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Roter Mond

Teil 3 - Albedo

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Inhaltsverzeichnis

Im Penroseschen Treppenhaus

Wenn das Damrong wüsste. Oh Shit... Guuuaaaaaaaaalp!

Das letzte Mal, dass Sonni die gekachelten Räume seiner Wohnung zur unfreiwilligen inversen Entleerung seines Magens aufsuchen musste, lag mehrere Jahre zurück. Damals teilte er das Los zigtausender anderer Berliner, die ebenfalls Opfer eines ebenso kleinen wie gemeinen Übeltäters wurden - einem Magen-Darm-Virus der Gattung Noro. Der akute Fall war hingegen anders gelagert. Es war weder ein Virus noch übermäßiger Alkoholkonsum, der für den vorzeitigen und untypischen Verlust eines ehemals vorzüglichen vietnamesischen Essens verantwortlich zeichnete.

»Die Übelkeit sollte gleich abklingen. Hoffe ich jedenfalls...« So richtig überzeugt klang das nicht. Hätte Sonni über Augen im Hinterkopf verfügt, wäre ihm eine gewisse Verlegenheit in Gabes Gesichtsausdruck aufgefallen. Dem Schutzengel schien die Unpässlichkeit des Kriminalkommissars redlich Leid zu sein, obwohl sowohl er als auch der sympathische Feuerdämon namens Felix, der neben dem geflügelten Wesen stand, nur indirekt für Sonnis unglücklichen Zustand verantwortlich war.

»Gabe hat bei diesen Sachen meistens Recht«, versuchte der Chemiestudent und Feuerdämon der Gattung Ifrit, Felix, seinen Freund aufzubauen, während er dessen Rücken massierte und ihn dabei sanft aber sicher über der Kloschüssel hielt.

»Waren wir wenigstens erfolgreich? Ist Kevin... Oh Shit!« versuchte Sonni in Erfahrung zu bringen, wurde aber von einem erneuten Übelkeitsanfall unterbrochen, der ihn auf ein Neues in die Sanitärkeramik kübeln ließ.

»Ja, Kevin geht es gut. Er war kurz wach und schläft jetzt. Weder Felix noch ich konnten noch etwas von Lugners Unterbewusstsein entdecken. Allerdings...«, Gabe schaute nachdenklich zu Boden, was Sonni aber nicht sehen konnte. Dass musste er aber auch nicht. Als guter Ermittler erkannte er jede sprachliche Nuance, insbesondere dann, wenn sie das schamhafte Verschweigen von Informationen betraf.

»Was?«, röchelte der Kriminalkommissar sich mühsam ab und versuchte möglichst flach zu atmen, um seinem Magen keinen unnötigen Anlass für einen weiteren Aufstand zu bieten.

»Was sagen wir Kevin?«, brachte es Felix auf den Punkt. »Wie erklären wir ihm, was passiert ist?«

»Gute Frage.« erwiderte Sonni und rappelte sich vorsichtig auf. Gabe schien Recht zu behalten. Die Übelkeit ließ nach. Sie ebbte sogar soweit ab, dass er es wagte, seinen Mund mit kaltem Wasser auszuspülen, um den ekelig säuerlichen Kotzegeschmack zu vertreiben, und sich das Gesicht zu waschen. »Eine Antwort setzt voraus, dass ich selbst verstehe, was eigentlich abgegangen ist. Aber nicht jetzt. Ich bin fix und alle. Wer weiß, vielleicht sehen wir morgen klarer.«


Klarer sehen? Schön wär's - Sonni konnte nicht von sich behaupten, wirklich verstanden zu haben, was er in der letzten Stunde erlebt hatte. Stunde? Damit fingen die Verständnisprobleme bereits an. Gefühlt hatte er mehrere Stunden, wenn nicht sogar Tage und Wochen in Kevins Verstand verbracht. Nur tickt so ein Unterbewusstsein in seiner eigenen Zeit, die alles andere als linear verlief. Es war schon eine ziemlich hirnverdrehende Angelegenheit, die Erlebnisse halbwegs in eine sinnvolle Reihenfolge, geschweige denn einen plausiblen Zusammenhang zu bringen. Für Sonnis augenblickliche Unpässlichkeit war dies trotz alledem nicht verantwortlich. Bei weitem nicht. Selbst der Beginn des Trips verlief zwar schräg, aber eigentlich halbwegs gesittet. Ungemütlich wurde es erst, als das Licht ausging.

Dunkelheit – die Menschen früherer Zeiten hatten allen Grund, die Dunkelheit zu fürchten und sich um das Feuer zu scharen. In der Dunkelheit, der Finsternis, den Schatten und dem Zwielicht lauerten das Grauen, die Angst, der Schmerz, das Leid und der Tod. Der moderne Mensch wusste von all dem nichts mehr. Er wollte es nicht wissen und versuchte die Dunkelheit stattdessen zu vertreiben und zu verdrängen, angefangen beim Lagerfeuer über die Talgkerze, das Öllämpchen, dem Gaslicht, der Glühbirne bis hin zur gleißenden Helligkeit aller Finsternis vertreibenden, modernsten Hightech-Lichtquellen von LED bis Halogenmetalldampflampen. Doch bei aller künstlichen Helligkeit, mit der die Menschen die Gedanken an böse Geister, Dämonen und Teufel vertreiben wollten, gelang es ihnen nur, sie an den Rand des Lichts zu verdrängen. Der Mensch glaubte nur, sie wären verschwunden. Er vertraute auf seine Rationalität und schob seine Urängste in das Reich der Mythen, Sagen und Märchen ab. Doch das Grauen, die Schrecken ließen sich nicht vertreiben. Sie waren absolut real und lauerten an den Grenzen des Bewusstseins, dort wo die Helligkeit in Schatten überging. Dort lauerten sie, bereit zuzuschlagen, kaum dass der Mensch – wir – das schützende Licht unserer Vernunft verließen.


Eben jenes Licht ging aus. Dunkelheit umschloss Sonni. Eine tödliche Dunkelheit geschaffen, gezeugt, geboren aus den Monstern und dem Wahnsinn des Kevinschen Unterbewusstseins. Substanz gewordene Dunkelheit, alles verschlingende und alles zerfetzende Finsternis. Sonni spürte, wie seine Haut aufgerissen, abgeschabt, zerschlitzt und zerfetzt wurde. Hunderte oder tausende virtuelle Skalpelle, Messer, Klingen und Schneiden zerhäckselten sein ebenso virtuelles Fleisch. Denn obwohl Sonni absolut bewusst war, dass sich alles Erlebte nur in seinem und Kevins Kopf abspielte, entwickelte es trotzdem eine unfassbare und unerträglich traumatisierende Wirkung auf den Verstand des Polizisten. Ob sich so wohl Hackfleisch im Fleischwolf fühlt?


Zapp!


Sonni lief. Er bewegte sich mit einer Geschwindigkeit zwischen Rennen und beschleunigten Gehens. Er lief und kam nie an. Ein wesentlicher Aspekt des Unterbewusstseins bestand im Fehlen sämtlicher physischer Schranken. Einfach ausgedrückt: Das Unterbewusstsein schiss auf Naturgesetze. In ihm konnte Wasser Berge hinauf laufen, Backsteine fliegen, die Wirkung die Ursache verhöhnen und auf den Kopf stellen oder Sonni endlos laufen lassen, ohne anzukommen, gefangen in einem Penroseschen Treppenhaus.

Ob sich so ein Hund fühlt, der seinem eigenen Schwanz nachjagt?

Was unterscheidet ein intelligentes Wesen von einem nur vernunftbegabten? Die Fähigkeit, über den Tellerrand hinaus zu schauen? Reflexion des eigenen Handelns? Situative Transferleistungen? In diesem Fall bestand der Tellerrand aus dem Geländer des Treppenhauses über das Sonni kurz entschlossen kletterte. Was ihn aber trotzdem nicht weiter brachte. Ein falscher Schritt, ein unglücklicher Griff, und er stürzte ab. Aber auch dieser Sturz hatte etwas surreales: Er endete nicht. Stattdessen rauschten die Treppen in unendlichen Wiederholungen an Sonnis fallendem Körper vorbei, oder Sonni an der Treppe. Wer konnte das schon sagen? Es gab keinen Anfang und kein Ende.

Es gibt keinen Ausgang!

Schlagartig wurde dem Kriminalkommissar klar, was Kevins Unterbewusstsein erschaffen hatte: Eine Falle. Ein mental-virtuelles Gefängnis, aus dem es keinen Ausweg gab. Dieser hinterhältige Kerl. Wie kam er nur auf solch geniale Ideen? Sonni musste sich eingestehen, dass er seinen Kollegen ein klein wenig unterschätzt hatte. Wie es schien, hatte der es nämlich faustdick hinter den Ohren, zumindest was sein Unterbewusstsein betraf.

»Kevin, es reicht!«, rief Sonni, dem die Sache langsam zu bunt wurde, laut ins Nichts. »Ich bin nicht hier, um mit dir Spielchen zu spielen, sondern um dir zu helfen. Also höre verdammt noch mal mit dem Scheiß auf!«


Zapp!


»Okay!«

Das Treppenhaus war verschwunden. Zurück geblieben war ein hellgraues Nichts, in dem sich Kevin und Sonni gegenüber standen. Obwohl stehen es nicht wirklich beschrieb. Mangels Boden auf dem sich gemeinhin Füße und die damit verbundenen Beine gegen die Schwerkraft abzustützen pflegten, fehlte irgendwie die Grundvoraussetzung für die Tätigkeit des Stehens. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es außer dem Boden auch keine Wände oder eine Decke gab. Es gab nur ein schattenfreies Hellgrau, in dem sich ebenfalls völlig schattenfrei und gleichmäßig von nicht vorhandenen Lichtquellen ausgeleuchtet die zwei Kriminalpolizisten gegenüber sahen.

»Okay?«, hakte Sonni verdattert über den neuen Situationswechsel nach.

»Du willst keine Spielchen spielen? Gut, spielen wir keine Spielchen. Sag mir lieber, was passiert ist! Wo bin ich? Was ist das, das versucht in meinen Verstand einzudringen? Wie kommst du hierher?«

»Ähm...«, stammelte Sonni leicht überfordert. Kevin wirkte redlich verzweifelt und sichtlich angegriffen. »Die Kurz- oder Langversion?«

»Die extrakurze Version. Da ist etwas in mir, das mich angreift, meinen Verstand vergiftet. Sonni, da sind unheimliche, grausame fremde Gedanken in mir.«

»Also die Expressversion: Gabe ist ein Engel, ein Schutzengel, der dich mit Schutzzaubern aufgeladen hat. Einer oder mehrere dieser Zauber haben sich entladen, als du Lugner Feuer geben wolltest. Der Mann ist verflucht. Bei der Entladung muss etwas von seinem verdammten Unterbewusstsein in dich eingedrungen sein und versucht nun, deinen Verstand zu übernehmen.«

»Shit!«


Wie treffend doch diese vier Buchstaben Kevins Situation auf den Punkt brachten. Es benötigte keine Experten, um zu erkennen, wie angeschlagen Sonnis Kollege war. Es war vollkommen unzweifelhaft, dass er niemals in der Lage war, sich noch wesentlich länger gegen Lugner zu verteidigen, geschweige denn, gegen ihn anzutreten.

Mit dieser Situationsbeschreibung drängte sich zwangsläufig die Frage auf, wie sich Lugners ebenso unfreundliche wie feindliche Übernahme von Kevins Verstand stoppen ließ. Sonni dämmerte, dass ihm die Rolle zufiel, gegen den widerlichen roten Gammelgestank anzutreten, und dass eher, als ihm lieb war. Noch während er über seine Optionen nachdachte, begann sich nämlich die hellgraue Welt um ihn herum zu zersetzen. Es startete an einer kleinen Stelle. Das Hellgrau wurde erst etwas dunkler, irgendwie schmutzig, wurde rostig und warf Blasen. Die verfärbten Stellen begannen abzubröckeln und zerbröselten, als ob eine Säure sie zerfressen würde. Wie nicht anders zu erwarten, quoll unverzüglich der eklige, leuchtend violettrote Dunst durch die entstandenen Löcher herein. In Sekunden erfüllte brechreizerregender Gestank den Raum. Dabei hatte das widerliche Zeug die zwei Männer, genaugenommen ihre Avatare, noch gar nicht erreicht. Und wenn es nach Sonni ging, dann sollte dies auch niemals geschehen.

Der Dunst hatte andere Pläne. Rasend schnell gelang es ihm, den grauen Raum großflächig zu zerfressen. Langsam begann Sonni zu begreifen, was dieser merkwürdige Ort eigentlich war, nämlich Kevins letzte Zuflucht. Eine mentale Schutzhülle, die aber von Lugners bösartigem Verstand mehr und mehr aufgelöst wurde.

»Aahhhhh!«

Ein markerschütternder Schrei riss Sonni aus seinen Gedanken. Unbemerkt war es einem Dunsttentakel gelungen, sich an Kevin heranzuschleichen. Im letzten Moment hatte dieser den Angriff des abartigen Zeugs noch bemerkt und war sofort zurückgezuckt, wobei aber etwas von der violettroten Substanz seinen Handrücken berührte. Der Kontakt war nur ganz kurz und bestenfalls oberflächlich, doch reichte er aus, dass sich Kevins Haut ebenfalls zersetze und Blasen warf. Es war kein Wunder, dass der Kriminalkommissar zur Ausbildung vor Schmerzen schrie. Sonnis Reaktion darauf verwunderte hingegen schon, insbesondere ihn selbst. Instinktiv versuchte er den Dunst mit seinen Händen weg zu wedeln. Welche Konsequenzen dies für ihn oder seine Greiforgane haben könnte, war ihm in diesem Moment vollkommen egal. Trotzdem staunte er nicht schlecht, als der Dunst knisternd und stinkend verbrannte, kaum dass Sonni mit ihm in Kontakt geriet.

»Interessant...«, murmelte der Polizist und hielt fasziniert seinen Kopf schief. Tatsächlich begann der Ekelnebel vor ihm zurückzuweichen, ihn zu umrunden und auf Kevin aus einer anderen Richtung zuzukriechen. Entschlossen, die Sache zu Ende zu bringen, sprang Sonni dazwischen, direkt in den Dunst. Das Zeug reagierte, als ob jemand ein brennendes Streichholz an Schießbaumwolle gehalten hätte. Zischend, knisternd und bestialisch nach Scheiße stinkend ging der Dunst in Flammen auf. Zurück blieben kleine graue Ascheflocken, die erst durch den Raum flogen und sich dann in Nichts auflösten.

Begeistert über seine Entdeckung, ein Gegenmittel gefunden zu haben, ließ Sonni alle Vorsicht fahren und griff Lugners Hinterlassenschaft in Kevins Geist direkt an. Vielleicht hätte er ein wenig umsichtiger agieren sollen. Die Hülle des grauen Raums war inzwischen dermaßen dünn und brüchig geworden, dass sie bei der leisesten Berührung zerbröselte. So subtil, dass sich von einem vorsichtigen Vorgehen sprechen ließ, war Sonni dann definitiv nicht. Ein Schritt reichte aus und die Barriere brach in sich zusammen. Statt eines unendlichen Graus gab es nur noch schwarz, undurchdringliche, unendliche Dunkelheit in der eine gigantische dunkelviolette, nach verfaultem Fleisch stinkende Wolke schwebte und dabei direkt auf Kevin zuhielt.

»Oh nein, Kevin bekommst du nicht!«, schrie Sonni und stürzte direkt auf die Wolke zu. Was dann passierte, kann nur als Miniapokalypse bezeichnet werden. Aus Sonnis Augen floss Feuer. Es sprudelte aus ihnen heraus wie Wasser aus einem Gartenschlauch, hüllte seinen Avatar ein und verwandelte den Körper des Polizisten in eine Flammensäule. Diese begann zu rotieren, in einer immer schnelleren Kreisbewegung um ihn herum zu kreisen und sich in einen Tornado aus Feuer zu verwandeln. Fauchend begann die Windhose alles aufzusaugen, das in seine Nähe geriet, was primär den violettroten Stinkdunst betraf.

Der reagierte. Statt weiter auf Kevin zuzuhalten, zog sich das merkwürdige Zeug zusammen. Der Dunst verdichtete sich und gewann dabei an Substanz. Das Zeug wallte auf, begann ekelhaft feucht zu glänzen, waberte herum, gewann an Form, wobei sich tentakelartige Fortsätze ausbildeten, sich umstülpten und selbst zu verschlucken schienen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich der Dunst zu einer himbeerfarbenen gallertartigen Masse verfestigt, die aber bei weitem nicht so gut roch, wie die leckeren namensgebenden Früchte. Ganz im Gegenteil. Der sich ausbreitende Gestank raubte Sonnis Sinne und verlangte ihm höchste Konzentration ab, um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben.

Die Masse wuchs. Völlig widersinniger Weise und entgegen aller Vernunft nahm das Zeug an Größe zu. Immer mehr Tentakel bildeten sich aus, die wie Peitschen um sich schlugen und dabei auch in Sonnis Feuertornado eindrangen. Doch kaum, dass die dunkelviolette Masse die Flammen berührte, fing sie Feuer und verbrannte knisternd zu dunkelgrauer Asche, die selbst wieder in Rauch aufging, während die Ränder der Masse hellgelb aufglühten. Lugners Hinterlassenschaft verbrannte. Sie verbrannte zu Rauch und Sonni begriff, dass er etwas gefunden hatte, mit dem er Lugner besiegen und Kevin retten konnte.

Oder auch nicht – die Freude über den möglichen Angriffspunkt währte nicht lange. Der Rauch, die verkohlten Überreste des Himbeerglibbers, wurde vom Feuertornado nicht einfach fortgewirbelt, sondern ähnlich einem Staubsauger aufgesogen. Mit jeder Aschenflocke, die Sonni aufnahm, wuchs seine Übelkeit und schwächte seine Konzentration und Kraft. Verdammt! Sonni fluchte innerlich. Wie sollte er gegen so etwas ankämpfen?

Firewall I

Allein, das war Sonni ziemlich schnell klar, würde er Lugners Hinterlassenschaft nicht besiegen können. Es war einfach zum Verzweifeln: Da verfügte er offensichtlich über Höllenfeuer, wofür er sich vermutlich bei Felix bedanken musste, mit dem sich der Ekelglibber ziemlich effektiv bekämpfen ließ, um dann umgekehrt durch den sich einstellenden Erfolg einen Tritt in den Arsch zu bekommen. Faktisch befanden sie sich in einer Pattsituation: Sonni konnte zwar die bösartige Ekelentität in Schach halten, sie aber nicht besiegen, da dies seine Kräfte überforderte. Umgekehrt konnte diese zwar ein paar Stiche gegen Sonni setzen, ein Frontalangriff hätte aber die eigene Vernichtung durch das Höllenfeuer bedeutet. Am Ende lief alles auf die Frage hinaus, was Kevin aus der Situation machte. Schließlich war es sein Verstand, der auf dem Spiel stand.

Gehüllt in lodernde Flammen belauerte Sonni den vor sich hinblubbernden Lugnerschen Glibber, um umgekehrt von diesem genauso belauert zu werden. Immer wieder versuchten einzelne Tentakel am Feuerwirbel vorbei nach Kevin zu angeln, wurden aber jedes Mal von einer Stichflamme seitens Sonni in Asche verwandelt. Dieser fragte sich, wie lange das Spiel wohl so weitergehen konnte. Und da er bereits dabei war, ins Grübeln zu verfallen, drängten sich ihm ein paar sehr generelle Fragen auf: Wenn in Kevins Bewusstsein eine Sekunde verging, wie viel Zeit verging dann in der realen Welt? Was würde geschehen, sollte sich das Problem mit Glibberlugner nicht lösen lassen? Was wäre, sollten ihm die Kräfte schwinden? Oder im schlimmsten aller Fälle: Was, wenn ihn sein Gegner besiegen sollte?

Fast hätte Sonni eine Antwort auf die letzte Frage schneller erhalten, als ihm lieb gewesen wäre. Die Grübelei führte nicht nur zu nichts, sondern hatte ihn auch für einen Moment abgelenkt. Dies nutzte der Lugner-Himbeer-Avatar sofort aus. Aus heiterem Himmel schossen drei Tentakel aus seinem Protokörper hervor und hielten, Sonni elegant umgehend, direkt auf Kevin zu. Das Ding wusste ganz genau, in wessen Bewusstsein es steckte. Sein Ziel war Kevin und Sonni nur ein lästiges Hindernis. Allerdings eines, dem deutlich kniffeliger beizukommen war, als vermutet. Noch bevor die Glibbertentakel ihr Ziel auch nur ansatzweise erreichten, flammte Sonnis Feuer mir Macht auf und bildete eine regelrechte Flammenwand, die alles in ihrem Weg in Sekundenbruchteilen in Rauch und Asche verwandelte.

Dumm nur, dass die schlangenartigen Fortsätze vom Feuer nur zerteilt, nicht aber verbrannt wurden. Statt nun, wie für abgetrennte Körperteile üblich, regungslos zu Boden zu fallen, entschieden diese weiter in Richtung Kevin zu robben. Obwohl sie über keinerlei sichtbare Sinnesorgane verfügten, schienen sie ihr Ziel irgendwie wittern zu können und hätten es letztendlich auch erreicht, wäre Sonni nicht mit drei gezielten Feuerbällen zur Stelle gewesen, die den Glibberwürmern kurzerhand den Garaus machten.

»Du wirst nicht aufgeben, oder?«, wollte Sonni von Lugners Hinterlassenschaft wissen, rechnete aber nicht wirklich mit einer Antwort.

»Niemals« blubberte die gallertartige Substanz und klang dabei wie jemand mit behandlungsbedürftiger Flatulenz. »Er gehört mir!«

Wenn Sonni bisher die Meinung vertrat, dass der Gestank seines Gegenübers nach vergammeltem Fleisch unmöglich zu toppen sei, sah er sich mit dessen Lautäußerungen unschönerweise eines besseren belehrt. Die Worte klangen nicht nur nach Darmgasen, sie rochen auch so. Zum süßlichen Gammelgestank gesellte sich der Duft eines Klos nach dem Besuch einer gesamten Schulklasse mit akuter Magen-Darm-Infektion hinzu. Sonnis Geruchssinn operierte jenseits seiner Belastungsgrenze. Der Gestank war dermaßen unerträglich und beißend, dass es ihm Tränen in die Augen trieb.

»Ah«, furzte der Glibber triumphierend, »Geht es uns etwa nicht gut?«

Die Gestankswelle der Worte traf Sonni wie ein Vorschlaghammer. Er wankte. Sein Feuer flackerte und wurde schwächer.

»Och, gefällt dir mein feiner Duft nicht?«, krachte ihm die nächste Darmgaswolke entgegen.

Moment? Darmgase? Ein Flashback durchzuckte Sonnis Gedankenwelt. Für einen kurzen Moment war er wieder vierzehn. Es war Sommer. Hochsommer in Schweden, im Ferienhaus seines Großvaters. Um es genau zu nehmen war er, wie eigentlich immer, damit beschäftigt, zusammen mit seinem besten Kumpel Kjell nichts als Unsinn auszuhecken. Dieser Unsinn bestand primär darin, sich gegenseitig ihre durch die Unterhosen geblasenen Fürze anzuzünden. Das Zeug fackelte mit verdammt geilen Stichflammen ab, sogar so geil, dass es das eine oder andere Haar versengte, welches definitiv nicht von den Köpfen der beiden stammte. Erst später erfuhren die zwei, dass ihr Spielchen alles andere als ungefährlich war. Die Flammen konnten zurück in den Darm schlagen und diesen explodieren lassen, was dann zu einem fatalen, sprich tödlichen Ende geführt hätte. Doch wie hochpubertäre Jungs eben so sind, zeigte sich diese Information alles andere als dazu angetan, sie von weiteren Experimenten abzuhalten. Stattdessen verwendeten sie einfach zwei Unterhosen, was die Sache ähnlich einer Grubenlampe explosionssicher gestalten sollte.

Winkte da Sonnis Unterbewusstsein mit dem Zaunpfahl? Die Flatulenzen des Glibbermonsters mochten zwar reine Geistesprodukte sein – Geistesfürze sozusagen – physisch existent war hier nichts. Aber waren sie deswegen weniger real?

»Und, gibst du auf?«, krachte ihm ein Lachfurz entgegen.

»Niemals!«, rief Sonni und schleuderte dem violettroten Glibbermännchen einen veritablen Feuerball entgegen.

»Nein!«, brüllte Pseudolugner und beging damit den größten Fehler, den er überhaupt begehen konnte. Die mit seinem Ausruf einhergehenden Ausdünstungen schienen sich nach einem zündenden Funken regelrecht zu sehnen. Die Kombination aus Zündenergie und einem hochexplosiven Gasgemisch war beeindruckend. Sonnis Wahrnehmung wechselte zur bullet time. Alles verlief in Superzeitlupe. Die Reaktionsfront des vom Feuerball entzündeten Furzgases lief rasend schnell auf den Glibberhaufen zu, der, dumm wie er war, vor lauter Entsetzen sein Pseudomund aufriss und zu schreien begann – ein ultimativ fataler Fehler.

Und fast in doppelter Hinsicht. Sonni sah, wie die Stichflamme in den Lugnerglibber rannte und dort den finalen Akt des Dramas einleitete.

Shit! durchzuckte ein einzelner Gedanke den Polizisten. Noch bevor sich aus dem Geistesblitz ein konkreter Gedanke formen konnte, hatte Sonni instinktiv eine Wand aus hell und hoch loderndem Feuer entfacht, um sich und vor allem Kevin vor den unvermeidlichen Glibberfetzen abzuschirmen.

Unvermeidlich – Glibberlugner explodierte. Sein eigenes Megafurzgas zerriss den stinkenden Haufen viollettroter Gammelmasse von innen heraus. Weite Teile wurden vom herausbrechenden Feuerball verzehrt. Einige Fragmente entschieden sich aber dazu, auf der Schockwelle der Explosionsfront zu surfen und geschossartig durch die Gegend zu fliegen. Das Zeug sah eigentlich total lächerlich aus, als ob eine Herde Elefanten mit Schnupfen gleichzeitig ihre Rüssel entleert hätten. Allerdings hatte Sonni keineswegs vergessen, welche üble Reaktion selbst eine nur ganz oberflächliche Berührung bei Kevin hervorgerufen hatte. Umso wichtiger war die Wand aus Feuer, seine Firewall, die alle in ihre Richtung fliegenden Rotzeklumpen in Asche verwandelte.

Aber eben nur die, die in ihre Richtung flogen. Der Rest verteilte sich großflächig in der Gegend, bildete Kleckse, die sich zu einem großen Klumpen zusammenrotteten, welcher dann einfach nur da hockte und lauerte. Währenddessen kämpfte Sonni mit einem massiven Schwächeanfall. Die von seiner Firewall abgefangenen Glibberfetzen waren zu Asche verbrannt, die dann ihre giftige Wirkung entfaltete und bei Sonni Erschöpfung, Übel- und Müdigkeit auslöste. Zum Glück waren mehr als zwei Drittel des Pseudokörpers bei der Explosion rückstandslos verbrannt. Zehn Prozent gingen in der Wand aus Feuer. Am Ende blieb noch gut knapp ein Viertel des ekelhaften Glibbers übrig.

Ein Viertel?

Ein Viertel! – warum nicht?


»Oh, Scheiße.«, stöhnte Sonni, der sich zum dritten Mal den Mund mit Wasser ausspülte. »Ich hätte nie gedacht, dass einem dermaßen speiübel sein kann.«

»Du hast Kevin von seiner Besessenheit befreit.«, gab Schutzengel Gabe zu bedenken. »In früheren Zeiten wurde so etwas Exorzismus genannt. Dem Besessenen – sorry, Felix – der Teufel ausgetrieben.«

»Und so fühl ich mich auch.«, knurrte Sonni, rappelte sich auf und verließ sein Badezimmer in Richtung Küche, um sich eine Flasche Mineralwasser zu besorgen.

»Gabriel hat Recht«, fügte Felix hinzu, der zusammen mit dem Engel Sonni in die Küche gefolgt war. »In früherer Zeit, vor der Entdeckung von Psychoanalyse und Psychiatrie, waren Geisteskrankheiten als Erkrankung unbekannt. Psychosen, Wahnvorstellungen, manisches oder zwanghaftes Verhalten wurde uns armen Teufeln in die Schuhe geschoben. Die Betroffenen galten als von bösen Geistern besessen. Nun, heute wissen wir es besser. Jedenfalls in den meisten Fällen. In einzelnen Fällen beruhten und beruhen die Wesensveränderungen aber tatsächlich auf fremden Einfluss. Diese Leute sind tatsächlich besessen, etwa von einem Fluch, einer Beschwörung oder, wie im Fall von Kevin, von einem fremden Bewusstsein, das in ihn eingedrungen ist.«

»Hm...«, knurrte Sonni skeptisch und trank eine halbe Mineralwasserflasche leer.

»Du hast es selbst erlebt«, gab Feuerdämon Felix zu bedenken. »Du erlebst die Nachwirkungen, oder glaubst du, deine Kotzerei wäre Zufall?«

»Wohl nicht.«, erwiderte Sonni matt.

»Hey, es ist okay, wenn du zweifelst.« Felix schnappte sich einen der Küchenstühle, drehte ihn um und setzte sich mit der Rückenlehne nach vorne zu Sonni an den Küchentisch. »Du warst gut. Du warst sogar richtig gut. Wenn wir, Gabe und ich, geahnt hätten, wie massiv Kevins Kontamination mit Lugners Geist wirklich war, hätten wir dir niemals erlaubt, gegen ihn anzutreten.«

»Hab ich wirklich Höllenfeuer eingesetzt?«

»Jein«, meinte Felix zögernd. »Was du erlebt hast, war eine Visualisierung durch Kevins Geist. Du musst es dir so vorstellen, dass die Rettung Kevins und dein Kampf gegen den Dunstglibber eigentlich nur abstrakte, das heißt formlose Interaktionen mit Kevins Unterbewusstsein waren. Um aber mit dir interagieren zu können, musste Kevin einen Rahmen, eine Art künstliche Realität schaffen. Tim hat dir doch erklärt, dass weder Himmel noch Hölle existieren, sich eure menschlichen Seelen aber trotzdem nach dem Tod ihrer Körper darin wiederfinden. Es ist der gleiche Mechanismus. Der Geist, das Bewusstsein oder die Seele, egal, wie du es nennst, schafft sich seine eigene Wirklichkeit, die auf schwer verständliche Weise sehr reale Wirkung entfalten kann. Dein Kampf, obwohl virtuell, fand faktisch auf Leben und Tod statt.«

»Oh!«, entfuhr es Sonni, dem bei dieser Offenbarung fast wieder schlecht wurde. »Und wieso Höllenfeuer?«

»Ähm«, stammelte Felix verlegen und wurde tatsächlich rot.

»Was?«, bohrte der Polizist in Sonni neugierig nach.

»Naja...«, eierte Felix um den heißen Brei rum. »Für die Visualisierung der Scheinwirklichkeit hat Kevin nicht nur auf sein Bewusstsein und seine Erinnerungen zurückgegriffen. Deine Verbindung mit ihm erlaubte ihm Zugriff auf dein Bewusstsein. Nun... ähm... es scheint, als ob unsere Nummer einen ziemlichen Eindruck in dir hinterlassen hat. Ich habe dich dann doch wohl ein bisschen stärker durchgeknuspert, als ich dachte.«

»Ach, hast du das?« Sonni musste grinsen. Der Sex mit diesem netten Chemiestudenten war im wahrsten Sinne des Wortes heiß gewesen, was insbesondere daran lag, dass der Mann eben auch ein Dämon war, der Hüter des Fege- und des Höllenfeuers. Nach einem im Verhältnis konventionellen Liebesspiel auf Küchentisch und im Bett, wollte Sonni es genau wissen und forderte Felix auf, ihm sein wahres Wesen zu zeigen. Und das tat der dann auch und zeigte seinem neuen Freund, was feuriger Sex bedeuten konnte.

»Komm, lass uns ins Bett gehen. Du solltest dich erholen.«

»Okay, aber...«

»Ja?«

»Was ist mit Kevin? An was wird er sich erinnern?«

Felix und Gabe, die Sonni in der Küche gegenüber saßen, zuckten mit den Schultern, sahen sich etwas ratlos an und zuckten erneut mit den Schultern. Sie wussten es nicht.

»Vielleicht an alles, vielleicht aber auch an nichts.«, brachte es Gabe auf den Punkt. »Das ganze spielte sich irgendwo zwischen Unter- und Bewusstsein ab. Je nachdem, welche dieser beiden Ebenen stärker ausgeprägt war, kann es sein, dass sich Kevin sehr gut an deinen Kampf um seine Seele erinnern wird. Es kann aber auch sein, dass es ihm wie nach einem Albtraum ergeht, der zwar ein unangenehmes und unheimliches Gefühl zurück lässt, an den man sich, außer dem Wissen, dass man ihn hatte, aber überhaupt nicht erinnern kann. Möglich ist leider auch, dass in der nächsten Zeit einzelne Erinnerungsfragmente an die Oberfläche gelangen. Das kann leider zu allen möglichen und vor allem auch unmöglichen und unpassenden Gelegenheiten passieren. Ich werde deswegen mehr als nur ein Auge auf Kevin werfen. Schließlich bin ich ein Schutzengel und am Ende wohl auch nicht ganz unschuldig an dem ganzen Schlamassel!«

»Oh bitte, Gabe, Baby, quäl dich nicht selbst. Überlass das uns Profis«, zog Höllendämon Felix seinen gefiederten Freund auf. »Wie war das noch gleich? Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Dass du dir nicht unnötig Asche aufs hübsche platinblonde Haupt streuen sollst. Ja, natürlich waren deine Schutz- und Heilzauber an Kevins Situation nicht unbeteiligt. Du solltest aber die eigentliche Ursache nicht vergessen, und die hört auf den Namen Lugner. Und jetzt Schluss mit dem Trübsal. Lasst uns endlich ins Bett gehen. Ich werde ein wenig den Zeitverlauf anpassen. Ihr solltet daher bis morgen früh vermeiden, die Wohnung zu verlassen. Das könnte sonst zu, äh, unschönen... ähm, lasst es einfach!«

Wie schon in der Nacht zuvor, sorgte Feuerdämon Felix erneut dafür, dass die Zeit innerhalb von Sonnis Wohnung schneller verlief, als außerhalb. So konnte Sonni pünktlich im LKA auf der Matte stehen und bekam trotzdem genug Schlaf. Der war auch dringend nötig. Zwischenzeitlich zeigte die Uhr der Mikrowelle in der Küche vier Uhr siebenundvierzig, was bei Sonni reflexartiges Gähnen auslöste.

