauen Tatdaten heraus, die sie anschließend nannte. Sonni rechnete kurz nach und meinte daraufhin:

»Genau 28 Tage vor Breitkopf. Dorothea, ich nehme nicht an, dass Sie sich unseren Fall genau angeschaut haben, oder? Andernfalls wüssten Sie, dass Ihr Kollege auf die gleiche Art ermordet wurde, wie unser Opfer.«

Was Sonni für sich behielt, war die logische Kosequenz, die sich aus dieser neuen Information ergab. POR Kornmüllers Kollege musste einer der fünf Meister gewesen sein, was letztlich bedeutete, dass er die Seiten gewechselt haben musste und mit Lugner und Breitkopf im Bunde stand. Manchmal benötigte es gar keiner ausgefeilten Abhörtechnik, um ein Gespräch zu belauschen.

»Auf die gleiche Weise?«

»Ja.«

»Das heißt, unsere Fälle hängen zusammen.« Dorothea dachte nach. »Also gut. Lege ich also meine berufliche Zukunft und Freiheit in die Hände zweier Schwuppen.«

»Ich glaube, KK Bredow erwähnte bereits, dass er nicht schwul ist. Nur ich.«, korrigierte Sonni freundlich.

»Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht… Ich weiß eigentlich nicht, was ich wollte…«

»Sie wollten Ihre berufliche Zukunft in unsere Hände legen.«, schlug Kevin staubtrocken vor.

»Also gut.« POR Kornmüller seufzte, schaute von Kevin zu Sonni, wieder zurück und anschließend auf ihre Schuhspitzen. »Ich arbeite in einer Gruppe, die sich mit Proliferationsbekämpfung beschäftigt. Sie wissen, was das ist?«

»Die Weitergabe oder Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, deren Technik oder Konstruktionsdetails.«

»Wie aus dem Lehrbuch zitiert. Also, es gibt Firmen, die auf einer Watchlist stehen. Ihr wisst vielleicht, dass sich in einer Pflanzenschutzmittelfabrik genauso gut C-Waffen produzieren lassen oder mit einer Düngemittelfabrik Sprengstoffe. Entsprechend werden die Zollerklärungen von Firmen, die Dual-Use-Güter oder Produkte liefern, die auf Abschnitt C der Außenwirtschaftsverordnung stehen, regelmäßig überprüft. Bei diesen Routineprüfungen ist der Zoll im letzten Jahr auf Unregelmäßigkeiten gestoßen: kleinere Deklarierungsfehler, fehlerhaften Mengen und dergleichen. Zuerst sah es nach normaler Schlampigkeit aus, wie sie immer wieder vorkommt, zumal die betroffenen Firmen einige der Fehler von sich aus meldeten und korrigierten. Doch als der Zoll uns hinzuzog und wir gemeinsam noch etwas genauer hinschauten, änderte sich das Bild. Die korrigierten Fehler betrafen immer nur die weniger kritischen Fälle, so dass wir auf die Idee kamen, dass es sich um ein gezieltes Ablenkungsmanöver handelte. Dieser Eindruck verfestigte sich, je tiefer wir gruben.«

»Ähm… und das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass eine Reihe von Firmen in die Lieferung von Technik verwickelt ist, die dem Bau nuklearer und chemischer Massenvernichtungswaffen dienen können. Genaugenommen gibt es bei Teilen für Ultrazentrifugen kaum einen anderen Verwendungszweck, als den Bau einer Isotopenanreicherungsanlage, mit der sich spaltbares Material soweit aufkonzentrieren lässt, dass es kernwaffenfähig wird. Dies kann nur mit dem Wissen und der Hilfe staatlicher Stellen möglich gewesen sein. Aber der eigentliche Punkt ist, dass am Ende immer wieder ein Name auftauchte – Dr. Lugner.«

Was war das nur für ein Fall? Was als Mord eines Psychopathen an einem Lobbyisten begann, verwandelte sich in die Tat eines erst eingebildeten, dann, durch die Informationen Raphaels und Tims, eines tatsächlichen Dämons, eines Guhls. Und jetzt? Proliferation? Atomare oder chemische Waffen? In was, so fragte sich Sonni, waren er und Kevin nur hineingeraten? Was kam noch auf sie zu?

»Und was können wir konkret für dich tun?«, wollte Kevin wissen.

»Ich würde gerne Breitkopfs Unterlagen durchgehen. Vielleicht könnten wir zusammen sein Büro durchsuchen. Ich will die Fähigkeiten eurer KTU nicht kritisieren, aber sie wissen nicht, wonach sie suchen müssen.«

»Klingt gut. Sonni, wenn du nichts dagegen hast, könnte ich mit Dorothea in die Luisenstraße fahren und Breitkopfs Wohnung und Büro durchsuchen. Ich glaube, wir sollten vorsichtshalber auch Scotty mitnehmen. Mann weiß ja nie. Allerdings müsstest du dich mit der Witwe Breitkopf unterhalten. Sie wollte gegen halb Elf hier sein.«

Bei Carsten – Scotty – Anker handelte es sich um den lokalen IT-Forensiker der KTU. Noch vor wenigen Jahren von den eigenen Kollegen, aber insbesondere von den Ermittlern als Tackerknecht, Computerheini oder einfach nur Der schräge Typ belächelt, zählte er inzwischen zu einem der wichtigsten Technikexperten im ganzen LKA überhaupt, jedenfalls dann, wenn Computer im Spiel waren.

»Kein Problem, das können wir gerne so machen, allerdings…«, stimmte Sonni zu und fragte sich, warum ihn bei der Erwähnung von Carsten Ankers Namen dieses unangenehme Gefühl beschlich, irgendetwas vergessen zu haben.

»Ja?«

»Darf ich mein iPhone wieder haben?«


Das LKA verfügte über eine ganze Reihe unterschiedlicher Besprechungsräume, angefangen beim kleinen, fensterlosen Verhörraum mit halbdurchlässigem Spiegel und Abhöreinrichtung über helle, freundliche Besprechungsräume bis hin zum großen Saal, in dem auch Pressekonferenzen abgehalten wurden. Sonni wählte für die Unterhaltung mit Dr. Claudia Breitkopf, der Witwe des ersten Opfers, ein helles, freundliches Zimmer, das sogar über eine breite Fensterfront und Grünpflanzen verfügte, die sich sogar in einem guten Zustand befanden. Im Allgemeinen zeichneten sich Pflanzen im LKA nicht durch eine große Lebenserwartung aus. In diesem Fall hatte sich aber ein Kollege mit dem sprichwörtlichen grünen Daumen der Pflege angenommen, weswegen das Grünzeug regelrecht wucherte.

Neben der amtlich gepflegten Flora gehörte der Raum zu einem Trakt des LKAs, der vor knapp einem Jahr frisch saniert wurde, was bei der angespannten Kassenlage der Stadt einem kleinen Wunder gleich kam. So gab es außer modernen Möbeln im Chromlook sogar eine moderne AV-Anlage mit Bluray-Player, Surroundanlage und Beamer. Selbst die Farbgestaltung präsentierte sich ungewöhnlich stylisch und erinnerte überhaupt nicht an den Gilb klassischer Amtsstuben.

Nachdem im LKA seit einigen Jahren ein allgemeines Rauchverbot galt und sich die Süchtigen in spezielle Raucherräume mit Dunstabzug zurückziehen mussten, fehlte sogar der sonst so markante Duft alten Zigarettenrauchs und kalter Asche. Der Besprechungsraum roch recht neutral, vielleicht ein ganz klein wenig muffig, da er in den letzten Wochen kaum zum Einsatz gekommen war. Sonnis Absicht war, dass sich Dr. Breitkopf wohl fühlte, soweit dies bei dem Anlass ihres Besuchs möglich war. Und so stellte er nicht nur die Fenster auf kipp, um die frische Frühlingsluft hinein zu lassen, er arrangierte auch ein paar Getränkeflaschen samt Gläsern, Servietten und Salzstangen auf dem dominierenden Tisch. Kaum damit fertig, klingelte auch schon das Telefon, auf das Sonni seinen Anschluss vorausschauend umgeleitet hatte.

»Lundkvist«, meldete sich der Kommissar, »Ah, sehr schön. Bitte bitten Sie Frau Breitkopf einen Moment zu warten, ich komme sofort runter und hole sie ab.«

Noch ein prüfender Blick und Sonni verließ den Raum in Richtung Pförtnerloge.

Professor Dr. med Claudia Breitkopf entsprach überhaupt nicht dem Bild, das Sonni Lundkvist nach Kevins Beschreibung von dieser Frau gewonnen hatte. Die Doktorin hatte definitiv Klasse. Ihr schwarzes Designerkleid vollbrachte das Kunststück, seine Trägerin gleichzeitig elegant und sogar erotisch wirken zu lassen, als auch den Anspruch einer Trauer tragenden Frau zu erfüllen. Dass diese Frau sehr stilsicher ihr Äußeres wählte, zeigte sich auch in der über ihrem Arm getragenen leichten Jacke, die perfekt mit ihrem restlichen Erscheinungsbild harmonisierte.

»Dr. Breitkopf?«, fragte Sonni höflich. »Sonni Lundkvist, verantwortlicher ermittelnder Kommissar im Falle Ihres Gatten. Mein Beileid für Ihren Verlust.«

Ein freundliches aber auch anerkennendes Lächeln schlich sich auf Claudia Breitkopfs Lippen. Ihr war nicht entgangen, dass Sonni das alles andere als aufrichtige »aufrichtig« üblicher Beileidsbekundung vermieden hat.

»Herr Lundkvist«, erwiderte die Doktorin abwartend, aber nicht abweisend.

»Ich weiß, Sie haben bereits mit meinem Kollegen gesprochen. Weswegen es mir Leid tut, Sie nochmals belästigen zu müssen. Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann können wir die Unterhaltung schnell hinter uns bringen.«

»Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

Keine zwei Minuten später betraten Sonni Lundkvist und Claudia Breitkopf das Besprechungszimmer. Die frische Luft schien auch die Pflanzen belebt zu haben. Es roch frisch und ein wenig nach Frühling.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein Wasser oder einen Saft?«

Die Professorin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf war nicht auf den Kopf gefallen. Erneut schlich sich ein feines Lächeln auf ihre Lippen, während sie Sonni ganz offen taxierte.

»Kommissar Lundkvist, ich danke Ihnen, dass Sie sich so rührend um mein Wohlbehagen kümmern, aber könnten wir zur Sache kommen?« Sprachs und griff zu einer Flasche mit Medium-Mineralwasser und Flaschenöffner.

»Wie Sie wünschen.«, entgegnete Sonni und taxierte nun seinerseits seinen selbstbewussten Gast. »Schenken Sie mir einen Orangensaft ein?«, fügte er mit Unschuldsmiene hinzu, was von der Breitkopf mit einem anerkennenden Kopfnicken quittiert wurde. Das Kräftemessen hatte begonnen.

»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«, begann Kommissar Lundkvist, nachdem sie beide Platz genommen und einen ersten Schluck von ihren Getränken genommen hatten.

»Oh, da muss ich nachschauen.«, erwiderte die Professorin und griff in ihre Handtasche, um ein Smartphone hervorzubefördern. Nach ein wenig Wutschen und Wedeln auf dem Touchscreen war die gesuchte Information gefunden. »Das war Anfang Februar anlässlich einer Fundraisingveranstaltung. Ich bin Mitglied im Vorstand der Europäischen nephrologischen Gesellschaft…«

»Nierenkunde?«, ließ sich Sonni verlauten.

»Richtig. Wir versuchen zusammen mit anderen Fachbereichen das Bewusstsein für Organspenden in der Gesellschaft zu erhöhen. Nieren zählen zu den am meisten transplantierten Organen. Leider gibt es nach wie vor zu wenige Spender, dass wir nicht allen Patienten helfen können. Mein Mann hatte sich bereit erklärt, seine Kontakte spielen zu lassen. Ich muss gestehen, dass er mich überraschte und tatsächlich Wort hielt.«

»Hier in Berlin oder in Hamburg?«

»Weder noch. Die Veranstaltung fand in Brüssel statt. Wie gesagt, es ist eine Europäische Organisation. Unser Ziel sind die europäischen Politiker, sowohl die Parlamentarier als auch die Mitglieder der EU-Kommission.«

»Aber Sie kennen die Wohnung Ihres Mannes hier in Berlin?«

»Das Haus in der Luisenstraße? Ja, das kenne ich. Es mag sie überraschen, aber es gehört mir.«

Sonni räusperte sich, was für Eingeweihte ein untrügliches Zeichen dafür war, dass er als nächstes ein heikles Thema anschneiden würde.

»Ich muss mich für meine nächste Frage entschuldigen, aber seien Sie versichert, sie ist wichtig. Wie stand es um Ihr gemeinsames Liebesleben?«

»Wie ich Ihrem Kollegen schon am Telefon erzählte, konnte ich Thorstens Bedürfnisse, wenn ich es so formulieren darf, nicht erfüllen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich verurteile Sadomasochismus nicht. Es ist nur nicht wirklich meine Szene, zumal ich nicht dem von meinem Mann präferierten Geschlecht entsprach. Wenn ich darüber nachdenke, ist es schon seltsam. Thorsten war ein charmanter Mann. Anfangs jedenfalls, bis ich begriff, dass seine so einnehmende Art, mit der er nicht nur mich um den Finger wickeln konnte, nicht echt war, nicht dem wahren Thorsten Breitkopf entsprach. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich sagen will. Ich hatte bei Thorsten mehr und mehr das Gefühl, nur einer Maske oder einem Scheinbild gegenüberzustehen. Heute frage ich mich, wieso wir nicht die Konsequenzen zogen und uns scheiden ließen. Selbst das Argument, dass unser Sohn beide Elternteile braucht, zieht nicht. Thorsten und ich lebten seit Jahren getrennt und sogar in unterschiedlichen Städten. Till, unser Sohn, lebte bei mir in Hamburg und sah seinen Vater bestenfalls alle paar Monate.«

»Hier in Berlin und bei Ihnen in Hamburg?« Sonni war die Frage zwar spontan eingefallen, doch sagte ihm irgendein Instinkt, dass sie nicht unwichtig war.

»Teil teils. Wahrscheinlich sagen dies alle Mütter von ihren Söhnen, aber Till, Tillmann-Hagen, ist ein ziemlich selbständiger junger Mann. Kein Wunder, bei meinem Beruf. In einen Zug oder ein Flugzeug zu steigen und von Hamburg nach Berlin zu fahren, war für ihn nie ein Problem.«

»Wusste Ihr Sohn, dass sein Vater auf SM stand? Wir haben in seiner Wohnung einen zwar versteckten, aber dafür umso professioneller ausgestatteten Playroom entdeckt.«

»Das weiß ich nicht. Da müssten Sie mit ihm selbst sprechen. Er kommt ebenfalls nach Berlin und hilft mir, Thorstens Angelegenheiten zu regeln. Ein Playroom? Davon wusste ich gar nichts. Der Mann hat sein Hobby ziemlich ernst genommen, oder?«, überlegte Claudia Breitkopf laut.

»Was können Sie mir über die Freunde Ihres Mannes sagen?«, wechselte Sonni das Thema.

»Schwierig…« Die Professorin dachte nach, schien ein paar Personen abzuwägen, um dann folgendes zu sagen: »Ich bin mir nicht sicher, ob mein Mann wirkliche Freunde hatte. Ihr Kollege hatte mir am Telefon die gleiche Frage gestellt. Ich habe die letzten Tage angestrengt darüber nachgedacht, bin aber zu keinem wirklich befriedigenden Ergebnis gekommen. Wenn wir Freunde hatten, dann waren es eigentlich meine Freunde. Wie ich schon mehrfach erwähnte, war Thorsten überaus charmant und bei den meisten, die ihn nicht besser kannten, sehr beliebt, weswegen unsere Freunde ihn wahrscheinlich als Freund bezeichnen würden. Allerdings bezweifle ich, dass er sie als seine Freunde betrachtete. Von Thorstens Seite gab es eigentlich nur Verbandsfreunde. Als Lobbyist pflegte er sehr intensiven Kontakt zu allen möglichen Leuten, den man oberflächlich sicherlich als freundschaftlich bezeichnen könnte. Aber wirkliche Freunde waren es wohl nie. Wobei es ein paar Personen gab, zu denen er wohl deutlich engere Beziehungen pflegte.«

»Dr. Lugner?«, schlug Sonni vor.

Frau Breitkopf nickte: »Genau der. Ein unangenehmer Typ. Ich habe soetwas bisher bei keinem anderen Menschen erlebt, aber Lugner ist dermaßen höflich, dass es mir jedes Mal eiskalt den Rücken runter läuft. Der Mann ist aalglatt und gefährlich. Ich habe ihn bei einem Prozess erlebt, in dem er Thorstens Verband vertrat. Ich glaube, die Gegenpartei stand am Ende kurz davor, sich in ihr eigenes Schwert zu stürzen, hätte sie eins gehabt.«

»Und sonst?« Da war er wieder, der sechste Sinn des Ermittlers. Sonni Lundkvist war sich sicher, dass Claudia Breitkopf noch etwas wusste, das sie bisher für sich behielt. »Da ist doch noch etwas, oder?«

»Ja, vielleicht.«, gestand die Witwe Breitkopf, »Mein Mann besaß oder besitzt ein Foto – ich weiß nicht, ob er es immer noch hat – eines jungen, sehr attraktiven Mannes. Es muss so ein oder eineinhalb Jahr her sein, da habe ihn zufällig beobachtet, wie er es betrachtete und fast schon verträumt streichelte. Thorsten sah traurig aus, mit einer Mischung aus Sehnsucht. Mir ist es deswegen so sehr in Erinnerung geblieben, weil es wohl das einzige Mal war, dass ich eine echte Gefühlsregung bei meinem Mann beobachtete. In diesem Moment war die Maske verschwunden. Für ein paar Sekunden sah ich den wirklichen Thorsten Breitkopf, einen sehr traurigen und leidenden Mann.«

»Es ist vielleicht ein bisschen viel verlangt, aber meinen Sie, dass Sie einem Phantombildzeichner den Mann auf dem Bild beschreiben könnten?«

»Ich glaube schon.«

Bionade für Sonni

Der Phantombildzeicher des LKAs war ein freundlicher, sympathischer und etwas moppeliger Mann. KK Sonni Lundkvist hatte kein schlechtes Gewissen, die Witwe Thorsten Breitkopfs in seine vertrauensvollen Hände zu geben und sich anderen Aufgaben zuzuwenden. Die Erstellung einer derartigen Zeichnung erforderte nicht nur recht viel Zeit, sondern auch eine intensive Zusammenarbeit von Zeuge und Zeichner. Zuschauer, die auch noch ungefragt ihren Senf dazu gaben, störten da nur, weswegen sich Sonni höflich von seinem Gast verabschiedete, ihr eine seiner Karten reichte und sie nochmals bat, ihren Sohn zu bitten, für eine Befragung in den nächsten Tagen im LKA vorbeizuschauen.

Nachdem Frau Breitkopf versorgt war, warf Sonni einen Blick auf sein Mailprogramm und hörte die Sprachbox der Telefonanlage ab. Beide zeigten gähnende Leere. Weder hatte sich Kevin gemeldet, noch gab es neue Erkenntnisse seitens KTU oder Gerichtsmedizin. Für einen Moment erwägte KK Lundkvist, ob er nicht beginnen sollte, ein Täterprofil zu erstellen, gab diesen Gedanken aber gleich wieder auf. Was sollte er notieren? Dass sie einen Guhl suchten?

Was empfahlen die Lehrbücher für Ermittlungstaktiken und Kriminalistik in diesem Fall? Während seiner Ausbildung zitierten seine Lehrer regelmäßig einen wichtigen Lehrsatz: Wenn man mit der direkten Identifizierung des Täters nicht weiter kommt, muss man sich das Umfeld des Opfers genauer ansehen.

Das Umfeld des Opfers? Die Befragung der Mitarbeiter im Verbandsbüro, welches die Kollegen für Kevin und Sonni erledigt hatten, erbrachte erwartungsgemäß keine neuen Erkenntnisse. Thorsten Breitkopf fuhr sein Geschäft mit kleiner Besetzung: Ein frischer Uniabsolvent der Politologie schmiss das Sekretariat. Der junge Mann musste entweder ziemlich dumm, total naiv oder ein intellektueller Maso sein. Statt eines regulären Beschäftigungsverhältnisses wurde dieser mit einem einjährigen Volontariatsvertrag abgespeist, der selbstverständlich nur mit ein paar symbolischen Peanuts entlohnt wurde. Doch statt diese Form spätkapitalistischer Ausbeutung zu verteufeln, war er unheimlich stolz darauf, für Breitkopf arbeiten zu dürfen. Immerhin hätte es noch unzählige andere Kandidaten für den Job gegeben, aber er wurde ausgewählt, was ja schließlich eine unglaubliche Chance für seine Zukunft sei.

Das sah die stellvertretende Verbandschefin, die zusammen mit dem verblichenen Breitkopf gemeinsam der Lobbyarbeit nachging, völlig anders. Ihr Urteil über ihren verstorbenen Kollegen war nur bedingt schmeichelhaft. So charakterisierte sie ihn als ein ebenso charmantes wie geniales Arschloch, das jeden um den Finger wickeln konnte, und der wenn es nötig sei, selbst dem Papst ein Doppelbett verkauft hätte. Für ihre gemeinsame Arbeit bedeutete Breitkopfs Tod einen schweren und kaum zu verkraftenden Schlag. Rein menschlich gesehen zählte es aus Sicht der Vizechefin sicherlich nicht zu den größeren Verlusten. Womit auch schon alles gesagt wäre. Niemand im Büro wusste etwas über Thorsten Breitkopfs Privatleben, außer, dass sich seine Wohnung in den oberen Stockwerken des Gebäudes befand.

»Was wird denn jetzt aus den Büroräumen?«, wollte noch ein nun arbeitsloser Assistent Breitkopfs wissen, »Das Haus gehörte doch dem Chef.«

Wie kamen die Leute immer nur darauf, dass die Polizei allwissend sei? Sonni schüttelte angesichts des wirklich mageren Berichts den Kopf. Mit den Informationen der Bürohengste war kein Staat zu machen. Aber vielleicht konnte er später nochmals intensiver nachhaken, wenn er über mehr Hintergrundinformationen verfügte. Wo also dann ansetzen? In diesem Moment fiel Sonnis Blick auf einen Zettel, den ihm Kevin zurückgelassen haben musste. »Adult Constructions, Thomas Berger, Naunynstraße, Berlin-Kreuzberg«. Adult Constructions? Es brauchte ein paar Sekunden, bis bei Sonni der Groschen fiel. Die SM-Möbel in Breitkopfs Playroom waren individuelle Anfertigungen und sollten nach Meinung Mikes, dem SM-Meisterausbilder, aus der Werkstatt eines gewissen Tom stammen. Mit Tom war offenbar Thomas Berger gemeint.

»Wer weiß, vielleicht kommt was dabei rum.«, murmelte Sonni vor sich hin, griff nach Helm und Lederjacke und verließ sein Büro in Richtung Parkplatz.

Obwohl der nachmittägliche Feierabendverkehr noch gar nicht begonnen hatte, staute es sich in Richtung Kreuzberg dermaßen heftig, dass der Kriminalpolizist selbst mit nicht ganz polizeikonformer Wildsaufahrweise nur mühsam vorankam. Die Skalitzer Straße präsentierte sich gerammelt voll, was hieß, dass am Kotti dann gar nichts mehr ging. In der Adalbertstraße parkten die LKW vollkommen schmerzfrei auf beiden Seiten in zweiter und manchmal sogar in dritter Reihe. Hauen und Stechen für eine Strecke, die unter normalen Umständen bestenfalls eine Viertelstunde in Anspruch nahm, benötigte Sonni die dreifache Zeit, aber letztendlich fand er doch sein Ziel. Ein Firmenschild Adult Constructions mit dem Zusatz 2. Hof, rechts wies den Weg. Im Schritttempo rollte das Motorrad durch die Toreinfahrt. Der aggressive Vierzylinder des Supersportlers hallte von den gekachelten Wänden zurück. Langsam durchquerte Sonni den ersten Hof, in dem eine Klimatechnikfirma Lüftungsrohre, ausgemusterte Lüftungsklappen, Motoren und Kanalbleche lagerte. Eine kleine schwarze Katze hockte auf einer Mauer und leckte sich die Pfoten. Ein ziemlich friedliches Bild. Doch genau in dem Moment, als das Motorrad direkt an dem Stubentiger vorbei rollte, schaute der auf und Sonni direkt in die Augen.