»Gehen wir schlafen.«

Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Während Gabe ins Gästezimmer zu Kevin ins Bett schlüpfte, bedachte Felix seinen Polizistenfreund mit einem ebenso fragenden wie kecken Blick. Obwohl hundemüde, konnte es sich Sonni nicht verkneifen, auf seine neu gewonnene Wahrnehmung umzuschalten. Der Ifrit tat das, was Feuerdämonen gemeinhin tun: Er brannte. Er brannte sehr ruhig, mit entspannten, fast schon verspielt wirkenden, kleinen blauen Flämmchen. Sonni schüttelte über sich selbst erstaunt den Kopf.

»Was?«, wollte der feurige Chemiestudent wissen.

»Ich bin über mich selbst erstaunt. Vor wenigen Tagen war meine Welt noch in Ordnung. Dann brechen Himmel und Hölle über mich herein. Ich erfahre, dass ein alter Bekannter ein waschechter Erzengel ist, der Leibhaftige ein Auge auf mich geworfen hat und sich ein Feuerdämon nicht nur als fantastischer Liebhaber entpuppt, sondern sich in einen wirklich guten Freund verwandelt. Felix, ich mag dich. Ich mag dich wirklich.«

»Du hast keine Ahnung, was das für mich bedeutet.«, erwiderte der Dämon verlegen, was sich in Farbe und Intensität seiner Flammen widerspiegelte. »Als Teufelchen hast du es mit Sympathiepunkte sammeln eher schwer.«

»Tja, an eurem Image müsst ihr wirklich arbeiten.«

»Ach Sonni, wenn dem so einfach wäre...«, seufzte Felix. Die zwei Männer hatten das Schlafzimmer erreicht und sich ihrer Kleidung auf erstaunlich beiläufige Weise während ihrer Unterhaltung entledigt. Sonni war als erster unter die Bettdecke geschlüpft und hielt sie nun dem Dämon einladend auf, der die Einladung freudig annahm, zu seinem Gastgeber krabbelte und sich lust- und liebevoll an ihn schmiegte.

»Was meinst du?«

»Himmel und Hölle, Engel und Teufel, Gut und Böse.« Felix klang traurig. »Eigentlich geht es um Balance. Ohne Tim, den sogenannten Teufel, Leibhaftigen, gefallenen Engel, gäbe es keine Entwicklung, keine Kreativität, keine Kunst, keine Ideen, keine Zukunft. Wir sind die Kraft, die euch vorantreibt. Allerdings benötigt diese Kraft wie jede andere eine Gegenkraft, ein Regulativ. Es sind Engel wie Gabe und Raphael, die für Ordnung und Struktur sorgen, für Vernunft und Reflexion. Wir, Engel wie Teufel, sind die zwei Seiten einer Medaille. Es geht nicht um gut oder böse, sondern um Stillstand oder Chaos. Ein Mensch ist nicht böse, weil er uns Dämonen folgt, genauso wenig ist er gut, wenn er sich den Engeln anschließt. Denn beide Wege sind Irrwege und gleichermaßen grausam. Eine Gesellschaft, die alles und jedes mit Gesetzen versucht zu regulieren, jede kleinste Verletzung der Regel unbarmherzig ahndet, die erstickt und stirbt. Umgekehrt kann eine Gesellschaft ohne Regeln, in der nur der eigene Egoismus, die Macht des Stärkeren, zählt, nur zu Anarchie und letztlich im Tod enden.«

»Ich verstehe«, flüsterte Sonni und zog Felix, den Chemiestudenten, den Dämon und Hüter des Höllenfeuers, fest an sich. »Oh, ich verstehe dich nur zu gut. Einer meiner ersten Fälle war ein Familienvater, dessen Kontrollwahn ihn zu einem Mörder werden ließ. Er hasste Veränderungen, konnte es nicht ertragen, dass sich seine Kinder zu selbstbewussten und vor allem selbständig denkenden Menschen entwickelten. Entwicklung, das heißt Chaos und Kontrollverlust. Jetzt verstehe ich, warum ihr mit dem Bösen assoziiert werdet. Wir Menschen scheuen Veränderungen. Wir sind neugierig, aber inkonsequent, weil wir die Früchte unserer Neugier nicht ernten wollen.«

»Nun, zum Glück denken nicht alle Menschen so.«, gurrte Felix und strich Sonni mit flammenden Handrücken über dessen Wangen. Zwei gelbrot glühende Dämonenaugen schauten den Polizisten gleichzeitig verträumt, aber auch ernst an. »Aber täusch dich nicht. Wir Dämonen können sehr manipulativ sein. Natürlich war Tim die Schlange im Paradies. Er zeigte euch Menschen den Weg zur Erkenntnis. Pries den Apfel als köstlichste Speise von allen an. Und genauso natürlich unterließ er es, das Kleingedruckte zu erwähnen, dass Erkenntnis, Wissen und Verstehen ihren Preis haben, nämlich Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen zu müssen. Ich weiß, ich weiß. Für so eine späte Stunde wie diese ist das alles ziemlich bedeutungsschwangeres und verkopftes Zeug, was ich hier absondere. Eigentlich wollte ich dir nur danken, dass du uns, Gabe und mich, so nimmst, wie wir sind. Du begegnest und unvoreingenommen und ohne Vorurteile. Nur weil ich Hörner und einen Teufelsschwanz trage, bin ich nicht böse. Genauso wenig wie Gabes Flügel ihn zu einem guten Wesen machen.«

»Was hat Tim vor?«

»Wow, bist du gut.« Felix war verblüfft. »Du musst wirklich ein sehr guter Kriminalkommissar sein. Du hast Recht, der alte Teufel spielt wieder sein Spiel. Aber ich muss dich enttäuschen. Ich weiß nicht, was er vorhat. Und selbst wenn ich es wüsste, könnte ich es niemals verraten. Ich kann dir aber etwas anderes verraten: Er mag dich. Er mag dich wirklich, was ihn aber nicht daran hindert, auch dich zu manipulieren. «

»Kann ich ihm trauen?«

»Ja und nein.« Felix grinste diabolisch. »Hey, was erwartest du? Er ist der Teufel. Tim wird dir immer die absolute Wahrheit sagen. Der Teufel lügt nicht. Er muss nicht lügen, um zu manipulieren. Tim wird dir jede Frage vollkommen aufrecht und ehrlich beantworten. Allerdings...« Der Dämon im Bett überließ es Sonni, den Satz zu vollenden. Der nickte als Zeichen des Verstehens.

»Das Wissen hat seinen Preis. Er wird es mir überlassen, die Informationen zu interpretieren und sie so formulieren, dass ich zu von ihm gewünschten Schlüssen komme.«

»Die Doppelzüngigkeit des Teufels.« Felix grinste. »Wir müssen wirklich etwas für unser Image tun. Die beiden platinblonden Jungs sind nämlich nicht besser. Die manipulieren und tricksen genauso wie wir, wenn auch mit anderen Mitteln.«

»Oh, lass mich raten. Während Tim eher unsere Lust und Begierden reizt, wird Erzengel Raphael die Risiken und Konsequenzen einer neuen Idee herausstreichen und an unsere natürliche Vorsicht appellieren.«

»Ich könnte es nicht besser formulieren.« Der Dämon zeigte einen für Sonni überraschend ernüchterten Gesichtsausdruck. »Mir ist das bisher nie so richtig bewusst geworden.«, gestand das feurige Wesen. »Aber eigentlich verhalten wir uns wie die letzten Arschlöcher. Engel und Teufel – damit da keine Missverständnisse entstehen. Wir treiben unser Spiel mit euch. Geben euch Zuckerbrot und Peitsche, lassen euch dann aber mit den Resultaten allein. Oh, shit, ich Dumpfbacke! Wie konnte ich nur so blind sein?« Felix geriet richtig in Rage. Sein bisher ruhig vor sich hin flackerndes Feuer flammte auf, wurde wild und lodernd. »Tim, dieser Teufel! Dieses ausgebuffte Schlitzohr!«

»Was denn? Ich versteh nicht.«, rief Sonni hilflos und sah den lichterloh brennenden Kerl in seinem Bett entgeistert an. Der bemerkte den leicht verängstigten Blick, zuckte über seinen Ausbruch selbst etwas erschrocken zusammen und drosselte sofort seine Glut.

»Tim hat mir eine Lektion erteilt. Es geht darum, warum ich hier bei euch bin. Ich bin der Hüter des Höllenfeuers, sein Verwalter.«

»Ist mir bekannt.«, bemerkte Sonni anzüglich und wurde für diesen Kommentar sofort von seinem persönlichem Feuerdämon sehr sinnlich mit einem heißen Kuss und noch heißeren Händen, die über seinen Körper strichen, bestraft.

»Du kannst dir vorstellen, was mein Job in der Hölle ist?«

»Du veranstaltest mit den verdammten Seelen ein zünftiges Barbecue?«

»Recht bildhaft beschrieben, aber in der Tat alles andere als unzutreffend.« Felix knurrte: »Weißt du, als Teufelchen hast du in der Hölle recht wenig Kontakt zu realen Menschen. Das, was bei uns ankommt, die Seelen, sind abstrakte Gebilde. Du könntest es als eine Art Bewusstsein ohne Körper bezeichnen. Ich sage eine Art, weil, um im Bild der Psychoanalyse zu bleiben, die Grenzen zwischen dem Ich, dem eigentlichen Bewusstsein, dem Es oder Unterbewusstsein und dem Über-Ich, dem Gewissen, aufgehoben sind. Scham und Lust sind ungefilterte, direkte Erfahrungen. Eine verdammte Seele kann sich seiner eigenen inneren Dämonen nicht erwehren, genauso wenig der Reue. Das macht die Hölle so grausam. Höllenfeuer, ewige Mater, ein Meer aus Eis und Blut, madenzerfressene Dämonen mit rasiermesserscharfen Zähnen, die die Verdammten immer und immer wieder langsam verzehren? Jedes noch so abartige Bild der Hölle ist gleichermaßen falsch wie es richtig ist. Alles ist nur eine Metapher, denn es existiert keine realer Ort. Er ist nur so real, wie es der Verdammte werden lässt. Ähnlich dem, was du in Kevins Geist erlebt hast.«

»Okay, ich verstehe, oder auch nicht. Aber wo ist da die Lehrstunde, die dir Tim erteilt?«

»Mitgefühl, Barmherzigkeit, Verständnis und Mitgefühl, vor allem Mitgefühl. Glaubst du, ich kann einfach so in meine kuschelig heiße Hölle zurückkehren und meinen Job wie bisher weitermachen. Er hat dafür gesorgt, dass ich meine Unbefangenheit einbüßte. Ich bin als Mensch unter euch aufgewachsen, erlebe Tagein Tagaus, was es bedeutet, Mensch zu sein, und wie sauschwierig es manchmal ist, Gut von Böse zu unterscheiden. Da willst du Gutes und erreichst am Ende doch nur... Naja, egal. Die Lektion habe ich gelernt.«

Wenn Sonnis Polizisteninstinkte ihn nicht betrogen, steckte hinter Felix Geständnis deutlich mehr. Wenn er richtig vermutete, was er bei solchen Dingen eigentlich immer tat, war dem Feuerdämon ein ziemlich konkreter Fall durch den Kopf gegangen. Sonni beschlich sogar der Verdacht, dass es über diverse Ecken und Kanten sogar mit seinem eigenen Fall in Verbindung stehen konnte. Doch war das Bett nicht der Ort, um einen viel zu schnuckeligen Kerl zur Rede zu stellen. Manche Dinge brauchten einfach etwas Zeit, um sich zu entwickeln, dann, das zeigte Sonnis tägliche Erfahrung, kamen die Antworten von ganz allein.

»Das heißt, du wirst mit deinen Klienten von nun an nachsichtiger umgehen?«, wollte Sonni dann doch wissen, bei dem sich ein wenig das schlechte Gewissen regte, aber die ganz Höllenthematik erregte ihn.

»Nö, ja, nein, ähm, es ist...«

»…kompliziert. Du erwähntest so was.« Sonni musste lachen.

»Hey, verarsch mich nicht.«, lachte nun Felix. »Werde ich nachsichtiger agieren? Ja und nein. Ich habe es schon. In der Hölle gibt es keine Zeit. In ihr habe ich sie bereits verlassen und bin auch in ihr zurückgekehrt. Die Zeit, die ich hier verbringe, gibt es dort nicht. Nur die Erfahrung, dich ich mitbringe. Dort ist es, als wenn ich sie schon immer hatte. Wenn ich wetten sollte, würde ich sagen, dass ich sowohl nachsichtiger, barmherziger, verständnisvoller, aber auch kompromissloser, härter und brutaler geworden bin. Es wird meine Perspektive verändert haben. Ich werde jeden einzelnen Fall wesentlich differenzierter angehen. Schuld ist nicht gleich Schuld. Und Schuld hat auch immer eine Ursache und eine Geschichte. Ich werde in vielen Fällen milder sein, in anderen Fällen hingegen... Nun ja, manchmal muss man halt den Nachbrenner zuschalten.«

»Klingt, als ob du deine Lektion wirklich gelernt hast.«

»Oh, ja. Dank Tim, aber vor allem dank dir.«, meinte Felix, sah Sonni in tief in die Augen, angelte nach dessen Körper und zog ihn dicht zu sich heran. Sanfte Flämmchen mit blauen Spitzen umschlangen die beiden Männer, hüllten sie wie einen Mantel ein und verliehen ihnen eine Geborgenheit, die mit nichts anderem vergleichbar war.

Frühstück

Der nächste Morgen erstaunte Sonni. Manchmal ist Normalität total anormal. Als Sonni erwachte, fand er sich eng, aber in keiner Weise unbequem, an seinen Lieblingsdämon gekuschelt wieder. Weder ein Arm, noch eine Schulter oder gar ein ganzes Paar war verdreht oder unter dem Körper neben ihm eingeklemmt, wie es sonst oft der Fall war, wenn er mit einem netten Typen die Nacht verbrachte. Er fühlte sich einfach nur gut, ausgeschlafen und frisch, was an sich schon mehr als ungewöhnlich war. Der Geruch frisch gebrühten Kaffees und ebenso frischer Brötchen heizte Sonnis Verwirrung nur noch mehr an.

Die Unterhose von gestern und ein T-Shirt der Kategorie »Nach Lüften noch tragbar« mussten reichen, um dem Geheimnis des unzweifelhaften Frühstücksgeschehens auf den Grund zu gehen. In der Küche ging definitiv etwas vor. Anders waren die Stimmen nicht zu erklären, die ihm bereits im Flur entgegen schlugen.

»Moin Sonni«, nuschelte Kevin fröhlich, ein halbes Brötchen mit Erdbeermarmelade verzehrend. »Sorry, wenn ich gestern für Stress gesorgt habe. Ich muss wohl ziemlich flach gelegen haben, wenn du Gabe um Hilfe gebeten hast.«

»An was kannst du dich erinnern?«, wollte Sonni wissen und erntete ein Schulterzucken seitens seines Kollegen.

»Nicht viel. Eigentlich an nichts.«, meinte der. »Wir kamen aus dem thailändischen Restaurant, haben dann noch Doro in ein Taxi gesetzt und dann... hm, Filmriss. Selbst an Doros Taxi kann ich mich nur schemenhaft erinnern. Muss wohl was falsches gegessen haben. Ach nee, kann ja nicht sein. Wir haben ja alle das gleiche gegessen. Muss wohl unser Fall gewesen sein. Der geht echt an die Nerven.«

»Wem sagst du das.«, murmelte Sonni und ließ sich auf einem Stuhl nieder, den ihm Gabe kommentarlos vorgezogen hatte. »Ihr habt Brötchen geholt?«

»Yupp«, tirilierte Kevin fröhlich. »Ich habe Kaffee gekocht und aufgedeckt, während dieser liebe Kerl die Brötchen besorgte.«, erläuterte der Kollege und tat dann etwas, das alle Anwesenden inklusive ihm selbst überraschte. Er küsste Gabe versonnen auf die Nasenspitze, als ob es das selbstverständlichste auf der Welt sei. Sonni wollte gerade eine Bemerkung zum Besten geben, als es hinter ihm – er saß mit dem Rücken zur Küchentür – raschelte und sich Gabes und Kevins Blicke von ihm auf das Geschehen hinter ihm richteten. Sonni brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, was, oder genauer wer, da hinter seinem Rücken stand. Allerdings fiel ihm ein, dass Kevin Felix noch gar nicht kannte, weswegen er eine Erklärung für angebracht hielt.

»Oh, ähm, das ist Felix. Ein wirklich lieber und guter Freund.«, erläuterte Sonni, führte mit der einen Hand seinen Kaffeebecher zum Mund, während die andere ohne sich umzudrehen nach hinten deutete.

»Ein ziemlich nackter Freund!«, merkte Kevin an, dem der Unterkiefer herunter geklappt war und dessen Augäpfel drohten, aus ihren Höhlen zu fliegen. Gabe sagte nichts sondern schmunzelte nur breit und hintersinnig, fast süffisant in sich hinein.

»Ähm, hat jemand meine Klamotten gesehen?«, erklang Felix Stimme mit leicht verlegenem Timbre.

Das reichte, dass sich Sonni prompt an seinem Kaffee verschluckte, husten musste, dabei seinen Bohnenaufguss verschüttete, sodass die heiße Flüssigkeit, der Schwerkraft folgend, direkt in seinem Schoß landete. Die Hitze in Sonnis Schritt war bei weitem nicht so groß, um seinem besten Stück ernsthaften Schaden zuzufügen. Viel desaströser wirkte viel mehr die Schreckreaktion, die durch den sprunghaften Temperaturanstieg an seinem Genital ausgelöst wurde. Sonni sprang auf, riss dabei den Stuhl um und vergoss dabei auch noch den Rest seines Kaffees. Beim Versuch, vor der heißen Brühe zurückzuweichen, verhedderte er sich prompt in den Metallbeinen des gestürzten Sitzmöbels, stolperte, drehte sich im Fallen um diverse Achsen und landete mit seinem Gesicht direkt im Felix Schritt.

»Oh, so ein guter Freund«, entfuhr es Kevin keck, der über seine Bemerkung dermaßen verblüfft oder gar schockiert war, dass er sich beide Hände vor den Mund schlug. »Entschuldigung«, nuschelte er entsetzt und ängstlich, vielleicht die Grenzen der Freundschaft überschritten zu haben. »Ich habe das nicht so gemeint.«

Statt sofort etwas zu sagen, rappelte sich Sonni erst einmal auf, schüttelte den Kopf und fing an zu kichern. Aus dem Kichern wurde ein Glucksen und aus dem Glucksen ein schallendes und dermaßen albernes Gegacker, dass es ansteckte.

»Ähm, ich glaube, ich geh erst mal duschen.«, meinte Felix unsicher, aber sehr breit grinsend.

»Tu das. Und nimm dir einfach Unterwäsche von mir. Linker Schrank im Schlafzimmer.«, rief Sonni seinem Dämon nach, während er sich selbst einen Lappen suchte, um den verschütteten Kaffee aufzuwischen, was Gabe wiederum genug Zeit gab, um seinem Gastgeber eine neue Tasse einzuschenken und mit etwas Küchenpapier das kleine Malheur auf dem Küchentisch zu beheben.

»Nett«, bemerkte Kevin, nachdem sich die Aktivitäten am Tisch von Aufräumarbeiten wieder zur Nahrungsaufnahme verlagert hatten. »Felix, dein Freund, er sieht nett aus.«

»Er sieht nicht nur so aus.«, erwiderte Sonni strahlend und biss genüsslich in eine mit Serranoschinken belegte Brötchenhälfte. Gabe begann zu grinsen und schüttelte ganz leicht seinen Kopf, was Kevin natürlich nicht entging.

»Was?«, hakte der Jungpolizist sofort nach. »Hier läuft doch etwas, wovon ich nichts weiß, oder?«

»Ich kenne Felix schon sehr lange«, erläuterte Gabe fröhlich und mit einem blausilbernen Funkeln in den Augen. »Er ist ein Freund von mir. Und bevor du fragst: Nein, wir sind nicht zusammen. Felix und ich sind... Sagen wir, wir pflegen einen divergierenden Männergeschmack, außerdem hätte es etwas inzestuöses.« Die letzte Bemerkung wurde zwar von einem sehnsüchtigen Blick auf Kevin begleitet, der aber überhaupt keinen psychischen Druck oder gar eine Erwartungshaltung enthielt.

»Ihr habt euch echt zu Dritt um mich gekümmert?«, wollte Kevin wissen. Obwohl er von drei Personen sprach, ruhte sein Blick ausschließlich auf Gabe, selbst als ein nun mit T-Shirt und vor allem Shorts bekleideter Felix in die Küche zurückkehrte. »Und das alles wegen etwas emotionaler Unpässlichkeit? Klingt für mich ein wenig übertrieben. Ich war doch nur ein wenig unpässlich, oder?«

Der ermahnende Ton, in dem Kevin seine Frage stellte, wäre eigentlich nicht notwendig gewesen. Die Frage reichte auch so, um zwischen Sonni, Felix und Gabe einen zwar stummen, aber dafür nicht weniger beredten Wortwechsel zu entfachen.

»Was verschweigt ihr mir?«, bohrte Kevin ziemlich energisch nach. Die Verärgerung in seiner Stimme war unüberhörbar, rührte aber weniger von tatsächlicher Wut als viel mehr Verunsicherung her.

»Ähm...«, setzte Sonni an, ohne zu wissen, was er seinem Kollegen eigentlich erzählen sollte. Dabei wusste er selbst noch nicht so recht, wie er das letzte Erlebnis einordnen sollte. Andererseits wollte er Kevin auch nicht hängen lassen. Was sollte er ihm sagen? Halbwahrheiten empfand er mindestens so schlimm wie direkte Lügen.

»Vertraust du mir?«, sprang unerwartet der bisher eher stille Gabe Sonni zu Hilfe. Er hatte sich Kevin zugewandt und schaute ihm sehr direkt in die Augen.

»Ähm, wieso? Was hat das mit gestern Nacht zu tun?«

»Recht viel.«, erwiderte der Engel und wiederholte seine Frage. »Vertraust du mir?«

»Ich glaube schon.« Kevin kratzte sich am Kinn. »Ja, doch, ich vertraue dir.«

»Gut, dann höre mir gut zu.«, fing Gabe mit hypnotischer Stimme an. Sonni, der den beiden gegenüber saß, konnte nicht nur deutlich sehen, wie die Augen des Engels blausilbern glitzerten und ein silverstermäßiges Feuerwerk abfackelten. Obwohl die mentale Beeinflussung nicht auf Sonni gerichtet war und er sie mit seinen veränderten Sinnen sogar bewusst wahrnehmen konnte, fiel es ihm schwer, sich ihrer Kraft zu entziehen. Kevin hatte dagegen keinerlei Chance und hing an Gabes Lippen wie ein hechelndes Hündchen, dem jemand eine Wurst vor die Nase hielt. »Wir werden dir alles erklären und nichts verheimlichen. Das ist ein Versprechen. Im Moment ist es aber wichtig, dass du deine Fragen für eine Weile vergisst. Es ist nichts passiert. Dich hat der Fall erschöpft. Felix und ich waren in der Nähe, als Sonni mich anrief und um Hilfe bat. Wir sind vorbeigekommen, haben die Nacht bei euch verbracht und darüber gewacht, dass du dich gut erholst. Jetzt sind wir dabei, gemeinsam zu frühstücken. Du fühlst dich erholt und frisch. Kein Schrecken, keine bösen Gedanken sollen deinen Geist peinigen.«

Es blitzte. Gabes Augen blitzen auf und es war, als wenn ein Hypnotiseur mit den Fingern geschnippt hätte. Kevin erwachte aus einer tiefen Trance, in die ihn Gabe offenbar versetzt hatte. Sonnis Kollege blickt sich fröhlich um und langte, als ob nichts geschehen wäre, kräftig bei den aufgetischten Frühstücksspeisen zu.


Der Rest des morgendlichen gemeinsamen Mahls verlief aus Sonnis Sicht sehr entspannt. Kevin langte nicht nur gut zu, sondern zeigte sich auch entspannt und gut gelaunt. Die vier Männer plauderten in entspanntem Tonfall und vollkommen unbefangen miteinander, zogen sich gegenseitig ein wenig auf und ließen es sich einfach nur gut gehen. Natürlich entging Sonni nicht, dass der Blick seines Kollegen immer ein klein wenig länger als üblich auf Gabe ruhte und seine Augen dabei einen versonnenen Glanz annahmen. Umso mehr schmerzte es ihn, das traute Beisammensein beenden zu müssen: Die Arbeit wartete und mit ihr natürlich auch die Kollegin vom BKA, die weder Sonni noch Kevin warten lassen wollte.

Das Wort Arbeit war ein Stichwort. Sowohl Ifrit Felix als auch Schutzengel Gabriel gingen neben ihren übernatürlichen auch noch ganz bodenständigen und sehr realen Tätigkeiten nach. Während Felix meinte, dringend in die Uni zu müssen, um ein ziemlich wichtiges Experiment zu überwachen, das in eine kritische Phase überging, ließ Gabe beiläufig fallen, von seinem Schreibtisch in einer Anwaltskanzlei erwartet zu werden. Sonni wollte es kaum glauben, als Gabe auf die Frage nach seinem biologischen Alter unsicher und fast schüchtern etwas von achtundzwanzig meinte. Dabei sah er aus, als ob er gerade dem Rüpelalter entwachsen sei. Jeder, der es nicht besser wusste, hätte ihn für bestenfalls neunzehn, wenn es hoch kommt, für zwanzig gehalten. Dabei gehörte der Mann zu den Partnern einer sehr angesehenen Anwaltskanzlei. Sein Job im Club bei Raphael war mehr oder weniger Hobby. Sonni stellte sich sofort die Frage, was wohl Gabes Partner davon hielten, dass ihr junger Kollege in einem von Berlins angesagtestem Schwulenclub... – ja, was eigentlich? Zu Sonnis eigener Verwunderung konnte er nicht sagen, welcher Tätigkeit Gabe eigentlich in Raphaels Laden nachging. Go-go-Boy? Barschlampe, sprich Barkeeper? Was es auch immer war, womit er sich im stylischen Etablissement des platinblonden Erzengels befasste, es konnte eigentlich nicht mit dem Moralkodex einer als reaktionär konservativen verschriebenen Kanzlei verträglich sein. Sonni hatte einige ihrer Anwälte als Nebenkläger in Strafprozessen am Landesgericht erlebt und nur den Kopf geschüttelt. Für die galt Homosexualität immer noch als »Tragische Veranlagung« oder behandlungsbedürftige Geisteskrankheit. Also, wie kam es, dass ausgerechnet ein megaschwuler Engel für so einen Laden arbeitete und sogar zu dessen Partnern zählte?

Die Fragen konnten und mussten warten. Es gab wichtigeres: einen toten Chemielobbyisten, einen ebenso toten Juwelier und einen tragisch verstorbenen Polizisten. Nein, eigentlich waren es zwei Polizisten, wenn er Dorotheas Kollegen vom BKA mitzählte, die nach Aufklärung ihrer Todesumstände verlangten. Anders ausgedrückt: Auf Kevin und Sonni wartete klassische Polizeiarbeit.

»Was hältst du von Gabe?«

Nach Gabe und Felix verließen kurze Zeit später auch Kevin und Sonni dessen Wohnung und schlenderten gemütlich in Richtung Motorrad des älteren Kommissars. Der KK zur Ausbildung hatte sich gut gefangen. Von der Kontamination mit Lugners besessenem Geist war nichts mehr zu sehen. Ganz im Gegenteil: Kevin wirkte gut gelaunt, fröhlich, energiegeladen und sogar fast ein wenig überschwänglich. Es war seine Idee, das Motorrad zu nehmen, obwohl sich der Weg eigentlich nicht lohnte. Gekleidet in seine neue Lederhose und mit zwei Helmen in der Hand standen die beiden Polizisten neben Sonnis Motorrad. Ein feines, fast keckes und auf jeden Fall erwartungsfrohes, funkelndes Blinzeln umspielte die Augen Kevins. Sonni musste unfreiwillig grinsen. Obwohl er seinen Kollegen bisher für komplett heterosexuell hielt, schien dieser drauf und dran zu sein, sich in den Engel zu vergucken.

Die Frage war gar nicht so einfach zu beantworten. Das heißt, eigentlich war sie das schon, aber dann eben auch wieder nicht. Die grundlegenden Aspekte waren noch einfach: Sonni mochte Gabe. Der Engel war einfach nur lieb und schien vollkommen selbstlos. Er konnte Gabe auch nicht vorwerfen, dass er ausgesprochen unattraktiv und unappetitlich daher kam. Ganz im Gegenteil war der Mann einfach nur gut aussehend, ohne dabei aber so dominant zu sein, dass er einem die eigene Strahlkraft stahl und man selbst im Schatten stand. Sonni hatte eher den Eindruck, dass sein Kollege neben Gabe umso attraktiver wirkte. Das musste so ein Engelding sein, denn es funktionierte nicht bei jedem. Es schien, als ob Gabe sehr genau steuern konnte, wer von seiner Aura – ein besserer Begriff fiel Sonni nicht ein – profitierte und wer nicht. Wenn diese Hypothese wirklich zutraf, konnte sich Kevin als gesegnet betrachten.

»Gabe ist cool«, meinte Sonni nach etlichen Sekunden des Überlegens schließlich und reichte Kevin den zweiten Helm.

»Aber?«, hakte Kevin nach, während er nach dem gereichten Helm griff, aber keine Anstalten unternahm, ihn sich auch aufzusetzen. Er kannte seinen Kollegen ziemlich gut und wusste, wann dessen Worten ein Aber folgte.

»Aber?«, versuchte sich Sonni aus der Rückfrage herauszuwinden, während er seinen Nierengurt anlegte.

»Komm Sonni, ich weiß wie du tickst. Ich kenne deine Stimmlagen. Ich weiß, wann du einem nicht alles verraten willst.«

»Gabe ist ein fantastischer Mann.«, gab Sonni zu, um dann einschränkend hinzuzufügen: »Aber nicht mein Typ. Zu lieb.«

»Ähm...«, meinte daraufhin Kevin, schüttelte amüsiert seinen Kopf, musterte Sonni gleichzeitig frech grinsend und nachdenklich, um einen Moment später zu bemerken: »Hätten wir das auch geklärt.«

»Oh«, entfuhr es Sonni, der pflichtbewusst tomatenfarben anlief und eilig den Reißverschluss seiner Lederjacke schloss.

»Aber wenn wir schon beim Thema der sexuellen Präferenz sind.«, fuhr Kevin süffisant fort und ließ seinen Blick vielsagend über Sonnis kerlige Lederhülle gleiten. »Mir ist schon klar, dass dieser Felix eher in dein Beuteschema fällt.«

»Öhm...«, stammelte Sonni, während seine rosige Gesichtsfarbe noch einige Schattierungen dunkler wurde.

»Womit wir beim eigentlichen Kern angekommen wären.«, Kevin legte eine spannungssteigernde Pause ein. »Gabe, dein Felix, dann noch dieser Raphael und dieser ominöse Kardinal... bin ich einfach nur paranoid, oder besteht da ein Zusammenhang?«

»Ähm...« Sonni wurde es plötzlich ziemlich heiß unter seiner Lederjacke.

»Ah, also doch keine Paranoia. Wann gedachtest du mich einzuweihen? Du weißt schon, wegen Partner und so.«

»Du hast Recht.«, seufzte Sonni. »Felix, Gabe und Raphael hängen zusammen, wobei es da noch eine vierte Person gibt – Tim – den du noch nicht kennst. Die vier, insbesondere Raphael und Tim, waren in unserem Fall sehr hilfreich. Raphael lieferte zwar keine konkrete Spur, aber dafür einen möglichen Hintergrund für den Mord an Breitkopf.«

Mit diesen einleitenden Worten legte Sonni Kevin die Theorie von der Beschwörung eines Guhls durch Breitkopf und dessen Freunde dar.

»Und das steht alles in einem... wie alt war das Buch? Über vierhundert Jahre?«, hakte Kevin nach. »Der gesamte Tatablauf war in diesem Buch, dem codex sine nomen, dem Buch ohne Namen beschrieben? Alles?«

»Alles! Jedes einzelne Wort!«, erklärte Sonni mit solchem Nachdruck, dass Kevin die Ausrufezeichen hören konnte und den Helm in seinen Händen umklammerte.

»Krass!«

»Du sagst es.«, bestätigte Sonni.

»Und du sagst, dass dieser Raphael über das einzige Exemplar verfügt?«

»Raphael war davon überzeugt, bis ich ihm unseren Fall schilderte. Da sein Buch niemals seine Hände verlassen hat, kann das Wissen über die Beschwörung unmöglich aus seiner Ausgabe stammen. Das bedeutet, dass jemand anderes entweder Zugriff auf ein weiteres Exemplar besitzt oder über eine Abschrift des betreffenden Kapitels verfügt. Das ist jedenfalls Raphaels Meinung und recht offensichtliche Schlussfolgerung, die uns aber nicht wirklich weiter bringt, oder?«

»Vielleicht doch.«, meinte Kevin, kräuselte seine Stirn und balancierte gedankenverloren den Helm in der Hand, was auf tiefer gehende Denkprozesse hindeutete. Nach einer Weile begann er langsam eine Frage zu überlegen: »Du sagst, das Buch ist selten, extrem rar?«

»Mehr als das. Raphael meinte, dass sein Besitz in früheren Zeiten als Beweis für Hexerschaft galt. Du könntest sagen, dass es ein direktes Ticket für einen Platz auf dem Scheiterhaufen war. Es ist so kostbar, dass Raphael es nur mit Baumwollhandschuhen berührt.«

»Hm, dieser Clubbetreiber scheint ja historisch sehr bewandert zu sein.«

»Oh, du hast keine Vorstellung, wie überaus bewandert er ist.«, murmelte Sonni mehr zu sich selbst als zu Kevin. »Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Nun, dein Freund Raphael mag ja davon überzeugt sein, das letzte Exemplar dieses Buchs ohne Namen zu besitzen. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass mindestens noch eine Institution existiert, die quasi aus beruflichen Gründen über ein weiteres verfügt. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie es jemals zugeben würde.«, überlegt Kevin lakonisch. »Von welcher Behörde war dieser Kardinal DaSilva noch gleich?«

»Du ausgebuffte kleine Ratte«, knurrte Sonni. »Hat Dir schon mal jemand gesagt, dass du ein verdammt guter Polizist bist? Ich weiß ja nicht, welcher Abteilung DaSilva angehört, aber du hast absolut Recht, da eine Verbindung zu sehen. Shit, was war ich blind. Breitkopf, ein Freund Lugners, wird unter ungewöhnlichen, um nicht zu sagen okkulten Umständen, umgebracht. Und kaum einen Tag später taucht ein hoher Würdenträger einer nicht näher genannten Institution des Vatikans auf, um uns ganz selbstlos bei unseren Ermittlungen mit Informationen zu helfen. Und zufällig stellt sich heraus, dass dieser hilfsbereite Gottesmann mit dem Freund unseres Opfers bekannt ist. Tut mir Leid, aber wenn mir unser Job eines gelehrt hat, dann dass derartige Zufälle keine sind.«

»Und was werden wir jetzt tun?«

»Was wohl? Polizeiarbeit«, sprach's und setzte sich den Helm auf.


Die erwähnte Polizeiarbeit bestand für Sonni an diesem Morgen im Kampf gegen ein Spesenformular: Anzahl der bewirteten Gäste, Namen der Gäste, Grund der Bewirtung, eben all die tollen Informationen, die verhindern sollten, dass möglicherweise Steuergelder verschwendet wurden oder es gar zu einem Fall von Vorteilsnahme oder Korruption kam. Die Finanz- und Personalabteilung der Behörde wollte wirklich alles wissen: Warum ausgerechnet dieses Restaurant ausgewählt wurde, wie es überhaupt zu der Veranstaltung kam und ob es nicht andere Möglichkeiten gegeben hätte. Im Prinzip ging es nur darum, der Behörde den Arsch für den Fall zu retten, sollte sich tatsächlich Mal ein Staatsdiener nicht korrekt verhalten haben und sich schmieren lassen. In diesem Fall konnte sich Politik und Verwaltung bequem zurücklehnen und dem schwarzen Schaf noch falsche Angaben bei seiner Spesenrechnung mit auf Liste der Anklagepunkte setzen. Und so beschlich selbst den aufrechten und grundehrlichen Sonni immer wieder ein ungutes Gefühl, beim Ausfüllen des schier endlosen Formulars.

Erst eine gute dreiviertel Stunde später konnte sich Kommissar Lundkvist anderen Dingen zuwenden. Das heißt, er beabsichtigte es, bis ihm auffiel, dass ihre BKA-Kollegin noch nicht erschienen war.

»Hast du etwas von Dorothea gehört?«, wandte er sich an Kevin und legte parallel dazu einen Striptease hin, um von der wenig behördenkompatiblen Lederhose auf etwas konservativere Kleidung zu wechseln. Kleider machten zuweilen eben doch Leute. Ein professionelles, akkurates, gepflegtes, und eben konservatives Auftreten konnte ungemein hilfreich sein. Nichts wäre dümmer, als nur deswegen keine Durchsuchungsanordnung oder einen Haftbefehl zu erhalten, weil sich der zuständige Richter über ein vermeintlich unangemessenes Erscheinungsbild mokierte. Aus diesem Grund hing auch stets eine frische Garnitur bestehend aus T-Shirt, Hemd, Jeans und sogar Unterwäsche im Büro bereit, zu der Sonni gerade wechselte als er seine Frage stellte. Kevin, von der Frage aufgeschreckt, schaute hinter seinem Schirm auf, kräuselte die Stirn und meinte: »Stimmt, wo steckt die gestrenge Dame? Ihr wird das Essen doch nicht auch auf den Magen geschlagen sein?«

Wie aufs Kommando klingelte prompt das Telefon. Der Kollege vom Empfang kündigte die Ankunft der Polizeioberrätin an, die dann knappe zwei Minuten später, kaum dass Sonni den letzten Knopf seines Oberhemdes geschlossen hatte, ins Büro gestürmt kam. Die beiden Kommissare waren sich nicht sicher, ob sie nicht kleine Flammen aus den Nüstern der wutschnaubenden Kollegin schlagen sehen konnten. POR Kornmüller befand sich in keiner fröhlichen Stimmung.

»Entschuldigt meine Verspätung«, rief sie den beiden Männern zu, während sie gleichzeitig den Akku aus ihrem Handy pulte, um anschließend Sonni und Kevin die Kaffeetüte und Blechdose vom Vortag hinzuhalten, damit die beiden ihre Smartphones darin deponierten. Die zwei parierten und bewiesen damit ihren Status als lernfähige Spezies. Mit der Frau fickte man nicht rum. Nicht bei einer Miene, die selbst kuhwarme Milch in Sekundenbruchteilen sauer werden ließ. Die Frau war hochgradig angepestet.

»Dieser Wichser. Dieser schwanzlose Bürohengst«, erschallten erste Lautäußerungen. Noch bevor die zwei Zuhörer nachfragen konnten, um wen es sich bei dem genitalfreien Schreibtischwallach handeln könnte, wartete Dorothea Kornmüller von sich aus mit weiteren Details auf, wenn auch nur in zusammenhanglosen Bröckchen, die erst über einen längeren Zeitraum zu einem halbwegs nachvollziehbaren Bild verschmolzen. Demnach schien der Groll der Polizeioberrätin primär durch einen gewissen Kollegen Paulsen, allem Anschein einem Polizeidirektor des BKAs, geweckt worden zu sein. Soweit Kevin und Sonni die Informationen richtig interpretierten, war POR Kornmüllers eigentlicher Chef erkrankt und stand die nächste Zeit auch nicht zur Verfügung. Für alle in ihrem Team völlig überraschend, versuchte plötzlich der Leiter einer völlig anderen und thematisch komplett inhalts- und sachfremden Abteilung das entstandene Führungsvakuum auszufüllen und die Leitung an sich zu reißen, was mit der Anweisung begann, ihm sämtliche Kennworte und Zugangsdaten zu allen Ermittlungsakten der aktuellen Fälle auszuhändigen. Sonni erinnerte sich daran, dass Dorothea am Vortag bereits ein wenig erbauliches Telefongespräch in dieser Sache geführt hatte. Wie es aussah, schien die Situation nun zu eskalieren.

»Ich weiß nicht, was da in Wiesbaden gerade abgeht, aber es stinkt, und das gewaltig. Paulsen scheint kurz davor zu sein, meine Abteilung zu übernehmen.«

»Warum könnte er das wollen?«, fragte Kevin trocken nach.

»Hä?«, stoppte die Polizeioberrätin, die diese unerwartete Frage völlig aus dem Konzept brachte, und starrte Kevin leicht verärgert an. Dieser blieb ganz ruhig und unaufgeregt.

»Warum könnte er deine Abteilung übernehmen wollen?«, wiederholte er langsam und in einem sehr sachlichen Tonfall. »In welcher Abteilung ist er sonst tätig?«

»Das ist es ja gerade«, schnaubte Dorothea erneut los, die offenbar nicht sah, worauf Kevin hinaus wollte. »Der Mann beschäftigt sich mit OK, Organisierter Kriminalität in der Abteilung SO, schwere und eben organisierte Kriminalität. Er gilt nicht gerade als großes Licht und hat seine Position auch mehr dem richtigen Parteibuch als fachlicher Eignung zu verdanken. Seine Leute beschäftigen sich mit Analysen von Geldflüssen und illegalem Know-how-Transfer. Der hat sich nicht mit Proliferation beschäf... Oh, Shit!«

Die beiden Berliner Polizeikommissare mussten sich einfach nur angrinsen, wie bei ihrer Kollegin der sprichwörtliche Groschen fiel. Proliferation bestand eben nicht nur aus illegalen Lieferungen hochbrisanter technischer Gerätschaften oder Rohstoffe. Manchmal reichte eine Blaupause, was sich dann durchaus als illegaler Know-how-Transfer interpretieren ließ.

»Der Mann wildert in unseren Teichen«, knurrte die Wiesbadener Beamtin, die immer noch in ihrem Tunnelblick verfangen war und die Aktion als Machtspiel und Intrige einer konkurrierenden Abteilung betrachtete. Sonni und Kevin waren hingegen einen Schritt weiter. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln hatte Kevin sich die Akten im Fall Breitkopf geschnappt und begonnen, sie nach ganz bestimmten Fragestellungen zu durchsuchen. Es dauerte ein paar Momente, dann wurde er fündig.

»Moment!«, rief der Jungkommissar und versuchte seine eigenen Notizen zu entziffern. »Das war mir gestern beim Besuch in diesem Lobbyladen schon merkwürdig vorgekommen und war der Grund dafür, die Kollegen vom Wirtschaftsdezernat mit ins Boot zu holen. Wieso finanziert eine Lobbygruppe ein Forschungsprojekt? Ich dachte immer, diese Lobbyisten sitzen mit Politikern in irgendwelchen Hinterzimmern, um Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen, oder beschäftigen sich damit, ihre Klientel gut in der Presse da stehen zu lassen.«

Der Kriminalkommissar zur Ausbildung wühlte noch ein wenig durch seine Unterlagen, wurde fündig, zückte ein paar zusammengeheftete Blätter Papier hervor und hielt sie triumphierend für seine beiden Kollegen in die Höhe.

»Das ist es!«, rief Kevin, schlug eine bestimmte Seite des Dokuments auf und rezitierte: »Projekt Cheiron. Eigentlich war ich in Naturwissenschaften immer ziemlich gut, aber was hier steht, ist mir einfach zu hoch. Wenn ich raten sollte, geht es teilweise um Biochemie. Es muss aber ein verdammt wichtiges Projekt sein, da Breitkopf etliche Millionen durch seinen Laden geschleust hat. Wir sollten das mit den Leuten von der WK abchecken lassen, aber für mich sieht es so aus, als ob unser verstorbener Herr Lobbyist seinen Verband dafür genutzt hat, um den Ursprung des Geldes zu verschleiern.«

»Wie das?«, fragte Sonni nach.

»Hier«, entgegnete Kevin und griff nach einem anderen Stapel Papier. »Dies sind die Kontenblätter der letzten fünf Jahre. Vor drei Jahren, etwa ein Jahr bevor Breitkopf Cheiron zu fördern begann, stieg die Zahl anonymer Spenden sprunghaft an. Für sich genommen waren es immer nur kleine Spenden und zehntausend Euro, weswegen es auch nie Probleme mit der Steuer gab.«

»Wer forscht am Projekt Cheiron?«, wollte Dorothea wissen.

»Moment...«, erwiderte Kevin und hielt dabei seinen Zeigefinger hoch, »Das haben wir gleich... Hier ist es. Bisher wurden vier Einrichtungen regelmäßig mit Geldzuwendungen versorgt. Wobei es sowohl an private als auch öffentliche Einrichtungen ging. Zwei sind hier in Berlin. Oh...«

»Was?«

»Die beiden Berliner Einrichtungen unterstehen dem gleichen Leiter, ein Professor Bernhardt Ehrlich.«

»Okay, das ist ein Ansatzpunkt. Fühlen wir dem Herrn mal auf den Zahn.«, rief Sonni und wollte schon nach seiner Jacke greifen.

»Ähm...«, stoppte sein Kollege den Einsatzeifer, »In einer halbe Stunde kommt Tillmann-Hagen zu seiner Aussage.«

»Wer?«

»Tillmann-Hagen, oder kurz Till, Breitkopfs Sohn. Du wollest bei seiner Befragung dabei sein.«

Spürnase

Als größter Feind der Polizeiarbeit galt schon immer die Zeit. Erbarmungslos zerrann sie zwischen den Fingern, zersetzte Spuren oder trübte Erinnerungen. Wo eben noch ein deutlicher Fingerabdruck prangte und die Identität eines Täters enthüllen ließ, konnte wenig später der Putzlappen einer ahnungslosen Reinigungskraft oder ein profaner Regenschauer alle Indizien zunichtemachen. Denn nichts kühlte schneller ab, als die Spuren eines Verbrechens. Mit jeder vergehenden Minute nahm die Qualität einer Zeugenaussage ab. Zeugen vergaßen keine Details, sie erschufen neue. In den wenigsten Fällen war ein Gehirn in der Lage, alle Einzelheiten eines Moments akkurat festzuhalten. War das Auto rot oder silber? Trug der Täter eine Mütze oder war er glatzköpfig. Trug er Brille oder Vollbart? Regnete es oder schien die Sonne? Ein Lehrsatz der Kriminalistik lautete: »Menschen sind schlechte Beobachter!« Sie konnten auch kaum etwas anderes sein, denn Zeuge wurde man zufällig. Niemand wartet an einer Kreuzung, um irgendwann einen Autounfall zu beobachten. Er passierte, oder vielleicht auch nicht. Doch wenn er passierte, dann war es für alle unerwartet, insbesondere für mögliche Augenzeugen. Es gab kaum jemand, der sich unter solchen Umständen alle Einzelheiten wie auf einem Foto einprägen konnte. Nein, die meisten Menschen waren ausgesprochene schlechte Beobachter und ihre Hirne kleine Lügner, dessen Unterbewusstsein fehlendes Wissen einfach auffüllte. »Die Beifahrerin trug hundertprozentig eine blaue Strickjacke!« Welche Beifahrerin?

Genau mit diesem Dilemma sah sich Sonni konfrontiert. Ihm lief die Zeit davon. Seit Breitkopfs Tod waren eigentlich schon viel zu viele Tage vergangen. Was jetzt noch als Zeugenaussage aufgenommen wurde, musste mit äußerster Vorsicht und sehr kritisch bewertet werden. Sonni hatte in früheren Fällen selbst erlebt, wie vermeintlich glaubwürdige Zeugen die absurdesten Geschichten erzählten. Sie meinten es nicht böse. Es reichte, ihnen einfach genug Zeit zu geben und ihr Verstand schuf eine eigene Wirklichkeit, die die zwangsweise vorhandenen Lücken mit scheinbar konkretem Wissen füllte. Umso wichtiger waren die ersten Tage, wenn nicht sogar die ersten Stunden. Am Anfang seiner Ausbildung schockierte ihn die geradezu rabiate Art, mit der seine Kollegen nicht nur die Zeugen sondern sogar die Opfer einer Gewalttat befragten. Dabei diente dies nur einem einzigen Zweck: So viel unverfälschte Erinnerungen zu sichern, wie möglich. Die traumatisierte Psyche sollte gar nicht erst die Gelegenheit bekommen, das Geschehene zu verarbeiten und damit zu verfälschen.

Doch was tat ein guter Ermittler, wenn die Spur kalt zu werden drohte und die Erinnerung langsam verblasste?

Sonni grunzte seinen Monitor an. Er kannte die Antwort, und sie gefiel ihm nicht: Er musste den Polizisten raushängen lassen. So lange Fragen stellen, bis es weh tat und solche Fragen stellen, für die sich die meisten Menschen nicht mehr selbst im Spiegel betrachten mochten. Die Leute in Breitkopfs Lobbybüro wussten mehr als sie sagten. Darin war sich Sonni absolut sicher. Niemand arbeitet Jahre lang mit jemanden zusammen, ohne dabei das Geringste über ihn oder sie zu erfahren. Breitkopfs Mitarbeiter, allen voran seine Stellvertreterin, taten aber so, als wenn sie gerade einmal den Nachnamen ihres Chefs kannten und sich bereits beim Vornamen unsicher wurden.

Wir stochern hier viel zu viel im metaphysischen Nebel, ermahnte sich Sonni, Es wird Zeit, ein paar Leuten auf die Füße zu treten.

Ein Schlachtplan musste her. Tim, Raphael, Gabe und Felix – so interessant seine neuen außerweltlichen Freunde auch sein mochten, sie lösten ihm nicht seinen Kriminalfall. Ganz im Gegenteil gewann Sonni mehr und mehr den Eindruck, dass sie bis zum Hals auf irgendeine Weise mit drin steckten. Er glaubte zwar nicht, dass Tim, der Leibhaftige höchstpersönlich die Fortpflanzungsorgane Breitkopfs gefressen hatte, aber ganz so unbeteiligt war er dennoch nicht. Genauso wenig wie Erzengel Raphael. Die beiden, Teufel und Engel, wussten mehr, als sie Sonni verrieten, was bedeutete, dass er sich die Informationen auf andere Weise besorgen musste: Durch professionelle Polizeiarbeit.

»Ich habe mir etwas überlegt.«, verkündete der Kriminalpolizist seinen beiden Kollegen. »Während ich die Befragung des Sohns mache, fahrt ihr zurück in die Luisenstraße und nehmt euch die Lobbyleute nochmals vor. Das sind PR-Profis. Die wissen, wie man Leute manipuliert. Ich verwette meine Seele darauf, dass die nicht so ahnungslos sind, wie sie tun.«

Diese Wette, mein Freund, ertönte plötzlich Tims tiefe und machtvolle Stimme in Sonnis Verstand, »Diese Wette, würdest du haushoch gewinnen.«


Etwa eine halbe Stunde nachdem Sonni seinen Schlachtplan verkündet hatte, meldete der Empfang die Ankunft Tillmann-Hagen Breitkopfs. Wenig später saßen Sonni und der Breitkopfsche Filius im gleichen Besprechungsraum, in dem tags zuvor schon seine Mutter befragt wurde. Till, wie er gerne genannt werden wollte, war ein sympathischer 19jähriger Typ. Noch nicht ganz Mann, aber auch kein Junge mehr, versprühte er eine belebende Juvenilität, der sich Sonni nur schwer verschließen konnte.

Mit Beanie, unter der wuschelige Kopfhaare der Farbe »Straßenköter« frech hervorlugten, und Hoodie nahm Till Anleihen eindeutig beim immer noch beliebten Skateroutfit. Es passte zu ihm. Es passte zu seinen wachen und aufmerksamen Augen, soweit es einem gelang, diese hinter dem Haarvorhang ausfindig zu machen. Die meisten Menschen dürften Tillmann-Hagen als typischen Vertreter einer eher unbekümmerten Jugendkultur betrachtet haben. Nicht so Sonni, der genau wusste, worauf er achten musste und selbst unscheinbare Zeichen lesen konnte. So zitierte Till zwar den Look der Brettelfahrer, achtete aber ganz genau darauf, nicht wie eine billige Kopie dazustehen. Er war kein fashion victim. Sonnis Polizisteninstinkte deuteten auf ein intelligentes Wesen hin, das gelernt hatte, seine intellektuellen Fähigkeiten zu verstecken. Anders ausgedrückt: Till wollte nicht als Nerd dastehen, war aber einer.

»Ich möchte mich nochmals bei Ihnen bedanken, dass Sie einen Besuch bei uns einrichten konnten.«, begann Sonni ganz gezielt mit einer etwas gestelzten Phrase, die sonst eher bei den gesetzteren Semestern angesagt war. Doch ihn interessierte, wie der junge Mann darauf reagierte.

»Sagen Sie ruhig Till.«, erwiderte Till knapp und versuchte mit einer ruckartigen Kopfbewegung, die in sein Blickfeld gefallenen Haare wegzuschleudern. Auf den eigentlichen Inhalt der Einleitung ging er nicht ein.

»Ich kann mir vorstellen, dass die ganze Situation nicht leicht für Sie ist.«, fuhr Sonni unbekümmert fort.

»Was? Dass Paps auf SM stand?« Till schnaubte ein wenig verächtlich, wobei nicht klar war, ob sich dies auf Sonnis Feststellung an sich oder die speziellen Vorlieben seines Vaters bezog. Doch bevor Kommissar Lundkvist nachhaken konnte, fuhr Breitkopf junior unaufgefordert fort: »Das weiß ich, seit ich sechzehn bin.«

»Tatsächlich?«

»Yupp!«, meinte Till frech und blinzelte Sonni provozierend und aufreizend frech an. »Waren Sie mal sechzehn?«

»Nicht dass ich wüsste.« Sonni grinste genauso provozierend zurück.

»Ähm...«, stammelte der Breitkopfsche Spross und sah nicht mehr ganz so erwachsen aus, wie er eigentlich wirken wollte. »Naja, was ich meine... Mit sechzehn war ich echt total neugierig. Mum wollte mir nie verraten, warum sich die Zwei sich faktisch getrennt hatten und nur noch eine Papierehe führten. Ich fragte sie, ob Paps so ein Arsch sei, der sich nach was Jüngerem umgesehen hatte. Irgendeine Praktikantin aus seinem Büro oder so. Mum meinte nur, dass es so was definitiv nicht sei.«

»Und?«, fragte Sonni leise und ruhig. Till war am Reden, und das von sich aus. In diesem Zustand galt es, Zeugen einfach laufen zu lassen. Oft gaben sie dabei mehr Informationen preis, als bei direkten Fragen. Eine gute Befragungstechnik ließ dem Befragten Raum, seinen eigenen Gedankengängen und Erinnerungen zu folgen. Gegenüber den Fragen eines Polizisten verhielten sich Zeugen überwiegend wachsam und vorsichtig, selbst dann, wenn ihnen nichts zur Last gelegt wurde. Die Frage eines Ermittlers erlaubte ihnen, inne zu halten, sich die Antwort genau zu überlegen, abzuwägen und notfalls zurückhaltend zu antworten. Geriet ein Zeuge hingegen in Plauderlaune, schwand die natürliche Vorsicht. Wer misstraute schon seinen eigenen Gedanken? Eine zugegeben nicht einfache Befragungstechnik bestand unter anderem darin, den Zeugen anfangs einfach reden zu lassen und sich dabei die Punkte zu merken, an denen sich ein späteres Nachbohren lohnte. Diese »Guter Cop«-Methode besaß aber den Nachteil, dass sie einerseits Geduld und ein gutes Gedächtnis erforderte. Dagegen bestand die »Böser Cop«-Methode darin, Zeugen gar nicht erst ins Plaudern kommen zu lassen, sondern mit harten, provokanten und zuweilen brutalen Fragen aus dem Konzept zu bringen und zu verunsichern. Wer sich unerwartet im Zentrum allerlei Verdächtigungen sah, unternahm im Allgemeinen alles, um diese zu entkräften.

Sonni beherrschte beide Varianten. Je nach Typ und Situation wählte er die eine oder andere Methode. Dabei versuchte er nach Möglichkeit, seine persönlichen Gefühle auszuklammern. Natürlich war es einfach, einen unsympathischen Zeugen, der sich wie ein Arschloch verhielt, hart ran zu nehmen. Allerdings war es in Sonnis Augen auch ziemlich unprofessionell. Ein Unsympath mit Egotrip, dessen jedes zweite Wort »Ich« lautete, ordentlich den Kopf zu waschen, mochte persönlich befriedigend sein, war aber meistens nicht sonderlich ergiebig. Ihn stattdessen reden zu lassen, ihm eine Bühne für seine Selbstdarstellung zu bieten und auch noch mit gelegentlichen beipflichtenden Worten anzufeuern, zahlte sich meistens in einer unübertrefflichen Informationsflut aus.

Was Tillmann-Hagen Breitkopf betraf: In Anbetracht seines noch eher zarten Alters von gerade einmal 19 Lenzen, verbot sich die harte Tour solange sie nicht unbedingt erforderlich war.

»Mum klang so total entschlossen.«, fuhr Till mit nachdenklichem Blick fort, als wenn er sich die Szene mühsam wieder in Erinnerung bringen musste. »Das machte mich erst recht neugierig. Dies und dass sie mir partout nicht sagen wollte, was der eigentliche Grund war. Naja, ich ging zwar in Hamburg zur Schule, aber warum sollte ich die Ferien nicht nutzen, Berlin zu besuchen?«

»Oh, ich verstehe...«, mimte Sonni den verschwörerischen.

»Yupp!«, kam es verschmitzt von Till. »Natürlich hab ich ein wenig rumgeschnüffelt, was nicht einfach war. Paps war der totale Pedant. Seine Wohnung sah immer total geleckt und aufgeräumt aus, dass ich zuerst dachte, er würde wo anders leben. Bei einer Freundin oder so. Ich weiß nicht, ob er nichts von meiner Neugierde ahnte oder sie ihm egal war. Jedenfalls verbrachte ich vor drei Jahren, zu meinem Sechzehnten, ein paar Wochen der Sommerferien in Berlin bei meinem Paps. Als der dann eine Woche zu einer Tagung nach Boston musste, habe ich die Bude diskret auf den Kopf gestellt. Die hat einen ziemlich schrägen Grundriss, insbesondere das obere Stockwerk.«

»Sie wussten vom Playroom?«, rief Sonni erstaunt.

»Sure!« Till grinste breit.

»Und was haben Sie dann gemacht? Ihren Vater zur Rede gestellt?«

»Hey, no, never!«, lachte Till ein paar Anglizismen. »Der Sex meiner Alten ist absolute No-go-Area. Allein die Vorstellung, dass die beiden... Bäh! Nee, danke. Aber...«

»Ja?«

»Papas Playroom ist schon geil.«, meinte Till und fletschte seinen linken Mundwinkel. »Könnt man bestimmt Spaß drin haben. So ein bisschen Fesseln... Könnt schon geil sein.«

Und wieder sollte sich die Tiefe stiller Wässerchen beweisen. Dieses harmlose, arglos wirkende und eigentlich ganz schnuffelige Jüngelchen hatte es faustdick hinter den Ohren. Jedenfalls wollte er, dass Sonni dies glaubte. Doch die Nummer nahm ihm Sonni nicht ab.

»Mit sechzehn?«, hakte er deswegen nach. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich gebe mir keinen Illusionen hin, auf welchen Webseiten sich heutzutage Sechzehnjährige rumtreiben, aber SM-Sex überrascht mich dann schon ein wenig.«

Erwischt – Till sah plötzlich wie ein beim Kekse mopsen erwischter Junge aus.

»Naja, ganz so cool war ich dann doch nicht.«, gab er kleinlaut zu und wurde sogar ein wenig rot. »Shit, mir ging sogar der Kackstift bei all dem schrägen Zeugs. Bei den meisten Teilen wusste ich nicht mal, wofür die gut sind und was man damit machen kann.«

»Okay, Sie wussten also von der sexuellen Präferenz ihres Vaters. Haben Sie zufällig auch etwas von seinen Partnern mitbekommen?«

»Nein, eigentlich nicht.« Till überlegte, um nach ein paar Momenten mit dem Kopf zu schütteln. »Paps Sexleben war nicht wirklich Thema am Frühstückstisch. Warum auch? Er wusste ja nicht, dass ich sein kleines Geheimnis kannte. Allerdings...«

»Ja?«

»Da war was Merkwürdiges. Das muss etwa ein halbes Jahr her sein. Ich war unangemeldet nach Berlin gekommen, bin gleich zu Paps in die Wohnung gefahren, weil ich da pennen wollte. Ich habe meinen eigenen Schlüssel. Paps bemerkte mich erst gar nicht. Er hockte auf dem Sofa und hielt ein Foto in den Händen. Die ganze Sache war total schräg. Als Paps mich dann irgendwann bemerkte, sah er mich zwar an, aber eigentlich sah er mich nicht wirklich. Verstehst du?«, fragte Till und bemerkte gar nicht, wie er Sonni duzte. »Paps sah einfach durch mich hindurch. Oder auch nicht. Er sah mich, aber irgendwie nicht richtig. Er steckte das Bild weg, stand auf, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Das war total strange. Das letzte Mal, als mich mein Paps in den Arm nahm, muss ich acht oder zehn gewesen sein. Er drückte mich, klammerte sich fast an mich. Ich hatte sogar den Eindruck, dass Paps feuchte Augen hatte.«

Das war neu. Thorsten Breitkopf, der aalglatte Lobbyist und Meister eines Guhls zeigte Nerven. Nicht nur Nerven, er zeigt Gefühle, echte Gefühle. Daran bestand aus Sonnis Sicht keinerlei Zweifel. Till kannte seinen Vater und wusste instinktiv, wann dieser nur eine Maske zeigte oder sein wahres Ich entblößte.

»Haben Sie zufällig gesehen, was das Foto zeigte?«

»Ja, aber nur sehr kurz. Es war das Bild eines Mannes von Anfang bis Mitte zwanzig.«

»Was meinen Sie, könnte Sie unserem Zeichner den Mann beschreiben?«

Tillmann wiegte seinen Kopf abwägend hin und her: »Ich könnte es versuchen. Wie gesagt, ich sah das Foto nur kurz, aber... Er wirkte ganz nett.«

»Okay. Ich werde gleich einen Kollegen rufen, der ein Experte auf das Zeichnen von Phantombildern ist.«, meinte Sonni und wollte zum Telefon greifen.

»Kommissar Lundkvist?« unterbrach Breitkopf junior den Anruf des Kommissars. Es bedurfte keines Polizisten, um zu erkennen, dass dem Sohn des Opfers etwas wichtiges dem Herzen lag.

»Ja?«

»Paps war anders.«, begann Tillmann mit ernster Stimme, die Sonni aufhorchen ließ. Sein Blick wandte sich wieder seinem Zeugen zu, während er geistesabwesend den Telefonhörer auf die Gabel legte.

»Ich weiß, was jeder von meinem Vater denkt.«, fuhr Till fort. »Aber Thorsten, mein Paps, war nicht das karrieregeile Arschloch, für das ihn jeder hielt. Meine Mutter, seine Gegner, selbst seine Kollegen und wahrscheinlich Sie auch, meinen, er wäre ein aalglatter und eiskalter Manager. Er... er...« Till rang nach passenden Worten. »Er war dieses Arschloch, aber er war es auch nicht. Er war es nicht freiwillig. Es ist schwer zu erklären. Ich weiß auch, dass er ahnte, dass ich es wusste...«

»Was?«

»Dass er eine Maske trug, die sein wahres Wesen verbarg. Dieses penetrante Lächeln, das er immer trug, seine ganze aufgesetzt charmante Art, die jeden, der ihn erlebte, besoffen machte. Doch wenn er allein war oder dachte, dass er es war, ließ er sie fallen. Dann brach er fast zusammen.« Plötzlich wandte Till seinen Blick direkt Sonni zu und schaute ihm flehentlich in die Augen. »Er schrumpfte und alterte. Es sah wirklich so aus, als ob er innerhalb von Sekunden um Jahre alterte. Zurück blieb ein trauriger, müder und irgendwie gebrochener Mann. Einmal bemerkte er mich. Er zuckte mit den Schultern, sah mich matt an und meine nur, dass es ihm Leid, unendlich Leid täte. Ich habe es bisher nicht verstanden, aber jetzt... Kann es sein, dass ihn jemand dazu zwang, etwas zu tun, was er nicht wollte? Ich weiß zwar nicht was es war, aber er wirkte nicht so, als ob er wirklich freiwillig tat, was er tat. Was immer das auch war. Macht das irgendwie Sinn?«

»Ich weiß es nicht.«, gestand Sonni ehrlich. Viele Zeugen gingen von der irrigen Annahme aus, Polizisten, insbesondere Kriminalpolizisten, würden über eine Art inhärentes Wissen verfügen und jede Frage beantworten können. Aber leider funktionierte es so nicht. Auch Kriminalkommissare waren einfach nur Menschen, die vielleicht über ein klein wenig mehr Spürsinn und Instinkt verfügten, als andere. »Ich weiß nicht, ob es Sinn ergibt.«, versuchte Sonni die Enttäuschung seines Zeugen zu mildern. »Aber wir werden versuchen, es herauszufinden. Genau das ist meine Aufgabe. Wenn das, was Sie mir eben erzählten, in irgendeinem Zusammenhang mit der Tat steht, werden wir es aufdecken und die Hintergründe ans Tageslicht bringen. Wir werden es zumindest versuchen.«

Wenige Minuten später übergab Sonni seinen jugendlichen Zeugen in die kompetenten Hände des Phantomzeichners, dem gleichen Beamten, der auch schon für Tills Mutter das Phantombild des unbekannten Mannes erstellt hatte. Für Sonni von besonderem Interesse war die Frage, ob beide Zeichnungen am Ende die gleiche Person zeigten.

Profiarbeit

Während Sonni den Spross der Breitkopfs befragte, saßen Dorothea und Kevin mit den Kollegen vom Wirtschaftsdezernat zusammen. Dr. Prechtel hatte Wort gehalten und seine Verbindungen spielen lassen. Der Leiter des Dezernats hatte tatsächlich drei seiner besten Leute für den Fall Breitkopf abgestellt. Natürlich kam diese Gefälligkeit nicht umsonst. Alle Ermittlungserfolge sollten an die Wirtschaftsleute gehen, solange es sich nicht um Tote mit fehlenden Genitalien handelte. Die durfte die Mordkommission gerne für sich behalten.