Es passierte wieder. Das Grollen des Motors trat in den Hintergrund, verblasste zu einer Ahnung am Rande der Wahrnehmung. Die Welt um Sonni färbte sich sepiafarben. Über einem schwarzen, aber bisher klaren und strahlend blauen Himmel zogen blutrot leuchtende Wolken. Wispernde Stimmen erfüllten die Luft. Kontraste verstärkten sich und wurden härter. Schatten gewannen an Schärfe und schienen auch dorthin zu fallen, wo es überhaupt keine Lichtquelle gab. Über die Bleche der Lüftungskanäle floss Blut, folgte dabei aber nicht der Schwerkraft, sondern kroch die Rohre empor.

Katzenaugen, zwei flackernde gelbe Flammen schauten Sonni in die Augen. Die Katze starrte ihn an. Ihr Blick schien sich in Sonnis Verstand bohren zu wollen. Er konnte fühlen, wie etwas feuchtwarmes nach seinem Hirn tastete. Doch genau in dem Moment, als dieses Etwas zupacken wollte, flammte etwas anderes an Sonnis Brust auf. Ein Blitz langte aus und traf die Katze direkt am Hintern. Das Vieh kreischte auf, fauchte Sonni an, sprang fort und mit ihr die alternative Wahrnehmung. Zurück blieb ein strahlend blauer, wolkenloser Himmel, profane Rohrbleche und Lüftungskanäle und ein verdatterter Sonni, der eine Vollbremsung hinlegte und sich an die Brust fasste, wo die seltsame katzenvertreibende Entladung ihren Ursprung genommen hatte. Verblüfft fühlte er die Umrisse von Tims Talisman unter der Hülle seiner Lederjacke. Hektisch begann der motorradfahrende Polizist seine Handschuhe auszufummeln, den Reißverschluss seiner Lederjacke aufzureißen und den Anhänger an seinem Lederbändchen hinter seinem T-Shirt hervorzuangeln. Das Ding funkelte und wirkte dabei, als ob es Sonni zuzwinkerte.

Kopfschüttelnd versenkte er das Amulett wieder unter seiner textilen Oberbekleidung, stopfte die Handschuhe hinter den Windschild – für zwanzig Meter Weg lohnte es sich nicht, die Dinger wieder überzustülpen – und rollte langsam in den zweiten Hof.

Berlin und seine Hinterhöfe – vorne wohnen, hinten arbeiten. Die heute noch vorhandenen waren Schatten ihrer selbst. Zur Jahrhundertwende vom neunzehnten zum zwanzigsten gab es Stadteile mit drei und vier Hinterhöfen. Teilweise führten die Durchfahrten von einer Straße durch alle Höfe zur nächsten Parallelstraße. Was Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts fast schon romantisch verklärt als wiederentdecktes Wohn- und Arbeitskonzept gefeiert wurde, entsprach zu seiner Zeit nicht mehr als der konsequenten Ausnutzung laxer Bauaufsicht. Mehr Menschen, zahlende Mieter, auf gleicher Fläche hieß für die Wohnungseigentümer schlicht und einfach mehr Profit. Dass dabei die überfüllten Mietskasernen zur Brutstätte aller möglichen Infektionskrankheiten mutierten, von Typhus bis zur Tuberkulose, wurde auch in Folge mangelnden Wissens über Infektionswege und der Bedeutung von Hygiene billigend in Kauf genommen. Erst mit dem Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts änderte sich der Baustil. Die Höfe wurden aufwendiger und sorgfältiger geplant und teilweise sehr prunkvoll, wie die Hackischen Höfe in Mitte, realisiert. Die Vorderhäuser zierten großzügige Wohnungen, die von Beamten, Offizieren und einem wohlhabenden Bürgertum bewohnt wurden, während in den Quer- und Seitenhäusern der Hinterhöfe die Arbeiter wohnten und die kleinen Handwerker ihre Werkstätten hatten.

Wenig war von dieser Tradition und Geschichte im zweiten Hinterhof zu sehen, in den Sonni gerade mit seinem Motorrad hinein rollte. Überhaupt war der Hof nur noch in Teilen als solcher erkennbar. Von den ehemals vier Häuserflügeln waren nur noch zwei erhalten, das Hinterhaus und ein Seitenflügel. Der Rest wurde Anfang der siebziger abgerissen – entkernt, wie es hieß. Schmuddelige, beige Mauern wurden gegen Grün ersetzt und schufen, gerade im Kontrast zum sehr kargen ersten Hof, eine innerstädtische Idylle. Nach dem Zustand des Hinterhofgartens zu schließen, wurde er von den Bewohnern der dazugehörigen Häuser sorgsam gehegt und gepflegt. Es gab eine kleine Sitzecke, Blumenbeete, eine Rasenfläche mit Fußballtor, hohe, Schatten spendende Bäume und sogar einen gemauerten Grill.

Der Laden, oder viel mehr die Werkstatt von Adult Constructions, war kaum zu übersehen. Über der Fensterfront des Erdgeschosses des verbliebenen Seitenflügels prangte ein langes Edelstahlband aus dem mit absoluter Präzision die Buchstaben des Firmennamens herausgeschnitten waren, was durchaus mit der handwerklichen Perfektion der SM-Möbel in Breitkopfs Apartment korrespondierte, genauso wie die blitzsauberen Fenster oder die makellose Fassade der Werkstatt. Während bei den meisten anderen Handwerksbetrieben, denen Sonni bisher begegnet war, alles immer ein wenig angeranzt und schmuddelig aussah, konnte zumindest das Äußere dieses Betriebs mit einem Laborbetrieb oder einer Feinmechanikerwerkstatt konkurrieren.

Sonni parkte sein Motorrad, stopfte Handschuhe und Nierengurt in seinen Helm, ging zur Fensterfront und wagte einen Blick ins Innere, um im gleichen Moment schleunigst seinen Blick abzuwenden. Eine Sekunde später flackerte gleißendes, blauweißes Licht auf. Beherzt trat der Kriminalpolizist auf die stählerne Eingangstür des Betriebs zu, drückte die Klinke herunter und trat in die vom scharfen, gleißenden Licht erfüllte Werkshalle.

»Ja?«

Ein Mann von Anfang dreißig hockte auf einem Schemel. In der einen Hand hielt er ein elektronisches Schweißschutzschild und in der anderen eine Schweißelektrode, die er aber beiseite legte und sich Sonni zuwandte.

»Lundkvist, Sonni Lundkvist.«

»Berger, Tom Berger. Was kann ich für dich tun, Sonni Lundkvist?«

Tom Berger schien ein interessanter Typ zu sein. Einerseits präsentierte er sich ziemlich kerlig, mit weißem Tank Top, das seine muskulösen Schulterkugeln und den flachen, gerippten Bauch schön zur Geltung brachte, einer knackig sitzenden Jeans, die sich eng an seinen Hintern schmiegte und dessen Vorderfront sehr viel Spaß versprach, schweren, schwarzen Lederboots und einem stylischen vier Millimeter Haarschnitt, der in einen herben 3-Tage-Bart überging. Alles in allem wäre der Typ fast vor Testosteron geplatzt, hätte nicht ein wirklich charmantes Lächeln seine Lippen umspielt und seine Augen vor tiefsitzender Lebensfreude gefunkelt. Sonni hatte den Eindruck, dass diesem Mann der Schalk im Nacken saß. Wie er seine Frage an Sonni formulierte und wie seine Stimme dabei klang, deutete auf eine latent ironische Grundhaltung hin.

»Ich bin Ermittler bei der Berliner Mordkommission.«, begann Sonni ein wenig steif und ungelenk, was aber auf das hintergründige Schmunzeln seines gegenüber keinen Einfluss hatte. Ganz im Gegenteil schien dieser beim Wort Mordkommission hellhörig zu werden. »Nein, keine Angst, wir ermitteln nicht gegen Sie.«

»Nicht? Schade…«, lachte Tom und zwinkerte mit den Augen, »Obwohl… eigentlich sollte ich eher beruhigt sein, was?«

»Nicht wirklich. Knast macht keinen Spaß«, erwiderte Sonni, »Ja, ich glaube schon, dass es besser ist, nichts auszufressen. Auf jeden Fall sollte man niemanden umbringen. Sie kennen doch die Goldene Regel im Sinne der Lutherbibel: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“«

»Das Argument ist gekauft. Stimmt schon, wenn mich jemand umbrächte, würde mir das ziemlich auf die Laune schlagen. Aber Sonni Lundkvist, du bist sicherlich nicht zu mir gekommen, um philosophische Fragen zu diskutieren, oder?«, fragte Tom, der grundsätzlich jeden unabhängig von Ansehen und Position zu duzen schien.

»Nein, obwohl das bestimmt interessant wäre.«, gestand Sonni und griff in seine Jackentasche, um Tom Berger zwei Fotos der SM-Möbel aus Breitkopfs Playroom zu zeigen. »Schon mal gesehen?«

»Klar, Breitkopfs Playroom. Als ich von seinem gewaltsamen Ableben in der Zeitung las, wusste ich, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis einer von euch bei mir aufkreuzt. Aber machen wir es offiziell: Ja, die Möbel sind von mir.«

»Oh, das wusste ich schon. Mich interessiert das ganze Drumherum. Wie kam Breitkopf auf Adult Construction? Wie war er als Kunde? Wie war er als Mensch? Sind das Standardmöbel oder individuelle Designs? War Breitkopf beim Kauf und der Planung allein oder in Begleitung?«

»Ihr stochert im Nebel, oder?«, konterte Tom Berger und traf damit genau ins Schwarze, »Komm, lass uns in den Garten gehen und da quatschen. Willst ne Bionade?«


Einen Moment später saßen Tom und Sonni samt zweier Flaschen Bionade mit Holundergeschmack in der Sitzecke des Hofgartens. Das Spiel begann. Sonni belauerte Tom. Das war normal, seine übliche Vorgehensweise, die dazu diente, Zeugen ein wenig zu verunsichern. Wer unsicher war, machte Fehler und verplapperte sich. Tom belauerte aber auch Sonni. Das war weniger normal. Der Metallwerker hielt seinen Kopf leicht schief und betrachtete den Kriminalkommissar ihm gegenüber mit einem gleichzeitig charmanten, aber auch provozierenden Lächeln, das Sonni nicht recht zu deuten wusste. Es konnte sich auf seine Ermittlungen beziehen aber genauso gut auch eine Anmache darstellen. Da Tom alles andere als unattraktiv war und in Sonnis Beuteraster fiel, bestand die reelle Chance, dass seine Avancen fruchteten.

»Also gut«, gab Tom als erster auf, »was willst du wissen?«

»Im Prinzip alles. Aber im Moment wüsste ich gerne, wie das Geschäft mit Breitkopf ablief.«

»Es lief merkwürdig ab. Ich sollte mich eigentlich nicht beschweren. Ich habe an dem Auftrag unverschämt gut verdient. Aber wenn du mich fragst, fühlte sich der Deal völlig schräg an. Dir ist klar, was wir bei Adult Constructions machen?«

»SM-Möbel?«, schlug Sonni vor, blinzelte dabei aber frech.

»Jein. Ich stoppel nicht irgendwelche Null-Acht-Fünfzehn-Teile von der Stange zusammen. Die Objekte von Adult Constructions sind Einzelstücke. Die Sache läuft im Prinzip folgendermaßen: Wer den Weg hierher findet, der weiß, was ihn erwartet: individuelle Sexmöbel jenseits des üblichen klischeehaften SM-Kitsches. Bei mir wirst du keine verschnörkelten Kunstlederabpolsterungen finden oder auf pseudogothik getrimmte, dilettantisch lackierte Holzbalkenkonstruktionen, die sich dann Fickbock, Dominathron oder Bondagestuhl schimpfen dürfen. Hier noch eine geschwungene Linie, dort noch eine dekorative Messingknopfleiste, oder soll's noch ein kleines Kettchen sein? Da können mir die Leute noch so viel Geld bieten, aber solcher Schrott wird in meiner Werkstatt niemals das Licht der Welt erblicken.«

»Harte Worte«, entgegnete Sonni bevor er das erste Mal in seinem Leben einen Schluck Bionade trank.

»Ach was. Ich will ehrlich sein. Meine Sachen sind nicht billig, eigentlich sind sie sogar verdammt teuer. Da sollte das Möbel schon dem Käufer gefallen oder genauer, exakt auf seine Wünsche abgestimmt sein. So ein Sklavenkäfig aus Edelstahl kann bei mir schon mal acht- bis zehntausend Euro kosten. Wer so viel Geld locker macht, kann schon etwas erwarten. Deswegen verwende ich nur die beste Qualität bei den Materialien, sei es nun Leder, Gummi, Holz, Edelstahl und sogar Titan. Den Stahl füge ich zum Beispiel mit modernster Schweißtechnik zusammen. Bleche werden von mir mit einer Laserstrahlschweißanlage bearbeitet. Mein Firmenschild habe ich so gefertigt. Mir geht es darum, dem Kunden auch ungewöhnliche oder gar außergewöhnliche Wünsche oder Ideen möglich zu machen. Bei meinen Objekten gibt es keine scharfen Kanten, keine schlecht verarbeiteten Nähte und schlampig verklebte Bezüge. Bei den Führungsschienen meiner Streckbank setze ich Teflongleitmuffen ein. Da klemmt und verkantet nichts.«

Sonni musste lachen: »Ist gut. Ist gut. Ich habe verstanden. Du baust SM-Möbel in Perfektion, die ich mir niemals leisten können werde, sollte mir je der Sinn danach stehen.«

»Och, ich könnte mir vorstellen, dass wir für dich schon eine bezahlbare Lösung finden könnten.« Toms Lächeln nahm etwas provozierendes an, was Sonni tatsächlich rot werden ließ.

»Ähm, gut. Nun ja…«, stammelte der Kriminalkommissar unprofessionell, riss sich dann zusammen und meinte: »Aber was hat das mit Breitkopf zu tun?«

»Eine Menge.« Tom wurde nachdenklich. »Rein kaufmännisch war es ein fantastischer Auftrag. Einmal Playroom komplett. Geld spielte überhaupt keine Rolle. Ich durfte aus dem Vollen schöpfen. Der Typ hat auf die Frage, was ich ihm denn bauen sollte, einfach Alles geantwortet. Und bereits das war seltsam. Bei jedem wäre ich bei so viel Großkotzigkeit verärgert gewesen, aber Breitkopf brachte dieses Alles so charmant rüber, dass ich gar nicht darüber nachdachte. Aber das war erst der Auftakt der Merkwürdigkeiten. Ich weiß nicht, ob du die SM-Szene kennst. Ich persönlich komme ja aus der schwulen Szene, baue meine Teile aber für jeden, obwohl die Heteros mehr auf diesen Mittelalter- und Gothikschrott abfahren, der mir eigentlich vollkommen abgeht. Aber die Kunden, die den Weg zu mir finden, seien sie nun hetero, bi oder schwul, freuen sich darüber, die Objekte mit mir zusammen zu entwerfen und zu planen. Wenn dann am Ende ein Bondagestuhl für den Bottom respektive Sklaven rauskommt, ist der Maßarbeit. Selbst wenn ihn sein Top vierundzwanzig Stunden stramm an das Teil fesselt, wird er hinterher keine Druckstellen oder andere Spuren vom Objekt davontragen und darum betteln, weitere vierundzwanzig Stunden in ihm verbringen zu dürfen. Schließlich geht es um Genuss, und nichts ist abtörnender, als wenn ein Fesselgurt sich in die Haut einschneidet oder eine Naht drückt. Die Qualen sollen vom Top kommen und nicht vom SM-Möbel. Deswegen stecke ich so viel Planungsarbeit in die Objekte und binde den Kunden von Anfang an mit ein. Nicht so Breitkopf. Den interessierte es nicht. Als ich ihn fragte, wann er denn Zeit hätte, seine Möbel mit mir zu planen, lächelte er mich freundlich an und meinte, ich hätte absolut freie Hand und solle ihn einfach überraschen. Ich weiß bis heute nicht, ob Breitkopf Top oder Bottom ist. Bei klarem Verstand hätte ich an dieser Stelle Nein gesagt, aber mein Verstand war nicht klar. Als Breitkopf meinte, dass ich ihn überraschen sollte, war dies wie eine Auszeichnung, ein Ritterschlag. Breitkopf gab mir das Gefühl, dass ich sein vollstes Vertrauen genieße. Seine Präsenz war wie eine Droge. Bei den wenigen Besprechungen bei ihm in der Wohnung war ich immer irgendwie high, wie besoffen. Zurück in meiner Werkstatt hatte ich dann aber umgekehrt immer das Gefühl, verkatert zu sein und wollte den Auftrag hinschmeißen. Dumm nur, dass ich das Teil unterschrieben hatte. Also sagte ich mir was solls, schaute auf die Auftragssumme und verkaufte meine Seele an die Kohle. Ich muss wahnsinnig gewesen sein.«

»Wieso?« hakte Sonni sofort nach, dessen Polizisteninstinkt sich meldete.

»Weil Breitkopf keine Ahnung von SM hat.« Tom Berger spie die Worte wütend hinaus. »Das ist mir aber erst klar geworden, nachdem ich die Möbel aufgebaut hatte. Der Mann war komplett unbeleckt und hatte nicht den geringsten Schimmer davon, wie man sicher und verantwortungsvoll miteinander spielt. Eine Streckbank in den Händen von jemand, der nicht weiß, wie man damit umgeht, kann zu schwersten Schäden führen, sogar lebensgefährlich werden. Der Typ kannte noch nicht einmal den Unterschied zwischen einem Flogger und einer Katze. Am liebsten hätte ich meine Möbel wieder eingepackt, nur wäre ich dann pleite. Ich habe mich in soweit noch abgesichert, dass ich in meinen Verträgen eine Klausel habe, die eine Haftung für Schäden, die durch den unsachgemäßen Gebrauch meiner Möbel entstehen, ausdrücklich ausschließt. Breitkopf hat den Vertrag nicht eine Sekunde lang gelesen, sondern einfach auf der letzten Seite unterschrieben, während er mich fragte, wann er welche Zahlung zu leisten hätte. Mein Gott, was für ein Wichser.«

Hölleninventur

Die Unterhaltung mit Tom Berger fügte sich nahtlos zum bisherigen Bild Thorsten Breitkopfs. Ein Aspekt stach bei allen Gesprächspartnern immer wieder hervor: Niemand konnte ihm oder seinem Charme widerstehen. Egal ob es seine Ehefrau, Tom Berger oder sogar Mike war, alle hatten das Gefühl, von Breitkopf verstanden zu werden. Er gab ihnen einerseits das Gefühl, wichtig zu sein und andererseits es mit einem absolut vernünftigem Mann zu tun zu haben, dem man einfach keine Bitte abschlagen konnte und bei allem, was er sagte, einfach nur zustimmen musste. Erst später, wenn sie sich nicht mehr in seinem Einflussbereich befanden, verflog dieser Eindruck. Wie hatte es Tom formuliert? Besoffen? Konnte dies die Auswirkung des Guhls sein? Seine Fähigkeit, seinen Meistern Macht und Einfluss zu verschaffen? Dies war ein Punkt, den Sonni unbedingt mit Raphael oder Tim besprechen musste. Doch zuvor wollte Tom Berger seine Werkstatt und Produkte präsentieren. Immerhin hatte er eine Bionade ausgegeben.

»Bei deinem Eintreffen war ich gerade dabei, einen Sklavenkäfig zusammenzuschweißen.«, erläuterte der Inhaber Adult Constructions. »Eine Arbeit für ein nettes Heteroehepaar und ein Argument gegen die These, dass Frauen immer nur Opfer sind. Der Käfig ist für den Mann, was du niemals vermuten würdest, wenn du seine Frau siehst. Total die zierliche Person und überhaupt nicht dominahaft.«

Eines musste Sonni Tom Berger lassen. Seine Arbeiten waren wirklich beeindruckend – sowohl in handwerklicher als auch kreativer Hinsicht. Ersteres war einfach nur makellos und mit einem eindeutigen Hang zur Perfektion ausgeführt. Letzteres zeugte von Kreativität gepaart mit einem unterschwelligen, ironisch angehauchten Humor. Dies traf insbesondere bei den dual-use Möbeln zu – Einrichtungsgegenständen, die sowohl einem profanen Zweck, wie Esstisch, Garderobe, Stuhl oder Schrankwand dienten, die sich aber auch mit wenigen Handgriffen in ein erotisches Spielgerät verwandeln ließen. Die Vorstellung, bei einem Familienfest die lieben, ahnungslosen Verwandten an einem Tisch speisen zu lassen, der noch am Vortag seine lustvolle Funktion als Streckbank erfüllte, hatte etwas erregend morbides.

»Eigentlich komme ich aus dem Ladenbau.«, erläuterte Tom Berger, während er mit seinen Fingen und professionell selbstkritischem Blick über die Schweißnähte seines aktuellen Werks strich, »Ich habe meine Ausbildung in einem Betrieb absolviert, der sich auf hochwertige Ladeneinrichtungen spezialisiert hatte. Insbesondere sogenannte Design- und Conceptstores zählten zu unseren Kunden.«

Ladeneinrichtungen? Bei diesem Wort klingelte etwas. Nachdenklich betrachtete Sonni die in unterschiedlichsten Fertigstellungsgraden befindlichen Möbel, bis es Klick machte.

»Kennst du zufällig Tim Teufels Fachhandel für Lustbekleidung?«

»Klar«, der SM-Möbeltischler nickte stolz, »Tim ist ein guter Bekannter und Geschäftspartner. Alle Toys, die in meinen Objekten verbaut werden, beziehe ich von ihm. Umgekehrt hat er sich von mir seine Ladeneinrichtung anfertigen lassen. Das war eine sehr anspruchsvolle Arbeit, die über mehrere Monate ging. Ich habe die Linie light bearer genannt, als kleine versteckte Anspielung auf Tims Nachnamen. Der heißt ja Teufel und der Teufel wird manchmal auch Luzifer, der Morgenstern oder Lichtbringer genannt. Er fand die Idee amüsant.«

In diesem Moment machte es in Sonnis Hirn ein zweites Mal Klick. Lichtbringer? Den Begriff hatte er während der Ermittlungen im Fall Breitkopf schon vorher gehört, nämlich als er die Inschrift des Rings des Opfers entziffert und aus dem aramäischen übersetzt hatte. Der Text war ihm noch deutlich in Erinnerung: Meinem Herren dem Lichtbringer zu Ehre und Unterpfand. Hieß das, dass Breitkopf ein Anhänger, vielleicht sogar Vasall Tims war. Wenn ja, dann hatte dieser Teufel aber einiges zu erklären, und das am besten sofort.

Am liebsten wäre Sonni sofort auf sein Motorrad gesprungen und hätte Tim zur Rede gestellt, allerdings war die Befragung Herrn Bergers noch nicht abgeschlossen. Bisher hatte ihn Sonni frei erzählen lassen und nur ab und zu an der einen oder anderen Stelle nachgehakt. Jetzt ging es darum, gezielte Fragen zu stellen, auf die ein Zeuge von sich aus nicht kam, etwa die nach besonderen Schmuckstücken. Tatsächlich war dem SM-Möbelfabrikanten der Pentagrammring nicht nur aufgefallen, sondern er hatte seinen Klienten sogar auf das Schmuckstück angesprochen. Zu dessen großer Überraschung sprang Thorsten Breitkopf auf das Kompliment, mit dem Tom in ein Gespräch über den Ring einsteigen wollte, nicht an. Ganz im Gegenteil wurde der sonst so mitteilsame Mann ziemlich einsilbig, geradezu ruppig und schroff und beendete das entsprechende Treffen sehr abrupt mit der fadenscheinigen Erklärung, dass er leider keine Zeit mehr hätte, da ihm gerade eingefallen sei, noch einen dringenden Termin wahrnehmen zu müssen, den er fast vergessen hätte. Offensichtlich, so überlegte Sonni, schien die Erwähnung des Rings die Aura – oder war es ein Trugbild? – des sympathischen Gesprächspartners massiv zu stören.

Damit erschöpften sich die nützlichen und interessanten Informationen, die der SM-Möbelfabrikant beisteuern konnte. Das war in soweit verständlich, da Tom Berger den Verstorbenen nur zu einer Hand voll Arbeitstreffen gesehen hatte. Obwohl der Gesamtauftrag einen hohen fünfstelligen Eurobetrag erreichte, beschränkten sich die Termine mit Breitkopf auf das erste Kontaktgespräch, bei dem gleich der Auftrag erteilt wurde, die Abnahme der Arbeit am Ende und vielleicht fünf weiteren kurzen Arbeitstreffen.

»Und außer Breitkopf war sonst niemand dabei?«, wollte Sonni wissen.