Ohne weitere Termine im Kalender ging Sonni seine Mails durch, was sich allerdings als nicht sonderlich ergiebig herausstellte. Gerichtsmediziner Dr. Marx hatte die Autopsie des tragisch durch seine eigene Dienstwaffe verstorbenen Polizeiobermeisters Ott abgeschlossen. Abgesehen vom Offensichtlichen, der Schusswunde im Schädel des Verstorbenen, hatte die Untersuchung der Hirnflüssigkeit extrem erhöhte Neurotransmitter gezeigt, die sich Dr. Marx in keiner Weise erklären konnte. Derartig eskalierte Werte, insbesondere des Dopamins und Adrenalins, waren selbst mit massivem Drogenmissbrauch nicht zu erklären. Aus Sicht des Gerichtsmediziners zählte dieser Befund zu einem weiteren unerklärlichen Rätsel des Falls.

Noch eine Sackgasse. Sonni war überaus frustriert und merkte gar nicht, dass er mit einem USB-Stick spielte, der ihm irgendwie in die Finger gekommen war. Sonni war dermaßen in Gedanken versunken, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie er drauf und dran war, den Stick in den USB-Port seines Arbeitsplatznetzwerks zu stecken, wäre nicht im gleichen Moment ein Kollege mit der Hauspost vorbeigekommen.

»Oh, Shit!«, rief sich Sonni mangels anderer anwesender Personen selbst zu. Der USB-Stick, den er in der Hand hielt, war kein geringerer als das Speicherstäbchen, das ihm Kardinal DaSilva übergeben hatte. Sonni kribbelte es in den Fingern, sich das Teil endlich anzusehen. Die auf ihm angeblich enthaltenen Informationen dürften sicherlich interessant und vielleicht sogar für seinen Fall wichtig sein. Er hätte das Teil auch sofort eingestöpselt, wäre da nicht dieses ausgesprochen ungute Gefühl, das ihn begleitete seit der Kardinal ihm das Stäbchen überreicht hatte. Bei aller Neugier traute Sonni weder dem Stick noch traute er DaSilva.

»Scotty!«, sprach der Kriminalkommissar zu sich selbst und griff zum Telefon. Die behördeninterne Nummer der Fachabteilung für kriminalspezifische EDV-Technik, IT-Forensik und -Sicherheit war schnell gewählt. Der Kollege am anderen Ende benötigte exakt ein Wort, um Sonni von einem entspannten in leicht gereizten Zustand zu versetzen.

»Was?«, erschallte es barsch durch den Hörer und vermittelte jedem Anrufer den beabsichtigten Eindruck, nicht wirklich erwünscht zu sein und zu stören.

»Lundkvist«, meldete sich Kommissar Lundkvist. »Ist Scott... ähm, ich meine der Kollege Anker zu sprechen?«

»Warum?«, erwiderte die Stimme am anderen Ende unwirsch, deren Eigentümer es bisher nicht für nötig befunden hatte, seine Identität preis zu geben.

»Weil ich hier einen USB-Stick...«, begann Sonni zu erklären, wurde aber rüde von seinem Gesprächspartner unterbrochen.

»Einfach in die Buchse auf der Frontseite des Arbeitsplatzrechners stecken.«, dozierte der IT-Hansel ebenso gelangweilt, wie genervt. »Ein paar Sekunden warten, bis auf dem Desktop ein Laufwerkssymbol erscheint. Doppelklick und Sie können Ihre Dateien öffnen. Noch was?«

»Ähm, nee Kollege,«, erwiderte Sonni mit ausgemachter Freundlichkeit. »Sie haben mir ja alles wunderbar erklärt, dass selbst ein PBACK wie ich das verstehe. Ich werde dann diesen USB-Stick unklarer Herkunft an meinen Arbeitsplatz anschließen und darauf vertrauen, dass die Security Suite, die eure Abteilung aufgespielt hat, etwaige Viren und Trojaner entdeckt und entfernt, aber gleichzeitig alle Daten unverändert belässt, um eine spätere forensische Analyse zu ermöglichen. Da hab ich Sie doch richtig verstanden, nicht wahr, Kollege?«

»Umpf«, machte es am anderen Ende. Sonni konnte hören, wie es dem Typen heiß unterm Kragen wurde, als ihm dämmerte, dass es sich bei Sonni eben nicht um einen typischen EDV-DAU handelte, der zu dumm war, seinen Drucker einzuschalten. Irgendwo konnte er die Kollegen von der IT verstehen. Neunundneunzig von hundert Anfragen hätten die meisten Anrufer entweder durch simples Nachdenken oder einen Blick ins behördeninterne Wiki selbst lösen können, wobei die meisten Kollegen beim Begriff Wiki genauso wissend dreingeschaut hätten, wie ein Schwein ins Uhrwerk. Der Job der ITler war definitiv undankbar. Eigentlich sollte ihr Job in der Analyse von sichergestellten Computern oder IT-Systemen bestehen, etwa um die versteckte Bildersammlung eines Pädophilen gerichtsfest sicherzustellen. In der täglichen Realität hatten sie vielfach weniger mit Ermittlungstätigkeit zu tun, als vielmehr damit, ihren EDV-technisch eher unbeleckten Kollegen das Einmaleins der IT-Sicherheit zu vermitteln. Der eigentlich dafür zuständige externe Dienstleister war seit längerem dem Spardiktat des Finanzsenators zum Opfer gefallen. Im Prinzip gab es ihn zwar noch, allerdings musste jede Anfrage aus Kostengründen vorher vom zuständigen Dezernatsleiter genehmigt werden. Vor die Wahl gestellt, seinen Chef mit einem Antrag oder einfach die IT-Kollegen zu nerven, fiel die Entscheidung ausgesprochen leicht.

»Sorry«, kam es nach ein paar Sekunden kontemplativer Meditation kleinlaut durch die Leitung. »Scotty, ich meine Carsten, ist im Moment nicht am Platz, müsste aber in fünf Minuten wieder da sein. Ein USB-Stick mit zweifelhafter Herkunft? Kollege, ich glaube, du solltest ihn lieber vorbei schicken.«

»Ich weiß was besseres.«, erwiderte Sonni freundlich und versuchte dabei, nicht allzu triumphierend zu klingen. »Ich komme vorbei. Ich bin hier in der Keithstraße und könnte in einer Viertelstunde bei euch sein.«


Es wurden dann siebzehn Minuten, bis Sonni mit Helm in der linken und Dienstausweis in der rechten Hand den Gebäudekomplex des LKAs am Platz der Luftbrücke betrat, in dem die technisch-wissenschaftlichen Abteilungen untergebracht waren. Der diensthabende Schutzpolizist am Eingang warf einen kurzen Blick auf das Personaldokument, bevor er den Zugang freigab.

»Na, wenn das nicht Sonni Lundkvist ist.«, begrüßte Carsten - Scotty - Anker seinen Kollegen, als dieser kurze Zeit später sein Labor betrat. »Was hab ich dir gesagt?«, wandte sich Scotty an einen jüngeren Kollegen neben ihm, »Wenn der Kollege Lundkvist sagt, er sei in einer Viertelstunde bei uns, ist er es auch.«

»Hey, das war nicht fair. Woher sollte ich wissen, dass er Motorrad fährt?«, entfuhr es diesem, was wiederum dem Kollegen Anker ein Grinsen entlockte und an Sonni wenden ließ. »Wärest du so nett, unserem jungen Kollegen zu erklären, dass das rein gar nichts mit Fairness zu tun hat.«

Sonni zuckte mit den Schultern. Eigentlich schätzte er es gar nicht, den Oberlehrer geben zu müssen. Allerdings hatte ihm der Kollege Anker den Ball zugespielt und es wäre mehr als nur unhöflich gewesen, diesen nicht aufzunehmen. Zumal Sonni auf dessen Mitarbeit angewiesen war. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich zu räuspern und dem Jungbullen eine kleine Lektion in polizeilicher Arbeit zu geben.

»Erwarte das Unerwartete!«, begann er zu rezitieren. »Oder wie unser Ausbilder immer sagte: Lassen Sie sich Ihren Blick nicht durch die eigene Erwartungshaltung verengen. Ich habe nie gesagt, dass ich mit einem Auto komme, denn dann würde ich vermutlich immer noch auf dem Mehringdamm festsitzen.«

Eigentlich war der junge Kollege gar nicht so jung, jedenfalls nicht jünger als Sonni, also irgendwo zwischen Mitte und Ende zwanzig. Es war der Kontrast zu Scotty, einem Mittvierziger, der trotz seines IT-affinen Berufs nicht zum EDV-Buddha aufgedunsen war. Scotty war sogar ausgesprochen drahtig, fast hager, auf jeden Fall sehnig und wirkte ausgesprochen fit. Es erforderte denn auch keiner Profilerqualitäten, um die Ursache für seine körperliche Erscheinung zu erkennen. Ein an einer Wand im Büro lehnendes Multitausend-Euro-Rennrad und preislich auf äquivalent hohem Level rangierende Fahrradkleidung, in die der Kollege Anker gehüllt war, sprachen für sich. Doch so sportlich er sich auch präsentierte, die rund zwanzig Jahre Altersunterschied ließen seinen Kollegen einfach wie ein Jüngelchen aussehen.

»Wie ich hörte«, begann der IT-Experte, das Thema auf den Grund für Sonnis Besuch zu lenken, »hast du uns etwas mitgebracht?«

»Yupp«, erwiderte Sonni, griff in die Innentasche seiner Motorradjacke und angelte den USB-Stick heraus. »Dieses Speicherstäbchen habe ich von einem... Nun, sagen wir vorläufig Zeugen erhalten. Mir ist noch nicht ganz klar, was er genau ist. Ich weiß, dass das jetzt nicht sonderlich wissenschaftlich klingt, aber ich traue dem Stick nicht.«

»Ah, das gute alte kriminalistische Bauchgefühl.« Scotty musste lachen und auch sein Kollege erlaubte sich ein schüchternes Lächeln. »Ach, du kennst meinen jungen Kollegen ja noch nicht. Sonni Lundkvist, darf ich dir den Kollegen Hendrik Hauswald vorstellen? Hendrik ist erst seit kurzem in unserer Abteilung tätig, hat sich aber bereits als ausgesprochen vielversprechend herausgestellt. Hendrik, darf ich dir umgekehrt den Kollegen Lundkvist vorstellen, der im Moment ärmsten Sau in unserem Stall. Sonni, Junge, da hast du dir aber einen echten Scheißfall aufgehalst. Lobbyisten, Politiker und Konsorten – heikel, heikel, heikel. Ach war das schön, als unsere Regierung noch im fernen Bonn ihr Unwesen trieb.«

»Ist es so schlimm?«

»Schlimmer. Polizisten sind ja von Prinzip her Plaudertaschen, aber in deinem Fall ist es schon ein wenig extremer. Gerüchteweise sollen in eurem Dezernat Wetten laufen, ob du zuerst hinschmeißt, oder Prechtel dich abzieht. Dein Chef, so sagt man, soll mächtig Druck von oben bekommen. Von ganz oben.«

»Senatskanzlei?«

»Höher. Es wird gemunkelt, dass von Seiten des Bundeswirtschaftsministeriums ebenso diskreter wie nachdrücklicher Einfluss genommen wird.«

»Naja«, grunzte Sonni gequält amüsiert, »So diskret kann es nicht gewesen sein, wenn das halbe LKA Wetten auf mein Scheitern abhält.«

»Da hast du auch wieder Recht.«, pflichtete Scotty bei, nahm den USB-Stick und schaute ihn sich aus der Nähe an. »Und, mein kleiner Schlingel, wie ist deine Geschichte?«

»Standard 32GB Modell«, bemerkte der Kollege Hauswald trocken.

»So scheint es...«, meinte Scotty Anker gedehnt. »Allerdings sind viele Dinge nicht immer das, was sie behaupten zu sein.«

Statt aufzustehen, stieß sich der IT-Sicherheits-Geek mit seinen Füßen vom Boden ab und rollte mit seinem Drehstuhl quer durch den Raum bis zu einem Regal, angefüllt mit allerlei fein säuberlich beschrifteter Plastikschachteln. Dort angekommen erhob sich Carsten Anker, wanderte mit seinen Fingern die Behälter entlang und wurde offensichtlich fündig. Bewaffnet mit zwei Schachteln kehrte Scotty an seinen Arbeitsplatz zurück und präsentierte dessen Inhalt den beiden wartenden Kriminalbeamten. Auf dem Tisch lagen eine Maus und ein winziges USB-Dingelchen, das zwar wie ein Mikro-USB-Stick aussah, aber über eine Buchse verfügte.

»Dieser kleine USB-Zwischenstecker ist ein perfider kleiner Keylogger. Zwischen Tastatur und Rechner gesteckt, zeichnet er jeden Tastendruck auf. Ihr werdet jetzt sagen, dass das Ding doch auffallen muss. Tut es aber nicht. Eine Frage: Wer von euch schaut sich seinen PC regelmäßig auf Manipulationen an?«

Ein verlegenes Schweigen seitens Sonni und Hendrik beantwortete die Frage auch ohne Worte.

»Und selbst, wenn man zufällig mal in Richtung Anschluss schaut, so ein Minizwischenstecker fällt kaum auf.«

Die beiden Zuhörer nickten zustimmend, weswegen sich IT-Scotty der Maus zuwandte.

»Der Keylogger hat den Nachteil, dass man ihn irgendwann abholen muss, um an seine Daten zu gelangen. Diese Maus hier ist da ein paar Nummern raffinierter. Schaut sie euch mal an.«

Nacheinander untersuchten sowohl Hendrik als auch Sonni die Maus, konnten aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Bei dem Teil handelte sich um so ein Gamingteil mit massenweise Zusatztasten, Mausrad mit Wippenfunktion und Spezialknöpfen sowie diversen LEDs und einer Anzeige für die Mausauflösung. Die Maus war sicherlich teuer, aber an sich Standardware. Nichts an dem Ding wirkte, als ob an ihm manipuliert wurde, was die beiden auch äußerten.

»Stimmt.«, pflichtete der Sicherheitsexperte bei. »Das Modell konnte man genau so im Laden kaufen. Es wurde auch nicht aufgeschraubt. Muss man auch nicht. Was den meisten Anwendern nicht klar ist und selbst viele Techniker vergessen: diese Maus ist auch ein Computer und lässt sich tatsächlich mit einer neuen Firmware flashen. Anders ausgedrückt: Das Teil enthielt einen Trojaner, der sich automatisch installierte, sobald die Maus angeschlossen wurde. Und wer misstraut schon einer Maus, insbesondere wenn sie so cool wie diese ist? Aber selbst skeptische Gemüter wurden in Sicherheit gewogen. Der Trojaner nutzte nämlich aus, dass die Maus beim ersten Anstecken ganz regulär einen Treiber installiert. Die haben sich einfach an das Installationsprogramm angehängt. Während sich das Opfer ahnungslos durch dessen Oberfläche klickte, installierte es neben dem eigentlichen Maustreiber den Trojaner. Ich sag' ja: Frech kommt weiter.«

Dem wussten die gebannt lauschenden Zuhörer nichts entgegenzusetzen. Scotty nickte zufrieden und verstaute Maus und Keylogger in ihren jeweiligen Plastikschachteln.

»Ihr seht also, dass ein USB-Speicherstäbchen zwar aussehen mag, wie ein USB-Speicherstäbchen, aber noch lange kein USB-Speicherstäbchen sein muss.«

Mit diesen Worten wandte sich der Meister der Bits und Bytes seinem Rollcontainer zu, um dessen oberste Schublade zu öffnen und ein DVD-Mäppchen herauszuholen. Statt den USB-Stick einfach an einen Computer zu stöpseln, bereitete Carsten Anker einen offenbar speziell dafür vorgesehenen Arbeitsplatz vor. Dieser bestand aus einem Schreibtisch mit einem Computer, der außer mit Strom, Maus, Tastatur und Bildschirm mit sonst nichts weiter verbunden war. Für Sonni überraschend kramte Scotty ein digitales Aufzeichnungsgerät hervor, stellte es neben den Computer und aktivierte es.

»Aufzeichnung einer kriminaltechnischen Untersuchung eines USB-Speicherbausteins.«, begann der IT-Experte. »Das Untersuchungsobjekt wurde von Kriminalkommissar Sonni Lundkvist eingebracht. Die Untersuchung wird durch Kriminalhauptkommissar Carsten Anker durchgeführt. Als anwesende Zeugen der Untersuchung fungieren Kriminalkommissar Lundkvist und der kriminaltechnische Assistent Hendrik Hauswald.«

Nach einer Reihe weiteren eher formalen Angaben wie Uhrzeit und Datum der Untersuchung, begann Carsten Anker den Untersuchungsaufbau zu beschreiben. Sonni war beeindruckt. Wenn es um Computer ging, betrachtete er sich selbst als ambitionierten Laien. Er wusste, wie er mit seinem Mac umzugehen hatte, konnte ein Netzwerk einrichten und war bisher sogar in der Lage gewesen, alle Fälle auftretender Unpässlichkeiten selbst zu beheben. Scotty bei der Arbeit über die Schulter sehen zu dürfen, war hingegen mehr als nur beeindruckend. Der Mann verfügte über eine schwindelerregende Souveränität und Selbstsicherheit. Der Mann agierte auf einem vollkommen anderen Niveau. Total unaufgeregt erklärte er jeden einzelnen Schritt seiner Untersuchung und enthüllte dabei kleine aber wichtige Details, auf die Sonni nie im Leben gekommen wäre. Es fing mit dem Untersuchungsrechner an. Warum dieser über keinen Netzwerkanschluss verfügte, konnte Sonni noch gut nachvollziehen. Es wäre mehr als peinlich, wenn während einer Untersuchung ein Virus ausbüxte und das Netzwerk des LKAs befiele. Dass der Computer darüber hinaus auch keine Festplatte besaß, überraschte dann schon, war aber ebenfalls plausibel. So konnte ein Virus den Untersuchungsrechner nicht befallen und damit das Ergebnis der Analyse kompromittieren. Richtig spannend wurde es, als der Kollege Anker einen kleinen USB-Zwischenstecker an das eine Ende desjenigen Kabels steckte, an dem der USB-Stick später angeschlossen werden sollte.

»Dieses kleine Teil ist ein Writeblocker«, erläuterte Scotty, »Er unterbindet alle Schreibbefehle an den USB-Stick. Dies verhindert zum einen, dass ein Selbstverteidigungsmechanismus eines Virus Spuren verwischt, erlaubt uns aber zusätzlich gerichtsfest darzulegen, dass der Stick von uns nicht verändert wurde.«

Auf den letzten Punkt legte Scotty extrem viel Wert. Nichts wäre peinlicher, als sich eine schöne Beweiskette von einem Verteidiger vor Gericht zerpflücken zu lassen, nur weil an einer Stelle die Möglichkeit einer wenn auch nur unachtsamen Manipulation bestand. Als dann nach all den Vorarbeiten der USB-Stick schließlich angeschlossen wurde, bestand der erste Schritt nicht etwa darin, einen Blick auf dessen Inhalt zu wagen, sondern sofort zwei Kopien auf BluRay-Rohlingen anzufertigen und diese mit Prüfsummen der gesicherten Dateien zu schützen. Beide Datenträger wurden dann auch sofort ins Beweismittelverzeichnis eingetragen. Ein Exemplar landete in einem Tresor für Asservate abgelegt. Die zweite Kopie händigte Scotty Sonni gegen Quittung aus.

»So viel zum Vorspiel.«, grinste der IT-Experte süffisant. »Schauen wir doch mal, ob das Stäbchen unerwünschte Mitbringsel enthält.«

Verfluchte Bytes

Er hatte nicht. Jedenfalls nicht, wenn es nach den diversen Viren- und Scannern für Schadsoftware ging, die der Kollege auf den Stick ansetzte. Weder fanden sich Würmer, Viren, Trojaner, Back-Doors oder Root-Kits. Nicht mal ein kleines Scarewareprogrämmchen war auf dem Stick zu finden. Aus technischer Sicht schien das Teil ziemlich clean zu sein und Sonni fragte sich, ob er mit diesem Ergebnis nun zufrieden oder unglücklich sein sollte. Eigentlich hatte er fest damit gerechnet, dass ihm Kardinal DaSilva irgendeine Art von Back-Door-Programm hinterlassen hatte. Und selbst wenn es nicht gleich das ganz große Spionageprogramm war, dann zumindest einen Activitylogger, der alle Zugriffe auf den Stick protokollierte. Doch da war nichts. Jedenfalls fanden die Suchprogramme nichts, was darauf hinwies.

»Sonni, du wirkst enttäuscht?«, bemerkte Scotty die ambivalente Mimik seines Kollegen.

»Ich weiß nicht, ob es enttäuscht wirklich trifft.«, erwiderte Sonni. »Ich bin eher überrascht, dass du nichts gefunden hast. Ich hätte wetten können, dass mit dem Stick irgendetwas nicht koscher ist.«

»Es gäbe da noch ein paar andere Tests, die ich durchführen könnte.«

»Was ist mit den Dateitypen?«, mischte sich nun der kriminaltechnische Assistent ein.

»Eine gute Idee.«, freute sich Scotty. »Ist mein nerviges Gelaber doch nicht auf taube Ohren gestoßen.«

Sonni verstand gar nichts. Sein ebenso fragender wie ratloser Blick blieb natürlich nicht unbemerkt und führte zu entsprechenden Erklärungen. Konventionelle Virenscanner, so Scotty, suchten eigentlich nur nach bestimmten Datenmustern. Von denen wären abertausende bis Millionen in sogenannten Virenbeschreibungsdatenbanken hinterlegt.

»Das ist das Zeug, was dein Virenscanner bei den ständigen Updates immer runter lädt und wofür du dein Abo bezahlst.«, erklärte Hendrik. Sonni und er wollten Carsten nicht ständig über die Schulter gucken und hatten sich etwas abseits an einen anderen Schreibtisch gesetzt. Scottys Kollege nutzte die Zeit, um dem Kriminalkommissar ungefähr zu erklären, was sein Chef gerade versuchte.

Ein Virus konnte nur dann erkannt werden, wenn sein Muster, vergleichbar einem Fingerabdruck, in der Datenbank enthalten war. Eine andere Art, einem Virus auf die Schliche zu kommen, bestand darin, ihn in flagranti bei der Arbeit zu erwischen. Diese Verhaltensanalyse genannte Technik erkannte Viren und den ganzen anderen Zoo an Schadsoftware anhand typischer, um nicht zu sagen verdächtiger Zugriffe auf das Betriebssystem. Bis hierhin konnte Sonni noch folgen. Derartiges war inzwischen fast Allgemeinwissen und fand sich in jeder besseren Computerzeitschrift, wenn diese mal wieder Antivirensoftware prüfte. Die beiden IT-Experten wollten aber noch einen Schritt weiter gehen: Bilder, Textdokumente, Ton- und Musikstücke, Videos, Tabellenkalkulationen oder Zeichnungen steckten in Dateien, die ein genau spezifiziertes Format besaßen. Weil diese Formate aber so genau festgelegt waren, sparten sich manche Entwickler die Mühe, immer genau zu überprüfen, ob sich die Daten in der Datei auch immer an die Regeln hielten. Genau an dieser Stelle schlug die Stunde der bösen Buben. Sie präparierten ihre Datei so, dass die Programme, die sie verarbeiten sollten, ins Straucheln gerieten, um dann ganz andere Dinge zu tun, etwa Trojaner oder Backdoor zu sein.

»Hm, ich weiß ja nicht, wo du den Stick her hast.«, meinte Scotty hinter seinem Bildschirm über dessen Rand hinweglugend, »Aber das Ding hat was von einem Gemischtwarenladen. Massenweise Bilder und Texte, sogar ein paar Videos sind drauf. Warte, ich öffne mal eine Bilddatei.«

Ein paar Mausklicks später startete ein Bildbetrachtungsprogramm. Da der Computer über keine eigene Festplatte verfügte und alle Programme von DVD nachladen musste, dauerte es deutlich länger, bis eine angeklickte Datei ihr assoziiertes Programm startete. Der IT-Experten starrte gebannt auf den Flachbildschirm, während der Viewer quälend langsam von der DVD gekratzt wurde. Die Bilddatei erschien hinter hingegen rasend schnell.

»Was, verdammt, ist das?«, hörten sie Carsten Anker sagen. Offensichtlich hatte er etwas Interessantes Gefunden. Sonni und Hendrik erhoben sich von ihren Stühlen und wandten sich Scotty zu. Der starrte wie hypnotisiert auf den Bildschirm vor sich.

»Scotty?«, sprach Sonni ihn an. Der reagierte nicht, stattdessen wiegte er nur seinen Kopf hin und her während er intensiv und vollkommen in sich versunken auf das Bild vor sich schaute.

»Was, verdammt...«, meinte jetzt seinerseits Sonni, umrundete Carstens Schreibtisch und wollte sich ansehen, was diesen dermaßen in Bann geschlagen hatte. Doch dazu kam es nicht. Genau in dem Moment, als der Blick des Kriminalpolizisten auf den Bildschirm fiel, kam es zu einer Art elektrischer Entladung. Der Inhalt des Bildschirms verwürfelte, zeigte wild blinkende und flackernde Streifen durchsetzt mit einer Mischung aus Buchstaben aller möglichen Zeichensätze und Fragmenten von Grafiken. Gleichzeitig quiekte es im Rechner. Irgendetwas in seinem Inneren knisterte, es spratzte, der Bildschirm wurde schwarz, es piepste und die Kiste bootete.

»Was war das?«, fragte Carsten - Scotty - Anker, der nicht nur seinen Tagtraum wieder verlassen hatte, sondern vor Schreck auch seine Hände blitzartig von der Tastatur hochriss.

»Äh... Ich weiß nicht. Du bist der Computerfachmann.«, meinte Sonni ein wenig überrascht.

»Ähm... Ich kann dir nicht sagen, ob dieser Absturz irgendetwas mit dem USB-Stick zu tun hat.«, gestand Scotty und wirkte ein wenig ratlos. » Entschuldige, wenn das jetzt ein wenig barsch klingt, aber ich muss nachdenken. Wenn du den Stick noch ein wenig entbehren könntest, gäbe dies uns die Gelegenheit, das Ding wirklich sehr genau zu untersuchen. Wenn das Teil sauber ist, bekommst du sofort alle Daten. Ich bitte dich inständig, der Versuchung zu widerstehen, ein Blick auf die Kopie auf deiner BluRay zu werfen.«

»Okay.«, meinte Sonni ebenso skeptisch wie verlegen. »Kann ich sonst noch...«

»Nein«, unterbrach Carsten knapp, den der Jagdeifer gepackt hatte. »Sonni, ich weiß, wie frustrierend das für dich sein muss. Aber wir brauchen jetzt viel Ruhe und Zeit. Hendrik, du suchst die Formatbeschreibungen folgender Dateitypen heraus. PNG, GIF, JPEG, AIFF, MKV...«

Sonni wusste, wann er nichts mehr ausrichten konnte. Mit einem kurzen Gruß, der aber überhaupt nicht mehr registriert wurde, verließ er das Labor der IT-Forensik. Was war da gerade passiert?


Zurück im Büro stellte Sonni erfreut fest, dass der Phantombildzeichner sowohl die Skizze nach den Angaben der Witwe des Opfers als auch die seines Sohns fertig gestellt hatte. Die E-Mail enthielt zwei große Bilddateien, die sofort mehrfach ausgedruckt wurden. Sonni hatte schon eine Idee, wem er die Bilder alles vorlegen wollte. Ganz oben auf der Liste standen die Mitarbeiter des Lobbybüros, aber auch Tom Berger, der Inhaber von Adult Constructions, der Manufaktur für SM-Möbel. Und wenn er schon dabei war, konnte es sicherlich nicht schaden, die Zeichnungen auch Raphael und seinen Leuten vorzulegen. Wer weiß, vielleicht zählte er zu den Gästen des Clubs.

Neben dem Polizeizeichner hatten auch der Gerichtsmediziner Dr. Marx und KTU-Urgestein Hotte Mälzer Nachrichten hinterlassen. Der Herr der Leichen hatte sich nochmals Polizeiobermeister Ott vorgenommen, der armen Seele, die dem Lalyo, dem Todesfluch erlegen war. Von derart mystischen oder magischen Dingen sprach Dr. Marx Bericht natürlich nicht. Der Mann war immerhin Wissenschaftler für den die Welt nach klaren, nachvollziehbaren, logischen Regeln funktionierte. Entsprechend dieser Weltsicht wurde Ott Opfer einer traumatischen Stressreaktion in Folge der grauenvollen Mordszene im Fall des Juweliers Trollmann. Sein Hirn hätte einfach zugemacht. Irrationale und selbstzerstörerische Handlungen wären in solchen Situationen in der Fachpresse schon dokumentiert worden. Die abnorm hohen Neurotransmitterwerte und andere, noch nicht gänzlich geklärte psychoaktiven Substanzen konnten eine psychotische Phase ausgelöst haben. Ott wusste gar nicht, was er tat, und wenn doch, konnte er unmöglich die Tragweite seines Handelns begreifen. Der Polizeiobermeister, so Dr. Marx, musste sich in einem ähnlich wahnhaften Zustand wie unter einer LSD-Intoxikation befunden haben.

Gegen diese Ermittlungsergebnisse und Schlussfolgerungen war prinzipiell nichts einzuwenden. Sonni billigte dem Gerichtsmediziner zu, den Fall aus rein wissenschaftlicher Sichtweise zu betrachten. Er selbst sah die Sache natürlich ein klein wenig anders. Er hatte den Fluch, den Lalyo schließlich gesehen. Hatte er? Oder war das alles, das dunkle Gespinst des Lalyos, die wispernden Kinderstimmen, nur Einbildung? Was Sonni in den letzten Tagen erlebt hatte und noch dabei war, zu erleben, fiel nicht wirklich in die Kategorie »gewöhnlich«.

Erstaunlicherweise übertraf Hottes Nachricht, dem rastlosen Kollegen der KTU, die des Gerichtsmediziners. Der Mann war Physiker, sogar ein Doktor der Physik, was er aber nicht vor sich her trug. Als ausgemachter Wissenschaftler fuchste es ihn, das merkwürdige Objekt, welches Ott erst in die Hand genommen und dann in den Wahnsinn getrieben hatte, nicht analysieren zu können. Das Ding war eine Nuss, die er einfach knacken musste – koste es, was es wolle. Ganz in dem Anspruch versunken, den Dingen auf den Grund zu gehen, hatte er ein paar Anrufe getätigt und Mails verschickt. Die Empfänger bestanden ausnahmslos ebenfalls aus Wissenschaftlern, welche von einem ähnlichen Feuer beseelt waren, die Gesetze der Natur verstehen zu wollen. Am Ende landete das Objekt bei den Jungs und Mädels beim BESSY II, dem Berliner Elektronenspeicherring am Technologie- und Wissenschaftszentrum in Adlershof. Aber selbst dort zeigte das Objekt seine Zähne. Es wurde mit Photonen, Elektronen und Neutronen beschossen. Statt aber Licht ins Dunkel zu bringen, warfen die Ergebnisse nur noch mehr Fragen auf. Normale Materie verhielt sich anders. Diese verhöhnte nicht nur die Physik, sondern auch gleich eine ganze Reihe Naturgesetze.

Langsam dämmerte Sonni, dass es vermutlich keine so gute Idee war, Hotte das bewusste Objekt zu überlassen. Stopp! Was dachte er da? Beweismittel unterschlagen? Soweit sollte es noch kommen. Wenn das Objekt übernatürlichen Ursprungs war und damit im Widerspruch zur bekannten Physik stand, dann war das eben so. Auf der anderen Seite konnte es die Ermittlungen auch heftig komplizieren.

»Sonni, was starrst du so verdrießlich auf deinen Bildschirm?«, erklang Sonni Lundkvist Vorname. Kevin und die BKA-Kollegin waren von einem sehr erfolgreichen Einsatz in Breitkopfs Lobbyverein zurückgekehrt. Zumindest deutete ihre gute Laune darauf hin. So sehen Polizisten aus, überlegte Sonni, die mit ihrer Arbeit sehr zufrieden waren und reichlich Beute gemacht hatten. Statt auf die Frage nach der eigenen Missmutigkeit zu antworten, lehnte sich der Kriminalkommissar in seinem Bürostuhl zurück, verschränkte seine Arme hinter seinem Nacken, hielt seinen Kopf schief und bedachte die beiden mit einem herausfordernden Blick.

»Okay! Okay!«, rief Kevin, »Du hast Recht, wir waren erfolgreich. Naja, eigentlich waren die Kollegen vom Wirtschaftsdezernat erfolgreich. Die Typen sind unheimlich. Greifen scheinbar wahllos nach ein paar Akten, blättern ebenso planlos drin herum und landen einen Volltreffer. Der Laden hat Dreck am Stecken. Entweder betreiben die Geldwäsche im ganz großen Stil oder sind massiv in den Handel mit illegalen oder staatlich kontrollierten Gütern verwickelt, vermutlich letzteres. Und, wie war dein Tag?«

»Ich war bei Scotty, damit der endlich den USB-Stick von DaSilva untersucht. Nach ersten Tests schien der harmlos zu sein. Aber ich trau dem Frieden nicht. DaSilva wird damit gerechnet haben, dass ich den Stick mit einem Virenscanner prüfe. Wenn da irgendetwas Hinterhältiges drin steckt, dann dürfte er subtiler vorgegangen sein. Ach ja, das Gespräch mit Tillmann Breitkopf war interessant. Ihr wisst ja, dass sowohl seine Mutter, als auch Tom Berger, der SM-Möbelfabrikant, von einem jungen Typen gesprochen haben. Tillmann kennt ihn ebenfalls. Er hat ein Bild von ihm gesehen und hat, wie seine Mutter, unserem Phantomzeichner den Unbekannten beschrieben. Die beiden Bilder sind sich so ähnlich, dass wir von ein und dergleichen Person ausgehen können. Hier, ich habe die Zeichnungen ausgedruckt.«

Sonni hatte die beiden DIN A4-Blätter kaum über den Tisch geschoben, da wurden sie auch schon mit Kaffee besprüht, der explosionsartig Kevins Mund entströmte, als dieser die Person darauf erkannte und sich vor Schreck mit dem Heißgetränk verschluckte.