»Nein, nie. Ich traf Breitkopf immer allein. Das heißt… Bei der Abnahme war noch jemand anderes in der Wohnung. Ein junger Kerl. Ziemlich attraktiv. Der nahm aber nicht an dem Treffen teil und ich sah ihn auch nur kurz, was Breitkopf nicht zu gefallen schien.«

»Ja, das war es dann auch schon. Tom, ich muss mich für deine Informationen und die Bionade bedanken, obwohl ich nicht weiß, ob die mein Lieblingsgetränk wird.«

»Tja, das Zeug ist gewöhnungsbedürftig.«

Womit alles gesagt war und der Kriminalpolizist seine Motorradklamotten antütete, wie er es immer formulierte, doch ohne Nierengurt, Jacke, Helm und Handschuhe stieg er nicht auf seine »Schüssel«. Tom begleitete ihn noch bis zum Zweirad, meinte, dass ihm die Unterhaltung Spaß gemacht hätte und schlug vor, dass ihn Sonni ruhig wieder besuchen solle. Vielleicht könne er ihm dann auch einige seiner Möbel praktisch vorführen.

Statt darauf direkt zu antworten, drückte der Angesprochene den Startknopf seines Kraftrades, grinste vieldeutig, nickte zum Gruß und rollte langsam davon. Wieso wollen alle Leute mit mir SM-Spielchen treiben? Mit dieser Frage im Kopf fädelte KK Lundkvist in den abendlichen Kreuzberger Feierabendverkehr ein und steuerte in Richtung Schöneberg. Und warum musste ich bei der Frage an Käfige und Streckbänke denken und bekam eine Erektion?

Die Straßen waren natürlich, wie immer zu dieser Zeit, dicht, um nicht zu sagen dermaßen verstopft, dass auch ein Wolkenbruch Abflussfrei nicht ausreichend Ätzwirkung entfaltet hätte, um die unzähligen Blechkarren zu zersetzen. Vielleicht lag es am enervierend zähen Verkehr, aber statt wie sonst beim Motorradfahren ruhig und entspannt zu werden, baute sich in Sonni mehr und mehr Wut über Tims Verhalten auf. Wie konnte er ihm verschweigen, dass die Meister des Guhls seine Jünger waren und sich ihm unterworfen hatten? Die Inschrift des Rings sagte doch wohl alles, oder? Tja, du darfst eben niemals dem Teufel trauen.


»Stopp!«

Mit einem ebenso donnernden wie übernatürlichen Machtwort, dem sich niemand, insbesondere auch kein Kriminalpolizist widersetzten konnte, bremste Tim einen wutschnaubenden Sonni aus, der selbst wie eine Naturgewalt den Fachhandel für Lustbekleidung erstürmte, einen verdatterten und immer noch sprachlosen Verkäuferschlingel links liegen ließ, um direkt das Atelier des Meisters der Lederbekleidung zu stürmen.

»Du Teufel!«, tobte Sonni wie eine Furie, »Was bin ich für dich? Ein nützlicher Idiot? Und ich war gerade dabei, dir zu vertrauen. Ich…«

An dieser Stelle feuerte der adressierte Teufel seinen verbalen Faustschlag ab, der sofort und unmittelbar seine Wirkung entfaltete und den Sprecher nicht nur verstummen, sondern auch schlucken und nach Luft ringen ließ. In Tim Teufels Augen flackerte Höllenfeuer, das zu sehen keinerlei übersinnliche Wahrnehmung bedurfte. Der Höllenfürst war wütend und wuchs um einige Zentimeter in die Höhe und Breite, wenn aber auch nur für ein oder zwei Sekunden, dann entspannte sich seine Miene, er schrumpfte auf Normalformat und wurde wieder freundlich, grinste sogar kurz, um dann aber doch ein wenig besorgt zu wirken.

»Was ist los, Sonni? Womit habe ich dich verärgert? Was habe ich dir getan?«

Immer noch nach Luft ringend, stierte Sonni den höllischen Lederschneider wütend an. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Seinem Zorn fehlte plötzlich der Brennstoff. Gegen seinen Willen wurde Kriminalkommissar Lundkvist ruhiger, entspannter und auch rationaler. Das lag nicht an Tim, nicht direkt, sein Stopp wirkte mehr wie ein kräftiger Schluck Kaffee oder eine ordentliche Dosis Frischluft. Sonnis Kopf wurde klar, was umgekehrt bedeutete, dass er zuvor auf irgendeine Weise vernebelt gewesen sein musste. Er fühlte sich zwar weiterhin von Tim hintergangen, war aber bereit, sachlich mit ihm darüber zu sprechen.

»Die Meister des Guhls sind deine Jünger.«, knurrte der Polizist, »Thorsten Breitkopfs Ring – Gold mit fünf Diamanten besetzt, die mit feinen Platinenlinien ein Pentagramm bilden, mit einer Inschrift: Meinem Herren dem Lichtbringer zu Ehre und Unterpfand. Lichtbringer, Luzifer, der Morgenstern. Klingelt da was bei dir?«

»Yupp, das bin ich. Der gefallene Engel.«, Luzifers Lächeln wirkte verbittert, »Ich will dir keine Vorlesung in biblischer Geschichte halten. Nicht jetzt. Nur so viel: Ich bin kein Engel, war nie ein Engel und bin daher auch nie gefallen. Ja, ich bin das Chaos, die Gewalt, der Streit, aber auch die Kreativität und Evolution. Ich bin Luzifer, Shiva und Hades. Die Menschheit gab mir unzählige Namen. Ich bin all das, aber auch nichts davon. Es ist schwierig zu erklären. Nein, streich das schwierig. Es ist unmöglich. Ich muss es dir zeigen und ich werde es dir zeigen. Du wirst mich in meine Welt, in die sogenannte Hölle begleiten. Nicht in diesen Club, dem wir am Sonnabend einen Besuch abstatten werden, sondern in die wirkliche Hölle, meine Domäne. Später wird dir Raphael seine Domäne, den sogenannten Himmel zeigen. Dann wirst du verstehen, aber genauso wie ich, wirst du es nicht beschreiben können. Doch genug der Ausflüchte und Esoterik. Du hast mir eine direkte Frage gestellt. Sonni, ich wusste nicht, dass dein Mordopfer einen Ring der Unterwerfung trug. Du hast nur kurz seinen Namen erwähnt, mehr nicht. Erinnere dich an unsere Unterhaltung und worüber wir sprachen.«

»Oh Shit!«, entfuhr es Sonni, der sich plötzlich fürchterlich schämte. Voreilige Schlüsse zu ziehen, das war ihm noch nie passiert. Verdammt, fuhr ihm durch den Kopf, du bist Polizist. Wo hast du deine Professionalität gelassen? Wieso diese Kurzschlusshandlung? Wo kam diese Wut her und das Gefühl, von Tim verraten worden zu sein, obwohl es jeglicher Grundlage entbehrte. Der Teufel hatte vollkommen recht. Breitkopfs Name war wirklich nur kurz gefallen und der Ring, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt, aber nie seine Art und Ausführung konkret beschrieben. Primär ging es um POM Ott, den Polizisten, der sich in den Kopf geschossen hatte, nachdem ihn der Lalyo erwischte.

»Oh Tim, es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich hatte im Rahmen meines Falls einen Zeugen befragt, den du ebenfalls kennst: Tom Berger von Adult Constructions. Am Ende unseres Gesprächs erzählte er mir, dass er deine Ladeneinrichtung gebaut hat. Es sei die light bearer-Linie, was ein Wortspiel auf deinen Nachnamen sein sollte. Weiß er eigentlich, dass er mit der Produktbezeichnung genau ins Schwarze traf?«

»Ach der gute Tom. Nein, er weiß nicht, wer ich wirklich bin. Er freute sich aber, dass mir die Namensgebung ausgesprochen gut gefiel.«, gestand Tim hintersinnig grinsend, »Aber ich verstehe jetzt, wie du von der Inschrift des Rings auf mich gekommen bist. Hm, interessant. Fünf Männer beschwören nicht nur einen Guhl, sondern verkaufen mir sogar ihre Seele. Warte einen Moment, lass mich nachsehen…«

Bei übernatürlichen Wesen war einfach mit allem zu rechnen. Tim Teufel legte die Zuschneideschere beiseite, mit der er vor dem Eintreffen Sonnis gerade Lederteile aus einer ganzen Haut ausgeschnitten hatte, schloss für zwei Sekunden seine Augen und öffnete sie wieder, um in eine Welt zu schauen, die jenseits menschlicher Wahrnehmung und Realität lag. Niemand konnte sagen, was Luzifer in diesem Moment sah. Dass er etwas sah, ließ sich an seinem veränderten Blick erkennen. In den tiefsten Tiefen seiner Pupillen loderten Landschaften, ganze Welten, aus Feuer. Für Sonni schien es, als ob die Augen des Lederschneiders Fenster in eine andere, fremdartige und unverständliche Realität waren. Seltsamerweise fühlte er eine eigentümliche Vertrautheit zu dieser Welt.

»Schauen wir mal.« erklang eine Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien. Auf jeden Fall nicht von einem Mann, der direkt neben einem stand. Aber so merkwürdig es bei einem Mann mit Feuer in den Augen auch sein mochte, von einem Blick zu sprechen, Tim tat genau das. Er blickte in jene Ferne, die sich jenseits menschlicher Wirklichkeit befand. »Breitkopf… Hm… Yupp, der Kerl schmort in einer meiner Höllen. Er hat sich das klassische Gesamtpaket mit ewiger Pein und Qual ausgesucht. Ein klassischer Fall von Selbstverdammung. Oh, mein lieber Sonni, du hast vollkommen recht. Er hat mir seine Seele schon zu Lebzeiten verkauft. Tja, Pech mein Junge, aber du wirst mit meinen Teufeln ein paar Ewigkeiten abhängen dürfen. Jungs, seid nicht so zimperlich mit ihm. Ich glaube, er könnte ein paar Lavabäder gebrauchen.«

War das echt oder nur eine gute Show? War es taktvoll, derart über einen Toten zu sprechen? Hatte sich Thorsten Breitkopf seinen Platz in der Hölle tatsächlich redlich verdient? Und durfte Sonni Tim in diesem Zustand eine Frage stellen?

»Du darfst mir alle Fragen stellen, die du willst. Ich werde dir nur keine Antworten geben können.«, erriet der Teufel die Gedanken des Polizisten. Vielleicht las er sie auch einfach. »Die Seelen sind auf der anderen Seite. Deine Welt, die der Lebenden, hat für sie keine Bedeutung mehr und ist so unerreichbar weit weg, dass… Sie sind… Es ist… Nein, es lässt sich nicht mit Worten beschreiben. Immerhin kann ich dir sagen, dass Breitkopf tatsächlich hier ist und… Oh, der ist ja gar nicht allein. Da ist noch einer, der ebenfalls zu den Meistern des Guhls gehörte. Warte… Oh, das ist interessant…«

Mit dieser geheimnisvollen Bemerkung kehrte Tim in die menschliche Realität zurück. Das Feuer in seinen Augen erlosch, seine normalen Pupillen kehrten zurück. Der Teufel wirkte erstaunt, sogar bestürzt.

»Entschuldige«, stammelte Sonni, der die Mimik des Teufels falsch interpretierte und auf sich bezog. »Ich hätte dir von dem zweiten Opfer erzählen sollen.«

»Nein, Sonni«, korrigierte Luzifer und sah den unsicheren Polizisten freundlich und aufmunternd an, »Du musst mir gar nichts erzählen. Du bist Polizist und nicht mir, sondern deiner Aufgabe verpflichtet, dem Täter zu finden. Nicht mir. Allerdings freue ich mich, wenn du mir vertraust und von deinen Erkenntnissen erzählst.«

»Es gab tatsächlich ein weiteres Opfer, das vor einem Monat während des letzten Vollmonds starb. Gleiches Schema: Hals durchbissen, ausgeblutet und fehlende Genitalien. Er war ein Ermittler des BKA, hat wohl aber seine Kollegen ausspioniert. Ich habe erst heute Morgen davon erfahren.«

»Vielleicht war er ein unwissender Spion«, gab Tim zu bedenken und begann seine Bestürzung zu erläutern, »Die beiden wussten nicht, dass sie mit dem Ring ihre Seelen an mich verkauften. Wenn ich es richtig verstand, hielten sie sie für Talismane als Schutz vor dem Guhl. Den Deal hat jemand anderes für sie abgeschlossen und auch die Gegenleistung eingestrichen. In dieser Hinsicht wurden die zwei aufs Kreuz gelegt und sind unschuldig. Was aber nichts daran ändert, dass sie sich mit anderen begangenen aber auch unterlassenen Taten und Entscheidungen selbst verdammten und mit Fug und Recht einen Platz in meiner Hölle verdient haben. Aber dieser Ring… Moment, hat der etwas mit deinem Kollegen zu tun, der Opfer des Lalyo wurde?«

Diese Frage konnte KK Lundkvist nur bestätigen und entschied, dem Teufel den Rest der Geschichte zu erzählen. Dies betraf insbesondere das Schicksal Juwelier Trollmanns, den Kevin als Schöpfer der fünf Ringe identifiziert hatte.

»Da hat jemand verhindert, dass du dem Auftraggeber der Ringe auf die Schliche kommst.«, sprach Tim aus was Sonni dachte, »Das Herz des Juweliers ist explodiert und hat seinen Brustkorb gesprengt?«

Sonni nickte.

»Bei meinem Dreizack.«

»Du weißt, was es war?«

»Vielleicht. Umgangssprachlich hast du es mit etwas teuflischem zu tun, was ich natürlich ziemlich diskriminierend finde, zumal ich in keiner Weise darin verwickelt bin. Dieser Hexenmeister, der auch den Lalyo beschworen hat, ist ein Monster und wahrer Sadist. Er liebt es… Nein, ich muss mich korrigieren. Er genießt es, seine Opfer leiden zu sehen. Er tötet sie nicht einfach nur, er lässt sie wissen, dass sie sterben. So wie dein Kollege wusste, dass er seine Waffe gegen sich richtete und nichts dagegen tun konnte, wusste auch der Juwelier, was ihm widerfuhr. Und glaube mir, das Herz explodierte nicht plötzlich und aus heiterem Himmel. Der Juwelier musste leiden.« Die Stimme des Teufels war mit jedem weiteren Wort mehr zu einem tiefen, drohenden Grollen geworden, das von einem ebenso tiefen Zorn zeugte. Sonni schätze sich ausgesprochen glücklich, nicht Ziel dieser Wut zu sein. Was sich in diesem Moment im Bewusstsein des Teufels zusammenbraute, klang nach weit mehr, als einem einfachen Wutausbruch. Als der Herr der Hölle fortfuhr, klang seine Stimme dermaßen eisig, dass es Sonni kalt den Rücken runterlief. »Wir werden diesen Hexenmeister finden und stoppen. Trägst du deine Talismane?«

»Ähm, ja«, stammelte der Angesprochene, dem die Episode mit der Katze wieder einfiel.

»Was?«, hakte Tim sofort nach, dem das verlegene Zögern natürlich nicht entgangen war.

»Da ist vorhin etwas seltsames passiert.«, gestand KK Lundkvist und begann von seiner Fahrt zu Tom Berger und der Begegnung mit dem merkwürdigem Stubentiger zu berichten. Tim hörte ganz genau zu. Als das Thema auf den Blick des Tiers kam, der sich in Sonnis Verstand bohren wollte, feucht und warm nach seinem Hirn tastete, bis plötzlich der Talisman seinen Schutz- und Verteidigungszauber zündete und das vermaledeite Vieh vertrieb. Zum Abschluss seines Berichts reichte der Kriminalpolizist sein Amulett dem Schöpfer des Objekts, der es genau untersuchte.

»Hm«, grummelte Luzifer, was zwar wieder nach einem entfernten Gewitter klang, aber mehr in Richtung Besorgnis statt Wut schlug. »Ein Wächter hat versucht, in deinen Verstand einzudringen. Der wollte erfahren, was dich zu Berger trieb. Interessant. Wirklich interessant… Ich hätte nicht gedacht, dass Tom überwacht wird. Da hab ich wohl jemanden unterschätzt.«

»Was ist ein Wächter?«

»Ein Wächter?«, fragte Tim Teufel geistesabwesend und ließ den Talisman wie ein Zauberkünstler über seiner Finger wandern, »Wächter sind Pseudodämonen, die meistens in Tieren manifestiert werden. Es sind ziemlich dumme Viecher, die keinen eigenen Verstand haben, aber bei ihrer Aufgabe verdammt effektiv sind. Deine Katze hatte die Aufgabe, jeden Besucher Toms zu überprüfen. Ohne deine Präposition für Übernatürliches wäre dir gar nicht aufgefallen, dass jemand versuchte, dein Gehirn zu durchstöbern. Immerhin hat dich dein Talisman beschützt. Hier, nimm es wieder an dich. Ich habe es noch etwas stärker aufgeladen. Wenn es sich jetzt entlädt, wäre es besser, wenn du deine Augen schließt.«

»Ähm, oh…kay. Ist diese Dämonenkatze jetzt tot?«

»Eher nicht. Wahrscheinlich ist nur das Wächterbewusstsein zerschlagen worden. Katzen sind zäh. Dieser Wächter hingegen existiert nur durch die Kraft dessen, der ihn beschwor. Allerdings dürfte der einen höllisch unangenehmen Nachmittag erlebt haben. Wenn ein Wächter von einem Menschen beschworen wurde, wird es ihn ordentlich aus den Socken hauen, sollte sich ein Talisman gegen ihn entladen. So ein Schutzzauber zeckt richtig gemein.« Was Tim, seinem extrabreiten, zufriedenen Grinsen nach, ausgesprochen gut gefiel.

»Wie gemein zeckt richtig gemein?«, wollte Sonni wissen, dem eine Idee kam, »Sagen wir, ich wäre ein Anwalt und müsste heute Nachmittag eine Rede halten?«

»Keine Chance.«, erklärte Tim, »Selbst einen hochrangigen Hexenmeister hätte der Schlag aus den Socken gehauen und für mindestens eine Stunde außer Gefecht gesetzt. Stell dir vor, du müsstest mit gefesselten Händen fünfzehn Runden mit einem Preisboxer überstehen. Dann weißt du, wie er sich ungefähr fühlt. Er weiß jetzt, gegen wenn er antritt. Schade, denn er wird nach diesem Fehler jetzt vorsichtiger sein.«

»Aber diesen Fehler hat er gemacht.«, freute sich der Kriminalpolizist und angelte nach seinem iPhone in seiner Hosentasche, »Kev? Ah, ihr seid mit Breitkopfs Wohnung fertig. Sehr gut. Könntest du mir noch einen Gefallen tun und in Erfahrung bringen, ob Lugner heute Nachmittag seine Rede gehalten hat? Oh, danke, du bist ein Schatz!«

»Du hast einen Verdacht?«, wollte Tim wissen.

»Bisher ist es nur ein Schuss ins Blaue. Ich vermute, dass ein gewisser Dr. Lugner einer der Meister des Guhls sein könnte. Zumindest trägt er den gleichen Ring wie Breitkopf. Ach ja, diese Information sollte unter uns bleiben. Du bist ein Außenstehender, allerdings… Ich weiß nicht… Ich vertraue dir. Warum auch immer…«

»Wahrscheinlich, weil ich so schöne, vertrauensvolle Augen habe.«, scherzte der Teufel, betrachtete aber gleichzeitig Sonni mit einem forschend-schmunzelnden Blick, »Deine Augen sind aber auch recht hübsch, richtig feurig

»Ähm, also…«, stammelte der ertappte Kriminalist.

»Du und Felix, ihr seid euch also näher gekommen?« Obwohl wie eine Frage formuliert, klang es bei Tim wie eine Feststellung und weckte bei Sonni ein schlechtes Gewissen, was wiederum den Teufel fröhlich auflachen ließ. »Hey, Sonni, das muss dir nicht unangenehm sein. Felix ist ein schnuckeliger Feuerdämon. Ich bin nur überrascht, dass er dich mit seinem Höllenfeuer durchknuspern durfte. So, wie es in deinen Augen lodert, muss er dir mächtig eingeheizt haben. Das war kein kleiner Spaziergang durchs Fegefeuer. Der hat den richtigen Höllenstoff aufgefahren, oder?«

»Ähm…«, stotterte der angesprochene weiter, riss sich dann aber zusammen, blickte Tim direkt in die Augen und meinte, »Ich wollte es wissen. Ich wollte wissen, wie es ist. Es war grausam und brutale, erbarmungslose Agonie, Schmerz pur. Aber auch absolut geil. Ich hatte noch nie so geilen Sex, wie mit Felix als er uns beide in seine Flammen hüllte und mich nahm.«

»Das sieht man. Du hast wirklich eine Affinität für meine Domäne. Interessant…«

»Wir, also Felix und ich, sind jetzt nicht zusammen oder so.«, beeilte sich Sonni zu erklären und fragte sich im gleichen Moment, warum ihm dies so wichtig war zu erklären. »Wir sind nur gute Freunde, die einfach Lust aufeinander hatten.«

»Sonni, Sonni, du musst dich bei mir nicht rechtfertigen.« Tim lachte noch etwas amüsierter als zuvor auf. »Ihr zwei seid erwachsene Männer und müsst selbst wissen, was für euch gut ist. Immerhin freut es mich, dass Felix einen Freund gefunden hat. Der Junge hat es verdient. Es ist nicht gut, nur mit Dämonen abzuhängen.«

Beam me up, Scotty!

Der Rest des Besuchs beim Teufel verlief weniger nervenaufreibend, dafür aber mit einem unüberhörbaren erotischen Unterton. Tim ließ es sich nicht nehmen, bei Sonni genau Maß zu nehmen. Das Sklavenoutfit, das er am Samstag für den Besuch in der Hölle tragen sollte, müsste schließlich perfekt passen. Er, Tim, hätte immerhin einen Ruf als einer der besten Lederschneider der Region zu verlieren. Wofür er dazu die Kopfmaße des Polizisten benötigte, wollte dieser gar nicht so genau wissen. Als viel schlimmer, weil ausgesprochen erregend, stellte sich die Tätigkeit der Datenaufnahme als solche raus. Tim kam Sonni dabei nicht nur sehr nahe, er ließ seine kräftigen Hände auch extrem sinnlich über die Haut des Polizisten gleiten. Der Teufel war wirklich dreist. Er wusste ganz genau, welche Wirkung er entfaltete, ließ sein Opfer aber zappeln und tat nichts, was sich als direkte Anmache oder gar eindeutige sexuelle Handlung bezeichnen konnte. Stattdessen ertränkte er Sonni in Smalltalk, dessen Themen von Musikgeschmack bis hin zu Restaurantkritiken reichten, bei der die beiden Männer sogar überrascht feststellten, dass sie die gleichen obskuren Speisetempel schätzten.

Die Uhr zeigte dann auch viertel nach sechs als Kriminalkommissar Sonni Lundkvist in sein Büro im LKA zurückkehrte. Eigentlich wollte er nur schnell das E-Mail-Konto auf neue Nachrichten überprüfen und nachschauen, ob bereits Berichte von der KTU oder Gerichtsmedizin zu den Morden eingetroffen waren. Umso überraschter zeigte er sich, als ihm durch die geschlossene Bürotür die Stimmen engagiert diskutierender Personen entgegen schlugen. Dem Klang nach, schien es sich um Kevin, die Frau vom BKA, POR Dorothea Kornmüller, und einer dritten Person handeln, die sich sehr nach Dr. Achim Prechtel, ihrem Chef, anhörte. Dies konnte aber eigentlich nicht angehen, da der sich eigentlich nie in die Niederungen des gemeinen Fußvolks begab. Stattdessen wurden die einfachen Indianer zum Häuptling zitiert, wenn dieser über den Stand von Ermittlungen informiert werden wollte.

»Chef?«, entfuhr es KK Lundkvist wenig förmlich, um indirekt seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen.

»Ah, Lundkvist, der Mann, den ich eigentlich sprechen wollte.«, rief dieser ungewöhnlich jovial und ließ den Lapsus unkommentiert, nicht mit Doktor Prechtel angesprochen worden zu sein. »Mensch, Lundkvist, warum informieren Sie mich denn nicht, dass wir eine Kollegin vom BKA bei uns haben? So was müssen Sie mir doch sagen!«

»Ähm«, stammelte der Angesprochene etwas ratlos. Sollte er erwähnen, eine Nachricht verschickt zu haben und damit Sabine, Prechtels Sekretärin, in die Pfanne zu hauen? Da sich der Chef weigerte, E-Mails am Rechner zu lesen, wurde jede einzelne ausgedruckt, der Absender und das Betrefffeld – Prechtel hasste den englischen Begriff Subject – mit Textmarker angestrichen und in die Postmappe des Chefs gelegt. Genau so wird sie, da war sich Sonni absolut sicher, auch mit seiner Mail verfahren haben. Allerdings wird ihr die Brisanz des BKA-Besuchs entgangen sein und deswegen nicht direkt auf die Nachricht hingewiesen haben. Oder sollte Sonni lieber den Gentleman spielen und die Schuld auf sich nehmen, weil sein Chef ein unverbesserlicher Technikverweigerer war?