»Scheiße! Scheiße!«, rief er erregt, wobei nicht klar war, ob sich der Fluch auf die Sprühkaffeesauerei oder das Bild bezog. Es wurde sogar noch viel schlimmer, als er versuchte, mit einem Ärmel den Kaffee wegzuwischen, dabei aber stattdessen dem Ausdruck flächendeckend eine braune Kaffeefärbung verlieh. »Kacke!«

»Kev, lass gut sein!«, lachte Sonni kopfschüttelnd, »Die Stadt mag zwar pleite sein, aber ich glaube, die Bilder noch mal auszudrucken, wird den totalen Bankrott nicht signifikant beschleunigen.«

»Nein, das ist es nicht.«, fluchte Kevin hektisch. »Der Typ auf dem Bild... das ist Breitkopfs Kofferträger – der Praktikant. Doro und ich haben heute noch mit ihm gesprochen.«

Kowalski

»Jetzt bitte noch Mal von Anfang an und ganz langsam zum mitdenken.« Sonnis Blick wechselte zwischen Dorothea und Kevin hin und her. »Ihr wollt mir sagen, dass es sich bei dem Mann, den mehrere Zeugen unabhängig voneinander als Breitkopfs Beziehung bezeichnet haben, um seinen Praktikanten handelt und dass ihr mehrfach mit ihm gesprochen habt?«

»Ähm, ja.«, gestand Kevin kleinlaut, ging aber anschließend in die Vorwärtsverteidigung über. »Sonni, es gab keinen Hinweis darauf, dass Peter Kowalski, der Praktikant, mehr war, als ein peinlicher Kofferträger. Der Typ war echt anstrengend. Wenn es nach ihm ging, müsste der Boden, über den Breitkopf wandelte, zu heiliger Erde erklärt werden. Wenn wir auch nur ansatzweise geahnt hätten, dass diese Vergötterung nur Show war und die zwei was miteinander hatten, hätten wir den sofort mitgenommen und in die Mangel genommen.«

»Kev hat Recht«, sekundierte Dorothea. »Ich hab' den Typen auch als harmlose Nervensäge abgeschrieben. Der muss wirklich ein verdammt guter Schauspieler sein. Ich kann mir selbst jetzt noch nicht vorstellen, dass ausgerechnet der was mit Breitkopf hatte.«

»Ich habe nie gesagt, dass die zwei... intim waren. Die Aussagen der Zeugen waren eher vage und werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.«, stellte Sonni richtig und schilderte die Gespräche mit Breitkopfs Witwe, ihrem Sohn und Tom Berger, dem SM-Möbelfabrikanten. Allen drei Aussagen war gemein, dass niemand von Beziehung gesprochen hatte. Die Verbindung zwischen Breitkopf und Kowalski schien sehr komplex zu sein. Was verband einen Mittvierziger mit einem Mann, der locker sein Sohn sein konnte?

»Ich will Kowalski sprechen.«, verkündete Sonni entschlossen, überlegte einen Moment, verzog dann seine Miene, knurrte und fügte hinzu. »Holt ihn her!«

»Wann? Jetzt?«, wollte Kevin, überrascht von Sonnis Vehemenz, wissen.

Es folgte wieder eine nachdenkliche Pause, bis sich Kevins direkter Vorgesetzter zu einer Entscheidung durchrang, während die Kollegin vom BKA fasziniert daneben stand und beobachtete. »Ja, jetzt!«, bestätigte Sonni fest entschlossen. »Ihr habt ihn im Rahmen unserer Ermittlungen befragt. Ich habe das Protokoll deiner Befragung gelesen. Der Mann hat sich alle Mühe gegeben, als nerviger, aber harmloser Arschkriecher dazustehen, der seinen Chef vergöttert. Kev, was war dein erster Gedanke bei Kowalski?«

»Was für ein Looser, betrachtet die Arschtritte und Gehässigkeiten seines Chefs als Zeichen von Wertschätzung und Ritterschlag.« Kevin nickte anerkennend. »Ich war tatsächlich der Meinung, Breitkopf betrachtete ihn nur als nützlichen Idioten, den er aber ansonsten für seine Schleimscheißerei verachtete.«

»Schlau, oder?«, meinte Sonni und lächelte anerkennend. »Kowalski hat sich ausgesprochen elegant unserem Ermittlungsfokus entzogen, indem er uns glauben ließ, für Breitkopf nur ein grenzdebiler Kofferträger zu sein. Das ist genial und es macht ihn verdächtig. Deswegen will ich ihn hier, bei uns im Befragungsraum sitzen haben und auf den Zahn fühlen.«

»Dorothea?«, fragte Kevin die Kollegin vom BKA.

»Ich bin dabei.«


Während Kriminalkommissar zur Ausbildung Kevin Bredow und Polizeioberrätin Dorothea Kornmüller samt zweier Kräfte der Bereitschaftspolizei auf dem Weg zurück zur Luisenstraße waren, beschäftigte sich Kriminalkommissar Sonni Lundkvist mit Hintergrundrecherche. Genaugenommen versuchte er es, kam aber nicht weit. Peter Kowalski war ein Geist. Eine Abfrage der Meldedaten beim Berliner Einwohneramt brachte nichts, was über die Privatadresse und ein paar persönliche Angaben, wie Augenfarbe, Körpergröße, Geburtsdatum und -ort oder Staatsangehörigkeit hinausging. Da war Google fast noch ergiebiger. Der Suchmaschine ließ sich wenigstens entnehmen, dass der Mann Thorsten Breitkopfs persönlicher Referent wäre und für den Verband einige politische Positionspapiere verfasst hatte. Das war's aber auch schon. Ansonsten: Nada! Nichts, rein gar nichts. Der Mann tauchte in keinem sozialen Netzwerk auf, schien in keinem Verein aktiv zu sein, verfügte über keine Website oder Blog. Selbst Schul- und Hochschulwebseiten erbrachten keinerlei Treffer. Es gab rein gar nichts. Jedenfalls niemanden mit dem Namen Peter Kowalski, auf den seine Beschreibung zutraf.

Wer war dieser Mann? Sonni war ausgesprochen begierig darauf, mit Herrn Kowalski ein paar Worte zu wechseln. Niemand wandelte dermaßen unauffällig durchs Leben, dass er keinerlei Spuren hinterließ. Nicht in der heutigen Zeit. Irgendetwas stimmte mit dem Mann nicht. Während Sonni noch über seine Instinkte als Kriminalpolizist reflektierte, machte sich sein Telefon durch lautes Klingeln bemerkbar.

»Lundkvist«

Es war Kevin, der Sonni darüber informieren musste – von Wollen konnte in diesem Fall nicht die Rede sein – dass sie Kowalski nicht mehr an seiner Arbeitsstelle angetroffen hätten. Die amtierende Vorsitzende des Vereins, Breitkopfs ehemalige Stellvertreterin, erklärte lapidar, dass der Kollege gekündigt und seinen Resturlaub genommen hätte. Da er als persönlicher Assistent des verstorbenen Chefs eh keine großen oder gar wichtigen Aufgaben zu erledigen hatte, sprach nichts dagegen, ihn sofort freizustellen und ziehen zu lassen. Hinter vorgehaltener Hand gab die neue Chefin zu, dass der Typ mit seiner penetranten Art die totale Nervensäge war. Ihn loszuwerden, bewertete sie daher weniger als Verlust sondern als Gewinn. Interessant, so Kevin, war der Zeitpunkt, zu dem Kowalski gekündigt hatte: Wenige Minuten nachdem Dorothea und er das Büro nach ihrem Besuch am Vormittag verlassen hatten. Eigentlich, so die Chefin, hatte er klassisch hingeschmissen, zwar freundlich, aber auch sehr bestimmt. Er hatte sogar seine Büroschlüssel zurückgegeben.

»Der macht sich dünn«, knurrte Sonni ins Telefon. »Ich will mit dem Kerl sprechen. Dieser Aufbruch kommt mir mehr wie eine Flucht vor. Ich weiß nicht, ob es für einen Haftbefehl reicht, aber bei der Aktenlage müssten wir auf jeden Fall eine Durchsuchungsanordnung durch kriegen. Ihr fahrt direkt zu Kowalskis Wohnung, ich geh inzwischen zur Staatsanwaltschaft, dass die mir beim Ermittlungsrichter die Maßnahmen genehmigt. Wir treffen uns dann dort. Bis dahin, haltet die Füße still und verhaltet euch unauffällig. Ich will nicht, dass der Typ etwas ahnt und eine Dummheit begeht oder vielleicht noch Beweismittel beiseiteschafft.«

»Aye, Chef!«

Die Sache kam langsam ins Rollen. Kowalski war definitiv eine heiße Spur: Die heimliche Beziehung der beiden Männer, welcher Art diese auch immer sein mochte, die fluchtartige Kündigung. All das waren Indizien, die Handeln erforderten. Es gab Fälle, bei denen Sonni mit weniger ausgekommen war, um einen Täter dingfest zu machen. Er wusste zwar nicht, ob Kowalski wirklich der Täter war, ob er für den Tod von Breitkopf, Trollmann und Ott verantwortlich war, dass er aber einen wesentlichen Teil der Lösung, wenn nicht sogar dessen Schlüssel darstellte, darin war sich Sonni zwischenzeitlich absolut sicher.

»Okay«

Mit diesem entschlossenen Seufzer zog Sonni seine oberste Schreibtischschublade auf und griff, sichtbar widerwillig, nach seiner Dienstwaffe. Der Lundkvistspross mochte mit Leib und Leben Kriminalpolizist sein, trotzdem konnte er sich einfach nicht daran gewöhnen, eine Pistole mit sich zu führen oder sie notfalls sogar gegen jemanden einzusetzen. Auf der anderen Seite war ihm die Notwendigkeit, sich gegebenenfalls verteidigen zu müssen, leider sehr bewusst.

Bevor er seine Waffe im Schulterholster verstaute, unterzog er sie einer gewissenhaften Prüfung: Das Magazin war geladen und die Schusssicherung aktiviert. Es folgte ein Anruf bei der Staatsanwaltschaft, damit diese die Durchsuchungsanordnung und wenn möglich auch einen Haftbefehl beantragte. Sonni wollte beides auf dem Weg zu Kowalskis Wohnung bei Gericht abholen. Letzteres lag praktischerweise auf dem Weg. Kowalskis Adresse verortete auf einen Ort im Beusselkiez, Rostocker Straße, einer bei der Polizei äußerst schlecht beleumundeten Gegend. Obwohl sich das Quartiersmanagement seit Jahren alle Mühe gab, die Lage zu verbessern und sich auch erste Erfolge zeigten, galt das Wohnviertel als Problemgebiet: Ein Kiez auf dem Weg in die totale Armut. Wenn selbst Ein-Euro-Läden zumachen mussten, bedurfte es nur geringer hellseherischer Fähigkeit, um zu begreifen, wohin die Reise ging. Aber warum, so fragte sich Sonni, wohnte Kowalski ausgerechnet in dieser Gegend? Der naheliegende Grund war sein mageres Einkommen. Wenn er wirklich nur als Praktikant im Lobbybüro beschäftigt war, dürften seine Einkünfte kaum zum Überleben gereicht haben. Allerdings sprach die Beziehung mit Breitkopf dagegen. Welcher Art diese auch immer gewesen sein mochte, konnte sich Sonni nicht vorstellen, dass ihm Breitkopf nicht finanziell unter die Arme gegriffen hatte. Oh ja, Peter Kowalski hatte einige Fragen zu beantworten.

Während Sonni für seinen Besuch bei IT-Experte Scotty sich der Faulheit hingegeben hatte und völlig unprofessionell in Jeans gefahren war, entschied er sich nun, auf die timsche Lederhose zu wechseln. Inzwischen war es später Nachmittag geworden und die Temperatur merklich gefallen. Mit Stoffhose auf dem Motorrad wäre es dann doch ein wenig frisch geworden. Der Frühling hatte zwar seine ersten Fühler ausgestreckt und die Stadt mit Sonnenstrahlen gewärmt, doch ganz so kampflos wollte der Winter dann doch noch nicht weichen. Insbesondere in den Nächten zeigte er noch gerne seine Zähne.

Der Untersuchungsrichter hatte keine Probleme damit, Sonni eine Durchsuchungsanordnung auszustellen, beim Haftbefehl hingegen waren dem Vertreter der Judikative die vorgebrachten Argumente noch ein wenig zu dünn. Ehrlicherweise hatte Sonni auch nicht ernsthaft damit gerechnet, den Lobbyistenlehrling festsetzen zu dürfen. Aber es konnte ja nicht schaden, zu fragen. Befragen konnten sie ihn auch so.


»Es ist das blassgelbe Haus dort vorne.«, wurde Sonni von Kevin begrüßt. Der hatte seinen Dienstwagen in einer Parklücke drei Häuser rechts von Kowalskis Wohnung geparkt. Sonni parkte hingegen sein Motorrad, wie in Berlin üblich, auf dem schmalen, mit kleinen Steinen bepflasterten Streifen zwischen dem eigentlichen Fußweg und der Straße, der gemeinhin auch als Scheißstreifen bezeichnet wurde. Zwar war das Parken auf dem Gehweg nicht legal, wurde aber von der Verkehrspolizei in Anbetracht der doch sehr angespannten Berliner Parkraumsituation in der Hauptstadt mehr geduldet als die Stoffwechselprodukte vierbeiniger Berliner vom Ordnungsamt. Das galt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass die Karre niemanden behinderte.

»Gehen wir hoch!«, gab Sonni den Startschuss. Kevin ging voran. Ihm folgten die zwei Beamten der Schutzpolizei. Dorothea und Sonni bildeten die Nachhut. Die Wohnung Peter Kowalskis lag im dritten Stock des Seitenflügels. Bevor allerdings dieser Gebäudeteil in Angriff genommen werden konnte, galt es die Haustür zu erobern. Gerade als Kevin wahllos auf einen der unzähligen Knöpfe des Klingelbretts drücken wollte, öffnete sich die Haustür und eine Omi kam samt Rollator heraus geschlurft. Die Mitbürgerin im postproduktiven Lebensabschnitt musterte die fünf Polizisten, zog ihre linke Augenbraue hoch und schüttelte den Kopf. Die Omis von heute waren auch nicht mehr das was sie mal waren.

Omi schlüpfte raus, die Bullen rein. Durch einen düsteren und mit Kinderwagen sowie Fahrrädern dermaßen verstellten Eingangsbereich, dass es jeden Branddirektor hyperventilieren ließe, ging es auf den Hof, dem wohl trübsten Flecken Erde der gesamten Stadt. Der Boden bestand aus einer grünlich vermoosten gegossenen Betonplatte. Eingefräste Rillen führten zu einem Gitterrost in der Mitte unter dem sich ein Gully mit muffelndem Wasser verbarg. Entlang eines Zauns, der das Grundstück zum spiegelbildlichen Hof des Nachbarhauses abgrenzte, reihten sich die unvermeidlichen Müllcontainer Berliner Mehrfamilienhäuser auf: Papier und Pappe in blauen Tonnen, Altglas weiß in weißlicher Tonne, Altglas bunt in grüner Tonne, gelbe Tonne für den grünen Punkt, braune Tonne für Bioabfälle, orange Tonne für Wertstoffe und last but not least die gute alte schwarze Mülltonne. Sonni stutzte, wurde die gerade erst neu eingeführte orange Tonne nicht wieder abgeschafft?

Was für ein trübes Loch! So trübe wie die Bodenplatte präsentierte sich auch das Haus. Von Putz konnte wirklich nicht mehr die Rede sein. Das, was davon noch an der Wand klebte, wurde von Telefon-, Strom-, Satelliten- und unzähligen anderen Kabeln, Rohren und Trumpfen zusammengehalten und steuerte seinen Teil zum tristen Eindruck des Gesamtensembles bei. Was Sonni am meisten störte war das vollständige Fehlen von Grün. Die Berliner Hinterhöfe genossen einen wirklich schlechten Ruf, und dieses Exemplar tat alles, um dem gerecht zu werden. Dabei war es ein Vorurteil, das schon lange nichts mehr mit der Realität gemein hatte. Irgendwo zwischen Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger begann die Stadt damit, die Qualität der Wohnquartiere zu verbessern. Kohleöfen wurden gegen Zentralheizungen oder Thermen ersetzt, Außenklos auf halber Treppe wurden stillgelegt und Bäder in den Wohnungen eingebaut, am Ende wurden ganze Höfe entkernt und schließend begrünt. Dieser Hof nicht. Dieser Hof war so düster, eng und grau wie vor hundert Jahren. Sonni musste seinen Kopf weit in den Nacken legen, um das Blau des Himmels zu sehen, hätte nicht bereits die Dämmerung eingesetzt.

Das Treppenhaus des Seitenflügels präsentierte sich auch nicht wesentlich freundlicher. Der Großteil der Lampen musste, dem Staub und Rost in und auf ihnen zu urteilen, schon vor Unzeiten ihrer Glasabdeckung verlustig gegangen sein. Immerhin waren die Glühbirnen neu, was die Sache aber nicht besser machte, da es sich nicht wirklich um Glühbirnen, sondern um die billigsten der billigsten Energiesparlampen handelte. Diese formal korrekt als Kompaktleuchtstoffröhren bezeichneten Leuchtmittel kamen nach Druck auf den vergilbten und schwach rot vor sich hin glimmenden Treppenhauslichtknopf nur sehr widerwillig ihrer Aufgabe nach, Licht zu erzeugen. Es wurde nicht wirklich hell, sondern war nur weniger düster. Erst als die fünf Beamten das dritte Stockwerk erklommen hatten, waren die Funzeln soweit in Wallung gekommen, dass sie eine Leuchtstärke erreicht hatten, mit der tatsächlich Details im Treppenhaus erkennbar wurden. Besser wurde es dadurch aber auch nicht, sondern eher schlechter.

»Klingeln?«, wollte Kevin wissen.

»Klingeln!«, bestätigte Sonni.

Kevin klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Keine Reaktion. Die fünf Beamten lauschten. Im Treppenhaus war es still und auch hinter der Wohnungstür war nichts zu hören. Keine Musik, kein Fernseher, keine knarzende Diele.

»Herr Kowalski, machen Sie auf! Hier ist die Polizei.«, rief Kevin laut und schlug mit der Faust gegen die Tür. Nichts, keine Reaktion.

»Der Herr Kowalski ist nicht da.«

Es gab sie in fast jedem Haus: Mieter oder Wohnungseigentümer, die sich mehr um die Angelegenheiten ihrer Nachbarn als die eigenen kümmerten. Als direkt an der Basis arbeitende Polizisten, sozusagen die Frontschweine der Kriminalpolizei, betrachteten Kevin und Sonni diese besondere Gattung Hausbewohner ambivalent. Einerseits lieferten sie zuweilen durchaus nützliche Informationen, andererseits umwehte diese eilfertige Hilfsbereitschaft immer der üble Geruch von widerlicher Neugier, Missgunst und Blockwartmentalität. Bei manchen ging die Wissbegier so weit, dass sie sich LKW-Spiegel ans Fenster montierten, um aus dem Schutz ihrer Wohnung heraus jeden beobachten zu können, der das Haus betrat oder verließ. Hat die Maier im Vierten schon wieder einen Neuen, diese Schlampe!

Oh, welch billiges Klischee, durchzuckte es Sonni beim Anblick des Wesens, das da in der gegenüberliegenden Tür stand. Dorothea gab sich alle Mühe, ein albernes Kichern zu unterdrücken. Vor ihnen stand eine etwa einen Meter fünfzig kleine Oma, die locker die Hexe aus dem Märchen von Hänsel und Gretel geben konnte. Buckelig war sie schon, es fehlte nur noch die Katze. So gebrechlich und tüttelig die Alte auf den ersten Blick wirken mochte, die glasklaren und sehr wachsamen, wenn nicht sogar hinterhältigen Augen sprachen eine ganz andere Sprache. Ihr messerscharfer Blick sprang von Beamtem zu Beamtem, hielt sich dabei aber nicht lange mit den beiden uniformierten Kollegen der Schutzpolizei auf, sondern kam nach einer kurzen prüfenden Pause bei POR Dorothea Kornmüller auf Sonni zu ruhen. Instinktiv schien sie zu wissen oder erkannt zu haben, wer den Einsatz leitete.

»Herr Kowalski ist doch nicht etwa in Schwierigkeiten?«, flötete die kleine Frau so unschuldig wie eine Katze, die den leckeren Kanarienvogel des Nachbarn ins Visier genommen hatte.

»Wann kommt der Herr Kowalski denn zurück?«, ging Kevin nicht auf die Frage ein und wurde dafür mit einem subtil boshaften Blick bedacht. Wie konnte es dieses vorlaute Jüngelchen nur wagen, ihr eine Frage zu stellen?

»Oh, der kommt meist sehr spät nach Hause.« Zur Strafe wurde die Frage in Richtung Sonni beantwortet und Kevin keines Blickes gewürdigt. »Wissen Sie, Herr Kowalski ist ja ein so gut aussehender und so netter Mann. Immer sehr zuvorkommend und hilfsbereit. Es ist schon ein wenig komisch, dass so einer keine Frau hat. Was meinen Sie, ob der vielleicht so einer ist. Sie wissen schon... vom anderen Ufer. Oh, sind Sie etwa deswegen... ha, ich hab's ja immer gewusst, dass mit dem was nicht stimmt. Ich...«

Sie sah nicht nur so aus, die alte war auch eine bösartige kleine Hexe. Wie sie von größter Lobhudelei innerhalb weniger Worte auf Lästerei umschalten konnte, zwang den fünf Polizisten Bewunderung ab.

»Frau... ähm, Josupeit«, schaltete sich Dorothea ein, die mit einem kurzen Blick auf das Klingelschild den Namen der mitteilsamen Hausbewohnerin erhascht hatte. Es war immer wieder erstaunlich, welche Wirkung eine namentliche Ansprache eines Zeugen entfaltete. Die Omihexe zuckte sichtlich zusammen. Plötzlich war sie nicht mehr die anonyme Klatschbase, sondern ganz konkret Frau Josupeit und alles was sie sagte, war von nun an mit ihrem Namen verbunden.

»Ja...?«, antwortete die eben noch sehr gesprächige Frau zurückhaltend und bedachte Dorothea mit unverhohlen feindlichen und argwöhnischen Blicken.

»Wären Sie bitte so nett und gehen in Ihre Wohnung zurück.«, bat POR Kornmüller freundlich, legte eine dramaturgische Pause ein und fügte schließlich ein »Zu Ihrer eigenen Sicherheit.« ihrer Bitte hinzu. Ebenso schnell, wie die Tür zuvor aufgesprungen war, fiel sie laut klackend wieder ins Schloss.

»Danke!«, raunte Sonni der Kollegin vom BKA erleichtert zu.

»Kein Problem.«, erwiderte Dorothea schmunzelnd. »Ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß diese Fronteinsätze machen. Und jetzt? Machen wir die Tür selbst auf?«

»Ja, aufmachen!«, wies Sonni die Kollegen von der Schutzpolizei an, von denen einer wohlweislich entsprechende Öffnungswerkzeuge mit sich führte. Die Tür bot ungefähr so viel Widerstand wie ein Politiker einem Lobbyisten. Das Schloss der Tür zierte sich erst ein wenig, gab sich dann aber doch der Überzeugungskraft der in Öffnungsfragen bewanderten Polizeikraft geschlagen. Die Tür sprang auf.

»Handschuhe!«, kam eine weitere Anweisung Sonnis. »Fassen Sie nichts an!«

Vorsichtig stieß der Polizist mit den Öffnungswerkzeugen die Tür weiter auf und gab den Weg in eine völlig andere Welt frei. Einen größeren Kontrast als zwischen Treppenhaus und Flur der Kowalskischen Wohnung konnte es nicht geben. Was draußen düster, grau, schmuddelig und schäbig war, präsentierte sich drinnen warm, sauber, ordentlich und sogar wohnlich. Und ebenfalls grau, aber in einer freundlichen Variante. Lackierte Dielen strahlten in makellosen Glanz. Hellgraue, fast weiße Wände boten Platz für eine elegante Garderobe, ein kleines Board, das als Schlüsselablage diente und Untergrund für eine Reihe in Glas gerahmter Bilder.

»Wartet!«, rief Sonni, als Kevin nach dem Lichtschalter greifen wollte, um mehr Licht in den Flur zu bringen. »Lasst mich erst schauen. Kann mir jemand eine Taschenlampe... Danke.«

Die Kollegen von der Bereitschaft waren nicht nur immer gut ausgestattet, sondern auch ebenso gut vorbereitet. Sonni musste seine Bitte nicht zu Ende formulieren, da hielt er bereits eine vollgeladene, kräftige, LED befeuerte Stablampe in den Händen. Eigentlich war Sonni überhaupt nicht an der Taschenlampe interessiert. Ihm ging POM Ott nicht aus dem Kopf, das Opfer eines tödlichen Fluchs, der nicht ausgesprochen, sondern an ein Objekt gebunden war. Wer wusste schon, mit wem sie es bei Kowalski wirklich zu tun hatten? Vielleicht war sein Lichtschalter verflucht oder das Übertreten der Türschwelle löste einen Feuerball aus. Allerdings konnte er schlechterdings erklären, dass er sich mit seiner patentierten Dämon-Vision das Umfeld scannen wollte. Während er also mit der Taschenlampe herumfuchtelte, aktivierte Sonni seine übersinnliche Wahrnehmung und war fast ein wenig enttäuscht. Der Flur war einfach nur ein Flur. Es gab keine tödlichen Flüche, keine übernatürlichen Objekte, bestenfalls den Anflug einer leichten Aura, die aber mehr oder weniger nur besagte, dass hier ein Wesen lebte, das mit etwas Übernatürlichem in Berührung gekommen war. Im Falle Kowalskis konnte dies gut und gerne auf den Kontakt mit Breitkopf zurückzuführen sein. Sonnis spezieller Sinn sagte ihm noch etwas anderes: Die Wohnung war leer. Hätte sich irgendein lebendiges Wesen in ihr aufgehalten, wäre ihm dies nicht entgangen. Um der Erwartung seiner Kollegen Rechnung zu tragen, leuchtete Sonni aber trotzdem sehr genau den gesamten Flur ab. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dabei Lichtschaltern, Türen und dem Boden.

»Scheint alles okay zu sein.«, meinte er nach Abschluss seiner Untersuchung und knipste das Flurlicht an.

»Kowalski scheint ausgeflogen zu sein.«, stellte Kevin mit Verärgerung in der Stimme fest. Es frustrierte ihn, den Zeugen oder gar Verdächtigen mit ihren Ermittlungen im Büro des Lobbyverbandes vielleicht erst aufgeschreckt zu haben.

»Ihr könnt nichts dafür.«, versuchte Sonni die Situation sachlicher zu sehen. »Dass Kowalski für uns interessant sein könnte, ist erst mit den Phantombildern erkennbar geworden, und die haben wir erst heute Nachmittag erhalten. Schauen wir lieber, womit wir es bei Herrn Kowalski zu tun haben.«

Der längliche Flur der Wohnung verfügte über insgesamt drei Türen, von denen erwartungsgemäß zwei nach links abgingen und die Letzte das Ende markierte. Ein anderer Aufbau hätte die Kriminalpolizisten auch überrascht. So wie die Fenster des Seitenflügels im Hof angeordnet waren, musste die erste Tür in eine Toilette respektive ein Badezimmer führen, gefolgt von einer Küche. Berliner Altenbauten aus der Zeit um den Wechsel zum zwanzigsten Jahrhundert enthielten eigentlich immer eine Speisekammer. Für den Hausgebrauch geeignete Kühlschränke kamen erst in den dreißiger Jahren in Mode, vor allem in den Vereinigten Staaten und Kuba. Die Europäer mussten kriegsbedingt etwas länger warten, bevor auch ihre Lebensmittel gekühlt werden konnten. Die Speisekammer war somit unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Wohnung. Als halbhoher Raum lag sie im Allgemeinen zwischen Außenwand und Toilette, der Raum darüber diente dann als Lichtschacht für das Klo, bei dem es sich meistens nur um einen wirklich schmalen Schlauch handelte. So auch in Kowalskis Wohnung. Wenn es eine Überraschung gab, dann die wirklich geschmackvolle Art der Einrichtung. Sonni war zwar der Meinung, dass Vorurteile für einen guten Kriminalisten tabu sein sollten, musste sich aber eingestehen, dass die Wohnung ein vollkommen anderes Bild von ihrem Verdächtigen zeichnete, als dies nach dessen Auftreten an seinem Arbeitsplatz zu erwarten war. Von dem naiven Dummchen war hier definitiv nichts zu erkennen.

Die Schlauchklobäder boten seinen Nutzern meist wenig Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung. Umso erstaunlicher war, was Peter Kowalski aus dem Raum gemacht hatte. Eine abgehängte Decke mit warmweißen LED-Spots, Designerbadobjekte, eine kleine aber exklusive Auswahl an Herrenpflegemitteln und -düften schufen ein Bad, in dem sich Sonni wohlfühlen konnte. Unerwartet war auch die für die meisten männlichen Singlehaushalte untypische Sauberkeit. Im, auf, unter und am Waschbecken waren weder Seifen- noch Zahnpastareste zu erkennen. Die Ablage unter dem hinterleuchteten Spiegel über dem Becken war ebenso staubfrei wie der Spiegel selbst absolut makellos war. Dabei wirkte das Bad nicht etwa steril. Es war einfach nur sehr gut gepflegt. Testweise klappte Sonni den Klodeckel hoch.

»Bingo!«

»Bingo?«, wollte Kevin von seinem Vorgesetzten wissen.

»Keine Kalk- oder Urinsteinränder.« Sonni verdrehte genervt die Augen. »Lass es dir von einem leidgeprüften Single sagen: Nichts ist hartnäckiger, als die Kalkränder in der Schüssel über dem Wasserspiegel. Ich hasse es. Entweder schrubbst du Stunden dran herum oder greifst auf Brutalochemie zurück. Kowalski pflegt seine Bude.«

»Stimmt. Obwohl...«, Kevin sah sich um. »Es wirkt trotzdem... hm, bewohnt.«

Was für das Bad galt, galt doppelt für die Küche: Gepflegt, modern, warm, gemütlich, sehr sauber, aber nicht antiseptisch, ordentlich, aber nicht pedantisch. Auf der Abtropffläche der Spüle standen noch ein dreckiger kleiner Teller, ein Besteck, eine Müslischale und eine Kaffeetasse. Kowalski war also kein Pingel, der sofort alles abwusch, kaum dass er aufgegessen hatte. Auf der anderen Seite präsentierte sich der Kühlschrank makellos, wie Sonni bewundernd feststellte.

»Wow, der Mann scheint seinen Kühlschrank wöchentlich auszuwaschen. Und ich dachte, ich wäre ein Sauberkeitsfanatiker. Aber der Typ übertrifft mich um Längen. Mann, der Mann weiß, was gut ist.«

»Was meinst du?«

»Keine Halb- und Fertigprodukte. Das meiste ist Bio und vom Stück geschnitten. Käse, Wurst, Schinken. Alles frisch und nicht abgepackt.«

Wenn es sich einrichten ließ, kaufte Sonni seine Lebensmittel auf dem legendären und über die Grenzen Berlins bekannte Wochenmarkt auf dem Winterfeldtplatz. Meistens ließ es sich aber nicht einrichten. Ohne Frau, Kind, Hund und Passat Kombi war für Sonni Lundkvist, dessen Arbeitszeiten nicht die geringste Stetigkeit aufwiesen, an einen geregelten Tagesablauf nicht zu denken. In allen Kommissariaten existierte eine natürliche Aufgabenverteilung. Als jüngster und ungebundener Kriminalkommissar in seiner Abteilung hieß dies, dass Laufarbeiten, Nacht-, Sonntags- und Feiertagseinsätze an ihm hängen blieben, was sich auf die eigene Lebensführung eher abträglich auswirkte. Statt Biosteak vom Markt stand dann eben doch Fertigfutter vom Spätkauf auf dem Küchentisch.

»Hier fehlt eine Tür«

Sonni war im Flur genau zwischen Küche und Wohnzimmertür stehen geblieben. Die Wegstrecke zwischen den beiden Türen war zu groß. Wenn diese Wohnung dem in Berlin üblichen Grundriss entsprach, musste es zwischen Küche und Wohnzimmer, welches sich typisch am Ende des Flurs befand, ein weiteres Zimmer geben, das Schlafzimmer. Das mit dem Wohnzimmer stimmte. Die Tür am Ende des Flurs öffnete sich in eben dieses.

»Nett. Kowalski hat Geschmack.«, verkündete Kevin.

»Deutlich mehr, als sein Exchef«, bestätigte Dorothea.

In Kowalskis guter Stube galt das Gleiche, was für Bad und Küche galt: modern, aufgeräumt, nicht überladen, geschmackvoll, stilsicher, sauber, wohnlich und im besten Sinne gemütlich. Sonni wechselte mit seinem Blick zwischen dem Wohnzimmer und Dorothea hin und her.

»Du hast mehr Recht, als du denkst.«, meinte er nachdenklich. »Schaut euch die Einrichtung genau an!«

Kevin und Dorothea schauten, sie schauten noch mehr, kräuselten ihre Stirn und bekamen fast gleichzeitig den Gesichtsausdruck der Erkenntnis.