»Ich muss mich tausendmal bei Ihnen entschuldigen. Selbstverständlich wollte ich Sie informieren, doch dann kam eine dieser unvorhergesehenen Entwicklungen dazwischen, die Sie ja aus Ihrer eigenen Ermittlungspraxis kennen.«

Oh, Tim, dachte Sonni bei sich, für diese Schleimspur und Arschkriecherei komme ich bestimmt in deine Hölle. Dr. Prechtel mit Ermittlungspraxis zu kommen war ungefähr so realistisch, wie einen Klinikchef zu bitten, bei einem Patienten den Puls zu messen. Beide mochten in einem früheren Leben Männer der Praxis gewesen sein, doch inzwischen zu reinen Bürohengsten mutiert. Aber wie der Chefarzt der Zeit direkt am Patienten nachsehnte und sich immer noch für einen Mann der Praxis hielt, der an der Front jederzeit seinen Mann stehen konnte, sah sich auch Dr. Prechtel weniger als Schreibtischtäter sondern knallharten Ermittler und fühlte sich natürlich vom Sonni geschmeichelt. Doch im Gegensatz zum Klinikchef wusste er natürlich sehr genau, dass seine wahre Tätigkeit darin bestand, die Arbeit seiner Leute zu koordinieren, sie gelegentlich anzublaffen und ihnen im Zweifelsfall den Rücken freizuhalten. Doch spätestens, nachdem er später seine Postmappe durchgegangen war und die E-Mail KK Lundkvists gelesen hatte, würde ihm klar werden, dass die kleine Schleimscheißerei seines Kriminalkommissars Ausdruck einer sehr kollegialen Loyalität darstellte. Prechtel mochte konservativ und altmodisch sein, dumm war er nicht.

»Organisation, Lundkvist, Organisation«, dozierte Prechtel, »Lassen Sie sich nicht das Heft des Handelns durch die Umstände aus der Hand nehmen. Sie sind der Herr im Ring. Sie bestimmen die Spielregeln. Strukturieren Sie Ihre Arbeit und Sie behalten die Kontrolle.«

»Ähm…«, meldete sich Kevin Bredow zu Wort, dessen leicht geröteten Wangen darauf hindeuteten, dass ihm die Unterhaltung zwischen Sonni und Dr. Prechtel unheimlich bis unangenehm war. »Wenn wir vielleicht nochmals auf unser Thema zurückkehren könnten. Wir brauchen die Leute vom Dezernat für Wirtschaftskriminalität. Frau Kornmüller und ich haben zwar eine Idee, womit wir es bei Breitkopf zu tun haben, sind aber keine Fachleute.«

»Nochmals, was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, wollte Dr. Prechtel wissen und brachte damit Kevin an den Rand der Verzweiflung. Warum konnte dieser Schreibtischtäter nicht einfach tun, worum man ihn bat?

»Weil der Mord möglicherweise nur ein Ablenkungsmanöver war, um uns auf eine falsche Spur zu lenken.«, erwiderte der Kriminalpolizeiazubi und riss sich zusammen, nicht Du Torfkopf hinzuzufügen. Doch Prechtel war nicht überzeugt.

»Herr Bredow, ich schätze Ihren Enthusiasmus. Das meine ich ganz ehrlich und ist nicht als Floskel gemeint oder um sie abzukanzeln. Aber Ihre Argumentation hat einen Fehler. Wie kann der Mord eine Ablenkung sein, wenn wir erst durch die Tat auf die Unregelmäßigkeiten in den Büchern des Opfers aufmerksam wurden?«

»Ähm…«, fiel Kevin in sich zusammen.

»Nein, antworten Sie nicht. Besprechen Sie das mit Ihrem Kollegen. Ich werde das Wirtschaftsdezernat bitten, uns ihre besten Leute zu schicken. Ich glaube nämlich, dass Sie tatsächlich auf der richtigen Spur sind. Sie müssen nur die Argumentationskette umdrehen. Was wäre, wenn der Mord dazu diente, uns auf die Unregelmäßigkeiten aufmerksam zu machen.«, erklärte Dr. Prechtel einem völlig überrumpelten Kevin. »Frau Kornmüller, meine Herren, ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.« Grüßte und schob sich verschwörerisch blinzend an Sonni vorbei, der immer noch neben der Tür stand und deren Klinke in der Hand hielt.

»Kann mir einer sagen, was das eben war?«, wollte der wissen, wobei er ein Lachen kaum unterdrücken konnte.

»Ähm…«, wiederholte Kevin seine vorherige Äußerung.

»Was Kevin meint ist«, kam Dorothea Kornmüller zu Hilfe, »dass wir auf Ungereimtheiten gestoßen sind. Breitkopf war Vorstand der Interessenvertretung für Finanzdienstleistungen mittelständischer Unternehmen im Gesundheitswesen. Für unseren Geschmack ein ziemlich schwammiger Titel für den Laden, der alles und jedes bedeuten kann. Also hakten wir nach und ließen uns die Aufgaben des Verbands von der amtierenden Vorsitzenden, Breitkopfs ehemaliger Stellvertreterin erklären. Danach arbeitet die Verbandsgruppe zweigleisig. Einerseits versucht sie Unternehmen, die für Forschungsvorhaben zum Teil erhebliche finanzielle Mittel benötigen, mit geeigneten Investoren, die über entsprechende Mittel verfügen, zusammenzubringen. Der andere Tätigkeitsbereich ist klassische politische Lobbyarbeit und versucht zum Beispiel steuerliche Erleichterungen für forschende Unternehmen oder verschärfte Schutzrechte in die Diskussion der Parlamentarier zu bringen. Soweit scheint alles im normalen Bereich. Wir haben uns dann ein wenig mit konkreten Projekten beschäftigt. Mit dieser Aktion dürften wir uns die Verbandschefin sicherlich nicht zur Freundin gemacht haben. Anfangs wollte sie uns nicht an die Akten ran lassen und meinte, die wären hochgradig vertraulich, um dann gleich einen Anwalt zu präsentieren. Überraschung – rate mal, durch welche Kanzlei der Verband vertreten wird.«

»Dr. Lugner?«

»Die Frage war wohl zu leicht.«, Dorothea nickte, »Aber ja, der Verband wird durch die Sozietät Dr. Lugners vertreten. Ginge es nicht um ein Kapitaldelikt, hätten wir ganz schlechte Karten. Aber Respekt vor Scotty, eurem IT-Forensiker. Der Mann ist richtig gut. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es bei der Sicherung von Spuren auf einer Festplatte wichtig ist, den Rechner nicht runterzufahren, sondern einfach auszuknipsen. Was weiß ich von Scripten, die beim Shutdown vielleicht wichtige Daten löschen könnten? Ich hätte brav auf die Windows Kugel geklickt und Herunterfahren ausgewählt.«

»Scotty ist ein richtig guter Mann.«, bestätigte Sonni nachdenklich. Verdammt, fluchte er innerlich, warum hab ich schon wieder das Gefühl, etwas vergessen zu haben?

»Auf jeden Fall hat er die Festplatten prozesssicher kopiert. Der Anwalt aus Lugners Kanzlei saß lauernd die ganze Zeit neben eurem Kollegen und war überhaupt nicht glücklich, dass sich Scotty nicht den geringsten Fehler leistete, mit dem in einem möglichen Prozess die Beweiskette angezweifelt werden könnte. Du hättest das Gesicht des Anwalts sehen sollen, als ihm unser Tackerknecht eine CD mit den Prüfsummen aller sichergestellten Dateien aushändigte.«

»Ihr habt also Unregelmäßigkeiten gefunden. Und?«

»Geld, viel Geld«, erklärte Dorothea Kornmüller, »Wenn der Laden eigentlich nur Networking betreibt, wieso wandern dann mehrere hundert Millionen Euro, Dollar, Franken und Yen durch die Konten?«

»Mehrere hundert Millionen?«

»Oder mehr«, steuerte Kevin bei, »Wir haben nur an der Spitze des Eisbergs gekratzt. Da gehen hochgradig dubiose Dinge ab. Die meisten Transaktionen scheinen entweder off-shore, etwa auf den Caymans, oder aber über anonyme Firmen im US-Bundesstaat Delaware zu laufen. Ich will nicht unken, aber da sind noch ganz andere Summen im Spiel. Ich befürchte, der Fall könnte sich als etliche Nummern zu groß für uns entpuppen.«

»Ganz ruhig«, beschwichtigte Sonni, »Für uns ist es vorerst immer noch ein Mordfall. Und mit Mordfällen kennen wir uns aus. Sollte da mehr drin stecken, habe ich nicht das geringste Problem, den Wirtschaftskram an die Kollegen von der WK und OK abzugeben. Meinetwegen darf sich das BKA auch noch seinen Teil schnappen. Wir krallen uns den Mörder.«

»Okay und was heißt das konkret?«

»Dass sich die Wirtschaftsjungs, die uns Prechtel organisiert, gerne in die Unterlagen stürzen dürfen. Ich bin gespannt, was dabei rauskommt. Sollte der Chef tatsächlich recht haben und der Mord diente tatsächlich dem Zweck, auf die Unregelmäßigkeiten hinzuweisen, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum ausgerechnet so? Ein Mord, insbesondere ein bestialischer wie dieser, fällt schon ein wenig aus dem Rahmen, wenn es nur darum ging, auf ein wenig Schwarzgeld hinzuweisen.«

»Vielleicht sah der Täter keine andere Möglichkeit«, sprach Dorothea ihre Gedanken laut aus, was sie selbst überraschte und, kaum dass sie es bemerkte, wild mit den Händen gestikulierend abwiegelte, »Ähm, Leute, das war eine dumme Idee. Ihr seid die Experten für Gewaltverbrechen. Ich…«

»Nein, nein«, stoppte Sonni die Selbstkasteiung der BKA-Beamtin, »Ich finde deine Hypothese alles andere dumm. Ich werde darüber nachdenken und Ti… einen Experten befragen, was er davon hält.«

»Das mag ja alles ganz nett sein, aber ich habe jetzt Hunger«, verkündeten Kevin und sein Bauch laut und deutlich, »Was haltet ihr davon, wenn wir zusammen irgendwo hingehen und etwas essen?«

»Also ich komme gerne mit.«, stimmte Dorothea sofort zu, »Wenn ich nur daran denke, in meine Hotel zu fahren, wird mir sofort trübsinnig. Aber schließlich sollen wir Steuergelder sparen. Da müssen drei Sterne vollkommen ausreichen.«

»Wenn ihr zwei mir noch ein paar Minuten gönnt, kann ich schnell noch meine Mails durchgehen. Danach bin ich für jede kulinarische Schandtat bereit.«


Die E-Mails brachten wenige neue Erkenntnisse, was aber primär daran lag, dass KTU-Hotte und Gerichtsmediziner Dr. Marx in einen anderen dringenden Fall verwickelt waren. Beide sicherten Sonni aber in ihren jeweiligen Nachrichten zu, sofort an den Fall Breitkopf/Ott zurückzukehren. Während sich KK Lundkvist noch wunderte, was so dringend sein konnte, einen Polizistenmord zu verdrängen, wo doch der alte, unsägliche, preußische Chorgeist in der Berliner Polizei noch prächtig lebte und gedeihte und ein Mord an einem Polizisten als Mord an allen Polizisten galt, fiel sein Blick auf eine E-Mail, deren Absender auf »Dein Chemiestudent« lautete. Die Inhalt ließ es Sonni prompt ein weniger wärmer werden, schlug eben jener Student vor, ob er nicht Lust hätte, Donnerstagmorgen mit ihm gemeinsam zu frühstücken, was natürlich voraussetzte, dass Sonni bei ihm übernachtete. Wenn Felix schon von sich als seinem Chemiestudent sprach, wollte der Kriminalpolizist natürlich nicht nachstehen und verfasste eine hochgradig bürokratische Antwort im allerstaubigsten Amtsdeutsch, in der er eine positive Bescheidung des Antrags auf eine gemeinschaftliche Einnahme kalorisch verwertbarer Nährstoffe in Aussicht stellte.

»Sonni, du strahlst so«, bemerkte Kevin das leicht abwesende Glühen seines Kollegen, »Man könnte auf die Idee kommen, dass eine deiner Mails privater und sehr erfreulicher Natur war.«

»So, könnte man das?«, konterte der zufriedene Polizist verträumt, um gleichzeitig von einem unangenehmen Gedanken etwas runtergezogen zu werden. Wie sollte er Kevin Tim und Felix erklären? Insbesondere Tim stellte ein Problem dar. Wobei weniger sein teuflisches Wesen Kopfzerbrechen verursachte, sondern die Frage, warum Sonni einen an sich wildfremden Lederschneider in Ermittlungen der Polizei einband. Dass er es erklären musste, stand außer Frage. Kevin war ein viel zu guter Polizist, um diesen Kontakt nicht früher oder später zu bemerken. Außerdem war er Sonnis Partner und ihm damit gegenüber moralisch verpflichtet alles zu erklären. Alles? Auch dass Tim ein Teufel, Felix ein Feuerdämon und der sanfte Gabe ein Engel war?

»Oh, da ist aber jemand geheimnisvoll.«, stichelte Dorothea, erntete aber noch ein ebenso breites wie stummes Grinsen.

»Da du von uns beiden der Feinschmecker bist, entscheidest du, wo es hin gehen soll!«, gab Kevin an Sonni gewandt das Kommando.

»Gut, aber ihr müsst sagen, worauf ihr Appetit habt.«, konterte der Befehlsempfänger, ahnte dabei aber, dass weder sein Kollege noch ihr Gast mit einer konkreten Idee aufwarten würden. So war es immer. Fragte jemand in einer noch so kleinen Runde, welche im mathematischen Sinne sogar zweielementig sein konnte, antwortete diese üblicherweise mit einer leeren Menge an Vorschlägen und gleichzeitiger Absonderung vieler Öhms, Ähs und Tjas.

»Tja… also… äh…«, kam es von Dorothea.

»Öhm…«, von Kevin.

»Ich seh schon, worauf das hinaus läuft. Also gut. Ihr hattet eure Chance. Jetzt seid ihr in meiner Hand.«

»Aber bitte kein vornehmer Laden«, entsann sich die Frau des BKAs ihres Geschlechts, kramte in ihrer Handtasche, wurde fündig und zauberte einen Lippenstift hervor. Zum ersten Mal in der Geschichte des Büros wurde der Spiegel über dem kleinen Waschbecken in der gekachelten Zimmerecke seiner Bestimmung gemäß genutzt. Mit gekonntem Blick wurde das allgemeine Aussehen überprüft, ein wenig mit Wasser und Handtuch korrigiert und den Lippen eine frische Dosis Rot gegönnt. »Andernfalls müsste ich vorher noch ins Hotel und mir etwas anderes anziehen.«

Statt direkt zu antworten schaute KK Lundkvist demonstrativ an sich herunter und blieb mit seinem Blick an seiner Motorradhose hängen: »Keine Angst, ich habe da etwas ganz ziviles im Auge.« In diesem Moment fiel ihm die an sich belanglose Unterhaltung mit Tim wieder ein, bei der sie auch über ihre bevorzugten Restaurants sprachen. Eine Idee formte sich in Sonnis Schädel: »Mögen Sie thailändisches Essen? Ich meine nicht das europäisierte Zeug.«

»Sie kennen ein richtiges thailändisches Restaurant?« Dorothea Kornmüllers Augen begannen hoffnungsvoll zu strahlen, »Ich war ein dreiviertel Jahr im Rahmen einer internationalen Kooperation in Thailand. Ich liebe das Essen.«

»Sehr gut. Dann bin ich umso mehr auf Ihr Urteil gespannt.«


In einem Restaurant ein vorzügliches und authentisches Essen serviert zu bekommen, hatte nicht notwendigerweise etwas mit Lage, Ambiente oder dem Personal des Etablissements zu tun. Bei dem von Sonni mit Bedacht und Wissen um die Qualität der Küche gewählten Lokal hätten alle drei der vorgenannten Attribute ausgereicht, um es für Mitglieder der sogenannten besseren Gesellschaft und zumindest für diejenigen, die sich dafür hielten, absolut zu disqualifizieren.

Es begann mit dem kleinen Regenbogenflaggenaufkleber an der Tür, der das Lokal als schwulenfreundlich auswies. Andererseits schmückten sich in Berlin viele Restaurants, Kneipen, Cafés und Bars aller Prominenz mit dem bunten Sticker, so dass nicht allein durch seine Existenz irgendwelche Rückschlüsse auf Art und Publikum der Lokalität geschlossen werden durften.

Schon deutlich interessanter zeigte sich die Lage und das Ambiente des Umfelds des Restaurants. Ein Großteil des Rufs Berlins als gruftige, schäbige, postapokalyptische Hauptstadt hatte sich in den Jahrzehnten nach der Wende längst abgeschliffen. Das ehemals junge, punkige, alternative und überzeugt antikapitalistische Völkchen hatte sich längst einen Zuffenhausener Sportwagen zugelegt, verdiente sich seine Brötchen mit irgendwas mit Medien, wählte als Beruhigung des Gewissens Grün und klagte dagegen die junge, punkige, alternative, antikapitalistische Kneipe, die es wagte, auf der Straßenseite gegenüber der eigenen schönen Eigentumswohnung seine Zelte aufschlagen zu müssen. Doch wenn jemand richtig suchte, konnte er noch fündig werden und das nach wie vor existierende schräge Berlin jenseits der vermeintlichen Geheimtipps der Reiseführer entdecken.

Dieses spezielle Exemplar residierte nicht im legendären Pankow, nicht am oder um den Kollwitzplatz, auch nicht in der Oranienburger Straße oder im neuen In-Kiez in Friedrichshain, sondern im sogenannten Problembezirk Nordneukölln. Natürlich lag der Laden in einem Hinterhof. Kein normaler Mensch oder die, die sich dafür hielten, hätte sich hierher verirrt, zumal das Völkchen, das die Gegend bevölkerte, der bürgerlichen Gesellschaft zutiefst suspekt erscheinen dürfte. Nein, Mann hatte nichts gegen Ausländer, aber….

Immerhin zeigte Dorothea keine Berührungsängste und schaute eher interessiert als irritiert, als Sonni sie und Kevin durch diverse Hinterhöfe führte, bis sie vor der Tür mit der bewussten Flagge standen.

»Hereinspaziert!«, forderte Sonni seine neugierige Begleitung auf.

Zu sagen, die Einrichtung wäre rustikal, hätte die Realität sehr unzureichend beschrieben, war aber auch nicht wirklich falsch. Der Laden war sauber, was sich von vielen alteingesessenen Kneipen und Cafés nicht sagen ließ. Er war nicht hell, aber auch nicht dunkel oder gar schummrig. Es war mehr das vollkommene Fehlen der üblichen Dekorationsorgien asiatischer Restaurants. Die Tische, Stühle, Raumteiler und Tresen waren schlicht, aber nicht schäbig oder billig. Schwarze, quadratische Flächen zierten weiße Tischdecken. Allerdings fiel der fehlende Schmuck kaum auf. Der Laden brummte und erlaubte vor lauter Menschen kaum einen Blick auf die Einrichtung. Einzig das lebensgroßes Foto eines jungen Mannes von etwa siebzehn Jahren, das an prominenter Stelle an der Wand hing und von zwei Spots in Szene gesetzt wurde, stach hervor.

»Wow!«, entfuhr es Dorothea.

Das Publikum war mehr oder weniger normal bis gemischt und rekrutierte sich zu etwa zwei Dritteln aus Asiaten. Das Verhältnis von Männern zu Frauen lag bei ungefähr zwei zu eins. Einen Altersdurchschnitt anzugeben, hätte hingegen das Bild verfälscht, da zwei sehr unterschiedliche Alterskohorten dominierten: Mitte Zwanzig und jenseits der Fünfzig. Bei den älteren Gästen handelte es sich überwiegend um Paare unterschiedlichen Geschlechts, während sich die Jüngeren eher aus kleinen Grüppchen Männern zusammensetzten.

Den eigentlichen Kracher bildete das Personal. Es setzte sich ausschließlich aus muskulösen, extrem knackigen und noch extremer tätowierten, schlanken, drahtigen thailändischen Jungs von etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren zusammen. Alle trugen das gleiche Outfit: Jeans und weiße, ärmellose Shirts Type Wifebeater, was die bunte Körperbemalung erst richtig zur Geltung brachte. Ein ahnungsloser Betrachter hätte auf die Idee kommen können, in einen Laden voller Kickboxer geraten zu sein.

»Lecker«, entfuhr es der Dame vom BKA. »Aber schwul, oder?«

»Yepp!«, bestätigte Sonni, der im gleichen Moment von einem der Kellner entdeckt wurde.

»Sonni!«, rief der Typ freudig und erregte damit die Aufmerksamkeit seiner Kollegen, die sich, soweit sie nicht anders beschäftigt waren, ebenfalls dem Kriminalpolizisten zuwandten und ihm fröhlich zuwinkten. »Da bist du ja! Komm, ich habe euch einen schönen Tisch reserviert!«

Doch bevor er die drei Polizisten zu ihrem Platz führte, wurde Sonni in den Arm genommen und kräftig gedrückt.

»Damrong, du alter Halunke.«, erwiderte Sonni, nahm Damrongs Kopf in seine Hände und gab ihm, zur größten Überraschung Kevins und Dorotheas, einen tiefen, leidenschaftlichen, jugendschutzrelevanten Kuss, der von dem gar nicht so alten Halunken genauso leidenschaftlich erwidert wurde.

»Oh Sonni«, holte Damrong leicht errötet Luft und führte sie zu einer Nische, in der es ein wenig ruhiger zuging, »Hier. Unser bester Tisch. Ein klein wenig abgeschieden und etwas ruhiger. Wollt ihr die Karte oder vertraust du mir?«

»Dam!«, erwiderte Sonni im mahnenden Tonfall, was der junge Mann mit einem breiten Grinsen quittierte, das zwei Reihen schneeweißer Zähne entblößte. Nach einem kurzen Nicken war er weg.

»Ich nehme an, wir werden nichts auswählen müssen, oder? Interessant.«, meinte Dorothea und bedachte KK Lundkvist mit einem unverhohlen neugierigen Blick.

»Damrong und die anderen Jungs sind gute Freunde. Sogar sehr gute Freunde.«, begann Sonni, der wusste, dass er ohne eine Erklärung nicht wieder aus der Nummer heraus kam. »Der Laden heißt Arun Thai Boys Inc. und ist in gewisser Weise ein Selbsthilfeprojekt. Die Geschichte, die uns miteinander verbindet, ist schon ein paar Jahre her. Ihr müsst wissen, dass die Jungs nicht viel jünger sind als ich. Ich war gerade siebzehn. Mein Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen und mir ein sechswöchiges Praktikum bei der Berliner Kripo verschafft, was eigentlich nicht ganz legal war. Jedenfalls fiel ausgerechnet in meine Praktikumszeit ein spektakulärer Fall von Menschenhandel. Damrong ist drei Jahre jünger als ich, war zu der Zeit gerade vierzehn. Eine Gruppe professioneller Menschenhändler und moderner Sklavenhalter hielten ihn und die anderen Jungs in einer DDR-Ruine in Lichtenberg gefangen. Ihr könnt euch denken, wozu sie gezwungen wurden. Durch Zufall stieß ein Ermittler auf die Machenschaften des Zuhälterrings und erreichte, dass eine Sonderkommission gegründet wurde, die unter anderem das Netzwerk der Menschenhändler infiltrierte. Die ganze Aktion war überaus erfolgreich. So konnten nicht nur die Hintermänner sondern auch die Kunden ermittelt werden. Am Ende drohte die Sache dann aber doch noch vorzeitig aufzufliegen, so dass sich die Polizeiführung entschied, einzugreifen und die Verstecke – es gab fünf, vier mit Mädchen und eins mit Jungs – auszuheben. Ich hätte von all dem eigentlich gar nichts mitbekommen sollen, aber wie das so mit siebzehnjährigen Jungs ist, kannte meine Neugier eben keinerlei Grenzen. Irgendjemand kam dann auf die Idee, dass ich versuchen sollte, mit den Jungs zu sprechen. Wir wären immerhin in einem ähnlichen Alter und da sie sonst mit niemandem reden wollten, könnte es ja vielleicht sein, dass sie mit mir sprachen, zumal ich ja nicht richtig zur Polizei gehörte. Shit, jetzt, da ich daran denke, fällt mir ein, dass es Prechtel war, der mich mit den Jungs zusammen brachte.«

»Und sie sprachen mit dir?«, wollte Kevin wissen, der von dem Fall zwar gehört hatte, die Geschichte aber nicht aus erster Hand kannte.

»Jein.«, gestand Sonni grinsend, »Die Kommunikation begann eher auf körperlicher Ebene. Die Jungs mussten zwar ihre Münder und Ärsche für die Kundschaft ihrer Zuhälter hinhalten, was verdammt traumatisch war und von einigen nur schwer verkraftet wurde. Doch was ihnen von außen an Gewalt angetan wurde, schweißte sie untereinander immer enger zusammen. Als sie aus Thailand hierher verschleppt wurden, waren sie untereinander Fremde. Inzwischen sind sie eine Familie. Deswegen die Tätowierungen – uniform und individuell zugleich. Sie helfen sich und haben diesen Laden aufgebaut. Wenn sie nicht im Lokal stehen, stemmen sie Eisen. Die Jungs sind verdammt drahtig und muskulös, was sie auch gerne zeigen. Diese äußere Härte ist ein Panzer, ein Schutz, dabei sind sie unheimlich zärtlich und richtig verschmust. Was hab ich damals getan? Nicht viel. Ich habe einen verängstigten, weinenden Jungen, der kaum unsere Sprache verstand, in den Arm genommen und einfach nur gehalten. Erst einen, dann einen zweiten und am Ende alle. Sie tauten auf und vertrauten mir soweit, dass ich sie überzeugen konnte, gegen ihre Peiniger auszusagen.«

»Hast du…?« Kevins Zunge war schneller, als ihm lieb war. Die Frage trieb ihm, kaum ausgesprochen, kräftige Schamesröte ins Gesicht.

»Kevin, was bist du neugierig.«, lachte Sonni amüsiert, »Ja, ich kam dem einen oder anderen näher. Natürlich nicht mit den jungen Jungs, wie Damrong. Ich war zwar erst siebzehn und wie alle Jungs in dem Alter dauergeil, aber nee… Dam sah ich mehr als kleinen Bruder, mit dem man knuddeln und vielleicht ein wenig kuscheln konnte. Aber mehr lief da nicht, obwohl er und die anderen Milchbärte immer mehr wollten und maulten, wenn ich Nein sagte. Aber mit den Kerlen in meinem Alter, wie Hui, Liang, Tai und Paitoon ging es schon richtig zur Sache. Mann waren wir naiv. Mir wird jetzt noch ganz heiß, wenn ich mir vorstelle, wenn das damals rausgekommen wäre. Oh, da wäre die Kacke aber so was am dampfen gewesen. Zumal ich lügen müsste, wenn ich behaupte, dass es immer safe war, was wir da trieben. Mein Gott, in dem Alter geht eben Geilheit vor Verstand. Zum Glück waren wir alle negativ. Das war eine der ersten Dinge, die die Gerichtsmedizin untersuchte. Andernfalls wäre der Klage wegen Menschenhandel, Freiheitsberaubung, Bildung einer kriminellen Vereinigung und sexueller Nötigung, auch noch vorsätzliche gefährliche Körperverletzung hinzugekommen. Da die Klienten aber auf 1A-Ware bestanden und entsprechend bezahlten, waren die Jungs medizinisch gesehen in Top-Kondition. Seelisch hingegen… Seelisch wurden die Jungs gequält und verkrüppelt, dass… Nein, ich mag nicht…«

»Das ist eine heftige Geschichte.«

»Und sie ist noch nicht ganz zu Ende.« Sonni seufzte, »Gut, erzählen wir sie ganz. Jetzt ist es eh egal. Wenn ihr euch den Laden und meine Freunde anseht, dann sieht es so aus, als wenn es am Ende dann doch ein Happy End gab und das ist sicherlich auch so, aber leider nicht für alle. Ihr habt das Bild gesehen.« Sonni deutete auf das körpergroße Foto des thailändischen Jungen, das als einziger Schmuck an einer Wand hing. »Das ist Arun, dem dieses Restaurant gewidmet ist. Er… er war ein wirklich sehr lieber Kerl. Allerdings… Nun, er wurde exklusiv einem Kunden mit sehr speziellen Interessen reserviert. Wenn ich euch sage, dass ich die Narben auf seinem Rücken niemals vergessen werde, könnt ihr euch vorstellen, worum es ging. Doch so, wie sich der Anblick seiner Verletzungen in meinen Verstand eingebrannt hat, hat sich das Erlebnis unvergleichlich stärker in seinen Seele geätzt. Ich… Ich hatte gehofft, er hätte die Kurve gekriegt. Wir waren eine Nacht zusammen, tauschten uns aus. Ich hörte zu, schwieg, hielt ihn, wenn er weinte. Wir liebten uns, gaben uns vollkommen einander hin. Ja, ich glaubte wirklich, dass Arun loslassen konnte. Doch ich hatte mich getäuscht. Am nächsten Abend fanden wir ihn. Er hatte sich erhängt. Sein Abschiedsbrief… Es steckt mir immer noch in den Knochen. Die Nacht, die wir miteinander hatten, wäre für ihn das Schönste gewesen, was er je erlebt hätte. Er hatte gehofft, dass es die dunklen Gedanken verdrängen könnte, doch leider würde es nicht funktionieren. Nicht auf Dauer. Und so würde er mit dem Gefühl der Liebe, die er erstmals erleben durfte, gehen, bevor die Schatten ihn wieder einholten. Dieses Arschloch! Dieses so liebe, zärtlich verschmuste Arschloch. Ich war gerade achtzehn Jahre alt geworden und musste mit diesem feigen Abgang klar kommen. Ich wäre zusammengeklappt, wenn mich die Jungs nicht umgekehrt aufgefangen hätten. Endlich konnten sie sich revanchieren. Nun ja, das ist die Geschichte Arun Thai Boys Inc. Sein Tod war die Initialzündung für diesen Laden. Was ihr hier seht ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Das ganze ist wie erwähnt ein Selbsthilfeprojekt, das auch anderen Opfern, denen ähnliches widerfuhr hilft und sie unterstützt, auf eigene Beine zu kommen.«

Weder Kevin noch Dorothea wagten etwas zu sagen. Stattdessen sahen sie betreten und auch ein wenig bedröppelt drein. Selbst als zwei der drahtigen thailändischen Kickboxerjungs kamen und allerlei Vorspeisensnacks und thailändisches Bier auf dem Tisch drapierten, blieben die beiden Kriminalisten schweigsam. Doch die Thaijungs waren pfiffig, bemerkten die gedämpfte Stimmung und warfen Sonni einen fragenden Blick zu. Der antwortete nur mit einem Achselzucken und einem Blick zum Bild Aruns.

»Ah, hat euch Sonni von unserem Bruder erzählt?«, wollte einer der beiden erstaunlich fröhlich wissen, wartete eine Antwort aber nicht ab. »Hey, lasst den Trübsinn. Arun ist glücklich gegangen. Wer kann das schon von sich behaupten?«


»Die sind ja hart drauf.«, kommentierte der Gast aus Wiesbaden, nachdem die beiden Speisen- und Getränkelieferanten wieder gegangen waren. »Aber es gefällt mir. Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus.«

»Netter Spruch«

»Den hab ich irgendwo aufgeschnappt. Aber eines, Sonni, muss ich Ihnen sagen: Ihre Restaurantauswahl war ausgezeichnet. Ich habe das Gefühl, ich sitze wieder in einer Garküche Bangkoks. Die Jungs machen das richtig gut.«

»Das wird sie freuen zu hören… Moment mal… Was zum Teufel… Was macht der hier?«

Eigentlich wollte sich Sonni im Namen der Arun Boys bei Dorothea bedanken, hätte er seinen Blick nicht ziellos über die anwesenden Gäste wandern lassen. Das Restaurant brummte. Zwischenzeitlich waren nicht nur alle Plätze belegt, es hatte sich auch eine kleine Gruppe Personen angesammelt, die frustriert von einem Bein aufs andere wippend auf den nächsten freien Tisch wartete. Das Personal hatte alle Mühe, das ungeduldige Völkchen im Zaum und vor allem davon abzuhalten, durch das Lokal zu wandern und dabei die noch essenden Gäste zu stören. Zugegebenerweise hatten sie damit wenig Schwierigkeiten. Zwanzigjährigen extrem tätowierten Kickboxertypen schlugen wenige Leute eine Bitte ab. Trotzdem wirkte der Laden wie das Innere eines Bienenstock. Überall wuselte es und schwirrte umher. Speisen wurden gebracht, Bestellungen aufgenommen und leere Gläser gegen gefüllte ausgetauscht. Durch die allgemeine Enge, die durch den Umstand bedingt wurde, dass wirklich ein Maximum an Tischen in den Gastraum gestopft wurde, saß das Publikum ziemlich auf Tuchfühlung, was aber zum Programm gehörte. Die Gäste sollten sich ruhig näher kommen und miteinander ins Gespräch geraten.

Bei so viel Betriebsamkeit und Hektik blieb natürlich die Übersichtlichkeit auf der Strecke. Jemanden im Gewühle auszumachen, kam einem Glücksfall gleich. Diverse im Raum verteilte, halbhohe Trennwände taten ihr übriges. So währte der Moment, in dem Sonni meinte, im Spiegel hinter dem Bartresen ein ihm bekanntes Gesicht entdeckt zu haben, auch nur ein oder zwei Sekunden. Da er niemals damit gerechnet hätte, ausgerechnet diese Person in einem Etablissement wie dem Arun Thai Boys Inc. anzutreffen, war er sich nicht sicher, wirklich gesehen zu haben, wen er glaubte gesehen zu haben.

»Wer?«, wollte Kevin wissen.

»Kardinal Francesco DaSilva.«, erwiderte Sonni.

»Wen?«, hakte Kevin nach.

Als Antwort schlug sich Sonni zuerst mit der flachen Hand gegen die Stirn: »Ich Idiot, das kannst du ja gar nicht wissen. Nach der Sache mit Trollmann und Ott hat mich der Chef am nächsten Morgen zu sich zitiert. Statt einer seiner üblichen Lektionen in Sachen erfolgreicher Ermittlungsarbeit stellte er mir Kardinal DaSilva vor, ein Sondergesandter des Vatikans. Ich bin mir immer noch nicht sicher, was der Mann eigentlich von Prechtel und mir wollte. Auf jeden Fall hegt er besonderes Interesse an unserem Fall. Er hat mir sogar… Oh, verdammt! Ich Torfkopf. Jetzt fällt mir wieder ein, was ich von Scotty wollte. DaSilva hat mir einen USB-Stick mit vertraulichen Informationen übergeben, die uns beim vorliegenden Fall helfen könnten.«

»Wie bitte könnte ein Kirchenmann uns bei einem Mordfall helfen. Hast du schon… Ah, ich ahne. Du hast noch nicht, oder? Du wolltest den Stick erst von Scotty untersuchen lassen.«

»Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes.«, rezitierte Sonni.

»Was immer es ist, ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen.«, erwiderte Dorothea amüsiert, »Sonni Lundkvist, ich glaube, ich habe Sie ein wenig unterschätzt. Wo sitzt dieser DaSilva?«

Im Vergleich zu Sonni war POR Kornmüller deutlich günstiger positioniert, um Personen im Lokal ausmachen zu können. Insbesondere saß sie nicht, wie die beiden Berliner Polizisten, mit dem Rücken zum Geschehen und musste sich auch nicht auffällig verdrehen. So gut es ging, beschrieb der Berliner Kriminalkommissar der Wiesbadener Polizeioberrätin das Aussehen des Kardinals. Soweit es sich beim kurzen Blickkontakt erkennen ließ, trug DaSilva zivil, was schade war, da eine Sutane die Erkennung deutlich vereinfacht hätte. Aber so ging es auch. Sonnis Beschreibung war ausreichend genau, dass Dorothea seine Beobachtung kurze Zeit später bestätigen konnte.

»Wenn der Mann keinen Doppelgänger oder Zwilling hat, ist das ihr Mann. Er ist nicht allein. Ihm sitzt jemand am Tisch gegenüber, den ich aber aus meinem Blickwinkel. Moment… Er dreht sich… Shit!«

Wie von der Tarantel gestochen rutschte die BKA-Beamtin auf ihrer Bank dicht an die Wand und machte sich ganz klein. Die Frau ging sprichwörtlich in Deckung.

»Es ist Lugner!«, raunte sie Kevin und Sonni zu, »Ihr Kardinal trifft sich mit meinem Zielobjekt. Sagen Sie mir, dass das kein Zufall ist!«

Arun Thai Boys Inc.

»Dann hat er sich aber schnell erholt.«, kommentierte Kevin und erntete von Sonni einen fragenden Blick, »Du hast mich doch gebeten nachzuforschen, ob Dr. Lugner heute Nachmittag seinen Vortrag gehalten hat. Er hat nicht. Etwa eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung wurde sie abgesagt. Es hieß, Dr. Lugner sei unpässlich.«

»Hm, richtig frisch sieht er nicht aus.«, murmelte Dorothea und kroch noch etwas tiefer in ihre Ecke, während sie Sonni böse anfunkelte, »Was haben Sie mir verschwiegen? Woher wussten Sie, dass Lugner seinen Vortrag absagt? Und was hat ein Kardinal mit ihm zu tun?«

»Das wüsste ich auch gern.«, meinte Kevin und musterte seinen Kollegen, »Bist du neuerdings unter die Hellseher gegangen.«

»Ähm… Ich bin mir nicht sicher, ob ich das erklären kann.«, erwiderte KK Lundkvist und kratzte sich verlegen an der Schläfe. »Im Moment jedenfalls nicht. Sagen wir, ich folge da einem Bauchgefühl…«

»So so, ein Bauchgefühl also?« Dass Kevin Sonnis Erklärung nicht wirklich glaubte, ließ sich gut an dem skeptisch ironischen Blick ablesen. Statt aber auf eine Beichte zu bestehen, wechselte er das Thema und stellte eine ganz andere Frage: »Aber kann mir jemand erklären, was die beiden miteinander zu tun haben und was sie in diesem Laden wollen? Ich glaube nämlich nicht an Zufälle.«

Natürlich glaubten die anderen beiden ebenfalls nicht an einen Zufall. Sie waren erfahrene Polizisten und hatten über die Jahre ein Gespür für bestimmte Verhaltensmuster entwickelt. Wenn ein Kardinal, sogar ein Sondergesandter des Vatikans und ein berühmt-berüchtigter Anwalt sich in einem Etablissement trafen, in das sie unter normalen Umständen keinen Fuß gesetzt und sogar vehement bestritten hätten, es überhaupt zu kennen, lag ein Schluss quasi auf der Hand: Das Treffen besaß einen konspirativen Charakter. Niemand aus ihrem alltäglichen Umfeld sollte davon erfahren. Dass sie sich nicht privat trafen, bedeutete umgekehrt, dass sie in ihren eigenen Domizilen nicht allein und ungestört waren, oder auf gut Deutsch, keine sturmfreie Bude hatten. Blieb die interessante Frage, woher die beiden gerade dieses Lokal kannten. Doch da hatte Sonni eine Idee, griff zum Telefon und wählte eine erst kürzlich ins Adressbuch aufgenommene Nummer. Sein Gesprächspartner ging sofort ran.

»Sonni Lundkvist, ich hoffe, ich störe deine Studien nicht, aber könntest du mir eine kleine Frage beantworten? Ja… Danke. Als du letztens mit DaSilva in der Nuntiatur gesprochen hast, kam da zufällig Arun Thai Boys Inc. zur Sprache? Ach ja? Interessant. Danke, Raphi, du hast mir wirklich geholfen.«

Zufrieden drückte Sonni den Stand-by-Schalter seines iPhone, das dies mit dem bekannten Schnappgeräusch quittierte.

»Der Kardinal hat die Adresse von Raphi.« Die Erklärung war vollkommen zweckfrei, da Kevin längst klar war, bei wem es sich um Raphi handelte, während Dorothea ihrem Unverständnis aus ihrer Ecke mit großen, fragenden Augen Ausdruck verschaffte, die auch von Sonni bemerkt wurden. »Raphi, eigentlich Raphael, ist ein Bekannter, nein, er ist mehr ein Freund und nebenbei der Inhaber eines der angesagtesten Schwulenclubs der Stadt. Weniger bekannt ist, dass Raphi über eine sehr seltene und kostbare Bibliothek verfügt. Der Mann liebt Bücher und besitzt ein Fachwissen, das die meisten Bibliothekare vor Neid erblassen ließe. Bei einigen seiner Kostbarkeiten soll es sich um die einzig noch existierenden Exemplare handeln, weswegen er gelegentlich von interessierten Kreisen kontaktiert und um seine Expertise gebeten wird. Raphi erzählte mir, dass er vor ein paar Tagen, genaugenommen zur Tatzeit des Breitkopfmordes, Kardinal DaSilva in der Nuntiatur besuchte, mit ihm zu Abend aß und anschließend mit ihm diskutierte. Wie ich eben erfuhr, hat ihn DaSilva gefragt, ob er ein Lokal empfehlen könne, dass für ein diskretes Treffen geeignet sei. Raphi, diese hinterhältige Ratte, empfahl ihm ausgerechnet diesen Laden. Ich wüsste zu gern, was der ehrenwerte Kardinal gedacht hat, als er das Restaurant vorhin sah.«

Was Sonni vorerst verschwieg war das kleine Detail, dass die Idee, zu Arun Thai Boys Inc. zu gehen, auch nicht auf seinen Mist gewachsen war. Tim hatte das Lokal erwähnt, und wie Sonni den Teufel einschätzte, alles andere als zufällig. Oh nein, Sonni glaubte definitiv nicht an einen Zufall.


Das vordringlichere Problem bestand aber nicht darin, zu klären, ob nun Teufel und Engel mehr oder weniger dezent dafür gesorgt hatten, den Ermittlern die Verbindung zwischen Lugner und DaSilva aufzuzeigen, sondern darin, von den beiden nicht entdeckt zu werden. Während Sonni es vermeiden wollte, vom Kardinal unter den Gästen des Thairestaurants bemerkt zu werden, war es bei Dorothea der Anwalt, der sie sofort identifizieren konnte. So oder so, ihr momentaner Wissensvorsprung wäre sofort negiert. Einzig Kevin war keinem der beiden Männer bekannt und konnte sich frei im Restaurant bewegen.

»Sag, wolltest du nicht eine rauchen gehen?«

»Sonni, bitte! Du weißt, dass ich vor vier Jahren aufgehört habe. Das bei Trollmann war eine Ausnahme.«

»Dann machst du heute Abend noch eine.«, erwiderte Sonni ernst.

»Oh, wenn das so ist.«, erwiderte seinerseits Kevin, dem langsam dämmerte, warum sein Vorgesetzter so erpicht darauf war.

Obwohl er für das gemeine nikotinsüchtige Wesen ein gewisses Verständnis aufbrachte, schätze Sonni Lundkvist das allgemeine Rauchverbot, das seit einigen Jahren in Berlins Gaststätten herrschte. Wer rauchen wollte, konnte dies entweder in Lokalen mit extra ausgewiesenen Raucherräumen tun oder musste vor die Tür gehen. Einzig für die guten alten Eck- oder Einraumkneipen, die dann aber keine Speisen verkaufen durften, gab es Ausnahmen. Im großen und ganzen hatte sich aber die Luft in Berlins gastronomischen Betrieben merklich verbessert, was Sonni unter anderem daran festmachte, dass am nächsten Morgen die Klamotten vom Vortag nicht mehr ekelhaft nach kaltem Rauch stanken.

In Arun Thai Boys Inc. gab es keinen Raucherraum. Wen die Sucht an den Glimmstängel trieb, musste zwangsläufig vor die Tür gehen, an der sich deswegen immer eine kleine Menschentraube bildete.

»Versuche so dicht wie möglich an DaSilvas und Lugners Tisch vorbei zu gehen.«, gab Sonni seinem Kollegen mit auf dem Weg, »Vielleicht gelingt es dir, den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufzuschnappen.«

»Sonst noch was?«

Da hatte der Kriminalkommissar zur Ausbildung mit einem gemütlichen und entspannten Abendessen gerechnet, und nun das. Undercover Einsätze waren einfach nicht Kevins Ding. Seiner Meinung fehlten ihm dafür die notwendigen charakterlichen Eigenschaften, wie etwa die Fähigkeit sich zu Verstellen oder gar zu Lügen. Auf der anderen Seite verstand er natürlich, wie wichtig seine kleine Extratour für ihre Ermittlungen sein konnte. Widerwillig kramte er eine Zigarettenschachtel, die er trotz seiner Absicht, nicht mehr zu rauchen, bei sich trug, und ein Feuerzeug aus seiner Jacke hervor, erhob sich vom Sitzplatz und schlenderte mit trotziger Miene zum Ausgang, was ihn direkt am Tisch der Zielpersonen vorbei führte.

War es Schicksal oder einfach nur Zufall? Wie Kevin an Dr. Lugner vorbeischlenderte, fiel diesem die Schachtel Sargnägel in der Hand des Polizisten auf und löste beim Anwalt das gleiche unsinnige Verlangen nach dem in den Tabakstäbchen enthaltenen starken Nervengift namens Nikotin aus. Mit einem schnöden »Sie entschuldigen? Die Sucht ruft.«, erhob sich der Mann der Rechtspflege ebenfalls von seinem Sitzplatz und folgte dem Kriminalpolizisten vor die Tür, wo sie fast gleichzeitig zur bereits etablierten Gruppe Leidensgenossen stießen.

»Haben Sie zufällig Feuer?«

Bei dieser Frage hätte Kevin fast die Kontrolle über seinen Schließmuskel verloren. Der hochverdächtige und angeblich so hochgefährliche Dr. Lugner hatte die Frage aller Raucher ausgerechnet an den Jungbullen gerichtet. Mit einem Stoßgebet Du bist Polizist. Benimm dich gefälligst so! riss er sich zusammen und antwortete mit einem coolen »Sicher!«, entzündete sein Feuerzeug und bewegte die Flamme in Richtung des Endes der Zigarette, die der Anwalt bereits im Mund hatte. Doch bevor die Flamme den Tabak entzünden konnte, wehte ein Windstoß sie aus, ein Erlebnis, das den meisten Rauchern an der frischen Luft regelmäßig widerfuhr.

»Ich sollte mir doch ein Sturmfeuerzeug zulegen.«, knurrte Kevin und zündete seinen kleinen Feuerspender erneut, nur dass dieses Mal Dr. Lugner schützend seine Hände vor die Flamme hielt.

Oder es versuchte…

Womit weder der Polizist noch der Anwalt rechnen konnten, war, dass beide in gewisser Weise magisch aufgeladen waren. Kevin sah noch, dass einen Finger Lugners ein Ring von gleicher Machart wie Breitkopfs zierte, als auch schon das Unvorstellbare passierte. Lugners Hand berührte Kevins, touchierte sie nur ganz leicht, was aber ausreichte, um die Schutz- und Heilzauber, die Schutzengel Gabriel seinem Schutzbefohlen verpasst hatte, mit einer gewaltigen Entladung zünden zu lassen. Da sich dieser Vorgang auf einer vollkommen anderen Wirklichkeitsebene abspielte blieb dieses Ereignis den meisten Anwesenden vollkommen verborgen. Nicht so Dr. Lugner, Kevin und Sonni. Für letzteren stellte sich der Vorgang als gewaltiger Lichtblitz dar, als ob jemand direkt vor der Tür des Restaurants eine Atombombe gezündet hätte. Es folgte eine Stoßwelle, die in Schrittgeschwindigkeit vom Epizentrum durch das Lokal wanderte und für einen kurzen Moment jedes Lebewesen von außen nach innen aufzulösen schien. Erst verschwand die Kleidung, dann die Haut, die Muskeln, Sehnen und Gefäße, bis nur noch die Knochen übrig waren. In diesem Zustand verharrte das Bild für zwei oder drei Sekunden, was merkwürdig aussah, da sich die betroffenen Skelette natürlich weiter bewegten. Anschließend verwandelten sich die Knochenmenschen wieder in normale menschliche Wesen zurück, wobei der Prozess dabei nicht einfach in umgekehrter Reihenfolge ablief. Fasziniert stellte Sonni fest, dass die fehlenden Komponenten der Biomasse quasi gleichzeitig erschienen, dabei vorübergehend seltsame Farben und Schattierungen annahmen. Manche Personen waren sogar von einer Art Aura umgeben, die aber auch nicht einheitlich war. Interessanterweise schienen, soweit Sonni dies erkennen konnte, alle seine thailändischen Freunde von einer goldgelben Aura umgeben zu sein, während Dorothea ein seltsames grüngelb umhüllte. Zu gerne hätte er gewusst, welche Farbe Kardinal DaSilva zeigte, doch leider konnte er ihn aus seiner Perspektive nicht erkennen und wollte auch nicht riskieren, von ihm entdeckt zu werden.