»Es sind die gleichen Möbel!«, rief Kevin. »Mist, das wäre mir nie aufgefallen.«

»Nein, mir auch nicht.«, meinte Sonni nüchtern, »Fast nicht, weil im Gegensatz zu Breitkopf Kowalski in dieser Wohnung wirklich richtig lebt. Sie ist ordentlich, vielleicht sogar ein wenig pedantisch. Himmel, der Mann wischt seinen Kühlschrank mit Essig aus. Ich bin sicherlich keine Schlampe, aber ein Kühlschrank ist nur ein Kühlschrank. Wie auch immer. Kowalski lebt. Ich bin zwar kein Profiler, aber ich glaube, dass er das hier genießt. Es pflegt seine Wohnung, weil sie ihm etwas bedeutet. Für Breitkopf war es ein Statussymbol. Der gleiche Einrichtungsstil, die gleichen Möbel, aber vollkommen unterschiedliche Funktionen. Breitkopf richtete sich mit diesen Möbeln ein, weil man es von ihm so erwartete.«

»Ähm, Jungs?«, mischte sich Dorothea ein, »Was für Drogen schmeißt ihr eigentlich ein, dass ihr euch über Möbel und Einrichtungsstile unterhaltet?«

»Ich will verstehen, in welcher Beziehung Breitkopf und Kowalski zueinander standen.«, erläuterte Sonni ruhig, während er im Wohnzimmer umher wanderte und die Einrichtung genau untersuchte. »Es ist nur so eine Ahnung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Kowalski einen entscheidenden Mosaikstein in unseren Fall darstellt.«

»Mehr als du ahnst!«, rief plötzlich Kevin, der eine Schiebetür entdeckt hatte, die zu dem fehlenden Schlafzimmer führte. »Ich glaube, ihr solltet euch das lieber ansehen.«

Das Bett

Der Raum war definitiv anders. Zugegeben hatte die Art, mit der Kevin die Schiebetür langsam aufzog und damit den Blick in das, was wohl Peter Kowalskis Schlafzimmer sein sollte, etwas hochdramatisches. Kevin genoss die Show. Manchmal war er eben noch ein totaler Kindskopf, was ihn aber so liebenswert machte. Sonni stellte verblüfft fest, dass sein übliches Adjektivrepertoire bei Kowalskis Schlafzimmer nicht griff. Gemütlich? Auf keinen Fall. Spießig? Definitiv nicht. Plüschig? Eher im Gegenteil. Sachlich? In gewisser Weise schon, dann aber auch wieder nicht. Klassisch? Absurder Gedanke. Verspielt? Das kam dann doch sehr auf die Definition von Spiel an. Freundlich? Jenseits davon.

Nein, diese Begrifflichkeiten passten so überhaupt nicht. Stattdessen fühlte sich Sonni an Tom Berger und seine SM-Möbel erinnert. Erinnert? Hatte der Mann nicht erzählt, dass zu seinen Kreationen auch Multifunktionsmöbel zählten? Tagsüber konventioneller Esstisch, abends erregende Streckbank? Doch von Anfang an: Der Raum war karg eingerichtet. Es gab weder einen Kleiderschrank noch einen Nachttisch. Es gab noch nicht mal ein Bild an der Wand oder einen schnöden Wecker. Es gab nichts. Nur weiß gestrichene Wände, einen weißen Vorhang vor dem Fenster und ein Bett, wenn es denn ein Bett war.

Vier massive, quadratische und schätzungsweise zehn mal zehn Zentimeter breite respektive tiefe Füße aus makellos mattschwarz lackiertem Holz steckten die Ecken des etwa dreißig Zentimeter hohen Bettes ab. Zwischen den Eckpfosten und ungefähr zehn Zentimeter dick verliefen Edelstahlstreben, die zusammen mit den Füßen den Rahmen bildeten. Während am Fußende Pfosten und Rahmen bündig miteinander abschlossen – die Kombination aus dem Schwarz des Holzes und dem Hellgrau des Edelstahls wirkte richtig wertig – ragten die hinteren beiden über den Rahmen hinaus und spannten das Kopfteil auf, dessen Querstreben ebenfalls aus den gleichen Edelstahlstreben bestand.

Bis hierhin ging das Bett noch als zwar strenges, in manchen Augen auch kaltes, Designobjekt durch. Selbst die Bespannung des Kopfteils mit schwarzem Leder hätte für Kevin keinen wirklichen Anlass dargestellt, seine Kollegen gezielt auf das Schlafzimmer hinzuweisen. Es war dann auch nicht das Bett an sich, was seine Aufmerksamkeit erregte, sondern dessen Accessoires. Das Laken bestand nicht aus den üblichen Bettstoffen, wie Frottee, sondern aus schwarzem Leder, das Kopfkissen war mit dem gleichen Leder bezogen und ebenso das Oberbett. Nun ja, jedem das seine, war Kevins erster Gedanke. Warum sollte ein Lobbyhansel keinem Fetisch frönen? Doch dann fiel sein Blick auf etwas anderes: Ketten und Fesseln. Sie lagen ordentlich auf dem sauber gemachten Bett, zwei Fußfesseln unten und zwei Handfesseln oben. Hinzu kam ein Halsband. Alle fünf Teile hingen an kurzen Stahlketten, die am Rahmen befestigt waren. Wer immer hier angekettet wurde, verbrachte seine Zeit in stramm ausgestreckter X-Form.

»Noch ein SM-Fan«, bemerkte Kevin lapidar. »Wer lässt sich nächtens ans Bett fesseln?«

»Och, da wüsste ich den einen oder anderen. Allerdings glaube ich nicht, dass sich unser Freund ans Bett fesseln lässt.« Bemerkte Sonni. Ihm war etwas aufgefallen. Den Kopf schief haltend und die Augen zusammengekniffen, schaute er genauer hin. In der Kette der linken Handfessel klaffte eine Lücke.

»Die Kette ist kaputt.«, meinte Dorothea, der das fehlende Kettenglied ebenfalls aufgefallen war.

»Ich glaube nicht.«, erwiderte Sonni, wandte sich um und ging in Richtung Wohnzimmertür. »Kommt mit!«

Verwirrt folgten Kevin und Dorothea Sonni in die Küche. Dort angekommen hielt dieser direkt auf die Kühlgefrierkombination zu, öffnete das Vier-Sterne-Gefrierfach und wurde sofort fündig. Triumphierend hielt er einen metallischen Zylinder mit Ösen an den Enden in die Höhe.

»Wie es aussieht, ist unser Kunde ein Fan des Selfbondage.«, erläuterte Sonni. »Dies ist ein Eisschloss. Es schließt die Lücke in der Kette. Ich vermute, dass sich Kowalski regelmäßig selbst fesselt. Die linke Handfessel verfügt neben der Lücke in der Kette noch über einen Karabinerhaken mit Öffnungssperre. Er muss nur das Eisschloss einsetzen und zum Schluss die Fessel in den Karabinerhaken einklinken. Danach kann er sich die nächsten Stunden nicht mehr befreien. Jedenfalls nicht, solange das Eis in diesem Zylinder noch gefroren ist. Oh, schaut her!« Sonni hatte noch etwas anderes entdeckt: Einen Zylinder aus Neopren, der sich über den Metallzylinder ziehen ließ. »Damit wird das Auftauen verzögert.«

»Okay, warum tut er das?«, wollte Kevin wissen, zog seine Stirn kraus und musterte Sonni als ob er ihn fragen wollte, wieso er sich so gut mit Selfbondage auskannte.

»Vermutlich aus sexuellen Gründen. Es erregt ihn.«, schlug Dorothea als Antwort auf Kevins erste Frage vor.

»Vermutlich«, meinte Sonni vage. Objektiv betrachtet, gab es kaum eine andere Lesart als Dorotheas. Kowalski mochte es härter. Das passte ziemlich gut zu den Vorlieben seines Brötchengebers. Haben wir hier ein Motiv? Ein Szenario, wie es zum Tod Breitkopfs gekommen sein könnte? Im Kopf spielte Sonni es durch: Zwei Männer, eine erfahrene, ältere Vaterfigur, beruflich erfolgreich und gesellschaftlich angesehen auf der einen Seite und ein junger, noch unerfahrener Mann am Anfang seines eigenen Lebenswegs treffen aufeinander. Die Psychologie dieser Beziehung konnte kaum klassischer sein. Für Kowalski könnte Breitkopf den Archetyp einer Identifikationsfigur dargestellt haben, die Projektionsfläche all der Bedürfnisse wie Zuwendung, Geborgenheit und Zuneigung, die ihm möglicherweise fehlten. Umgekehrt der Mittvierziger, der hoffte, durch den jungen Mann ein Stück seiner eigenen Jugend zurückgewinnen zu können. Die Entdeckungen lange unterdrückter sexueller Begierden? War es das?

»Wie es aussieht, habt ihr euren Mann.«, verkündete Dorothea und sprach aus, was jeder im Raum dachte.

Sonni konnte sich die Argumentationskette der älteren, aber insbesondere erfahrenen Kollegen wie Dorothea lebhaft vorstellen. Er hörte schon Felix Stimme, seinem direkt vorgesetzten Kriminalhauptkommissar und eigentlichen Partner: Kowalski und Breitkopf haben im Laufe ihrer gemeinsamen Arbeit im Lobbybüro entdeckt, dass sie beide auf Typen stehen, vielleicht sogar auf Vater-Sohn-ähnliche Beziehungen. Im Verlauf dieser kristallisierte sich dann eine Präferenz für SM-Praktiken und Verhaltensmuster heraus, wie einerseits der geheime Playroom in Breitkopfs Appartement und andererseits das Schlafzimmer Kowalskis beweise. Aus dem für solche Konstrukte typischen Verlangen nach immer intensiveren sexuellen Kicks entwickelte sich dann ein pathologisches Verhaltensmuster, bei dem schrittweise alle Grenzen überschritten wurden. Ein psychologisches Gutachten Kowalskis müsste aller Voraussicht eine entsprechende psychosexuelle Störung feststellen können, was aber keinen Einfluss auf seine Schuldfähigkeit haben dürfte. Ob seitens Kowalskis eine Tötungsabsicht bestand oder es sich um einen tragischen Fall von Kontrollverlust handelte, müsste dann das Gericht klären. Ob es ihm aber gelingt, die Schuldfrage wirklich zu klären, dürfte aber eher fraglich sein. Ansonsten ein trauriger, aber fast schon typischer Fall und ein gefundenes Fressen für die sensationsgeile Boulevardpresse, sollte irgendetwas davon an die Öffentlichkeit gelangen.

Genau so werden seine Kollegen argumentieren, denn genau so hätte ich argumentiert, überlegte Sonni und war sich umso sicherer, dass der Fall dann doch nicht ganz so einfach sein konnte.

»Sonni?«, weckte Kevin seinen Kollegen aus dessen Tagtraum. »Woran denkst du?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Noch nicht.«, erwiderte der Angesprochene langsam und immer noch ein wenig abwesend. Sonni griff sich ans Ohr, knetete es nachdenklich durch, während er seinen Mund unzufrieden schief zog und meinte dann: »Okay, lasst uns unsere Arbeit machen. Habt ihr eure Handschuhe an? Gut, dann durchsucht die Wohnung!«

»Wonach sollen wir suchen?«

»Nach allem, was mit unserem Fall in Verbindung stehen könnte. Unterlagen, die Kowalski von der Arbeit mitgenommen hat, persönliche Aufzeichnungen, die ihn in eine persönliche Verbindung zu Breitkopf bringen. Ich sehe mir das Schlafzimmer an.«

Die drei Kriminalpolizisten nahmen ihre Arbeit auf, während ihre beiden Kollegen von der Schutzpolizei darauf achteten, dass keiner der neugierigen Nachbarn, die sich inzwischen zu Hauf eingefunden hatten, die Wohnung stürmte. Gemeinsam mit Dorothea wandte sich Kevin dem Wohnzimmer zu. In einer Ecke des Raums hatte Kowalski einen modernen und hochwertigen Schreibtisch aufgestellt. Auf ihm stand ein aufgeklapptes, aber ausgeschaltetes Notebook, um das sich Scotty kümmern sollte. Für die beiden Kriminalbeamten von konkreterem Interesse war da eher der Rollcontainer unter dem Schreibtisch, dessen Inhalt sie sich dann auch prompt zuwandten. Sonni hatte zwischenzeitlich das Schlafzimmer betreten und begann sich umzusehen.

Wie vermutet handelte es sich bei Kowalskis Bett um ein Produkt Tom Bergers, dem sympathischen Chef der SM-Möbelmanufaktur »Adult Constructions«. Und, so überlegte Sonni, sollte es mit dem Teufel zugehen, wenn die Fesseln und Ketten nicht aus Tims Fachgeschäft für Lustbekleidung stammten. Alles passte perfekt zusammen. Zu perfekt?

Nachdenklich betrachtete Sonni das Schlafzimmer und studierte es aus allen Positionen. Der Raum war wirklich karg. Das Adjektiv »asketisch« drängte sich auf. Selbst die Gefangenenzellen in U- und regulärer Haft verfügten über mehr optische Abwechslung, als dieses Zimmer. Der Raum war nicht mehr, als ein konturloser, weißer Quader. Wände, Decke, selbst die Vorhänge und der Boden waren von identisch weißer Färbung. Sonni schob testweise die Schiebetür zu, die wie erwartet ebenfalls weiß lackiert war. Das einzige Objekt im Raum, das sich vom Einheitsweiß abhob, war das Bett.

»Hm«, brummelte Sonni mehr zu sich selbst als den Kollegen im Wohnzimmer. Nach einem vorsichtigen, etwas unsicheren und schüchternen Blick zur Tür, fasste Sonni den Entschluss, etwas überaus unangemessenes und unprofessionelles zu wagen: Er zog seine Motorradstiefel aus und legte sich in das lederne Bett. Dabei versuchte er seine Fuß- und Handgelenke, sowie seinen Hals so zu positionieren, dass sie auf den Fesseln zu liegen kamen. Sonni wollte Kowalskis Perspektive nachvollziehen, nur dass diese auch vom Bett aus nicht wirklich anders aussah. Vielleicht, so überlegte Sonni, stand der Typ wirklich nur...

»Oh, Scheiße!«

Während er im Bett lag und über die Motivation Kowalskis nachdachte, war Sonni, ohne es anfangs zu bemerken, in eine andere Bewusstseinsebene abgeglitten. Zuerst passierte auch nicht wirklich etwas. Das eh schon ausgesprochen kontrastarme Zimmer verlor allmählich jegliche Struktur. Es war, als ob sich das Weiß der Wände in Dunst verwandelte. Der reale Raum wich zurück. Distanzen verloren sich. Waren es eben noch drei Schritte zur Schiebetür lag plötzlich eine Unendlichkeit dazwischen. Und dann passierte es. Der weiße Dunst klarte auf. Was folgte, war Sonnis erschrockener Ausruf. Das Bett schwebte im Nichts. Außer der Schlafgelegenheit existierte nur eine tiefschwarzes Leere, ein Nichts. Wirklich nichts? Nicht ganz.

»Wow!«

Aus der Dunkelheit traten feine, glutrot und blauweiß glühende und funkelnde Linien hervor. Sie schwebten im freien Raum, verknüpften sich miteinander und bildeten Muster und Symbole. Sonni erkannte ein riesiges, alles überspannendes Pentagramm, Tierkreiszeichen, das Sigillum Dei und allerlei andere okkultische Zeichen. Soweit Sonni es erkennen konnte, hielten sich die Embleme der Domäne des Chaos und der der Ordnung in der Waage.

»Ähm Sonni«, hörte Sonni Kevins Stimme. Im gleichen Moment stülpte sich die Dunkelheit um und mit einem optischen Plopp war das Schlafzimmer wieder dort, wo es vorher war. Im Türrahmen stand Kevin und musterte seinen Chef keck schmunzelnd, wie er da auf dem Bett mit den Fesseln lag. »Willst du uns irgendetwas beichten? Ich glaube, Mike wäre begeistert, dich dort so liegen zu sehen.«

»Profiling, mein junger Padawan, Profiling«, scherzte Sonni und erhob sich vom Bett. »Ich wollte Kowalskis Perspektive kennenlernen.«

»Wenn du möchtest, kann ich dir gerne die Fesseln anlegen.«, erwiderte Kevin mit einem fast schon diabolischen Grinsen auf den Lippen. »Wegen der Perspektive.«

»Würdest du das? Nett von dir.«, grinste Sonni breit zurück. »Aber mir scheint, ihr habt etwas gefunden?«

»Oh, ähm, ja, natürlich«, stammelte Kevin und fuchtelte mit seinen Armen herum und deutete dabei irgendwie in Richtung Arbeitsplatz. Der Mann war eindeutig aufgeregt. »Unterlagen aus Breitkopfs Büro. Kowalski hat da ein paar sehr verdächtige Unterlagen mitgehen lassen. Erinnerst du dich an das Projekt Cheiron?«

»Die mutmaßliche Geldwäsche, oder? Breitkopf hat seinen Laden dazu genutzt, um den Ursprung von Forschungsgeldern zu verschleiern.«

»Genau.«, bestätigte Kevin. »Die Unterlagen, die wir eben gefunden haben, sind hochgradig brisant. Sie verraten zwar immer noch nicht, wer dahinter steht, aber beweisen die Geldwäsche. Ich wüsste zu gerne, woran die verschiedenen Labors eigentlich arbeiten. Was haben Biochemie, Mikrobiologie, Nanotechnik, Genetik, künstliche Intelligenz und Informatik miteinander zu tun?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber die Kombination bereitet mir Unbehagen.«, gestand Sonni ehrlich.

»Was ist Wetware?«, wollte Dorothea wissen, von einem Dokument aufschauend.

Sonni zuckte mit den Schultern: »Keine Ahnung. Nasse Hardware?«

»Wetware?«, murmelte Sonni, »Das ist ein Motiv aus der Science-Fiction-Literatur. Cyberpunk. Direkte Hirn-Computer-Kopplung. Was...«

Bevor Sonni seinen Gedanken weiter ausführen konnte, unterbrach ihn die Stimme der Omihexe Josupeit, die von der geöffneten Wohnungstür aus dem Treppenhaus hereinschallte. »Oh, Herr Kowalski. Da ist eine ganze Herde Polizeibeamter in Ihrer Wohnung. Oh, Gottogott, Sie haben doch nichts ausgefressen, oder?«

»Verdammt, diese blöde Kuh versaut mit ihrem losen Mundwerk noch alles! Doro, du bleibst hier und bewachst zusammen mit einem Kollegen der Schutzpolizei die Wohnung. Kevin, komm!«

Sonni sprang auf und hechtete zum Wohnungsausgang, Kevin und einen der beiden Kollegen der Bereitschaft direkt auf seinen Fersen. Peter Kowalski stand auf halber Stufe im Treppenhaus und starrte überrascht den anstürmenden Sonni an. Seine Überraschung hielt allerdings nur den Bruchteil einer Sekunde an, dann drehte er auf dem Absatz herum und stürmte die Treppe herunter, die er eben gerade noch heraufgestiefelt war.

»Scheiße, der türmt!«, rief Kevin.

Was folgte wäre jeder Verfolgungsjagd amerikanischer Kriminalserien von CSI bis NCIS gerecht geworden. Der flüchtende Peter Kowalski nutzte jede Gelegenheit, den hinterherjagenden Polizisten Hindernisse in den Weg zu werfen, angefangen bei auf dem Hof abgestellten Fahrrädern, die er mit einer Hand umwarf, bis hin zu den Kinderwagen und Rollator im Flur des Vorderhauses, die er quer in den Weg stieß. Für Kevin, Sonni und den Kollegen der Bereitschaft entwickelte sich die Verfolgung zum Hindernislauf, der sie natürlich drastisch verlangsamte.

»Kacke!«, ertönte erneut Kevins Stimme, der sich beim Sprung über einen Kinder-Sportwagen verschätzt hatte und mit dem Fuß hängen geblieben war. »Lauf weiter!«

In der Zwischenzeit hatte Kowalski das Haus zur Vordertür verlassen und war dort mit dem Briefträger eines privaten Postzustelldienstes kollidiert. Dabei war dessen Handwägelchen um- und der Inhalt ausgekippt. Fluchend und pöbelnd war der Niedriglohnempfänger damit beschäftigt, die umherfliegenden Briefe einzufangen, wodurch er unbeabsichtigt Sonni im Weg stand, der nur mit einem gewagten Sprung über den am Boden knienden Zusteller eine Kollision vermeiden konnte.

»Könnt Ihr Wichser nicht aufpassen!«, krakelte der Typ dem Flüchtigen und dem Polizisten hinterher. Ersterer durfte davon nicht mehr viel gehört haben. Sein Vorsprung war erheblich angewachsen. Bald schon hatte er die zur Rostocker quer verlaufende Wittstocker Straße erreicht und bog auf sie in Richtung Osten gen Beusselstraße hin ein. Sonni legte einen Zahn zu, innerlich fluchend, schon wieder jemanden verfolgen zu müssen. Der dabei aufflammende Gedanke an Felix verströmte eine angenehme Wärme, ließ Sonni grinsen und seinen Lauf noch weiter beschleunigen, während hinter ihm der Briefzusteller erneut laut zeterte. Kevin musste sich aufgerappelt haben und war wieder hinter ihm. Gut!

Auf der Wittstocker Straße musste Kowalski einen Rückschlag einstecken. Während er sich nach seinem Verfolger umschaute, übersah er eine Hundeleine, die einen Mops mit seinem menschlichen Alphatier verband. Kowalski stolperte, der Hund jaulte und das Herrchen geiferte. Sich der Leine entwindend, rappelte sich Kowalski wieder auf und setzte seine Flucht fort. Allerdings hatte er einen Großteil seines Vorsprungs auf Sonni eingebüßt, zumal dieser Mops und Halter elegant umrundete.

»Kowalski, bleiben Sie stehen!«, rief Sonni, »Wir wollen nur mit Ihnen reden!«

Unvermittelt blieb der Angerufene tatsächlich stehen, wirbelte herum und fauchte. Sonni stoppte ebenfalls und sah entsetzt in das weit aufgerissene Maul seines Gegenübers. Ohne es bewusst zu aktivieren, hatte er auf seine dämonische Wahrnehmung gewechselt. Kowalski war der Guhl. Dort, wo normale Menschen über zwei normale Reihen normaler Zähne verfügten, präsentierte Kowalski mehrere Reihen langer, dünner, rasiermesserscharfer und spitzer, nach innen gerichteter Reißzähne, die selbst einem Hai vor Neid erblassen ließen.

»Geh!«, fauchte der Guhl, »Von dir will ich nichts.« Sprach es aus, wirbelte herum und setzte seine Flucht fort.

»Oh, Scheiße!«, knurrte Sonni und hechtete hinterher.

Die Berliner Beusselstraße zählte schon immer zu jenen mit sehr hohem Verkehrsaufkommen. Zusätzlich zu den üblichen PKW und Bussen wurde sie vor allem von massenweise LKW und Transportern frequentiert, die von und zum Berlin Großmarkt oder Westhafen strömten, deren Zufahrten sich am nördlichen Ende der Straße befanden. Selbst zur späten Nachmittagszeit, an der der Großteil der Geschäftstätigkeit in Markt und Hafen längst abgeklungen war, herrschte auf der Beusselstraße nach wie vor überdurchschnittlich viel Verkehr.

»Stehenbleiben!«, brüllte Sonni. »Kowalski, es hat doch keinen Zweck. Bleiben Sie stehen!«

Doch Kowalski hörte nicht. Er rannte weiter und erreichte wenige Sekunden später die Kreuzung von Wittstocker- und Beusselstraße.

»Bitte!«, rief Sonni, »Ich weiß, was Sie sind. Ich kann Sie sehen.«

Der Guhl stoppte, wirbelte erneut herum, sah Sonni an und erkannte, dass dieser sein wahres Wesen erblicken konnte. Sein Blick fiel auf Sonnis Lederhose und auf die darin eingewobenen Schutzzauber Tims. Erschrocken schnellte sein Blick wieder auf und schaute Sonni direkt in die Augen in denen Felix Höllenfeuer loderte. Wenn Sonni mit allem möglichen gerechnet hatte, die nachfolgende Reaktion zählte nicht dazu. Kowalskis Ausdruck nahm etwas flehentliches und trauriges an. Er blickte kurz zu Boden. Sonni hielt inne. Sicher, das Erscheinungsbild des Guhls war Albtraumfutter der Extraklasse, aber damit war die Geschichte eben nicht zu Ende. Sonni erkannte, dass da mehr war.

»Ich kann nicht.«, hauchte der Guhl Kowalski mit einer Stimme, die nur Sonni hören konnte. »Es tut mir Leid!«

»Nein! Nicht!«

Der LKW-Fahrer hatte keine Chance. Obwohl sein Fahrzeug über modernste Sicherheitstechnik verfügte, er selbst weniger als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit fuhr und sofort voll auf die Bremse trat, gelang es ihm nicht, den voll beladene 14-Tonner trotz automatischem Vollbremsassistenten rechtzeitig zum Stehen zu bekommen. Dafür kam der junge Mann einfach zu unvermittelt auf die Straße gesprungen. Er knallte mit derartiger Wucht gegen die Front, dass deren Verformung die Windschutzscheibe bersten ließ. Vom entgegengesetzten Impuls beschleunigt, erhielt der Körper vom Fahrzeug einen kräftigen Stoß und flog in die entgegengesetzte Richtung, direkt in den Gegenverkehr, wo er seitlich von einem weiteren LKW erfasst wurde. Allerdings nicht frontal, wodurch er seitlich unter das Fahrzeug rutschte. Sonni, Kevin und der Kollege der Bereitschaft mussten tatenlos mit ansehen und anhören, wie der Körper Peter Kowalskis überrollt wurde. Das Geräusch der brechenden Knochen war grausam. Es war ein Geräusch, das ihnen für immer in Erinnerung bleiben sollte.

Dr. Achim Prechtel

»Also gut, das ist der offizielle Standpunkt des LKAs. Das Ermittlungsteam unter der Leitung von Kriminalkommissar Sonni Lundkvist hat heute auf der Basis neuer Erkenntnisse im Mordfall Dr. Thorsten Breitkopf eine Hausdurchsuchung in der Wohnung des Mitarbeiters Peter Kowalski vorgenommen. Im Rahmen dieser Maßnahme traten Indizien zutage, die Herrn Kowalski in dringenden Tatverdacht versetzten. Der zufällig eintreffende, nun nicht mehr als Zeuge sondern Tatverdächtige betrachtete, wurde durch äußeren Einfluss der Durchsuchung seiner Räumlichkeiten gewahr und ergriff spontan die Flucht. Während der unmittelbar eingeleiteten Verfolgung durch die Beamten Lundkvist, Bredow und einem Kollegen der Bereitschaft, bei der der Verdächtige mehrfach angerufen und zur Aufgabe aufgefordert wurde, kam es durch eine fluchtbedingte Unaufmerksamkeit zu einem schwerwiegenden Verkehrsunfall, mit für den Verdächtigen, Peter Kowalski, fatalem Ausgang. Er verstarb noch am Unfallort an den Folgen seiner erheblichen Verletzungen. Dem vorläufigen Ermittlungsstand nach, haben sich die Kommissare Lundkvist und Bredow während der gesamten Zeit korrekt verhalten. Damit ist dieser Teil des Falles offiziell für Sie abgeschlossen.«

Der Tod eines Verdächtigen war immer eine Katastrophe, der Tod Kowalskis ein regelrechtes Armageddon. Es begann damit, dass die Beusselstraße über Stunden gesperrt werden musste. So grausam es klingen mag, aber der Tod eines Menschen spielte dabei kaum eine Rolle, sondern der Verkehrsinfarkt, der weite Teile Moabits erfasste. Der Unfall oder Selbstmord mutierte zum Großeinsatz: Einsatzwagen, Schutzpolizei, Spezialkräfte der Verkehrspolizei mit laserbasierten Unfallvermessungscomputern, Psychologen und Ärzten für die unter Schock stehenden LKW-Fahrer, Einsatzkräfte der Feuerwehr und des THWs, die halfen, die LKW zum Großmarkt zu schleppen und dort für weitere Untersuchungen auf einem abgesperrten Bereich abzustellen. Es war definitiv ein gottverdammter Albtraum von einem Großeinsatz.

Noch am Unfallort verfassten Sonni, Kevin und der Kollege der Bereitschaft die vorgeschriebenen Gedächtnisprotokolle. Sie schrieben sofort alles auf, was ihnen einfiel. Gleichzeitig hielten sie nach Zeugen Ausschau, nahmen ihre Personalien auf und baten sie, bis zum Eintreffen der herbeigerufenen Kollegen zu warten, damit diese ihre Aussagen aufnehmen konnten. Nicht jeder hielt sich an die Bitte.

Was dann folgte, war der reinste Spießrutenlauf. Die drei Kollegen wurden unabhängig voneinander durch speziell geschulte Beamten ermittlungsfremder Dezernate befragt und ihre Aussagen aufgenommen. Während Sonni und Kevin mit dem Tod ihres Verdächtigen noch halbwegs klar kamen, zitterte der Kollege der Bereitschaftspolizei wie Espenlaub. Einen Menschen gewaltsam sterben zu sehen, steckte niemand so leicht weg. Sonni und Kevin hatten nur gelernt, anders damit umzugehen, was aber auch nur bedingt gelang. Die effektivste Methode bestand darin, das Grauen einfach nicht an sich herankommen zu lassen, was dabei zuweilen zu recht merkwürdigen Übersprunghandlungen führte. So bestand Sonnis vordringlichste Sorge darin, rechtzeitig das Date mit Felix abzusagen. So wie es zurzeit aussah, würde es an diesem Abend noch sehr spät werden.

»Hey, Sonni, das ist okay.«, tröstete Felix. »Pass auf. Wenn du fertig bis, kommst du zu mir. Egal wie spät es ist. Hast du mich verstanden?«

Es wurde spät, sogar richtig spät. Nachdem der Unfallort gesichert und alle Aussagen aufgenommen wurden, stand immer noch die Durchsuchung Kowalskis Wohnung aus. Zum Glück hatte Dorothea ganze Arbeit geleistet und erstaunliches zutage befördert. Neben dem Notebook, um das sich Scotty kümmern sollte, und diversen brisanten Dokumenten aus dem Büro Breitkopfs entdeckte die erfahrene, um nicht zu sagen ausgebuffte BKA-Ermittlerin ein wirklich gut verstecktes Tagebuch, in dem Kowalski eine Menge von dem notiert hatte, was ihn bewegte und ihm durch den Kopf ging.

POR Kornmüllers erstes Urteil fiel deutlich aus: »Das Zeug ist bizarr und hat das Potenzial, mir ein paar beschissen schlaflose Nächte zu bereiten. Wenn ihr auf einen Horrortrip steht, viel Vergnügen.«

Wenn es etwas Gutes über das Tagebuch zu sagen gab, dann dass es die These von Kowalskis Täterschaft in ein Faktum verwandelte. Damit endeten aber auch schon die positiven Nachrichten. Der Rest war, um es diplomatisch auszudrücken, schwer verdaulich. Jedenfalls dann, wenn Sonni den Ausführungen Dorotheas folgte.

»Ich habe es wirklich nur überflogen«, erläuterte die Polizeioberrätin, »Der Typ war der Meinung, eine Art Dämon zu sein, ein Guhl. Wenn ich sein krudes Gefasel richtig verstanden habe, wurde er von fünf Meistern beschworen. Er nennt zwar nicht deren richtige Namen, aber alles spricht dafür, dass Breitkopf einer von ihnen war. Wenn ihr mich fragt, der Typ litt unter psychotischen Wahnvorstellungen. Ihr solltet das Buch am besten von eurem besten Polizeipsychologen begutachten lassen. Der sollte gleich noch geistlichen Beistand hinzuziehen. Der Text wimmelt nur von Hexern, Dämonen, Engeln und Teufeln. Das Ding ist definitiv keine fröhliche Fantasystory!«

»Hm, Kevin kümmerst du dich darum?...« Mehr wollte Sonni im Moment nicht sagen. Immerhin hatte er Dorothea noch nicht über den übersinnlichen Aspekt des Falles informiert und auch Kevin hatte nur die entschärfte Version erhalten, in der aus dem übersinnlichen ein psychologischer Aspekt wurde. Doch bestand da wirklich ein Unterschied?

Nachdem auch die Ermittlungen in Kowalskis Wohnung abgeschlossen und selbige versiegelt wurde, stand noch eine Besprechung mit Sonnis und Kevins oberstem Chef, Polizeioberrat Dr. Achim Prechtel, an. KK Sonni Lundkvist, KK z.A. Kevin Bredow und BKA POR Dorothea Kornmüller saßen in Prechtels Büro und hörten sich die offizielle Position des Chefs an. Die Sitzgruppe, auf deren Elemente sich die Teilnehmer der Besprechung verteilt hatten, mochte ihre Qualitäten besitzen. Bequemlichkeit zählte nicht dazu. Die Sitzflächen waren deutlich zu tief. Aus früherer Erfahrung beging Sonni nicht den Fehler, sich entspannt zurücklehnen zu wollen. Er hatte diesen Fauxpas einmal begangen und wollte die Erfahrung nicht wiederholen. Die Polster der Rückenlehne lagen dermaßen weit hinten, dass er auf dem Sofa mehr lag, als zu sitzen, was alles andere als vorteilhaft wirkte. Hinzu kam, dass der Stoff erschreckend glatt war. Beim Versuch sich aus seiner peinlichen Liegeposition wieder aufzurappeln, wäre Sonni fast vom Möbelstück geschlittert. Alles im allem wäre der Vorfall dazu angetan gewesen, sich vor dem Chef zum Vollpfosten zu machen, hätte dieser nicht in einem seltenen Anflug von Milde bestätigt, dass die Sitzgruppe wohl eine totale Fehlkonstruktion sei. Da das LKA aber eine Behörde des Landes Berlins war, sei er leider auf die bescheidene Auswahl des Beschaffungsamtes beschränkt.