Für die beiden Raucher präsentierte sich die Situation vollkommen anders. Kevin widerfuhr ein Gefühl von momentaner Desorientierung gefolgt von etwas, das er weder kannte, noch sich irgendwie beschreiben ließ und ihn einfach überwältigte. Dr. Lugner wiederum zuckte hingegen blitzartig zurück und stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, dass sich die anderen Raucher erschrocken zu ihm umsahen.

»Oh Gott, hab ich sie verbrannt?«, rief Kevin eilig und von Lugners Reaktion erschrocken aus, um sein Feuerzeug sofort zurückzuziehen, »Entschuldigen Sie, das war… Manchmal bin ich so was von tollpatschig.«

Wütend, zornig und ausgesprochen argwöhnisch musterte der Anwalt den ihm unbekannten Feuergeber. Könnte er…? Lugners Blick forschte nach Anzeichen für… irgendwas, fand aber nur Ahnungslosigkeit. Wie auch? Kevin wusste nichts von Gabes Gaben. Wie konnte er ahnen, dass es sich bei seinem neuen Freund um einen leibhaftigen Engel handelte, der ihn mit Schutz- und Heilzaubern von oben bis unten flächendeckend zugekleistert hatte. Und so konnte das Opfer einer dieser Schutzzauber noch so intensiv nach Indizien für einen geplanten Angriff forschen, es fand keine.

»Es ist ja nichts passiert.«, beeilte sich der Anwalt den Vorfall schnell zu bagatellisieren, was ihm aber nur bedingt gelang. Der Mann hatte offensichtlich Schmerzen, die von seinem Pentagrammring auszugehen schienen. Auch wenn dies nicht möglich sein konnte, meinte Kevin kurz gesehen zu haben, dass das Schmuckstück glühte und von kleinen Flammen umzüngelt wurde. Noch bevor Kevin reagieren konnte, kehrte Lugner unverrichteter Dinge, was heißt ohne Auffrischung seines Nikotinpegels, ins Lokal zurück, richtete ein paar Worte an einen verwirrt dreinschauenden Kardinal DaSilva, schmiss ein paar Scheine auf den Tisch, packte seinen Mantel und verließ das Restaurant erneut, wenn auch nun endgültig. Die ganze Zeit über drückte er mit der unversehrten Hand den versenkten Finger.

Eine Minute später – Kevin hatte sich tatsächlich einen Sargnagel gegönnt – sah er, wie auch Kardinal DaSilva mit nachdenklicher, fast grüblerischer und auch ein wenig blasser Miene das Arun Thai Boys Inc. verließ. Verwirrt darüber, was eigentlich genau in den letzten fünf Minuten passiert war, kehrte der Jungpolizist zu seinen wartenden Kollegen zurück.

»Was war das denn?«, platzte es aus Dorothea Kornmüller heraus.

»Das wüsste ich selbst gerne.«, gestand der Angesprochen ratlos, »Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was da eben ablief. Lugner fragte mich nach Feuer. Ich zündete mein Feuerzeug an, doch die Flamme wurde ausgeblasen, worauf er sie beim zweiten Versuch mit seinen Händen abschirmte. Dabei hat er mich berührt und dann…«

»Was?«, fragte Sonni geradezu ängstlich nach, doch Kevin schüttelte nur den Kopf: »Ich weiß es nicht. Es war… merkwürdig. Ich kann es nicht richtig beschreiben. Ich hatte das Gefühl, einen Stoß bekommen zu haben und war für einen Moment total benommen. Ich glaube, ich habe Lugner verbrannt, denn der schien Schmerzen zu haben. Aber…«

»Was?«

»Das kann ich nicht sagen. Ihr werdet mich für verrückt halten und in Bonnies-Ranch einliefern. Wahrscheinlich war es auch nur Einbildung. Aber ich bilde mir ein, dass Flammen um Lugners Ring züngelten.«

»Das solltest du wirklich nicht in deinem Bericht erwähnen.« Dorothea grummelte genervt, »Es sind schon für weniger absurde Ideen Leute in der Klapse gelandet. Wie auch immer. Die Aktion war dann wohl ein Griff ins Klo. Die beiden sind weg und wir so schlau wie vorher.«

Statt sich wie die Kollegin vom BKA über seinen Kollegen zu ärgern, blieb Sonni ernst, ärgerte sich stattdessen über Dorothea und wurde eigentlich von Sekunde zu Sekunde nervöser. Langsam wurde es eng. Wie sollte er erklären, dass sie es mit Engeln, Teufeln und Dämonen zu tun hatten? Wozu er hingegen etwas sagen konnte, war Dorotheas unfaire Bemerkung.

»Dorothea, du bist nicht objektiv. Wir wissen jetzt, dass Dr. Lugner etwas mit einem hohen Funktionär der katholischen Kirche zu tun hat. Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, war euch beim BKA diese Verbindung noch nicht bekannt, oder?«

»Ja… nein… ach Scheiße.«, gab Dorothea Kornmüller frustriert zu, wollte noch etwas hinzufügen, wurde dann aber von zwei Jungs unterbrochen, die das Hauptgericht brachten. War es der Duft der Speisen oder die ansteckend gute Laune der beiden Speiselieferanten, aber kaum, dass das Essen auf dem Tellern lag, begann sich die Frustration der Wiesbadener Kollegin zu lichten und nach dem ersten Bissen fast schon zu verfliegen.

»Boah!«, kam es wenig ladylike, »Die Jungs können wirklich gut kochen. Das Zeug ist richtig gut.«

»Ihr Moto lautet: Keine Kompromisse.«, erläuterte Sonni, »Sie kochen so wie in Thailand gekocht wird und weigern sich, irgendwelche Zugeständnisse an europäische Geschmacksgewohnheiten einzugehen.«

Wenn sie sich vor ein paar Momenten noch recht verschnupft präsentierte, schienen die dargereichten Speisen Dorothea Kornmüller mit der Welt wieder zu versöhnen. Nicht so Kevin, der zwar kräftig zulangte und das Essen auch genoss, dabei aber sehr in sich gekehrt und zunehmend abwesend wirkte. Ganz im Gegensatz dazu begann sich die Polizeioberrätin immer wohler zu fühlen. Die aromatischen Speisen lösten ihre Zunge und verwandelten das gemeinsame Abendessen in eine konzentrierte Infoveranstaltung, in der die beiden Vertreter des Berliner LKAs auf den Wissensstand des Bundeskriminalamts gebracht wurden. Ihr Gast geriet in einen derartigen Redefluss und überhäufte sie mit massenweise und zum Teil hochbrisanten Informationen, dass Sonni nichts anderes machen konnte, als an ihren Lippen zu hängen und zuzuhören. Trotzdem fiel ihm auf, dass Kevin neben ihm mehr und mehr ins Leere zu schauen schien.

»Kevin, alles in Ordnung?«

Sonni blieben nur Sekunden. Genau in dem Moment als POR Kornmüller zum Wasserglas griff, vermutlich um ihre überhitzten Stimmbänder zu kühlen, sah Sonni seine Gelegenheit, um selbst das Wort zu ergreifen und sich um Kevins merkwürdige geistige Abwesenheit zu kümmern.

»Was?«, schreckte der angesprochene Kriminalkommissar zur Ausbildung auf und wirkte dabei, als ob er im ersten Moment gar nicht wusste, wo er sich befand.

»Alles in Ordnung?«, wiederholte Sonni.

»Ja… doch Ich glaube, schon.« Kevin schüttelte seinen Kopf, um diesen wieder klar zu bekommen. »Es war ein anstrengender Tag. Ich glaube, ich bin etwas müde.«

»Stimmt«, mischte sich Dorothea ein, kaum dass sie ihr Glas abgesetzt hatte, »Du siehst wirklich total müde aus.«

Als ob sie ihrer Bemerkung körperlich Nachdruck verleihen wollte, musste die Polizeioberrätin selbst deutlich gähnen.

»Mir scheint, dass Sie auch nicht mehr ganz fit sind, Dorothea.«, bemerkte Sonni freundlich. »Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen. Bleibt kurz sitzen, ich kümmere mich nur schnell um die Rechnung.«

Bezahlen – was so einfach klang war in diesem Etablissement alles andere als das und brachte Sonni regelmäßig in Gewissenskonflikte. Natürlich weigerten sich Damrong und Co von ihrem Freund Geld zu nehmen. Der Mann gehörte quasi zur Familie, bei dem es sich einfach verbot, ihn wie einen Gast die Speisen bezahlen zu lassen. Umgekehrt musste Sonni als Staatsdiener jeden Hauch eines Anscheins einer Vorteilsnahme oder gar Bestechung vermeiden, was umgekehrt bedeutete, sich sogar eine Quittung geben zu lassen. Zum Glück hatte er an diesem Abend ein stichhaltiges Argument auf seiner Seite: POR Dorothea Kornmüller war ein offizieller Gast der LKAs, weswegen er kein Problem darin sah, die Zeche dem Steuerzahler aufzudrücken. Und so hielt sich Damrongs Murren auch ziemlich in Grenzen, als ihn Sonni um eine Bewirtungsrechnung bat und betonte, dass als Rechnungsempfänger das LKA eingetragen werden sollte. Drei Minuten später verstaute der Kriminalkommissar den gewünschten Zettel in seiner Brieftasche.

Der Rest des Abends bestand in bürgerlichen Ritualen. Ganz der wohlerzogene Sohn seiner Eltern, holte Sonni Dorotheas Jacke und half ihr auch hinein, anschließend ließ er ihr ein Taxi rufen und versicherte sich, dass der Kraftdroschkenführer wusste, wohin er seine Fuhre zu bringen hatte. Während der ganzen Zeit stand Kevin wie Falschbier abwesend in der Gegend herum und starrte ins Leere.

»Du bist nicht müde, oder?«, fragte Sonni besorgt.

Kevin schüttelte seinen Kopf: »Ja. Nein. Ach, ich weiß nicht, was mit mir eigentlich los ist. Sonni, irgendetwas stimmt nicht. Ich habe Gedanken im Kopf, die nicht meine eigenen sind.«

Racheengel

»Was ist passiert?«

Gabriels Stimme klang selbst durch das Telefon besorgt, was Sonni alles andere als beruhigte. Kevins Bemerkung, er hätte Gedanken im Kopf, die nicht die seinen wären, ließ bei KK Lundkvist sämtliche Alarmglocken läuten. Als dann sein Kollege auch noch mit jeder weiter verstreichenden Minute fahriger, unkonzentrierter und abwesender wurde, wusste er, dass er dringend handeln musste. Statt also Kevin nach Hause fahren zu lassen, nahm er ihn mit zu sich. Etwas anderes wäre auch kaum mehr möglich gewesen. Der Verstand seines Kollegen schien sich schrittweise abzuschalten. Am Ende musste ihn Sonni sogar mit sanftem Druck in Richtung seiner Wohnung schieben.

Und dort saß er dann auf einem Hocker und starrte vollkommen ausdruckslos Löcher in die Luft. Das war der Moment, an dem Sonni entschied, sich professionelle Hilfe zu holen. Und wer lag da näher als Gabe, der Engel, der für die Schutz- und Heilzauber verantwortlich war, die Kevins Körper einhüllten. Hier kam der kleine Zettel mit der Telefonnummer des Schutzengels gerade richtig, den Sonni eigentlich vollkommen vergessen hatte, ihm aber genau in dem Moment wieder einfiel, als er seinen Kollegen apathisch auf seinem Sitzmöbel hocken sah.

»Ich bin in fünf Minuten bei dir.«, erwiderte Gabe knapp, kaum dass ihm die unerfreuliche Situation geschildert wurde, fügte dann aber nach einer kurzen Pause noch eine überraschende Bitte hinzu: »Sonni… ähm, ich meine natürlich Herr Lundkvist…«

»Sonni ist okay.«, erwiderte der gleichnamige Polizist, dem es eigentlich egal war ob er nun geduzt oder gesiezt wurde. Er war um seinen Freund und Kollegen besorgt. Mehr noch, eigentlich kämpfte er gegen aufkeimende Panik an und hoffte ein wenig, dass ihn das Gespräch mit Gabe beruhigen würde.

»Sonni«, klang es erfreut, »Du bist doch mit diesem sympathischen Ifrit befreundet. Könntest du Felix anrufen und bitten, ebenfalls zu kommen? Seine besonderen Fähigkeiten könnten hilfreich sein.«

Welche Fähigkeiten dies auch immer sein mochten und woher der Engel von der Freundschaft zwischen Dämon und Polizist wusste, es war merkwürdig und warf Fragen auf, doch Sonni schob sie beiseite und gehorchte. Außerdem lenkte es von Kevins Zustand ab.

»Nanu«, meldete sich der Feuerdämon ebenso prompt wie amüsiert und meinte mit nicht wirklich ernsthafter Stimme: »Hältst du es ohne mich nicht mehr aus?«

»So sehr ich deine feurige Nähe schätze«, stichelte Sonni zurück, »rufe ich aus einem anderen und wesentlich weniger erfreulichen Grund an. Ich brauch deine professionelle Hilfe und meine dabei nicht deine Fähigkeiten als angehender Chemiker. Meinem Freund und Kollegen Kevin geht es nicht gut. Gabe bat mich, dich…«

»Ich bin unterwegs.«, fiel Felix mit sehr ernster Stimme ins Wort. »Ich bin in fünf Minuten bei dir.«

Das dir war noch nicht verklungen, da war die Leitung auch schon tot. Wie ernst war Kevins Zustand, dass Felix und Gabe keine Sekunde zögerten, sofort zu kommen, um zu helfen? Fünf Minuten? Wer Berlin kannte, wusste, dass dies mehr als sofort war. Sonni nahm den angegebenen Zeitrahmen daher auch nicht wirklich ernst. Umso überraschter schreckte er auf, als es kaum dass das Gespräch mit Felix geendet hatte an der Haustür klingelte und Schutzengel Gabriel um Einlass begehrte, den Sonni ihm auch sofort gewährte.

»Hast du Felix angerufen?«, wollte ein erschreckend strenger und ernst wirkender, platinblonder Engel statt einer Begrüßung wissen. Dass dabei obendrein die Augen des geflügelten Wesens unheilvoll blausilbern funkelten, ließ Sonni ängstlich zusammenzucken. Der Mann auf seiner Türschwelle mochte auf den ersten Blick wie eine Partyschwuppe ohne signifikanten Tiefgang und einem IQ knapp oberhalb der Raumtemperatur aussehen, doch für einen kurzen Moment blitzte eine verborgene, gewaltige Machtfülle hinter dieser Maske auf, die Sonni ängstlich schlucken ließ und er sich fragte, auf was und wen er sich mit diesen Leuten eigentlich wirklich eingelassen hatte.

»Ja natürlich. Ich habe ihn sofort angerufen.«, stammelte der Kriminalpolizist fast schon devot, was der Engel bemerkte und zu einer erstaunlichen Änderung in dessen Erscheinen führte. Der geradezu stechend prüfende Blick verschwand. Obwohl Gabe immer Gabe blieb, hatte Sonni trotzdem dem Eindruck, von einer Sekunde zur nächsten eine vollkommen andere Person vor sich zu sehen.

»Es ist gut, Sonni Lundkvist«, erklang eine sanfte, verlegene, entschuldigende und auch ein wenig schüchterne Stimme. »Es tut mir leid. Mein Verhalten war unangemessen. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Es ist nur so… Ich mag Kevin und ich möchte nicht, dass ihm etwas zustößt.«

Diese Worte »Ich mag Kevin« mochten relativ zurückhaltend klingen, doch Gabes Stimme tat es nicht. In ihr war etwas zwingendes, sehnsüchtiges und flehendes, dass der Polizist in Sonni sofort zum einzig möglichen Schluss kam: Dieser Engel war in seinen Kollegen verliebt – die arme Sau.

»Darf ich Kevin jetzt sehen?«, fragte Gabe defensiv.

»Ja sicher. Entschuldige, dass ich dich auf der Schwelle hab stehen lassen. Komm rein!«, erwiderte Sonni. Doch im gleichen Moment meldete sich erneut die Klingel der Gegensprechanlage zu Wort und verkündete die Ankunft des Feuerdämons, der Sekunden später zwei Stufen gleichzeitig nehmend, die Treppe hinaufgestürmt kam.

»Gabe«, grüßte Felix den Engel mit einer erstaunlichen Wärme in der Stimme, dass Sonni fast eifersüchtig geworden wäre, hätte ihn der Ifrit nicht in den Arm genommen und mit einem wahrhaft feurigen Kuss begrüßt. Tatsächlich ließ der Dämon etwas Höllenfeuer in Sonnis Mund strömen. Das brannte zwar wie der Teufel, fühlte sich aber auch extrem geil an. So geil, dass er wusste, dass in seinen Augen wieder diese peinlichen Flammen loderten.

»Ich sehe, du hast deine Wahl schon getroffen.« Der Engel nickte erfreut und anerkennend, um sofort wieder ernst zu werden, »Sonni, könntest du uns bitte genau schildern, was passiert ist?«

Während die zwei dem Kriminalpolizisten bis zur geschlossenen Wohnzimmertür folgten, erklärte dieser, was während des Abendessens genau vorgefallen war. Zumindest soweit er die Angelegenheit wirklich beobachten konnte und was Kevin schilderte, bevor dieser erst apathisch und später regelrecht katatonisch wurde. Gabe und Felix hörte aufmerksam zu, stellten gelegentlich kleine Zwischenfragen und warteten ansonsten sehr geduldig auf das Ende des Berichts.

»Wenn ich euch nicht kennen würde und mich mit der vollkommen unglaublichen Realität abgefunden hätte, es tatsächlich mit einem Engel und einem Dämon zu tun zu haben, wäre ich mit Kevin auf direktem Weg in eine Klinik gefahren. Nach allem, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, ist es ein Wunder, dass wir nicht schon früher zusammengeklappt sind. Allerdings habe ich vorhin die Schockwelle erlebt, als Lugner Kevin berührte. Ich habe auch Gabes Schutz- und Heilzauber bemerkt, mit denen du unseren Freund eingehüllt hat. Irgendetwas muss passiert sein. Bitte helft Kevin. Er ist nicht nur ein Kollege, er ist auch ein Freund.«

Mit diesen Worten öffnete Sonni die Tür zum Wohnzimmer und gab den Blick auf einen Kevin frei, der reaktionslos und mit leerem Blick auf einem Stuhl hockte.

»Hmm…«, meinte Felix.

»Ähm…«, kam es von Gabe.

»…?«, gab sich Sonni wortlos und auch ziemlich verwundert, dass die beiden nichtmenschlichen Wesen im Raum keine Anstalten unternahmen, den unnatürlichen Zustand des Kriminalkommissars zur Ausbildung in irgendeiner Weise zu beheben. Doch hier irrte der zweite anwesende Kommissar und ein paar Sekunden später konnte er es sogar sehen. Gabe und Felix näherten sich Kevin nicht nur schrittweise und sehr vorsichtig, sondern auch kreisförmig und indirekt.

»Du hast den Jungen ziemlich eingepackt.«, kommentierte der Feuerdämon das Werk des Schutzengels. Der wiegte seinen Kopf hin und her: »Es war notwendig. Sein Verstand war kurz davor, zu kollabieren.«

»Du magst ihn?«, fragte Felix ernst und ohne jegliche Ironie oder Anzüglichkeit in der Stimme.

»Ich mag ihn sogar sehr. Er ist ein lieber Junge.«, seufzte Gabe, »Und bevor du es sagst, sage ich es: Ich weiß, dass es problematisch ist und er nicht so empfindet, wie ich. Ich bedränge ihn nicht.«

»Ich urteile nicht.«

»Ich weiß. Natürlich urteilst du nicht. Du… Moment, was ist das? Dort, am rechten Daumen.«

Statt zu antworten, begann sich Felix die Stelle genauer anzusehen und auch Sonni schaltete vorsichtig auf seine neu gewonnene Wahrnehmungsvariante um. Obwohl er wusste, zwei übernatürliche Lebewesen in seinen Räumen zu beherbergen, schreckte er im ersten Moment trotzdem etwas zurück. Gabriels ebenso schneeweiße wie mächtige Flügel waren so beeindruckend wie Ehrfurcht einflößend. Hinzu kam eine blausilbern schimmernde Aura, die sich in den Pupillen seiner Augen konzentrierte. Während der Engel von einem inneren Leuchten erfüllt war, präsentierte sich Felix in der Bodenständigkeit eines Feuerdämons. So wurde er nicht nur von Flammen eingehüllt, sie züngelten auch über ihn hinaus, leckten über den Boden oder tropften von ihm herab. Im Gegensatz zu seinem früheren Erscheinungsbild, präsentierte sich Felix dieses Mal sogar als echter Dämon, mit Hörnern und Schwanz.

»Was ist das?«, wollte Sonni wissen, der sich schnell wieder gefangen hatte und stattdessen seinem Kollegen zugewandt hatte. Kevins Daumenspitze sah schwarz aus, einer Verbrennung nicht unähnlich, aber dann doch auch wieder anders. Die verfärbte Stelle sah nicht rein schwarz aus und bestand auch nicht aus einem abgeschlossenen Bereich, sondern eher wie ein dunkles, fein verästeltes Pilzgeflecht, das aber ganz im Gegenteil zu einem tatsächlichen Pilz, sehr lebendig pulsierte.

»Ähm, ich bin mir nicht sicher.«, gestand Gabe und glimmte in einem leicht ratlosen silberblau.

»Ein Kurzschluss?«, schlug Felix vor.

»Kurzschluss?«, hakte Sonni ungläubig nach.

»Ja.«, versicherte der Ifrit, »Nur eben nicht durch Elektrizität. Es ist wie ein Strommal. Ich mag den Begriff nicht, aber was ihr da seht, ist eine Teufelswarze. Kevin muss mit seinem Daumen etwas berührt haben, das Gabes Schutz- und Heilzauber auslöste. Ich versuch es in menschliche Worte zu fassen, obwohl es die Sache nicht wirklich trifft: Positive und negative spirituelle Energien sind an seinem Daumen miteinander in Berührung gekommen.«

»Oh«, meinte Gabe verlegen, »Ich glaube, ich war dann doch ein wenig großzügig, was die Schutzzauber betrifft. Das muss ziemlich gezeckt haben.«

»Oh, das hat es.«, bestätigte Sonni, »Ich habe die Schockwelle erlebt, die war heftig.«

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich ihn nicht berühre.« Felix wich einen Schritt zurück.

»Schisser« Gabe lachte, allerdings mit einem beunruhigenden Unterton in der Stimme. Im Gegensatz zum Feuerdämon trat er den einen Schritt vor, die die Distanz zu Kevin schloss und legte ihm seine Hand auf die Augen. In einem leisen, zärtlichen, aber auch stahlhart zwingenden Tonfall sprach er auf den jungen Polizisten ein: »Öffne dich! Zeig mir, was dir widerfuhr!«

Auf die beiden Befehle folgte sofort eine Reaktion. Kevins Brustkorb hob sich. Laut zischend und japsend atmete er ein. Der junge Mann wandte sich hin und her, schien sich sogar Gabes Berührung entziehen zu wollen, doch der hielt in einer Mischung aus Liebe und Erbarmungslosigkeit den Kontakt, schloss seine Augen und flüsterte mit der Stimme eines Racheengels.

»Zeig es mir! Wehr dich nicht! Dir kann nichts passieren. Ich halte dich. Ich fang dich auf, wenn du fällst. Ich befehle dir: Öffne dich!«

Vor Sonnis Augen spielte sich ein Kampf ab. Gabe rang mit Kevin… Oder etwas in ihm. Ganz eindeutig ließ sich dies nicht von außen sagen. Wer dachte, Engel wären nette, liebe und insbesondere sanfte Wesen wurde eines Besseren belehrt. Gabriel – das kumpelhafte Gabe wollte einfach nicht mehr passen – hatte eine majestätische, herrschaftliche und dominante Erscheinung angenommen. Hier stand keine dümmliche Diskoschwuppe, sondern ein Furcht einflößender Krieger. Darüber, inwieweit er sein wahres Wesen tatsächlich enthüllt hatte, wollte Sonni nicht spekulieren. Es reichte ihm auch so. Nie hätte er damit gerechnet, einen leibhaftigen Racheengel in seinem Wohnzimmer stehen zu sehen.

Racheengel? Gabriel strahlte. Die Härchen seiner Haut funkelten. Seine langen, platinblonden Haare wehten und wogten in einem überirdischen Licht, obwohl es in Sonnis Wohnung eigentlich vollkommen windstill war. Gabriels Gesicht, sein sonst so liebevolles Wesen hatte einer fast schon brutalen Härte und Entschlossenheit Platz gemacht, die Sonni schlucken ließ, insbesondere auch, weil Kevins Körper dramatisch auf die Berührung des Engels reagierte. Spasmen durchzuckten seine Gliedmaßen, er keuchte und röchelte, die Atmung war heftig und rasselnd.

»Da!«, rief der Engel mit schneidend klarer Stimme. »Welch verdammter Pfuscher… Oh Shit!«

Und dann war die Show vorbei. Ein Wimpernschlag und aus Gabriel, dem machtvollen Racheengel, war wieder Gabe, das irgendwie schnuffelige, junge Kerlchen aus Raphis Club geworden, der vorsichtig und auch ein wenig schüchtern seine Hand von Kevins Gesicht nahm. Dessen aufgewühlter Körper kam langsam wieder zur Ruhe und seine Atmung normalisierte sich. Doch leider kehrte damit auch das apathische Wesen zurück.

»Was ist passiert? Konntest Du Kevin helfen?«, fragte Sonni mit flehender Stimme, die den Engel zu einer zwar sehr gütigen, aber auch traurigen Miene verleitete.

»Nein, leider noch nicht.«, gestand das geflügelte Wesen sanft, »So einfach geht das nicht. Kevin wurde Opfer eines gewalttätigen Aktes, eines Angriffs. Dabei wurde seine Psyche verletzt. Wenn du ihn dir ansiehst, was siehst du?«

Hilflos und unsicher folgte Sonni der Bitte des Engels. Was sah er? Saß da Kevin vor ihm? Eigentlich nicht. Der Mann auf dem Stuhl war nicht einfach ein apathischer oder katatonischer Kevin, sondern wirkte eher wie eine leere Hülle, ein seelenloses Wesen.

»Du verstehst, was ich meine?«, hakte Gabriel nach, »Ich glaube, ich verstehe jetzt, was passiert ist.«

Danach war wohl weit mehr passiert, als nur ein Schutzzauber, der durch Angriff dunkler Magie aktiviert wurde. Offensichtlich kam es wirklich zu dem vermuteten Kurzschluss gegensätzlich gepolter spiritueller Energie. Wobei Gabriel betonte, dass der Begriff spiritueller Energie nur als Arbeitsbegriff, als eine Metapher, zu verstehen sei. Allerdings, so Gabe, wäre spirituelle Energie auch immer an ein reales Wesen, genauer an dessen Seele und Bewusstsein gebunden.

»Ein Teil von Lugners Geist ist in Kevin eingedrungen.«, erläuterte der Engel, »Ein sehr aggressiver und wenig sympathischer Teil. Kevins Verstand scheint instinktiv reagiert zu haben, indem er sich gegen die fremden Gedanken in ihm abschirmte. Er hat eine Mauer aufgebaut und sich ganz tief dahinter verschanzt. Deswegen kann ich nichts machen. Ich müsste ein Wort der Macht sprechen, doch das würde ihn noch mehr verletzen. So sehr, dass ich Angst habe, Kevin für immer zu verlieren. Nein, wir dürfen nicht mit der Brechstange vorgehen. Wir müssen Kevin helfen, die Herrschaft über sich selbst zurückzugewinnen.«

»Und wie?«, wollte Sonni wissen.

»Indem du ihn an die Hand nimmst.«

Inside Kevin

»Ihn an die Hand nehmen?«

Sonnis Blick fiel auf Kevin. Was sollte es nützen, einem katatonischen Mann die Hand zu halten. Zugegeben, die Berührung konnte sicherlich eine gewisse therapeutische Wirkung besitzen, aber ob es ausreichte, um Kevin aus seinem psychischen Gefängnis zu holen, war doch ernsthaft zu bezweifeln.

»Ich befürchte, es ist ein klein wenig komplizierter.«, gestand Gabriel, »Du wirst Kevin in seinem Verstand besuchen müssen. Sozusagen vor Ort aktiv werden.«

»Wie bitte?«, rief Sonni mit Blick auf Kevin gepresst hervor.

»Oh, ich glaube, ich ahne, was unser geflügelter Freund vorschlägt.«, mischte sich der Feuerdämon ein. Felix war in die Hocke gegangen, um sich Kevin genauer, das heißt von Angesicht zu Angesicht betrachten zu können. Damit fertig erhob er sich und wandte sich direkt an Gabriel: »Du denkst an einen Domänenkanal, oder? Soweit ich weiß, hat das seit 1778 niemand mehr versucht.«

»Als wenn Zeit eine Rolle spielt.«

»Touché.«, gab Felix zu. »Allerdings befürchte ich, dass du etwas übersiehst. Wenn wir unseren Freund hier wirklich auf die Reise in Kevins Psyche schicken, wird er nicht nur gegen dessen Widerstand kämpfen müssen.«

»Was meinst du?«, wollte Gabriel verwirrt wissen.

»Du vergisst Lugner. Hast du vergessen, was Sonni uns erzählte? Kevin sprach zu ihm von fremden Gedanken in seinem Kopf. Ich vermute, dass Teile von Lugners Bewusstsein in Kevins Verstand übertragen wurden. Ich vermute sogar, dass sich Kevin deswegen versteckt hält. Er hat Angst vor dem, was in seinem Kopf umher spukt. Genau das macht mir Angst. Was ist es, dass sich dieser arme Junge so fürchtet und sich in seinem eigenen Verstand verkriecht?«, erläuterte Felix und deutete mit der Spitze seines Teufelsschwanzes demonstrativ in Richtung Kevins Schädel, sorgsam darauf bedacht, ihn dabei aber nicht zu berühren. Sein Schwanz, dieses dämonenspezifische Körperteil schien einerseits über einen sehr eigenen Willen zu verfügen, andererseits aber durchaus die Stimmung seines Trägers zu dokumentieren. Fasziniert beobachtete Sonni, wie das Ende in Form eines Efeublatts mal aufrecht hinter Felix Kopf hervorlugte, sich dann wieder um den Dämon ringelte oder einfach nach Lust und Laune hin und her schwang.

»Du hast recht.«, entgegnete der Engel nachdenklich und ließ dabei frustriert seine Flügel hängen.

»Ich mach es.« Hörte sich Sonni selbst sagen, während er immer noch gebannt den Zuckungen von Felix Schwanz folgte. Jener richtete sich überrascht steil auf. Unsicher löste sich der Kommissar vom Anblick des teuflischen Schweifs und wandte sich seinen übernatürlichen Gästen zu. »Ich habe zwar keine Ahnung, was ein Domänenkanal ist, aber ich vermute, dass ihr mich irgendwie in Kevins Verstand einschleusen wollt, oder?«

»Das ist das Konzept.«, erläuterte Gabriel, »Allerdings bin ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich so eine gute Idee ist. Sonni, du musst wissen, dass es eine sehr gefährliche Reise sein könnte, auf die du dich einlässt. Weder Felix noch ich können sagen, was dich in Kevins Verstand erwartet und ob es überhaupt noch sein Verstand ist. Du wirst dich in einer Welt bewegen, in der nichts real ist und die im besten Fall vom Unterbewusstsein deines Freundes, im schlimmsten Fall aber von Lugner erschaffen wurde.«

»Wie erkenne ich, was wahr und was falsch ist?«

»Wir können es dir nicht sagen. Wir vermuten aber, dass zu einem großen Teil Kevins Unterbewusstsein, das Es, die Kontrolle über seinen Verstand übernommen hat.«, gestand Felix mit entwaffnender Offenheit, die auch von seinem Teufelsschwanz unterstrichen wurde, dessen Ende sich traurig hängen ließ. »Vertrau deinem Instinkt. Im Unterbewusstsein sind alle Gefühlsregungen, alle Emotionen weitaus direkter und unverstellter. Ihm fehlen quasi die Fesseln des Gewissens, des Über-Ichs, um ein Bild der Psychoanalyse zu verwenden, was aber auch den Vorteil hat, dass es dem Unterbewusstsein wesentlich schwerer fällt, seine wahren Absichten zu verbergen. Es kann nicht lügen, weil es es nicht muss und es daher nie gelernt hat. Es ist aber brutal, denn es kennt keine Grenzen. Wenn es liebt, dann kann es dich mit seiner Liebe erdrücken. Wenn es hasst, dann… Nun ja, du wirst es erleben. Sonni, das Unterbewusstsein, das bin ich, meine Domäne, das Teuflische, das absolute grenzen-, regel- und gesetzlose Chaos. Das Über-Ich, das Gewissen, das ist der Himmel Gabriels, die Kontrolle und Struktur, Moral und Ethik. Beides verbindet sich in euch Menschen zum Bewusstsein, nur so, durch das Gleichgewicht aus Gewissen und Unterbewusstsein, könnt ihr überhaupt funktionieren. Wenn du also in Kevins Bewusstsein abtauchst, dann gerätst du in eine Art Kriegszone, in der dieses Gleichgewicht aus den Fugen geraten ist.«

»Quasi Psychotherapie an der Wurzel?«

»Mehr als das.«, korrigierte Gabriel, »Im Gegensatz zum netten Onkel mit der Couch riskierst du dein eigenes Seelenheil. Sonni, die Sache ist wirklich nicht ungefährlich. Nicht für Kevin, aber auch nicht für dich. Du könntest dich in seinem Verstand verirren.«


»Ich mach es trotzdem.«

Selbst von der Entschlossenheit seiner Entscheidung überrascht, ruderte Sonni sofort ein wenig zurück.

»Helft ihr mir dabei?«

»Natürlich«, erwiderte Felix die Frage, wirkte dabei aber ziemlich unglücklich und überließ es Gabriel, die im Raum stehende Frage zu beantworten.

»Wir befürchten allerdings, dass unsere Hilfe nur sehr begrenzt möglich sein wird. Wir werden über euch beide wachen und die Verbindung eurer beider Geister herstellen. In Kevins Verstand wirst du aber auf dich allein gestellt sein. Bist du dir wirklich sicher, dass du es machen willst?«

»Ja!«, nahm Sonnis Entschlossenheit noch weiter zu. »Kevin ist nicht einfach ein Kollege. Er ist mein Partner und ein Freund. Und ich lasse keinen Partner im Stich.«

»Gut, dann lass uns loslegen.«, meinte Felix und legte los, indem er Sonnis Hand ergriff, teuflisch grinste und meinte: »Du kennst es ja schon. Entspann dich und kämpfe nicht dagegen an.«

Bevor Sonni begriff, was sein dämonischer Freund meinte, war dessen Höllenfeuer bereits in ihn eingedrungen. Flammen verhüllten seinen Blick und rissen ihn aus der Realität. Das Feuer glich einem Schlund, der ihn erbarmungslos einsaugte. Wie in einem Strudel, der statt aus Wasser aus flüssigen Flammen bestand, wurde Sonni, oder genauer sein Verstand, seine Seele oder Bewusstsein, hinabgerissen in einen Tunnel aus Dunkelheit und Hitze. Dies war nicht der ebenso schmerzhafte wie geile Teufelssex, den er mit seinem Feuerdämon erlebt hatte. Dies war eine völlig andere Erfahrung, von der Sonni arg bezweifelte, ob er sie jemals wiederholen wollte. Und die wurde noch schlimmer.

Die Strömungsgeschwindigkeit im Höllenstrudel nahm explosionsartig zu, wurde schneller und heißer, zerrte an Sonni, bis sein Verstand zerriss. Von einem bewussten Erleben ließ sich kaum noch sprechen. Stattdessen fühlte der Kriminalkommissar, wie sein Bewusstsein in Myriaden Einzelteile zerfetzt und die Schnipsel hinfortgerissen wurden, hinfort in ein immerwährendes Nichts – dem Tod?


»Wow!«

Nach Dunkelheit das Licht – es war nicht der Tod, den Sonni durchwanderte, sondern eine Art Vortex, ein Wirbel. Nach der Dunkelheit kam die Helligkeit, und mit ihr Kühle und Klarheit. Blausilbern schimmerndes Licht erfüllte Sonnis Wahrnehmung, durchströmte ihn und füllte ihn aus, bis es sich plötzlich wie ein Nebel lichtete und eine gleichzeitig bekannte und fremde Welt enthüllte.

Es war der Breitscheidplatz vor dem Europacenter – oder auch nicht. Etwas desorientiert stellte Sonni erleichtert fest, dass er sich wieder in seinem Körper befand, allerdings trug der Ort, an dem er sich wiederfand, nicht dazu bei, die gefühlte Erleichterung aufrechtzuerhalten. Was durchaus wie einer der Inbegriffe des alten Westberlins aussah, wartete gleichzeitig mit einer vollkommen verqueren Topologie auf und führte unmittelbar zum Inbegriff des Berliner Ostens. Während in der realen Welt zwischen Breitscheid- und Alexanderplatz etwa sechs Kilometer lagen, reichte in diesem merkwürdigen Berlin ein Schritt aus, um von einem zum anderen Ort zu gelangen, während der Fernsehturm in unmittelbarer Nähe dann wiederum Hunderte Kilometer entfernt zu stehen schien. Was wiederum gut war, da sich dessen Kugel gerade in einen atomaren Feuerball verwandelte. Dass sich die Straßenzüge und sogar die Häuser eigentümlich verzerrt und verbogen präsentierten, ging dabei fast als amüsantes Detail durch.

Wohin sollte er sich wenden? Sonni schaute sich ein wenig ratlos um. Irgendwo musste es einen Anhaltspunkt geben, irgendeine Art unbewusster Fingerzeig Kevins, der ihm den Weg zu seinem versteckten Bewusstsein wies. »Warum?«, fragte ein plötzlich auftauchender zweiter Sonni, den der erste als Personifizierung seiner Vernunft erkannte.

»Weil ich glaube, dass Kevin sich zwar vor irgendetwas fürchtet und davor flieht, aber eigentlich frei sein will und sich nach Hilfe sehnt.«

»Okay«, gab die materialisierte Vernunft zu, um sich zu dematerialisieren.

»Das ist interessant.«, murmelte der verbliebene Teil des Kriminalkommissars und sah sich um. Irgendetwas. Es musste etwas geben. Ein Anhaltspunkt. Klein, diskret und wahrscheinlich auch nur für eingeweihte Augen erkennbar. Kevin, du bist ein schlauer Kerl. Zeig es mir! Der Alexanderplatz. Park Inn. Kaufhof. Bahnhof. Straßenbahn. Wo? Was? Kevin, zeig es mir!

Fernes Donnergrollen erfüllte die Luft. Am östlichen Rand zogen fremdartige, widerliche, rötlich purpurne, von Blitzen erleuchtete Wolken heran. Sonni wusste instinktiv, dass diese nichts Gutes bedeuteten konnten und er definitiv nicht mehr mitten auf dem virtuellen Alexanderplatz stehen wollte, sobald das was sie mit sich brachten, den Platz erreicht hatte. Vielleicht eine S-Bahn?. Der Weg in den Bahnhof war kurz und die Treppen zum Bahnsteig schnell genommen. Der Zielanzeiger der nächsten Bahn zeigte Spandau. Westen! Weg von den dräuenden, purpurvioletten Gewitterwolken. Es grollte erneut. Dichter. Bedrohlicher. Die Luft wurde heißer, stickiger, aber auch, was eigentlich unmöglich war, schwüler, dass das Atmen begann zu behindern. Obendrein erfüllte ein ekelerregender Geruch die Atmosphäre.

Die Fahrt bis zum nächsten Bahnhof währte nur wenige Minuten. Doch was die Station »Hackescher Markt« sein sollte, stellte sich als Ausgangspunkt der Fahrt, dem Alexanderplatz heraus. Bizarr. Die S-Bahn schien also nicht der richtige Weg zu sein und wie Sonni nach einer kurzen Fahrt feststellte, die U-Bahn ebenfalls nicht. Aber irgendeinen Weg, einen Pfad zum Ziel musste es geben. Nur wo war er? Die Zeit drängte. Die fiesroten Wolken kamen näher. Das heißt, waren es überhaupt Wolken? Bei genauerer Betrachtung schien die rote Masse am Himmel irgendwie zu wabern und feucht zu glänzen. Und dann war da auch noch dieser widerliche Gestank, wie…Verfaultes Fleisch! Was war das für eine Teufelei?

»Riiiiiinnnnnnggg!« Das schrille Klingeln der Straßenbahn ließ Sonni zusammenzucken und zur Seite springen.

»Was iss'n jetzt, einsteigen oder nich?«

»Äh, ja, natürlich einsteigen.«

»Na dann rinn in die gute Stube und mach hinne.«


»Was für ein Scheißwetter«

Beim Straßenbahnfahrer handelte es sich um eines jener inzwischen raren Exemplare eines echten Oberlippenbartberliners, inklusive Kotterschnauze, aber anderseits dem Herzen am rechten Fleck und obendrein gepaart mit einer unverkennbaren Kevinschen Familienähnlichkeit. Sonni fiel ein, dass sein Kollege vor längerer Zeit erwähnte, dass sein Vater früher Straßenbahnfahrer war, inzwischen aber den Führerstand gegen einen Schreibtisch eingetauscht haben sollte. Was oder wer er auch immer sein mochte, seine Bemerkung traf die außerhalb des Zuges herrschenden klimatischen Bedingungen ziemlich gut. Die blutroten, dunklen Wolken schienen ihre Sättigungsschwelle überschritten zu haben. Fette Tropfen viskosen Niederschlags prasselten gegen die Windschutzscheibe.

»Was…?«, verschlug es Sonni die Sprache. Statt ordinären Regenwassers verschmierten die Scheibenwischer eine zähe, rote Flüssigkeit, die sich unschwer als Blut identifizieren ließ.

Zapping

Sich im vom Unterbewusstsein dominierten Verstand eines anderen Menschen herumzutreiben, entwickelte sich weitaus nervenaufreibender, als Sonni jemals erwartet hätte. Obwohl er wusste und es bei der verqueren Topologie des virtuellen Berlins kaum zu ignorieren war, dass er sich nicht in der wirklichen Welt befand, nützte ihm dieses Wissen rein gar nichts. Ganz im Gegenteil fühlte er, wie ihn diese unheimliche Welt mehr und mehr in ihren Bann zog.

Blutregen? Natürlich regnete es niemals Blut – niemals. Und doch… Die Tropfen auf der Windschutzscheibe, gegen die die Wischer kaum etwas auszurichten vermochten, wirkten so dermaßen real, dass sie einfach real sein mussten. Zumal Sonni sogar meinte, den ekelhaft metallischen Geruch frischen Bluts in seiner Nase wahrnehmen zu können. Auf der anderen Seite fuhr die Straßenbahn durch Straßen, die eigentlich über keine Schienen verfügten. Genaugenommen fuhr die Bahn durch Straßen, die überhaupt nicht existierten und die sich rationalen Regeln verweigerten.

»Und Meister«, machte sich der Straßenbahnfahrer bemerkbar, »Woll soll's hingehen?«

»Wohin fahren Sie?«, fragte Sonni mit einer Gegenfragen, die der Mann am Steuerpult mit einer wegwerfenden Geste seiner rechten Hand beantwortete: »Da lang«

Da lang? – Wo war das? Kevins Welt erinnerte an ein Cross-over aus Endzeit Ego Shooter gepaart mit der Lüneburger Heide – Kreuzberg meets Disneyland. Während auf der einen Fensterseite Heidekraut und gleichnamige Schnucken selbiges grasten, präsentierten sich auf der anderen Seite nachtdunkle Straßenschluchten mit halb verwesten und unnatürlich entstellten menschlichen Kadavern, die vom Feuerschein brennender Ölfässer schaurig schön in Szene gesetzt wurden, während in den Schatten… Nein, Sonni wollte nicht wissen, was dort lauerte. Stattdessen widmete er sich dem Blick voraus.

»Ah, besser«, murmelte der Fahrer. Sie hatten die Blutregenzone verlassen. Ein paar druckvolle Sprühstöße der Scheibenwaschanlage sorgten für einen ebenso klaren wie erfreulichen Durchblick, der weder von Schafen noch Leichen dominiert wurde. Stattdessen lag eine fast normale Stadt vor ihnen. Die Straßenbahn rollte ruhig, fast gleitend dahin. Linker und rechter Hand krempelte, stülpte und faltete sich das Bild der Welt erst zusammen und auf das Bild einer normalen Welt wieder auseinander, dass Sonni erleichtert aufatmete. Den ersten Schrecken, die erste Krise hatte er überstanden.

»Endstation«, knurrte das Berliner Straßenbahnoriginal, brachte seinen Zug ruckartig zum Stillstand und deutete auf die Tür. Die Straßenbahn war am Rande eines generischen Platzes zum Halt gekommen. Generisch, weil dieser Ort sicherlich in keinem Stadtplan irgendeiner Stadt verzeichnet sein dürfte. Er entsprach somit wohl mehr der kevinschen Idealvorstellung eines Platzes.

»Nett«, entfuhr es Sonni. Bevor dieser sich anschickte, die Bahn zu verlassen, schaute er sich noch ein wenig um. Nach der Erfahrung mit dem Blutregen, zögerte der Kriminalpolizist und überlegte, welchen Weg er einzuschlagen sollte. Zum Glück wirkte der Platz recht gemütlich und wenig bedrohlich. Eingefasst von typischen Berliner Altbauten, zierte ein kleiner Brunnen die Mitte des Platzes. Eine große Rasenfläche, lindgrün lackierte, schmiedeeiserne Bänke und drei Schatten spendende Eichen luden zum Verweilen ein.

»Vermutlich ist es als Einladung zu verstehen.«, murmelte Sonni Lundkvist und setzte sich und seinen Fuß in Bewegung.


»Nein Kevin, es liegt nicht an dir. Es ist… Ich glaube, wir brauchen eine Auszeit. Ich brauche eine Auszeit.«

»Aber…«

»Nein, kein Aber. Wir… Du… Ich… Ich weiß nicht.«

»Aber Schatz, ich…«

»Sag es nicht! Nicht jetzt. Weißt du, während des Wochenendes habe ich viel und intensiv über unsere Beziehung nachgedacht. Und weißt du was?«

»Nein, was?«

»Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Ich weiß nicht, ob es an mir oder an dir liegt, aber ich habe das Gefühl, dass es mir die Luft zum atmen raubt.«

»Na toll… Gibt es einen anderen?«

»…«

»Ich fragte, ob es einen anderen gibt.«

»Siehst du? Das ist genau das, was ich meine. Du erstickst mich. Nichtmal zu Hause kannst du aufhören, den Bullen zu spielen.«

»Ach, bin ich also doch Schuld. Okay, meinetwegen. Bin ich eben der Buhmann. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Gibt es einen anderen?«

»Vielleicht…«

»Ja oder nein – so schwer ist die Frage wirklich nicht.«

»Verdammt noch mal, ja, es gibt jemanden.«

»Okay«

»Okay?«

»Was erwartest du von mir? Soll ich dir eine Szene machen? Dich anbrüllen? Den wütenden Macker geben, dem die untreue Schlampe die Hörner aufgesetzt hat? Du solltest mich besser kennen. Wenn er dich glücklich macht, ist es okay.«

»Und du bist nicht sauer?«

»Nicht sauer? Scheiße, natürlich bin ich sauer. Für was hältst du mich? Einen gefühllosen Backstein? Ja, es tut scheiße weh.«

»Lügner«

»Wie bitte?«

»Ach bitte Kev, verarschen kann ich mich alleine. Ich kenn dich und ich kenne diesen Blick. Du hast die Sache doch längst abgehakt.«

»Du hast recht. Du hast, als du unser gemeinsames Wochenende absagtest und dir stattdessen über unsere Beziehung klar werden wolltest, nämlich etwas vergessen.«

»Und das wäre?«

»Dass ich ebenso über unsere Beziehung nachdenken würde.«

»Gibt es eine andere?«

»Nein«

»Hm«

»Hm?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass du lügst, aber du sagst mir auch nicht die Wahrheit.«

»Es gibt keine andere.«

»Du musst es ja wissen.«

»Das tu ich«

»Dann war es das wohl, oder?«

»Ja, das war es dann wohl. Aber…«

»Was?«

»Was ist eigentlich schief gelaufen? Warum muss es so… So… Halt so zu Ende gehen? Ist es mein Job? Bin ich es? War ich zu unaufmerksam?«

»Ja, nein… Von alledem… Ich kann bei meinem Schichtdienst wohl schlecht etwas gegen deinen Job sagen. Nein, ich glaube, wir haben uns einfach auseinandergelebt. Kev, wir waren siebzehn. Wir haben uns einfach unterschiedlich entwickelt. Kevin, ich mag dich, ich mag dich immer noch, aber ich liebe dich nicht mehr. Es tut mir Leid.«

»Mir auch.«


Zapping – das schnelle Wechseln von Fernsehprogrammen mit der Fernbedingung. Genau das war passiert. Sonni trat aus der Straßenbahn auf den Platz, doch in dem Moment, als sein Fuß das Pflaster berühren sollte, spürte er Teppichboden und wurde unerwartet Zeuge jenes Beziehungsstreits, der das Ende derselbigen markierte. Nach Sonnis Geschmack ging ihm diese Rolle ein klein wenig zu weit. Sie war ihm zu intim, zu persönlich und warf die Frage auf, warum ihm Kevin diese Episode seines Beziehungslebens zeigte. Noch während er Kevins Ex hinterhersah, wie sie die Wohnung verließ, zappte es erneut.