So ganz wollte Sonni den Krokodilstränen seines Chefs aber nicht glauben. Das unmögliche Möbel entfaltete nämlich einen beeindruckenden erzieherischen Moment. Im krampfhaften Versuch nicht wie der letzte Prolet breitbeinig auf dem Sofa zu liegen, hockte jeder aufrecht und ganz dicht an der Kante. Vielleicht war die Sitzgruppe das eigentliche Geheimnis, warum Besprechungen bei Dr. Prechtel immer sehr zielgerichtet und ausgesprochen kurz ausfielen. So wie auch jetzt. Nachdem Kevin und Dorothea, die die besondere Eigenart der Prechtelschen Büromöblierung noch nicht kannten, nach verzweifelter Rumrückerei eine halbwegs erträgliche Sitzposition gefunden hatten, lauschten sie den Ausführungen des Polizeioberrats. Jedem im Raum war klar, dass es neben der offiziellen auch eine interne geben musste, andernfalls hätte der Dezernatsleiter den offiziellen Aspekt nicht so deutlich betont. Nervös wartete Sonni auf das Fallbeil, doch das kam nicht.

»Soweit die offizielle Position des LKAs.«, fuhr Prechtel fort. »Okay, ich werde Ihnen nicht den Kopf abreißen. Was soll ich sagen? Sie haben einen Teil des Falls innerhalb von nur fünf Tagen gelöst. Das wäre an sich gute, wirklich gute Arbeit, gäbe es da nicht den kleinen Schönheitsfehler, dass unser Täter jetzt in der Pathologie liegt. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber für mich bekommt der Fall damit einen etwas fahlen Nachgeschmack.«

»Sie haben Recht, Chef.«, ergriff Sonni zerknirscht das Wort. »Das hätte nicht passieren dürfen. Ich habe mich die letzten Stunden tausendmal gefragt, was ich hätte anders machen können. Es ist ziemlich frustrierend.«

»Deswegen belasse ich es auch mit meiner bereits geäußerten Kritik.«, stellte Dr. Prechtel fest und wandte sich lieber der Planung der nächsten Schritte zu. Mit dem Tod des Täters war der Fall Breitkopf noch lange nicht abgeschlossen. Es fehlte immer noch ein plausibles Motiv, obwohl zu befürchten war, dass es mit der Plausibilität schwierig werden dürfte. Wenn sich wirklich bewahrheiten sollte, so Prechtel, dass Kowalski aus Wahn getötet hat, dann würde das mit dem »plausibel« verdammt schwer werden. Am Ende müssten die Psychologen erklären, womit sie es bei diesem Fall zu tun hatten.

Womit Dr. Prechtel das Thema Kowalski abhakte und sich den anderen offenen Punkten zuwandte: Den verdächtigen Finanztransaktionen in Breitkopfs Lobbyverband und die beiden Todesfälle um den Juwelier Trollmann. Zum ersten Punkt konnte Sonnis Chef mit einer Überraschung aufwarten. Dorothea, die resolute Ermittlerin des BKAs, blieb ihnen noch eine Weile als Kollegin erhalten und sollte sogar die Leitung der zu diesem Zweck gegründeten Kommission übernehmen. Die Aktion diente zwei Zwecken, einem offiziellen und einem eher taktischen. Offiziell kürte ihre hervorragende Qualifikation und Expertise Dorothea Kornmüller zur ersten Wahl bei der Leitung dieser Sonderkommission. Taktisch sollte ihr Berliner Engagement sich aus der Schusslinie bringen. Die Situation um die Erkrankung ihres unmittelbaren Chefs und dem Versuch bestimmter interessierter Kreise innerhalb des BKAs, das Machtvakuum mit eigenen Leuten zu besetzen, schien gerade gewaltig hochzukochen. Dr. Prechtel blieb, für ihn sehr untypisch, bei den Hintergründen und was der Wechsel für POR Kornmüller genau bedeutete, wenig konkret. Nicht nur Dorothea fragte sich, welchen Anteil er in dieser Sache hatte. Dass er über einen nicht unerheblichen Einfluss verfügte, war offensichtlich.

Für Sonni und Kevin blieb die erwartete Aufgabe übrig, in der Sache Trollmann und Ott zu ermitteln. Ihr Chef wollte sich einfach nicht damit zufrieden geben, dass ein gestandener Polizeiobermeister sich einfach mit seiner Dienstwaffe erschoss. So etwas passierte einfach nicht.

»Meine Dame, meine Herren, ich glaube, das wäre es dann.«, schloss Sonnis Chef die Abschlussbesprechung. »Es ist spät geworden und ich möchte Sie alle nicht länger aufhalten. Herr Bredow und Herr Lundkvist, Sie haben Montagmittag einen Termin mit unserem Psychologen. Bis dahin sind Sie vom Außendienst freigestellt und wenn der Psychologe auch nur den Anflug von Bedenken bezüglich Ihrer mentalen Verfassung hegen sollte, werden Sie mit ihm Termine vereinbaren.«

Die beiden Betroffenen grummelten leise. Begeisterung sah anders aus.

»Sparen Sie sich den Protest. Sie gehen hin. Das ist nicht verhandelbar.« Sonni stellte erstaunt fest, dass sein Chef eine leichte sadistische Ader besaß. Der Mann genoss es, den beiden Polizisten einen dieser innig geliebten Psychotermine aufs Auge zu drücken. Sein genüssliches Grinsen hielt allerdings nicht lange an. »Gehen Sie hin! Ernsthaft. Sie haben mit ansehen müssen, wie ein Mensch auf grausame Weise zu Tode kam. Vertrauen Sie dem Urteil eines alten Schlachtrosses wie mir: Reden Sie drüber! Die Nummer des harten Bullen, den nichts umhaut, funktioniert nicht. So, damit sollten wir es dann auch für heute belassen. Frau Kornmüller! Herr Bredow! Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Herr Lundkvist, ich weiß, es ist wirklich spät, aber wenn Sie noch ein paar Minuten für mich entbehren könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

Nanu? Nicht nur Sonni stutzte verwundert und wechselte mit Kevin fragende Blicke. Was wollte sein Chef von ihm? Genauso nervös wie ratlos verabschiedete er sich von seinen beiden Kollegen und wartete, bis diese Dr. Prechtels Büro verlassen hatten.


»Entspannen Sie sich, Lundkvist. Sie sind nicht hier, damit ich Sie in Ruhe zusammenfalten kann.«, begann Dr. Prechtel in einem Tonfall, der eine ganz andere Seite des Chefs zeigte. Die professionelle Distanziertheit, ja fast Unnahbarkeit, mit der sich der Polizeioberrat sonst immer umgab, war zwar nicht verschwunden, doch um etliche Größenordnungen schwächer eingestellt. Der Mann war ein Chamäleon. Je nach Umgebung passte sich Prechtels Äußeres, sein gesamter Habitus, seine Sprache, seine Wortwahl, selbst seine Mimik an seine Umgebung und Gesprächspartner an. Mit Politikern kommunizierte er auf einer sehr neutralen, sachlichen, diplomatischen und nur von einem Hauch Unterwürfigkeit geprägten Weise, die seinem Gegenüber das Gefühl verlieh, die Kontrolle zu besitzen, was aber nicht der Fall war. In Wirklichkeit fraßen sie Prechtel aus der Hand, der genau wusste, wie er jemandem eine Idee verkaufen musste, damit der glaubte, sie stamme von ihm selbst. Gegenüber den Beamten in seiner Verantwortung zeigte Prechtel ein vollkommen anderes Wesen: Professionell distanziert, fast unterkühlt und ausgesprochen klar, aber in keiner Weise manipulativ, herablassend oder gar autoritär. Der Mann gab klare Ansagen. Niemand konnte hinterher behaupten, nicht zu wissen, was der Chef von einem erwartete. Dr. Prechtel galt daher bei seinen Leuten zwar als ein Typ, der zum Lachen in den Keller ging und an Deutlichkeit wirklich nichts zu wünschen offen ließ, dabei aber nie unfair oder wie manch anderer Chef persönlich verletzend wurde. Er pickte sich niemanden heraus, kanzelte niemanden vor versammelter Mannschaft ab oder mobbte jemanden, genau so wenig, wie er es zuließ, dass jemand anderes dies tat. Wenn es Differenzen gab, wurden diese in einem vertraulichen Gespräch geklärt.

Beeindruckt beobachtete Sonni, wie sein Chef ihm eine weitere, bisher unbekannte Persönlichkeit enthüllte: Die des aufmerksamen, definitiv neugierigen, hoch kollegialen und auf Augenhöhe kommunizierenden Kriminalisten. Nur mit Sonni Lundkvist allein in seinem Büro erlaubte sich POR Dr. Achim Prechtel die Rolle des Chefs abzulegen.

»Haben Sie schon einen Blick auf den USB-Stick geworfen, den Ihnen Kardinal DaSilva gegeben hat?«

Wenn Sonni mit allem möglichen gerechnet hatte, dann nicht damit. Er hätte nie gedacht, dass sein Chef, jemand, der sich seine E-Mails ausdrucken ließ, den Stick überhaupt noch auf dem Radar hatte. Auf der anderen Seite hätte er es wissen können, der Mann war ein Perfektionist. Solche Details entgingen ihm nicht.

»Ich habe den Stick zu Scotty... ähm, ich meine dem Kollegen Anker von der IT-Forensik gebracht. Ich hoffe, Sie betrachten das nicht als Respektlosigkeit gegenüber dem Kardinal, aber einfach so einen Speicherstab...«

»Nein, ganz im Gegenteil.«, fiel Dr. Prechtel Sonni ins Wort. »Sie haben absolut richtig gehandelt. Lundkvist, Sie sind der talentierteste Kriminalist, der mir in den letzten Jahren begegnet ist. Ich erzähle Ihnen sicherlich nichts Neues, aber Ermittlungsarbeit ist primär Handwerk, das man sich erarbeiten und lernen kann. Keine Frage. Trotzdem: Sie können Berge an Akten, Beweismitteln und Spuren sammeln und über Tage und Wochen durcharbeiten, wenn das Talent fehlt, dieser besondere Blick für die entscheidenden Details und Muster, wird das Ergebnis bescheiden ausfallen und Sie nicht von der Stelle kommen. Ich habe selbst erlebt, wie große Mordkommissionen über Wochen in eine völlig falsche Richtung ermittelten, weil einfach niemand mit dem richtigen kriminalistischen Spürsinn im Team saß. Eigentlich war es sogar noch schlimmer. Es saßen zwei begabte Ermittler im Team, auf die aber niemand hören wollte, weil sie angeblich noch zu jung und unerfahren wären. Was ich sagen will: Sie haben meine Erwartungen mehr als erfüllt. Ich sah es bereits während der Suche nach dem sogenannten Omimörder, aber mehr noch jetzt im Fall Breitkopf. Es war richtig, Ihnen die Leitung zu übertragen. Der Unfalltod Kowalskis ist ärgerlich... Nein, streichen Sie das! Er ist tragisch, sollte Sie aber nicht von Ihrem Weg abbringen. Sie sind noch jung und im Gegensatz zu manchem Kollegen geistig flexibel genug, um aus Fehlschlägen zu lernen und nicht in starren Denkschemata zu verharren.«

»Danke Chef... Glaub ich jedenfalls...«, erwiderte Sonni verstört. So persönlich hatte er POR Dr. Achim Prechtel noch nie erlebt. Der Mann war ja fast ein Mensch und kein Kriminalermittlungsroboter. Der Hauch eines zufriedenen Lächelns umspielte die Lippen des Dezernatsleiters.

»Doch kommen wir zurück auf den USB-Stick. Hat der Kollege Anker schon etwas herausbekommen?«

»Ich habe vorhin meine E-Mails geprüft. Es könnte tatsächlich sein, dass der Stick nicht ganz so koscher ist, wie er sein sollte. Anker wollte sich aber noch nicht endgültig festlegen.«

»Seien Sie bitte sehr vorsichtig. Im Gegensatz zu dem, was ich vorhin in großer Runde erklärte und was als offizielles Statement des LKAs an unsere Pressestelle geht, betrachte ich den Fall noch lange nicht als abgeschlossen. SM-Sex, der aus dem Ruder gelaufen ist? Ich habe genügend Fälle studiert, sowohl aus eigener Ermittlungsarbeit als auch aus externen Fallakten, in denen es um sexuell motivierte Gewalthandlungen mit tödlichem Ausgang ging. Bei einigen, definitiv zu vielen, wurden die Opfer bestialisch zu Tode gequält. Ich weiß nicht, ob es allgemein in der Behörde bekannt ist, aber vor einigen Jahren habe ich im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms für Kriminalisten, Forensiker und Zielfahnder ein dreiviertel Jahr auf der FBI-Akademie in Quantico verbracht. Anhand der Fälle, mit denen wir dort konfrontiert wurden, gelang es uns typische Muster und Verhaltensstrukturen sowohl von Opfern wie Tätern herauszuarbeiten. Eine der Fragen, mit denen wir in meiner Zeit dort sogar sehr konkret konfrontiert wurden, bestand in der Klärung der Frage, warum gerade soziopathische Serienmörder oft nur sehr schwer und dann meist nur mit immensem Aufwand zu fassen sind. In dem Zusammenhang hatte ich die zweifelhafte Gelegenheit – Vergnügen möchte ich an dieser Stelle nicht sagen – mehrere Gespräche mit einem zu mehrfach lebenslänglicher Haft verurteilten Serienmörder führen zu können, bei dem es sich um den verhaltenspsychologischen Phänotyp des hochbegabten Serienmörders handelt. Wenn Sie so wollen, eine reale Version Hannibal Lecters. Man mag es kaum glauben, aber der Mann war wirklich sehr zuvorkommend, ausgesprochen höflich, geradezu charmant und feinsinnig und wirkte ausgesprochen sympathisch. Mir war vor den Interviews bekannt, dass der Mann als hochintelligent galt, immerhin lehrte er vor seiner Verurteilung Mathematik als Hochschullehrer an einer angesehenen Universität an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Nach zwei übereinstimmenden Gutachten liegt sein IQ bei über 140. Trotzdem kam er überhaupt nicht verkopft daher, ganz im Gegenteil entpuppte er sich als angenehmer Gesprächspartner. Ich begriff erst später, nachdem die FBI-Kollegen mir die Aufzeichnungen unserer Gespräche zeigten, wie subtil er mich die ganze Zeit über manipuliert hatte. Er hatte fast geschafft, mich von der Notwendigkeit und Logik seiner Taten zu überzeugen. Es widerstrebt mir, Menschen so zu bezeichnen, aber dieser Typ ist wirklich ein Monster. In den sechzehn Jahren seines Mordens gelang es ihm nicht nur, vierzehn junge Männer im Alter von 17 bis 24 Jahren über Wochen bestialisch zu Tode zu quälen, sondern sie sogar dazu zu bringen, von ihm zu Tode gefoltert werden zu wollen. Verstehen Sie den Trick? So wie er mich dazu bringen wollte, nicht nur Verständnis sondern sogar Zustimmung für seine Taten zu entwickeln, hatte er die Männer manipuliert, sich von ihm töten zu lassen.

Ich will Ihnen die Details ersparen. Nur so viel: die Tatumstände sind nur deswegen so genau bekannt, weil der Täter in seiner Eitelkeit alle seine Taten auf Video aufgezeichnet hat. Dieser Fall war nur einer von vielen, die das FBI zusammengestellt hat, um darauf typische Verhaltensmuster ableiten zu können. Soziopathisch strukturierte Serientäter sind extrem schwer zu enttarnen, da sie über eine erstaunliche soziale Anpassungsfähigkeit, die fast schon an Mimikry erinnert, verfügen. Sie müssen bedenken, dass der erwähnte Mörder sechzehn Jahre unerkannt und unbehelligt morden konnte. Nicht umsonst kommt es leider immer wieder vor, dass es psychopathischen Serienmördern gelingt, sowohl psychiatrische Gutachter als auch Bewährungsausschüsse komplett um ihre Finger zu wickeln. Ich habe mit einem Gutachter gesprochen, einem angesehenen und fachlich hochkompetenten Facharzt für forensische Psychiatrie, dem genau das passierte. Er meinte, er hätte nicht die geringsten Zweifel daran gehegt, dass von seinem Täter keinerlei Gefahr mehr ausginge. Zwei Tage nach seiner Entlassung mordete er erneut. Worauf ich eigentlich hinaus will: Ich glaube nicht, dass der Fall Breitkopf ausgestanden ist. Ich will dem Gutachten der Psychologen nicht vorgreifen, aber wenn ich mir die Fallakte durchlese, sehe ich ein Bild, das quasi auf dem Kopf steht. Wären die Rollen von Täter und Opfer vertauscht, hätte ich kein Problem, die Sache als gelöst zu betrachten. Aber so passt das irgendwie nicht zusammen. Entweder war Kowalski ein begnadeter Schauspieler oder die Zeugen leiden unter kollektiven Wahrnehmungsstörungen. Aber nach allen Aussagen war Breitkopf das unangefochtene Alphamännchen und Kowalski der devote Part, wenn nicht sogar der Paria des Büros. Und so jemand wird zum sadistischen Mörder? Ja, keine Frage, so etwas kann es geben. Aber nicht in diesem Fall. Nein, es passt nicht. Lundkvist, es ist Ihr Fall und ich werde den Teufel tun und Ihnen da reinreden, aber wenn Sie mich fragen, fehlt noch mindestens ein Puzzleteil, ein sehr großes Puzzleteil.«

»Dr. Lugner?«

»Erwähnte ich schon, dass Sie gute Instinkte haben?« Dieses Mal grinste Prechtel ganz offen. Noch während er das tat, griff der POR nach einer Akte, schlug sie auf, griff nach einem Formular mit angeheftetem Zettel und reichte es Sonni. »Kennen Sie das?«

»Moment!« Und ob Sonni das Formular und den Zettel, bei dem es sich um eine Rechnung handelte, kannte. »Ähm, das ist die Spesenabrechnung von einem Abendessen mit Frau Kornmüller. Wir waren bei Damrong und den Jungs. Stimmt etwas mit der Abrechnung nicht? Die Summe ist doch für den Steuerzahler nicht zu hoch, oder?«

»Eher zu niedrig.«, erwiderte Prechtel. »Bei der Rechnungssumme könnte ein übereifriger Erbsenzähler tatsächlich auf die Idee kommen, dass versteckte Vorteilsnahme im Spiel sei.«

»Oh!«

»Keine Angst, ich bin nicht der Meinung und weiß, wie Sie zu den Jungs stehen. Interessant an der Rechnung ist, dass eine Kopie im Zusammenhang mit einem Informationsleck hier in der Behörde auftauchte.«

»Die Presse? Wikileaks?«, wollte Sonni ungläubig wissen. »Ich könnte mir brisantere Informationen vorstellen, als das Lieblingsgericht eines Kriminalkommissars. Oder... Oh, jetzt begreife ich. Es geht um das Wer und Wann?«

»Genau. Wir haben das Leck zwar identifiziert, aber noch nicht trockengelegt. Wir beobachten, an welchen Informationen es interessiert ist und steuern, welche es erhält. Einen Fokus haben wir bereits ausgemacht: Sie, Lundkvist. Seit Freitagnacht, vom Zeitpunkt der offiziellen Übernahme des Falles Breitkopf durch einen gewissen Kriminalkommissar Sonni Lundkvist, wurden alle Informationen, die Sie und Ihr Team betreffen, von unserem Leck an seinen Auftraggeber weitergeleitet.«

»Ich frage noch mal: Dr. Lugner?«

»Wir haben zwar keine Beweise, aber genügend Indizien, dass er seine Finger im Spiel hat. Das heißt aber auch, dass er von Frau Kornmüller weiß und dass sie in Ihrem Team spielt.«

»Deswegen übernimmt sie die Leitung der SK.«

»Lundkvist, wenn Sie so weiter machen, muss ich mir noch ernsthaft Sorgen um meinen Stuhl machen.«, lachte Prechtel. Der Mann konnte lachen? »Wir spielen gerade ein sehr riskantes Spiel. Die Politik übt massiven Druck auf uns aus. Und wir reden hier nicht von der Kreisklasse.«

»Landesliga?«

»Und höher. Ich durfte mich gestern mit zwei Staatssekretären unterhalten, einem vom Land Berlin und einem aus einem Bundesministerium. Beide haben mir blumig und mit penetrant wohlwollenden Worten die Wichtigkeit und Unerlässlichkeit unserer Arbeit beteuert. Es brauchte eine Weile, bis sie dann wirklich die Katze aus dem Sack ließen. Sie drückten es zwar deutlich verklausulierter aus, ließen aber keinen Zweifel daran, dass ihre Chefs es sehr begrüßen täten, wenn wir unsere Ermittlungen alsbald abschlössen und dabei berücksichtigen täten, dass es sich bei Dr. Thorsten Breitkopf um einen angesehenen Mann der Gesellschaft handelte, dessen Andenken nicht ohne Not befleckt werden sollte. Schließlich seien wir alle fehlbar.«

»Das nenn ich mal deutlich.«, rutschte es Sonni heraus.

»Oh, es wird noch besser. Heute, keine fünf Minuten nachdem selbst ich erst von Ihnen erfahren habe, dass der mutmaßliche Täter gestellt und dabei bedauerlicherweise ums Leben kam, meldeten sich die gleichen Staatssekretäre und beglückwünschten unsere Abteilung für die schnelle Arbeit.«

»Aber...?«, hakte Sonni nach, dessen Instinkt sich meldete, dass es bei dem Lob wohl kaum geblieben sein konnte.

»Warum lasse ich Sie eigentlich nicht die Gespräche mit den Politikern führen, wenn Sie schon vorher alles wissen?«, erwiderte Dr. Prechtel gespielt beleidigt. »Sie haben Recht. Da gab es ein Aber, ein nachdrückliches Aber. Man gab mir recht deutlich zu verstehen, dass man mit dem Ausgang des Falls nicht wirklich unglücklich sei. Ich möge mir nur vorstellen, wenn dieser SM-Kannibale von Moabit seine Geschichte wohlmöglich an die Presse verkauft hätte.«

»Dabei haben wir die besonderen Details des Falls nie veröffentlicht.«

»Das ist der Punkt.«, bestätigte der Chef. »Es bedeutet aber auch, dass wir mehr als nur ein Leck in unserer Behörde haben. Die bekannte Schwachstelle war nämlich zum Zeitpunkt der Anrufe noch nicht über die aktuelle Entwicklung informiert. Nun, wie Sie sich denken können, schätze ich es überhaupt nicht, wenn mir jemand versucht zu erklären, wie ich unsere Fälle zu lösen habe, insbesondere nicht irgendwelche Politiker. Allerdings gedenke ich auch nicht, beruflichen Selbstmord zu begehen.«

»Hm...«, machte Sonni, den ein Punkt am starken Interesse der Politik irritierte.

»Raus mit der Sprache!«, forderte der Polizeioberrat seinen Kommissar auf.

»Ich war nicht bei Ihren Gesprächen mit den Staatssekretären dabei, aber so, wie Sie es schildern, klingt es nicht so, als ob die sich sonderlich an der sexuellen Komponente des Falles störten. Ich hänge mich wohlmöglich ein wenig weit aus dem Fenster, aber kann es sein, dass denen der SM-Aspekt recht gelegen kommt?«

»Ich muss Sie wirklich im Auge behalten.«, amüsiert schüttelte Dr. Prechtel seinen Kopf. »Sie haben wieder Recht. Zwischen den Zeilen konnte ich deutliche Erleichterung heraushören. Einer der Staatssekretäre verplapperte sich. Er meinte, dass mit dieser Schmuddelsexsache, wie er es formulierte, ja wohl absolut klar sei, dass der Ermittlungsschwerpunkt wohl im privaten Bereich des Opfers zu suchen sei. Den Herren scheint es allem Anschein nicht zu gefallen, dass wir dem Büro für Finanzdienstleistungen und Beratung des mittelständischen Pharmaunternehmens zu genau auf seine Finger schauen. Nun, ich werde mich an ihre Wünsche halten und die Ermittlungen einstellen. Was Frau Kornmüller mit ihrer SK macht, darauf habe ich leider keinerlei Einfluss. Und Sie, mein lieber Lundkvist, haben schließlich auch noch den Fall eines durch Gewalteinwirkung verstorbenen Juweliers zu lösen. Sie können von Glück reden, dass bisher niemandem die Verbindung zum Fall Breitkopf aufgefallen ist. Also ermitteln Sie, wo auch immer Sie die Spuren hinführen mögen.«

Dieser alte, ausgebuffte Fuchs, dachte sich Sonni und betrachtete seinen Chef mit unverhohlener Bewunderung. Der nickte und leitete damit das Ende der Besprechung ein.

»Es ist spät geworden.«, bemerkte Dr. Prechtel mit einem Blick auf seine Uhr. Es war viertel vor Elf. Wie auf Kommando musste Sonni gähnen. »Trotzdem, vielen Dank, dass Sie noch so lange geblieben sind. Ich weiß, dass Sie in den letzten Wochen überdurchschnittlich gefordert wurden. Erst der Fall mit dem Serienmörder, dann Breitkopf, Trollmann, Ott und nun Kowalski. Ich werde das nicht vergessen und für Kompensation sorgen, sobald der Fall abgeschlossen ist. Apropos, wie kommt unser junger Kollege Bredow mit dem Fall klar? Ich hörte, dass er auch mit privaten Schwierigkeiten zu kämpfen hat?«

»Ja, aber er scheint das im Griff zu haben.« Sonni wusste nicht, was ihn ritt hinzuzufügen: »Er hat jemanden kennengelernt, der ihm richtig gut tut, ein regelrechter Schutzengel.«

Dr. Prechtels Reaktion war interessant. Für zwei bis drei Sekunden musterte er Sonni sehr genau und zeigte dabei eine richtiggehend spöttische Miene.

»Und Sie, Lundkvist, wer tut Ihnen gut? Ein Schutzteufel?«

Schmusen mit Felix

»Hi du!«, begrüßte Felix freudig strahlend seinen nächtlichen Gast.

»Hi du!«, erwiderte Sonni schüchtern und nervös. Es war dieses berühmte zweite Treffen, bei dem sich meist zeigte, ob aus einem netten, aber meist primär triebgesteuerten ersten Beisammensein mehr wurde, als ein gelegentlich nutzbares Ablassventil für aufgestaute Triebe.

»Willst du nicht reinkommen?«, fragte Feuerdämon Felix ebenfalls ein wenig schüchtern, aber genauso auch ein wenig amüsiert über Sonni und seine eigene Unsicherheit. Der Kriminalkommissar stand nämlich wie Falschbier im Türrahmen und schien nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte.

»Du bist doch nicht etwa ein Vampir, den ich erst einladen muss, bevor er meine Türschwelle überschreiten kann?«, scherzte der Ifrit.

»Muss man das wirklich?« Sonni lachte.

»Nein, das ist nur Mythos. Und jetzt komm endlich rein!« Felix packte Sonni am Handgelenk und zog ihn erst in die Wohnung und dann in seine Arme. »Hab' dich, Bulle!«

»Immer diese Chemiestudenten.«, seufzte Sonni und gab mit der Ferse seines rechten Schuhs der Wohnungstür einen Schubs, dass diese hörbar ins Schloss fiel.

»Du siehst müde aus.«, bemerkte Felix fürsorglich. »Hast du Hunger?«

»Ehrliche Antwort: Ich bin am Verhungern.« Sonni ließ seinen Blick schweifen. Das war also die Wohnung eines Feuerdämons, eines Chemiestudenten oder ausgesprochen attraktiven Kerlchens. Was Sonni auch immer erwartet haben mochte, es war nicht da. Der Flur sah aus wie ein Flur: Eine Hakenreihe an der Wand diente als Garderobe und wurde von Sonni gleich genutzt, um seine Lederjacke loszuwerden. Nierengurt und Handschuhe hatte er wie üblich in seinen Helm gestopft, den er nach zustimmendem Nicken von Felix auf einem stufigen Regal- und Fachsystem abstellte. Der Ifrit hatte Geschmack. Seine 2-Zimmer Wohnung war nett und auf eine moderne Art sehr gemütlich. Natürlich war es der unvermeidliche IKEA-Chic, der den Stil der Wohnung prägte, wobei es immer darauf ankam, was jemand aus den gegebenen Mitteln machte. Felix präsentierte sich stilsicher. Die Art, wie er sich eingerichtet hatte, die Auswahl der Farben von Wänden und Möbeln, die Beleuchtung und selbst die wenigen, dafür aber hochwertigen Bilder und Dekoobjekte kultivierten einen eindeutig männlichen Ansatz. Dies galt sowohl für das Wohnzimmer, das Bad und die Küche. Blieb die Frage, wie wohl das Schlafzimmer gestaltet war.

»Ich glaube, jetzt wäre der richtige Moment, dir ein wenig von mir zu verraten.«

Die beiden Männer saßen in der Küche. Felix hatte eine Flasche Rotwein geöffnet und Brot, Käse, Butter, Salami, sowie Schinken aufgetischt. Es gab sogar Oliven, Cherrytomaten, Basilikum und Büffelmozzarella. So einfach und schlicht dieses späte Abendbrot daher kam, so gut war es auch. Sonni fühlte sich wohl.

»Die große Lebensbeichte?«, fragte er halb scherzhaft.

»Ein bisschen.«, gestand der Ifrit. »Ich bin Vollwaise. Genaugenommen ist es mein menschlicher Körper. Ich war sieben Jahre alt. Wir, meine biologischen Eltern und ich, befanden uns auf der Rückreise vom jährlichen Sommerurlaub. Nach zwei Wochen Toskana stand die Heimreise an, die wir alle schnell hinter uns bringen wollten. Statt also wie auf der Hinreise einen nächtlichen Zwischenstopp einzulegen, entschieden meine Eltern die gesamte Strecke durchzufahren – rund 1.250 Kilometer in einem Rutsch. Du ahnst, worauf das hinausläuft? Meine Eltern wechselten sich zwar alle vier Stunden mit der Fahrerei ab, die Müdigkeit schlug trotzdem zu. Wie gesagt, ich war erst sieben und kann mich noch aus einem anderen Grund kaum daran erinnern, was dann genau geschah. Es ging wohl alles sehr schnell. Sei es, dass mein Vater oder der Fahrer des LKW neben uns in einen Sekundenschlaf gefallen war, das konnte nie geklärt werden und es spielt auch keine Rolle. Es war Nacht, die Autobahn nass und die Sicht von nebligem Dunst und Sprühregen eher schlecht. Jedenfalls touchierten entweder wir den LKW oder der LKW uns. Mein Vater verlor die Kontrolle und... Nun ja, bei einem Crash mit Hundertzwanzig Kilometern pro Stunde bleibt von einem Auto nicht viel übrig. Meine Eltern waren sofort tot, mein Körper hingegen nur sehr schwer verletzt. Genaugenommen war es nur eine Frage der Zeit, wann auch er den Betrieb einstellte. Bis zu diesem Zeitpunkt war dieser Felix, der gerade vor dir sitzt, noch kein Ifrit. Es waren Tim und Raphael, die Felix, dem ursprünglichen Felix, seine Lage erklärten. Er, mein Körper, lag im Sterben. Sein Bewusstsein hatte er längst verloren und hätte es auch niemals wiedererlangt. Die beiden, Raphael und Tim, begaben sich in sein inneres Selbst, seine Seele, wenn du es so formulieren willst und fragten ihn, ob ich, ein Dämon, ein Ifrit, seinen Körper übernehmen dürfe. Für einen Siebenjährigen war er erstaunlich reif, wobei seelische Reife und körperliche eh zwei völlig verschiedene Dinge sind. Er meinte jedenfalls, dass er mich kennenlernen wolle, bevor er entschied, mir seinen Körper zu überlassen. Und so unterhielten wir uns und verbrachten Zeit miteinander. Wobei... Was ist schon Zeit jenseits des Raums? Sie spielt in meiner Welt keine Rolle. Ja, ich zeigte ihm unsere gesamte Existenzebene, auch das, was du Himmel und Hölle nennen könntest. Am Ende stimmte er zu und ich erhielt seinen Körper. Seitdem gelte ich als medizinisches Wunder. Gegen alle Wahrscheinlichkeit überwand mein Körper seine Verletzungen. Wobei das jetzt einfacher klingt, als es wirklich war. Ich verbrachte sieben Monate in der Klinik und Reha. Wurde viermal operiert. Es war heftig, selbst für mich. Und nun bin ich hier. Ein Ifrit, der Hüter des Höllenfeuers im Körper eines Menschen. Warum ich dir das erzähle? Du bist Polizist. Früher oder später hättest du mir die Frage nach meinem Ursprung gestellt. Und ich wollte nicht, dass meine Erklärung dann wie eine Verteidigung aussähe.«

»Puh, ich bin ziemlich sprachlos. Du hast Recht. Ich habe mich schon gefragt, wie du in unsere Welt gelangt bist.«, erwiderte Sonni und ordnete zwischen zwei Bissen seine Gedanken. »Felix, der andere Felix, war wirklich einverstanden?«

»Das war er und hat seine Entscheidung nie bereut. Wenn du willst, kannst du ihn fragen.«

»Wie fragen?« Verwirrt stellte Sonni das Weinglas ab, von dem er eben noch einen Schluck genommen hatte, um den letzten Happen seines Nachtmahls herunterzuspülen.

»Er ist jetzt ein Engel, genaugenommen einer von Raphaels Engeln...«

»Nein, sag nicht, dass... Gabe, ich meine, Gabriel?«

»Warum glaubst du, hat der Dämonenkanal so gut funktioniert, mit dem wir dich in Kevins Unterbewusstsein geschleust haben? Gabe und ich, das ist mehr als nur Freundschaft.«

»Seid ihr zwei...«

»Ihh!«, rief Felix gespielt angewidert, »Ich bin doch nicht inzestuös veranlagt. Würdest du mit deinem älteren Bruder ficken?«

»Ähm, nein. Ihr seid also nur...«

»...Freunde, und wenn du so willst, Kollegen, wenn auch aus unterschiedlichen Abteilungen.«

»Darf ich dich etwas fragen?« Sonni konnte einfach nicht anders. So sehr er es auch wollte, war er eben doch mit jeder Faser seines Körpers Polizist, genaugenommen Kriminalkommissar. Geheimnisse, Widersprüche, ungeklärte Fragen widerstrebten ihm. Mehr noch: Sie nagten an ihm, juckten wie ein Pickel oder eine verschorfte Wunde, von der er einfach nicht ablassen konnte, daran zu kratzen und zu pulen.