Die nächste Szene überraschte. Im Prinzip überraschte alles, was Kevins Verstand präsentierte, aber das, was es nun zu erleben gab, ließ Sonnis Kollegen in einem anderen und unerwarteten Licht erscheinen. Es begann bei der Örtlichkeit, die erneut keinen realen Ort zeigte, dafür aber der Kombination zweier Sonni gut bekannter Lokalitäten zu entspringen schien. Zum einen war dies die familiäre Lederkneipe, in der sie seinerzeit Lederkerl Mike begegnet waren und Raphaels heißer Club, der dann Gabriel in die Geschichte einführte. Beide Orte passten eigentlich nicht zusammen, aber darum schien sich Kevins Unterbewusstsein nicht zu kümmern, geschweige denn zu interessieren, stattdessen stand ein Streitgespräch im Vordergrund, das von zwei zwar idealisierten, aber immer noch erkennbaren Personen geführt wurde, die Sonni in Kevins Kopf am wenigsten erwartet hätte: Dem bereits erwähnten Lederkerl Mike und ihrem Gast aus Wiesbaden, Kriminaloberräten Dorothea Kornmüller. Sie präsentierte sich im perfekt sitzenden, sehr knappen und auch etwas schmeichelnden, vielsagend transparenten Kleinen Schwarzen und er ebenfalls in Schwarz, wenn auch nicht aus Stoff sondern gegerbter Kuhhaut. Größer konnte ein Kontrast kaum ausfallen.


»Und ausgerechnet Du willst eine Alternative sein?«, stichelte die Kriminalbeamtin.

»Spricht etwas dagegen?«, gegenfragte der Lederkerl trocken.

»Oh bitte… Eine schlechte Erfahrung und wir fallen von einem Extrem ins andere?«

»Du weißt, dass das nicht stimmt. Du kennst uns genauso gut wie ich.«

»Ja, weswegen ich deine Aufmachung als ziemlich peinlich empfinde. Meinst du nicht auch, dass die Symbolik ein bisschen zu offensichtlich daherkommt?«

»Sagt die Frau, die zufällig ihre Unterbekleidung vergessen hat?«, konterte Protomike und deutete auf Protodorotheas Basic Instinctmäßige Sitzposition.

»Die Gedanken sind frei. Ich bin eben ein Produkt unserer Fantasie. Und wenn ich das richtig sehe, fällt die opulente Beule in deinem glänzenden Lederpanzer in die gleiche Kategorie. Aber lass mich dir eine Frage stellen: Sind wir neuerdings schwul?«

»Ich weiß es nicht. Sind wir es? Vielleicht…«

»Quatsch! Nur weil uns die Schlampe verarscht hat, müssen wir jetzt nicht gleich Schwänze lutschen!«, explodierte Dorothea.

»Nenn sie nicht Schlampe!«, fauchte Lederkerl Mike zurück, »Für eine Beziehung braucht es immer zwei und für deren Scheitern ebenfalls.«

»Geschenkt«, schnaubte Dorothea verächtlich. »Also gut, haben wir es also gemeinsam verbockt. Trotzdem, wir haben uns doch bisher nie für Kerle interessiert und plötzlich soll sich das geändert haben? Eine Frage: Was ist mit Sonni? Der sieht doch nicht schlecht aus.«

»Bitte, Sonni ist ein Freund.«

»Ich habe es befürchtet, dass du mit dieser Anstandsnummer kommst. Aber gut, warum dann ausgerechnet Mike? Einen Lederkerl. Einen bekennenden SM-Meister. Seit wann stehen wir auf so was?«

»Gönn uns doch ein wenig Symbolik. Du weißt ganz genau, was wir wollen, was wir uns wünschen und ersehen.«

»Ja, leider…«


Und was war das jetzt? Während die Trennungsszene etwas erschreckend authentisches hatte, wirkte dieses Streitgespräch total aufgesetzt, konstruiert, ja sogar inszeniert. Die spannendste Information war die, die nicht gegeben wurde. Wieso hatte Kevin ausgerechnet Dorothea und Mike gewählt, um die beiden unterschiedlichen Standpunkte zu vertreten, zwei Personen, die er nicht wirklich kannte? Und was hatte das alles mit seiner mentalen Flucht und Lugner zu tun?

Oder war das ganze ein Ablenkungsmanöver? Während die verschiedenen Episoden, Szenen und Selbstreflexionen aus Kevins Leben Sonnis Voyeurismus bedienten, kam dieser seinem Ziel, Kevins Seele zu retten, kein Stück näher. Alles, was diese Welt bisher präsentierte, diente der Hinhaltetaktik. Die eigentliche Frage lautete somit: Wo hielt sich der wirkliche Kevin versteckt?

Irgendetwas schien sich an der Szene zu verändern. Sonni fühlte etwas, bekam aber anfangs nicht recht zu fassen, was es war. Er wusste nur, dass es ihn beunruhigte. Seine virtuellen Nackenhaare sträubten sich und ein Schauer lief ihm über den Rücken. An den beiden Diskutanten konnte es nicht liegen. Die stritten nach wie vor munter weiter und stachelten sich mit immer abstruseren Argumenten gegenseitig an. Gelangweilt ließ Sonni seinen Blick über die von Kevins Geist kreierte Lokalität wandern. Erstaunlich, wie der Kollege es geschafft hatte, zwei vollkommen unterschiedliche und eigentlich unvereinbare Orte zu einem zu verschmelzen. Dass dabei der Rahmen des physikalisch möglichen eher großzügig auslegt wurde, ließ sich durchaus entschuldigen und schien auch nicht die Ursache für Sonnis Besorgnis zu sein. Aber was war es dann?

Der Zwitter aus Kneipentheke und Bartresen sah, soweit dies möglich war, recht normal aus. Wieso waren Sonni die Gäste der Club-Bar-Kneipe nicht vorher aufgefallen? Bizarr genug sahen sie schon aus, um sie übersehen zu können. Auch hier hatte Kevins Morphing zugeschlagen. Was oben wie eine Partyschwester aussah, präsentierte sich unten rum als Ledertrine. Textilien gingen nahtlos ineinander über. Sonni entdeckte einen Typ, der ein ziemlich schrilles rosa Shirt mit Glitzersteinchen trug, dessen Stoff am unteren Bund direkt zum Latex einer Gummijeans wurde. Doch selbst diese verquere Textilkombination löste keine Besorgnis aus. Es musste etwas anderes sein, und es musste näherkommen, denn das Gefühl wurde stärker und erreichte langsam die Schwelle zur Furcht.

Was unterscheidet einen guten Horrorfilm von einem drittklassigen Schundstreifen? Er zeigt das Grauen nicht. Es bedarf keiner röchelnden, blutlechzenden Monster, um den gruselwilligen Betrachter in Schockzustände zu versetzen. Die Schrecken lauern im Verborgenen, im Dunkeln und in den Schatten. Dunkelheit? Genau diese nahm zu. Nun zählen gute Clubs nicht unbedingt zu Orten größerer Helligkeit, so dass Sonni anfangs auch nicht auffiel, wie langsam, geradezu schleichend das Licht im Raum akzentuierter wurde. So, als ob jemand den Kontrastregler eines Monitors hochdrehte, verschwanden die bisher schummrigen Stellen des Ladens in undurchdringlicher Dunkelheit während die von Spots der Lichtanlage erhellten Bereiche zu isolierten Lichtinseln mutierten. Lichtinseln, die Leben bedeuteten, während in der Dunkelheit… Sonnis virtuelle Nackenhaare sprachen eine überdeutliche Sprache.

Doch als wenn dies nicht reichte, begann plötzlich ein Gast nach dem anderen sich Sonni zuzuwenden, ihn ausdruckslos anzustarren, sich von seinem Platz zu erheben und ohne den Blick vom Polizeikommissar abzuwenden in das Nichts der Dunkelheit zu entschwinden. Keiner, niemand, nicht ein einziger tauchte in einer der anderen Lichtinseln wieder auf, bis wenige Momente später der große Raum bis auf Sonni vollständig entvölkert war.

War er das?

Nein, war es nicht.

Da lauerte etwas in der Dunkelheit. Aus den Augenwinkeln meinte Sonni Bewegungen am Rand der Lichtinseln ausmachen zu können. Doch sobald er zu einer jener Stellen schaute und versuchte, in den Schatten zu spähen, regte sich dort nichts mehr. Nur… Sonni schauderte. Irgendetwas in der Dunkelheit wisperte, raschelte und scharrte. Welcher namenlose Schrecken lauerte dort in der Heimlichkeit der Schatten und wurde durch ihn vervielfacht?

Der Lehrsatz eines seiner Ausbilder kam Sonni wieder in den Sinn: Der unbekannte Gegner ist der gefährlichere Gegner, da sich die Art der Bedrohung, die von ihm ausgeht, nicht abschätzen lässt. In genau dieser Situation fand sich der Polizeikommissar wieder. War die gefühlte Gefahr real oder nur Einbildung? Bestand die Drohung gar nur aus dem, was sich Sonni als solche vorstellte? Gegen wen trat er überhaupt an? Kevin oder Lugner?

Ein feucht platschendes Geräusch rechts hinter sich schreckte Sonni auf und ließ ihn herumwirbeln. Auf einer von einem Halogenspot erhellten Stelle des Fußbodens zog sich eine frische Blutspur dahin, die Sekunden zuvor noch nicht dort war. Real oder eingebildet? Genau so wie die Ahnung einer Bewegung in den Augenwinkeln. Quasi ein dunkler Schatten in der Dunkelheit, der am Rande des Blickfelds vorbeihuschte. Was tun?

Schattenlauf

Die Lösung des Problems durfte weder als elegant, noch sonderlich inspiriert durchgehen, aber wenigstens war sie pragmatisch. Ein Tisch in Sonnis Reichweite musste als Kletterhilfe herhalten. Gerade eben noch im Lichtkreis um Sonni gelegen, angelte er nach dem Möbelstück und zog es sorgsam darauf bedacht, nicht in die Dunkelheit zu gelangen, zu sich heran. Scharrend und quietschend schrammte das metallene Teil über den Boden und… und ließ Sonni panisch zurückspringen, wobei er fast die Lichtinsel verlassen hätte. Auf dem Tisch lag ein abgerissener Arm. Frisches Blut lief aus dem, was vormals ein Schultergelenk war, und tropfte vom Rand der kreisrunden Tischplatte.

»Shit!«, knurrte Sonni wütend, weil er nicht wusste, einfach nicht wissen konnte, ob dieser Horror einfach nur ein perfider Kopffick oder reale Bedrohung darstellte. Was konnte ihm in Kevins Kopf passieren? Was geschah mit seinem realen Körper, sollte sein virtueller von einem Moster aus der Dunkelheit zerfetzt werden? Sollte er das Risiko eingehen? Felix und Gabriel hatten ihn gewarnt, dass der Trip in Kevins Kopf gefährlich werden könnte. War es diese Gefahr, vor der sie ihn warnen wollten?

Was es auch immer war, Sonni empfand nicht das Bedürfnis, es unbedingt herausfinden zu wollen. Jedenfalls so lange nicht, wie es sich auf die eine oder andere Weise vermeiden ließ. Entschlossen erklomm er daher den Tisch und kickte den abgerissenen Arm mit seinen Fuß zurück in die Dunkelheit, in der dieser auch sofort verschwand. Ein schnappendes Geräusch entwich der undurchdringlichen Finsternis. Irgendetwas knurpste und ließ Sonni schlucken, aber anderseits noch ein Stück weit entschlossener handeln. Sein primäres Ziel hing unter der Decke in Form einer Gruppe von vier Halogenstrahlern, die sich allem Anschein nach verdrehen und damit ihre Lichtstrahlen in gewissen Grenzen frei in den Raum richten ließen. Die Idee bestand darin, die Leuchten so auszurichten, dass ihre Spots einen zusammenhängenden Weg aus Licht bis zur nächsten Insel ausleuchteten, von der aus dann der Weg auf die gleiche Weise verlängert werden konnte. So sah der Plan zumindest in der Theorie aus. Die Praxis präsentierte sich weitaus komplexer und warf eine entscheidende Frage auf. Nämlich die nach der Richtung, in die Sonni sich wenden sollte. Der Club bot zwei potenzielle Ausgänge an: Die Eingangstür und in direkt entgegengesetzter Richtung einen Notausgang, worauf ein entsprechendes leuchtendes Schild hinwies. Der Haupteingang lag näher und schien, soweit sich dies sagen ließ, weniger kompliziert zu sein, weswegen sich Kriminalkommissar Lundkvist für den längeren Weg entschied. Er war ein Mann, der auf seine Nackenhaare hörte, und die rieten ihm vom naheliegenden Pfad sich deutlich sträubend ab. Und noch etwas anderes teilten sie ihm mit: Beim Verdrehen der Scheinwerfer tunlichst darauf zu achten, sich nicht aus Versehen selbst in den Schatten zu stellen.

Leichter gesagt als getan. Die Strahlen verfügten zwar über Dreh- und Kippgelenke, die aber bombenfest saßen und sich nur widerwillig und zum Teil auch nur mit roher Gewalt und ruckweise verstellen ließen, was das Unterfangen nicht wirklich erleichterte. Doch mit etwas Geduld und Spucke gelang es Sonni, die Lichtinsel mit einem Spot der Vierergruppe ein gutes Stück zu verlängern. Allerdings blieb diese Aktion nicht ohne Reaktion. Genau in dem Moment, als der erste Lichtstrahl auf die bisherige Dunkelheit traf, fauchte etwas auf, huschte hinfort und enthüllte eine verschmierte Blutspur auf dem Boden.

»Das kann ja noch lustig werden.«, knurrte Sonni. Einem plötzlichem Impuls folgend, packte er den nächsten Spotstrahler und richtete diesen in die alles umgebende Dunkelheit. Es musste sich doch herausbekommen lassen, was in dieser Finsternis lauerte. Die Antwort war ernüchternd: Nichts. Rein gar nichts. Egal wohin Sonni den Strahl richtete, konnte er nichts außer Blut und gelegentlichen Leichenteilen entdecken. Diese Beobachtung stand allerdings im krassen Widerspruch zu seinen Gefühlen, die ihn vor einer definitiv letalen Bedrohung innerhalb der Dunkelheit warnten. Die großzügig im Raum verstreuten Körperteile stützten diese Betrachtungsweise. Genauso wie der Eindruck, aus den Augenwinkeln gelegentlich schemenhafte Bewegungen ausmachen zu können. Die Geräusche, die an Sonnis Ohren drangen, sprachen ebenfalls eine eindeutige Sprache.

Was es auch war, das da mordend sein Unwesen im Schutz der Dunkelheit trieb, es reichte nicht aus, um Sonnis Neugier über dessen Überlebenswillen triumphieren zu lassen. Es gab Dinge, die er einfach nicht wissen musste. Mit diesem Gedanken im Kopf griff der Polizist zum nächsten Strahler und verlängerte den Weg um eine weitere Lichtinsel. Ein paar Minuten, soweit ein Konzept wie Zeit in Kevins Kopf überhaupt existierte, waren alle vier Strahler ausgerichtet und tatsächlich ein zusammenhängender Lichtpfad zur nächsten Insel gelegt.

Schlug er den richtigen Weg ein? Sollte er sich doch zur Eingangstür durchschlagen? Sonni war sich nicht sicher und zögerte auch einen Moment, den neu geschaffenen Weg zu beschreiten, um dann, nach einer kurzen Denkpause, entschlossen loszugehen. Kaum hatte er das erste Etappenziel erreicht, blitzte etwas kurz hell auf, es knallte, was vom Geräusch fallender Glassplitter gefolgt wurde. Genau derjenige Scheinwerfer, der die erste Lichtinsel des Weges zum Eingang schuf, war durchgebrannt. Hätte Sonni diesen Pfad eingeschlagen, würde er nun in wenig erfreulicher Dunkelheit stehen, kaum dass er die Zwischenstation erreicht hätte. War es Zufall, oder eine Falle?

Was auch immer die Ursache für die geplatzte Glühbirne sein mochte, es war unerheblich, da Sonni sowieso keine Wahl blieb. Er musste den einmal eingeschlagenen Weg weitergehen. Oder gab es eine Alternative, auf die er noch nicht gekommen war? Doch zuvor galt es, ein anderes Problem zu lösen. Um an die nächste Vierergruppe Strahler zu gelangen, musste wieder eine Kletterhilfe organisiert werden. Ein geeigneter Tisch stand wahrscheinlich in Reichweite. Wahrscheinlich, weil nur ein etwa zwei Zentimeter breiter Randstreifen in die beleuchtete Insel hineinragte und sich nicht sicher sagen ließ, ob es wirklich ein Tisch war. Für Sonni stellte sich nun die Frage, ob die Kraft in seinen Fingern ausreichte, um das Möbelstück, wäre es ein Tisch, ins Licht zu ziehen.

»Scheiße!«

Ein fieser, schneidender Schmerz durchfuhren Sonnis Fingerkuppen. Dabei hatten sie die Dunkelheit nur kurz gestreift oder waren bestenfalls einen halben Zentimeter in sie eingedrungen. Trotzdem wiesen seine Fingerballen Schnittwunden auf und bluteten. Als Kriminalpolizist kannte sich Sonni Lundkvist mit Schnitt-, Stich- und Hiebwaffen berufsbedingt ziemlich gut aus, aber dies war neu und unbekannt. Die Schnitte waren extrem fein, dass selbst die eines Skalpells dagegen grobschlächtig gewirkt hätten. Grummelnd, knurrend und innerlich fluchend schob sich Sonni die schmerzenden Finger in den Mund. Wie konnte eine eingebildete Verletzung nur so weh tun? Schließlich befand er sich gar nicht in einem Club sondern stand zu Hause in seinem Wohnzimmer und war nur durch Gabe und Felix mit Kevins Geist verbunden. Trotzdem fühlten sich die Schnitte unangenehm real an. Sogar so real, dass anzunehmen war, dass genau darin die eigentlich Gefahr für ihn bestand. Was würde wohl passieren, sollte ihm irgendein unbekanntes Wesen in den Schatten der Finsternis einen Arm oder gar den Kopf abreißen? Wie würde sein Verstand darauf reagieren? Mit einem Schock? Mit einem Kreislaufkollaps? Das Bedürfnis, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, hielt sich dann doch in sehr bescheidenen Grenzen.

Immerhin war der Tisch, ein kreisrundes hohes Stehteil, bei der Aktion ein gutes Stück vorgerückt, so dass es möglich war, ihn vollends ins Licht zu ziehen ohne wieder in die Dunkelheit langen zu müssen. Ein paar Quietscher und Schurrer später stand das Teil unter der zweiten Strahlergruppe. Ein halb im Dunkel liegender Barhocker diente als Leiter, ein paar beherzte Drehungen der Lampen und schon war der Weg zum Notausgang ein paar Meter kürzer. Natürlich war auch der neue Pfad mit unschönen Blutspuren und ein paar abgetrennten Körperteilen gepflastert, wovon sich Sonni aber nicht mehr aufhalten ließ. Ganz im Gegenteil arbeitete er sich konzentriert und systematisch auf die gleiche Weise drei weitere Lichtinseln vor, um dort festzustellen, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Ohne es ausprobieren zu müssen wusste Sonni, dass die Lichtkegel der Spots nicht ausreichten, um die Strecke zur nächsten sicheren Position zu überbrücken.

»Verdammt, warum müsst ihr es mir nur so schwer machen?«

Wer hatte diesen Alptraum erschaffen? Lugner oder vielleicht doch Kevin selbst? Der Verstand seines Kollegen konnte eine Art Schutzpanzer, eine Verteidigungslinie gegen Angriffe des Anwalts erschaffen haben, um dessen fremde Gedanken einfach zu zerhäckseln. Dabei ging er erstaunlich effektiv vor, schien aber nicht in der Lage, Freund von Feind zu unterscheiden. Umgekehrt konnte aber auch weiterhin Lugner für diesen Horror verantwortlich sein, einfach um zu verhindern, dass Sonni Kevin erreichte und sich mit ihm verbündete und half. Es gab nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszubekommen: Den Weg zu Ende gehen. Nur wo lag der? Es war kaum anzunehmen, dass die momentane Sackgasse tatsächlich das Ende des Pfads sein sollte. Jedenfalls dann nicht, wenn nicht der dubiose Anwalt hinter dieser Szene steckte. Denk nach! Was würde Kevin tun?

Während sich der Kriminalpolizist den Kopf auf der Suche nach einem Ausweg zerbrach, hätte er fast eine anfangs sehr subtile Veränderung der Lokalität übersehen. An Fußleiste und Rahmen der Eingangstür begann es rot, oder besser purpurrot zu leuchten. Erst nur schwach, aber mit der Zeit immer stärker, bis es zu einem unübersehbaren Strahlen angewachsen war und es selbst Sonni nicht mehr entgehen konnte. Kaum, dass er die Leuchterscheinung bemerkte und seinen Blick in Richtung Tür gerichtet hatte, sprang diese mit lautem Krachen und Splittern auf. Teile des Türblatts flogen durch die Luft, wurden aber sofort von der Dunkelheit verschluckt. Ein feiner, nebelähnlicher Dunst waberte durch die Tür herein und verbreitete den gleichen fauligen Gestank nach vergammeltem Fleisch wie am virtuellen Alexanderplatz. Außer dem Geruch diente er aber auch noch als Trägermaterial für das wenig angenehme rote Licht, das an den mikroskopischen Tropfen streute. Oder leuchtete die fein zerstäubte Feuchtigkeit gar selbst? Aus Sonnis Perspektive sah es aus, als ob sich das rote Licht quasi in die Dunkelheit hineinfraß. Dort wo sich Lichtdunst und Dunkelheit berührten, brodelte, zischte und blubberte es. Die Dunkelheit fauchte und wallte wolkengleich dem rotvioletten Nass entgegen. Überrascht stellte Sonni fest, dass er für dieses Verhalten eine tiefe Erleichterung empfand. Was auch immer in den Schatten wütete, es wusste, wie gegen die rote, faulige Bedrohung vorzugehen war. Bedrohung? Mehr als das. Während Sonni in der Finsternis zwar stets eine tödliche Gefahr lauern fühlte, die alles und jeden zerstückelte, der die Unvorsichtigkeit besaß, einen Fuß hineinzusetzen – oder auch nur seine Fingerkuppen – verströmte das rote Licht ganz andere Gefühle: Hass, Wahnsinn, Krankheit und Mordlust.

»Pest oder Cholera?«, fragte KK Lundkvist laut und kratzte sich ratlos am Kopf. Viele Handlungsmöglichkeiten schienen sich ihm nicht mehr zu bieten. Er konnte einfach in der Lichtinsel hocken bleiben und abwarten, ob die Fleischwolffinsternis oder das Gammelfleischrotlicht gewann. Oder er stürzte sich todesmutig in die Finsternis und ließ sich zerhäckseln. Er konnte aber auch abwarten und sich davon überraschen lassen, was das fiese Purpurstinklicht für eine Überraschung auf Lager hatte. Beide Alternativen wirkten gleichermaßen unerfreulich. Wobei die zweite aus irgendeinem Grund noch ein wenig unschöner erschien. Dummerweise schien aber genau die Lichterscheinung Boden gut zu machen und die Dunkelheit langsam aber sicher vor sich aufzurollen. Der brechreizerregende Geruch verfaulten Fleisches wurde immer stärker und begann Sonni die Sinne zu rauben.

»Was ist das?«

Träumte er oder zeichnete sich am Boden tatsächlich ein ganz schwacher Lichtpfad ab, der von der Lichtinsel bis zum Notausgang führte. Ein Blick an die Decke des Clubs brachte Bestätigung. Irgendjemand, vermutlich Kevin, hatte ein paar Spots eingeschaltet. Das heißt die Dimmer, an denen diese hingen, eben gerade so weit aufgedreht, dass die Glühfäden schwach glimmten und den Pfad bildeten.

»Wenn das keine Einladung ist. Kevin, ich hoffe, du weißt, was du tust.«

Mit dieser leise vor sich hin gemurmelten Bemerkung und dem rotem Stinklicht im Rücken setzte sich Sonni in Bewegung und trat in den Halbschatten. In diesem Moment erloschen sämtliche Lichter.

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