»Deswegen sitzen wir zusammen.« Felix lächelte. Ahnte er, was Sonni ihn fragen wollte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall schien er ein Mann zu sein, der wirklich bereit war, sich Sonni zu öffnen, was diesem das Herz erwärmte. Fühlte sich so Liebe an?

»Gabe, wieso ist er älter als du und musste er nicht auch erst einen Körper übernehmen, um in unsere Welt zurückzukehren?«

»Ich erwähnte schon, dass Zeit in unserer Existenzebene keine Rolle spielt. Ob ich damals den sieben Jahre alten Körper von Felix übernommen habe, heute den einer 80jährigen Rentnerin oder vor tausend Jahren den eines Mönchs spielt für mich, mein dämonisches Selbst keine Rolle. In meiner Welt sind Gestern, Heute und Morgen eins. Als Dämon übernehmen wir nur Körper, deren ursprüngliche Seelen keinen Bedarf mehr für ihn haben. Dies ist einer der Gründe, warum wir mit dem Tod und deswegen mit dem Bösen identifiziert werden. Du wirst dich sicherlich Fragen, was es dann mit der Besessenheit auf sich hat, von der die Kirche früher sprach. Die Wahrheit ist ziemlich profan: psychische Störungen, wie Schizophrenie. Bei einem kleinen, wirklich sehr kleinen Teil sind dann aber leider doch Dämonen im Spiel. Dämonen, die von Menschen beschworen wurden und alles andere als freiwillig in einen Körper gebannt und gefangen gehalten wurden.«

»Wie der Guhl.«, murmelte Sonni, in dem sich das Gefühl einer Epiphanie ausbreitete.

»Ich sehe, du beginnst die Zusammenhänge zu begreifen. Deswegen tut es mir Leid, wenn ich dich gleich wieder verwirren werde, denn Engel sind anders.«

»Anders?«

»Engel übernehmen keine Körper, sie treten einfach in die Existenz.«

»Hä?« Der Moment der Offenbarung war tatsächlich genauso schnell verschwunden, wie er gekommen war.

»Wenn ein Engel die Erde betritt, dann hat er sie betreten... Schon immer. Wenn morgen etwa Tobin, ein alter Kumpel von mir, entscheidet, diese Welt zu betreten, dann würde er auch heute schon hier gewesen sein. Du siehst schon, dass sich das mit eurer menschlichen Sprache kaum vernünftig ausdrücken lässt. Engel werden nicht, sie sind. So wie Gabe. Als ich mit seinem geschundenen Körper im Krankenhaus lag, war er die ganze Zeit an meiner Seite. Nicht als Gabe, sondern als Schwester jenes Ordens, der das Krankenhaus betreibt. Er meinte, er müsse schließlich aufpassen, dass ich gut mit seinem Körper umgehe. Er ist wirklich ein lieber Kerl. Kevin kann froh sein, ihn zu haben.«

»Oh, Shit!«, Sonni klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das habe ich fast vergessen, zu erzählen. Der Guhl ist tot. Er kam heute Nachmittag, direkt vor meinen Augen, bei einem Verkehrsunfall zu Tode.«

Statt etwas zu sagen, sprang Felix auf und nahm einen etwas überraschten Sonni in den Arm und drückte ihn.

»Vor deinen Augen? Du musstest das mit ansehen?«, fragte Felix besorgt, aber ohne peinliche Rührseligkeit, und strich Sonni sanft, aber kräftig über Rücken und Schultern. Die Wirkung setzte sofort ein. Wohltuende Wärme, die nicht nur den Körper sondern vor allem auch die Seele erwärmte, durchströmte Sonnis Körper. Unbewusst, um nicht zu sagen instinktiv, schaltete der Berliner Kommissar mit schwedischen Wurzeln auf seine übernatürliche Wahrnehmung um. Blassblaue und teils transparente Flämmchen hüllten sie ein, umspielten sie, liebkosten Sonni auf die denkbar zärtlichste Art. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein Feuerdämon, niemand geringeres als der Hüter des gewaltigen Höllenfeuers, zu dermaßen feinfühligen Zärtlichkeiten fähig war.

»Komm, lass uns ins Bett gehen!«, schlug Felix vor und erntete dafür keinerlei nennenswerten Widerstand. Ganz im Gegenteil folgte Sonni seinem Feuerteufel wie ein williges Opferlamm. Auf dem kurzen Stück von der Küche zu Felix Schlafzimmer lichtete sich Sonnis bisher leicht depressive Stimmung. Der Ifrit war wie eine Infusion konzentrierter Energie, die auf Sonni so belebend wirkte, dass dieser kurz vor Erreichen des Ziels in Form der Schlafzimmertür, Felix packte, ihn herumwirbelte und gegen die geschlossene Tür der Nachtstätte drückte, um ihn dann leidenschaftlich zu küssen, an seinen Ohren zu knabbern und den Hals zu liebkosen. Dass er dabei seinen Körper kräftig gegen den seines Feuerdämons drückte, wurde von diesem wohlwollend registriert und unverzüglich erwidert.

»Ficken?«

»Ficken!«


Etwas mehr als eine Stunde später kam Sonni soweit wieder zur Besinnung, dass er erstmals seine Umgebung, das heißt Felix Schlafzimmer registrierte. Sonni wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte vorzufinden, aber das Schlafzimmer des Ifrit war vollkommen normal für einen Mann, oder präziser, einen schwulen Mann, der sein Bett und Schlafzimmer nicht nur zum Schlafen nutzte. Das Bett war groß, gemütlich und ein wenig avantgardistisch, doch am wichtigsten: Die Matratze war saubequem. Die restliche Einrichtung erinnerte mehr an einen Wohn- als einen Schlafraum. Keine monolithische Schrankwand erdrosselte den Raum oder sorgte für Beklemmungen. Stattdessen hatte Felix sich auf ein paar essenzielle Einrichtungsgegenstände beschränkt: Ein Nachtschrank neben dem Bett und eine flache, frei hängende Schrankzeile entlang der Längswand, beides im gleichen Design wie das Bett. Der fette Flachbildschirm an der Wand ließ Sonni hingegen schmunzeln.

»Nicht das, womit du gerechnet hast, oder?«, wollte Felix wissen und musste dabei gar nicht Sonnis Gedanken lesen. Der wandernde Blick des Polizisten sagte alles.

»Nein, aber es gefällt mir.«

»Danke«, Felix grinste hinterhältig. »Gib zu, du dachtest, ich würde in einem Stahlbett mit Ketten und Fesseln schlafen, über dem wohlmöglich sogar ein Sling hängt.«

»Du übertreibst, so etwas hätte ich nie gedacht.«, erwiderte Sonni sowas von ehrlich, dass er rot wurde und hinzufügte: »Vielleicht ein paar Handschellen.«

»Im Nachtschrank, zusammen mit dem Gleitgel, zwei Dildos und einer Peitsche.«, konterte jetzt wiederum Felix und begann breit zu grinsen, als er Sonnis entsetztes Gesicht sah. Der hatte tatsächlich in die Schublade geschaut und außer dem Gleitgel und einem Dildo nichts weiteres gefunden. »Für einsame Stunden.«, kommentierte der Ifrit das Kunstglied, um anzüglich hinzuzufügen: »Aber jetzt hab' ich ja dich.«

»Öhm...«

»Was, schockiert?«, lachte Felix.

»Nein, nur ein wenig überrascht.«, gestand Sonni gut gelaunt und schüttelte amüsiert seinen Kopf. »Ich muss allerdings gestehen, dass in meinem Nachtschrank auch ein gut gebauter Latexfreund liegt.«

Felix lag neben Sonni, hatte sich an ihn geschmiegt und streichelte ihn mit einer hell lodernden Hand über Brust, Bauch und Wangen. Erstaunlich, überlegte Sonni, wie sich die Empfindung ändern kann. Felix Höllenfeuer fühlte sich wirklich heiß, verdammt brennend heiß, aber auch verdammt geil an. Sonni gurrte. Er fühlte sich wohl, und wenn er den Ausdruck des Mannes neben ihm richtig deutete, fühlte der sich auch wohl.

»Wenn das mit uns so weiter geht«, gab Sonni Lundkvist zu bedenken, »gehe ich spätestens in einem Monat am Stock.«

»Ach was« Felix lachte und rollte sich auf Sonni. »Du hast dich auf einen Ifrit eingelassen. Um deine Lebenskraft brauchst du dir keine Sorgen machen, darum werde ich mich schon kümm... Moment, was ist das?«

Von einem Moment auf den anderen war Felix lüsternes Feuerchen erlöschen. Seine eben noch so sinnliche und verspielte Stimmung hatte sich ebenfalls verabschiedet, stattdessen wirkte er nervös und alarmiert.

»Wann ist das passiert?«, wollte er wissen und hielt Sonnis Amulett in seinen Händen, das der Polizist an einem Lederbändchen um den Hals trug.

»Wann ist was passiert?«

»Das Amulett«, rief Felix nachdrücklich, sprang aus dem Bett und untersuchte Sonnis Lederhose, die irgendwo am Bettende auf dem Boden lag. Sonni stellte verlegen fest, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, wie er sie ausgezogen hatte. »Hm, die ist okay.«

»Langsam, ich komm nicht mehr mit. Was ist los?«

»Okay! Okay!«, hechelte Felix, krabbelte wieder zu Sonni ins Bett und versuchte, wieder runterzukommen. »Der Schutzzauber auf deinem Amulett hat ausgelöst. Das heißt, irgendetwas Übernatürliches hat dich angegriffen und wurde vom Amulett abgeschmettert. Interessant, dass du es nicht bemerkt hast. Noch interessanter ist aber, dass deine Hose voll ist. Ähm... Ich meine vollgeladen... Ähm, voll aufgeladen.«

»Die Hose ist potenter, oder? Sie hätte zuerst gezündet?« Kaum mit einem Rätsel konfrontiert, schaltete Sonni sofort auf Bulle um.

»Ja, die Hose ist um Größenordnungen potenter und hätte dich zuerst beschützt.«

»Das engt den Zeitrahmen ein.«, grübelte Sonni. »Was war heute Morgen?«

»Als ich dich mit Gabe verließ, war dein Amulett noch voll aufgeladen. Ich wäre ein schlampiger Dämon, wenn ich das nicht prüfen würde. Außerdem kannst du dir sicher sein, dass mir Tim den Kopf abreißt und mich lebendig häutet, sollte ich so etwas übersehen.«

»Heute Morgen war die Welt also noch in Ordnung.«, überlegte Sonni laut und kuschelte sich an Felix, der sich seinerseits wieder im Bett niedergelassen hatte. »Nach dem Frühstück bin ich mit Kevin ins LKA gefahren. Da hatte ich die Hose an. Immerhin waren wir mit dem Motorrad unterwegs. Ich habe mich dann später umgezogen. So ein Kerl in Lederhose kommt eben nicht bei jedem an.«

»Warum das denn nicht? Ich finde es megageil, wenn du sie trägst.«, warf Felix keck und anzüglich ein.

»Lustmolch!« Sonni schmunzelte, blieb aber nachdenklich. Er rollte auf die Seite und schaute Felix bei seinen Überlegungen direkt an. »Hm, es kann nur in der Zeit von Tillmann-Hagens Befragung, dem Sohn des Opfers, und der Stippvisite bei Scotty passiert sein. Aber was war es?«

»Scotty?«

»Unser IT-Experte. Das ist auch so eine etwas merkwürdige Geschichte. Dienstag tauchte ein Sondergesandter des Vatikans bei uns im LKA auf, um uns bei diesem Fall zu unterstützen. Der Geistliche, ein gewisser Kardinal DaSilva, übergab mir einen USB-Stick, der mit Daten angefüllt sein soll, die mir bei meinem Fall helfen könnten. Nun ja, ich stöpsle nichts ungeschützt in irgendwelche Buchsen.«

»Und mit stöpseln kennst du dich aus.«, zog Felix den Mann in seinem Bett auf. »DaSilva sagst du? Hm, da klingelt was. Der Typ ist nicht ohne. Tim hat den mal erwähnt, und das in keinem angenehmen Zusammenhang. Du solltest bei diesem Mann besonders vorsichtig sein.«

»Deswegen bin ich zu Scotty gefahren, um den Stick durchchecken zu lassen. Zuvor stand die Zeugenbefragung Tillmann-Hagens an. Eigentlich haben er und seine Mutter den Hinweis auf Kowalski geliefert. Verdammt, mein Chef hat Recht«, seufzte Sonni frustriert, »Irgendetwas will bei diesem Fall einfach nicht zusammenpassen. Beide, Mutter wie Sohn, und sogar noch ein weiterer Zeuge haben ausgesagt, dass Breitkopf zu Kowalski liebevolle Gefühle pflegte. Sein Sohn hat beobachtet, wie sein Vater ein Foto von Kowalski in den Händen hielt und plötzlich ein ganz anderer Typ war – verletzlich und sehnsüchtig. Obendrein haben Dorothea, eine Kollegin, und Kevin mit Kowalski gesprochen. Zu dem Zeitpunkt stand er noch nicht im Fokus unserer Ermittlungen. Die beiden haben ihn wenig schmeichelhaft als Weichei bezeichnet. Passt das zu einem Guhl?«

»Jein.«, meinte Felix stirnrunzelnd, »Eigentlich nicht. So ein Guhl ist auch ein Mensch, so wie ich auch gleichzeitig Mensch und Ifrit bin. Solange er sich nicht nähren muss, dominiert sein menschliches Wesen, das auch vollkommen friedlich sein kann. Außerdem zwingt ihn die Bindung an seine fünf Meister zur Demut und Unterordnung. Erst, wenn sein Hunger die kritische Schwelle überschritten hat, wenn die Meister seinen Hunger nicht mehr stillen können und er sich gegen sie wendet, kehrt sich das Rollenverhalten um.«

»Eine letzte Frage: Hätte wir Kowalski, den Menschen und den Guhl, retten können?«

Statt sofort zu antworten, zog Felix Sonni dichter an sich heran, angelte nach dem Oberbett und deckte sie beide zu. Dann passierte etwas unerwartetes. Felix vergrub sein Gesicht in Sonnis Hals. Der Dämon schien traurig.

»Mit der Beschwörung des Guhls waren beide verdammt – Kowalski und der Guhl.«, murmelte Felix. »Weder du noch wir hätten etwas tun können. Sein Tod... verdammt, das ist einfach nur grausam zu sagen, aber sein Tod war... er war eine... Erlösung. Die Alternative wäre... grauenvoll.« stammelte Felix. »Ihr hättet Kowalski verhaftet, angeklagt und verurteilt. Er wäre im Knast gelandet. Ein immer hungriger werdender Guhl im Knast? Einer Institution voller Unterdrückung, Gewalt und Angst? Glaub mir, du willst dir nicht ausmalen, was passiert wäre. Am Ende hättet ihr Kowalski in die Psychiatrie bringen und für den Rest seines natürlichen Lebens unter Drogen setzen müssen. Sehr starke Drogen, die stärksten, die euch zur Verfügung stehen. Kowalski und der Guhl, beide wären aneinander gekettet, ein Körper mit zwei Bewusstsein, die nicht zueinander passen aber verdammt sind, ihr Leben miteinander teilen zu müssen. Sonni, der Guhl ist nicht an sich böse. Es ist seine Natur, sich von Angst und Qual zu ernähren, ernähren zu müssen. Er kann nicht anders, er muss. Ihm dies zu verwehren, kann nicht funktionieren. Genauso gut könnte ich von dir verlangen, mit dem Atmen aufzuhören. Nur dass ein Guhl nicht verhungern kann. Er leidet, er erleidet mentale Qualen, unvorstellbare geistige Schmerzen, die sich auf seinen Wirt, auf den Menschen übertragen und ihn in den Wahnsinn treiben.«

»Das... das habe ich nicht gewusst.«, flüsterte Sonni, der spürte, dass die Geschichte seinen Ifrit bewegte.

»Woher hättest du es auch wissen sollen?«, erwiderte Felix.

Und wieder schlugen Sonnis Bulleninstinkte zu. Ihm wurde plötzlich klar, warum Felix so engagiert reagierte.

»Du kennst den Guhl, oder?«, fragte Sonni vorsichtig. »Nicht von hier, sondern von der anderen Seite. Aus deiner Domäne.«

»Wahrscheinlich«, kam es leise von Sonnis Seite. »Es könnte sein, dass es ein Kumpel, ein Freund von drüben war. Tim, dieser verdammte Teufel. Er wusste es und hat mir deswegen erlaubt, hierher zu kommen.«

»Noch eine Lehrstunde in Menschlichkeit?«

»Eher eine Lehrstunde in Unmenschlichkeit. Mann, ist der Kerl manipulativ. Nun ja, er ist eben der Teufel. Nichts passiert bei ihm aus Zufall. Das, was dem Guhl und Kowalski angetan wurde, zeigt mir, wie grausam und unmenschlich ihr Menschen auch sein könnt. Sonni, versprich mir eins. Finde das Schwein, das dafür verantwortlich ist!«

»Aber sind nicht die fünf Meister verantwortlich?«

»Breitkopf? Machst du Witze?«, Felix lachte. »So wie du ihn mir beschrieben hast, war der Mann ein totaler Looser. Ein geradezu klassischer Fall für die guten alten Todsünden: Habgier und Hochmut. Er hat seine Seele für den Erfolg geopfert. Aber wenn ich dich richtig verstanden habe, hat er bereut und geliebt. Seinen Sohn und vermutlich auch Kowalski. Er ist nicht der Mann, den du suchst. Du suchst jemanden, der den fünf Meistern des Guhls die Beschwörungsformel verraten hat. Jemanden, der ohne zu Zögern, sechs Menschen verdammt.«

»Du glaubst nicht, dass es einer der Meister des Guhls war?«

»Nein, nicht wenn er bei klarem Verstand war. Du hast den Text in Raphaels Buch gelesen. Die Konsequenz der Beschwörung ist dort klar beschrieben. Wer immer den Text ausgegraben hat, wusste, dass mit der Beschwörung die eigene Verdammung einhergeht. Wer immer das alles angezettelt hat, ist das eigentliche Monster, ein Unmensch, der über Leichen geht und Schlimmeres.«

»Ich verspreche es dir.«, flüsterte Sonni und zog einen sehr aufgewühlten Ifrit enger an sich. »Wer immer dafür verantwortlich ist, ich werde alles tun, um ihn ausfindig machen.«

»Sonni?«

»Ja?«

»Danke!«

»Dafür nicht, dafür nicht!«

Rührei

Wer kennt das nicht? Da ist man eigentlich der Meinung, gut, wenn nicht sogar sehr gut geschlafen zu haben. Immerhin war das Bett frisch bezogen und auch die zwar viel zu teure, dafür aber auch perfekte Matratze, nicht zu hart und nicht zu weich, hatte bisher stets für optimale Schlafvoraussetzungen gesorgt. Man musste nachts nicht hoch, weil man vorher nicht zu viel getrunken hatte und die Blase deswegen nach Entleerung verlangte. Man hatte auch nichts schweres gegessen, das unangenehm im Magen liegen konnte. Man kann sich auch nicht erinnern, irgendwelche schlechten Träume gehabt zu haben. Man ist sogar der Meinung, eigentlich sehr gut durchgeschlafen zu haben. Und trotzdem ist es einer dieser Tage, an denen man sich weder erholt noch ausgeschlafen fühlt. Stattdessen quält einen eine eigentümliche Unrastigkeit und Kribbeligkeit. Man weiß einfach nicht warum, aber irgendwie hat man so ein merkwürdig ungutes Gefühl, das sich partout nicht abschütteln lassen will.

Genau so erging es Sonni, und unerwartet Felix ebenfalls. Die beiden Männer hatten kaum ihre Augen aufgeschlagen, da lief ihnen ein Schauer über den Rücken. Sonni bekam sogar eine Gänsehaut und rieb sich mit den Händen über die Arme, um das fröstelige Gefühl zu vertreiben. Dabei war es in Felix Schlafzimmer alles andere als kalt. Der menschliche Körper des Feuerdämons bevorzugte wie die meisten Menschen zwar eine kühle Schlafumgebung, die aber weit davon entfernt war, Fröstelgefühle auszulösen. Innerlich unruhig, krochen die zwei aus dem Bett und schleppten sich ins Badezimmer.

»Du spürst es auch, oder?«, fragte Sonni auf dem Klo sitzend, um den über Nacht angewachsenen Blasendruck abzubauen. Seit er über seine eigene Wohnung verfügte und sich selbst um deren Reinigung kümmern musste, war der blonde Deutschskandinavier zum überzeugten Sitzpinkler mutiert.

»Du hast keine Ahnung«, knurrte Felix, der darauf wartete, dass sein Gast den Platz auf der Schüssel freigab. »Ich habe das Gefühl, als wenn mir jemand mit einem Geigenbogen über die Nerven schabt.«

»Creepy!«, wich Sonni in einen Anglizismus aus und bemerkte den verzweifelten Ausdruck in Felix Gesicht, sowie ein unruhiges hin und her hüpfen von einem Bein aufs andere. »Oh, sorry, du musst hier auch hin?«

»Ähm...«, stammelte der Ifrit und wurde rot. »Ich wollt dich nicht vertreiben.«

»Nee, ist okay. Kann ich in deine Dusche springen?«

»Blöde Frage!«, lachte Felix. »Du weißt, wie man einen Wasserhahn bedient?«

Ohne weiteren Kommentar sprang Sonni auf, betätigte die Spülung, umrundete Felix und kletterte in die Duschkabine. Dem Ifrit schien das Bedürfnis zur Entleerung noch wesentlich drängender zugesetzt zu haben. Statt sich ebenfalls auf der Brille niederzulassen, klappte der das Klo vollständig auf, stützte sich mit ausgestrecktem Arm an der gekachelten Wand ab und ließ laufen.

»Scheiße!«, brüllte der Feuerdämon und ließ Sonni herumwirbeln, der in der Dusche mit dem Rücken zum Badezimmer stand, um seinem Freund ein wenig Privatsphäre bei dessen Ausscheidungsprozessen zu können. Eben jene schienen das Problem zu sein. Statt in perfekter Parabelbahn als konventionell gelber Urinstrahl die glans penis des Ifrit zu verlassen, präsentierte sich das Fortpflanzungsorgan als Flammenwerfer – Felix pisste flüssiges Feuer, und soweit Sonni den Aufschrei seines Freundes richtig interpretierte, alles andere als gewollt, respektive planmäßig.

»Das ist nicht normal!« fluchte der Dämon und zwang sich, seinen Urinfluss zu stoppen. Einmal gestoppt, konzentrierte er sich und versuchte in einem zweiten Anlauf, sein Wasser abzulassen, was nun auch gelang.

»Was war das?«, wollte Sonni nervös wissen. Bisher hatte er erstaunlich wenig Probleme mit dem Umstand gehabt, dass es sich bei seinem Freund um einen Dämon, einen Teufel aus der Hölle handelte. Es ist nicht wichtig was sondern wer du bist, hat seine Großmutter immer gesagt, wobei sie vermutlich keine übernatürlichen Wesen im Sinn hatte. Obwohl... Wenn er sich richtig an eine Bemerkung Tims erinnerte, war sein Urgroßvater einem Teufel ziemlich nahe gekommen.

»Ein Omen«, knurrte Felix. »Irgendetwas wird geschehen. Mein Ego auf der anderen Seite – in der Hölle« Felix zeichnete bei den letzten drei Worten mit seinen Fingern Anführungszeichen in die Luft »will mir etwas mitteilen. Wenn ich nur wüsste, was das sein könnte...«

»Und das geht nicht einfacher?«, wollte Sonni wissen. »Und weniger spektakulär?«

»Ich hab dich erschreckt, oder?«, fragte Felix schuldbewusst, ängstlich und mit gesenktem Blick. Ihm war gerade richtig bewusst geworden, wie sehr ihm dieser Polizist, dieses geile Stück Mann ans Herz gewachsen war. Ich darf das nicht verkacken! Mit anderen Dämonen abhängen war okay. Es gab sogar ein paar knuffige Werwölfe und rattenscharfe Vampire, mit denen er durchaus etwas anfangen konnte. Es war auch nicht so, dass Felix etwas gegen das übernatürliche Völkchen hätte, das sich im Zwielicht und Halbschatten der Welt der Menschen herumtrieb. Zum Teufel, er war schließlich selbst alles andere als menschlich. Aber das war auch gar nicht der Punkt, warum ihm Sonni so überaus am Herzen lag. Bei ihm war er nicht in erster Linie der Ifrit, der Hüter und Verwalter des Höllenfeuers, der Adlatus Luzifers, des Teufels, unter bürgerlichem Namen auch bekannt als Tim Teufel. Bei Sonni war er Felix, einfach nur Felix. Die anderen sahen immer nur seine Funktion, seinen Titel und Status in der Hierarchie der Hölle, Sonni sah etwas anderes. Er sah die Person, das kleine Wesen, das seinen Platz im Leben suchte, wie jeder andere auch. Verdammt, ich bin drauf und dran, mich in diesen Menschen zu verlieben.

»Ein wenig.«, flüsterte Sonni Felix ins Ohr und riss ihn aus seinem Tagtraum. Der Chemiestudent hatte gar nicht gemerkt, wie sein Lieblingspolizist aus der Dusche geklettert war. Jetzt stand er vor ihm und hob mit einer Hand sanft sein Kinn an. Felix schaute auf und blickte in zwei freundlich dreinschauende Augen, in denen es allerdings ein klein wenig vor sich hin loderte.

»Es tut mir Leid.«

»Muss es nicht.« Sonni lächelte und kam noch etwas näher. »Verdammt, Felix, was hast du mit mir gemacht? Ich könnte Stunden hier stehen und dir in die Augen schauen.« Das letzte Wort war noch nicht verklungen, da schlag Sonni seine Arme um Felix und zog ihn zu sich heran. Die Körper der beiden nackten Männer berührten sich, was jetzt nicht unbedingt eine total neue Erfahrung für sie dargestellt hätte, wäre nicht in diesem Moment der Funke übergesprungen.

»Uns hat's erwischt, oder?«, wollte Felix als erstes wissen.

»Ziemlich«, bestätigte Sonni.

»Und?«

»Geil!«


Das Ende des morgendlichen Badezimmerbesuchs verspätete sich um einige Minuten, genaugenommen um etliche Minuten. Zum Glück für die zwei verliebten Männer waren sie recht zeitig aus dem Bett gekrochen, sodass trotz des sinnlichen gemeinsamen Duschens, noch ausreichend Zeit für ein gemütliches und stressfreies Frühstück blieb.

»Was ist jetzt mit dem Omen?«, wollte Sonni zwischen zwei Happen Rührei mit Schnittlauch, Zwiebeln und Speckwürfeln wissen. »Was will dir dein Ich auf der anderen Seite mitteilen?«

Nicht, dass Sonni genau verstand, was er eigentlich fragte. Wie konnte jemand gleichzeitig in zwei Realitäten existieren? Wieso gab es überhaupt zwei Realitäten. Vielleicht sollte er aber auch einfach nicht darüber nachdenken. Dass dürfte sich deutlich kopfschmerzvermindert auswirken.

»Kniffelig. Ich kann nicht mit mir kommunizieren. Das wäre... ähm, tja ... nicht gut. Gar nicht gut. Die einzige Chance, mit mir in Kontakt zu treten, besteht während ich auf dieser Seite schlafe, also mein Bewusstsein ruht. Dann kann mein Höllen-Ich mit meinem Unterbewusstsein interagieren. Quatsch. Vergiss, was ich gesagt habe. Interagieren? Ich kann mir bestenfalls etwas zuflüstern, worauf dann mein Unterbewusstsein... unterbewusst reagiert.«

»War das der Grund für dieses fröstelige Gefühl und die Unrastigkeit heute Morgen?«

»Ich nehme es an.«

»Wie jetzt?« Sonni verschluckte sich fast an seinem Kaffee. »Du nimmst es an?«

»Ich geh davon aus.« Felix kratzte sich am Kinn. »Es ist eben un-ter-be-wusst. Ich wüsste nur zu gerne, worauf ich mich eigentlich hinweisen wollte.«

»Na, wenn du es nicht weißt. Ich weiß es bestimmt nicht.«

Das kribbelige Gefühl einer unguten Vorahnung hatte sich zwar nicht verflüchtigt, drängelte sich aber nicht mehr so penetrant in den Vordergrund, wie unmittelbar nach dem Aufwachen. Einen wesentlichen Teil trug das tolle Frühstück, das Felix ihnen bereitet hatte, dazu bei. Neben dem schon erwähnten Rührei hatte er auch ein sehr leckeres Müsli, diverse Sorten Brötchen, Orangen- und Multivitaminsaft, drei Sorten Käse, Salami, geräucherte Putenbrust und, Sonni wollte es kaum glauben, echten Pata Negra Schinken aufgefahren. Der Herr Student wusste zu leben. Selbst der Kaffee, den Felix von Hand aufbrühte, gewann mehr als nur Sonnis Gefallen.

»Ich weiß, was du denkst.«

»Ach?«

»Du fragst dich, wie ich mir als Vollwaise die Wohnung und meinen Unterhalt leisten kann.«

»Die Frage ist mir tatsächlich durch den Kopf gegangen. Ich bin eben ein Bulle.«

»Ich beziehe Waisenrente. In erster Linie lebe ich aber von der Risikolebensversicherung meiner Eltern. Außerdem wurden die Ansprüche aus den Betriebsrenten meiner Eltern auf mich übertragen. Sie waren sehr gut abgesichert. Obendrein haben meine Pflegeeltern und ich entschieden, das Haus meiner Eltern zu vermieten. Ich konnte da einfach nicht leben. Meine Eltern hatten keine näheren Verwandten. Meine Pflegeeltern wurden vom Gericht bestellt. Tim hat da ziemlich was gedreht, sodass ich bei genau den Leuten landete, die meine spezielle Abstammung verstanden. Die zwei sind cool, ein nettes unkonventionelles Werwolfpaar.«

»Werwölfe? Du verarscht mich?«

»Nope!«, konterte Felix. »Mein Pflegevater ist Bauingenieur und meine Pflegemutter Buchhalterin. Sie arbeiten beide für den Alpha ihres Rudels.«

»Und du verarscht mich doch!«

»Nein, wirklich nicht.« Felix lachte. »Diese Dinge sind wirklich real. Erinnerst du dich an den Geschäftsführer aus dem Restaurant, wo wir an unserem ersten Abend gegessen haben? Du hast selbst gesehen, dass er ein Vampir ist.«

»Stimmt.«, maulte Sonni kurz angebunden.

»Hey, schmoll nicht!«

»Ich schmoll nicht.« Sonni seufzte. »Es ist nur... Für dich ist das alles selbstverständlich. Für mich... Vor einer Woche war für mich die Welt noch eine Scheibe. Eine Woche später ist sie eine Kugel, ich jage Guhls hinterher, mein Kollege ist mit einem Engel befreundet und ich verliebe mich in einen... Oh, Shit!«

Da war es, das gefährliche Wort mit dem L. Sonni war mit seinen Ausführungen dermaßen in Fahrt geraten, dass ihm erst ein paar Worte später auffiel, was er da eigentlich ausgeplaudert hatte. Jetzt war es zu spät, denn die Katze war aus dem Sack. Sonni hatte, wenn auch unabsichtlich, seine innersten Gefühle enthüllt und fühlte sich nun ausgesprochen verletzlich. Er wagte kaum, seinen Blick zu heben und starrte deswegen vorsichtshalber auf das fast aufgegessene Rührei auf seinem Teller.

»Wow!«, entfuhr es Felix, den die Beichte im ersten Moment umhaute und verstummen ließ. Dass es zwischen ihnen gefunkt hatte, war ihm schon klar. Dass es aber so richtig, so total gefunkt hatte, das haute ihn dann doch um. Es dauerte einige endlose Sekunden, bevor sich Felix berappelt hatte und soweit wieder klar denken konnte, dass er zu einer offensichtlichen Banalität fähig war: »Damit hab' ich nicht gerechnet.«

»Entschuldige, ich... ich wollte nicht... Ich sollte jetzt fahren...«, stammelte Sonni, dem nicht nur gleichzeitig heiß und kalt wurde, sondern der auch das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Einen Teufel wirst du tun!«, rief Felix entsetzt und sprang auf. In Ultrahochgeschwindigkeit umrundete er den Küchentisch, griff nach Sonnis Händen, riss ihn zu sich empor und umarmte ihn. Er klammerte sich fast schon an Sonni und schmiegte sich mit seinem Kopf an ihn. »Du wirst einen verdammten, verfickten Teufel tun und dich verpissen!«

Und plötzlich machte es bei Sonni nicht nur Klick sondern auch Klack: Seinen knuffigen, heißflammigen Dämon hatte es ebenso erwischt. Die Flammen, die die beiden Männer einhüllten, entstammten nicht der Hölle. Diese Flammen kamen direkt aus Felix Herzen.

»Wie konnte das passieren?«, wollte Sonni verblüfft wissen, wobei er die Liebkosungen erwiderte. Er kannte diesen Feuerteufel gerade mal wie viele Tage? Vier? Aber was waren das für vier Tage? Wilde, nervenaufreibende, aber auch atemberaubende Tage. Sonni hatte sich noch nie so lebendig, so wirklich gefühlt.

»Keine Ahnung.«, Felix zuckte mit den Schultern. Plötzlich bekam er ganz große Augen: »Oh, Shit!«

»Was?«

»Wenn ich nur daran denke, dass ich dich fast mit einem Feuerball gegrillt hätte.«

»Du meinst im Tierpark, als ich hinter dir her war?«

»Hmmm...« Felix ließ sich wieder auf seinem Platz nieder.

»Warum bist du eigentlich aus Raphaels Club abgehauen?«, wollte Sonni wissen. »Und wie konntest du mich hinter dem halbdurchlässigen Spiegel sehen?«

»Deine Aura strahlte hindurch. Du musst ziemlich aufgeregt gewesen sein. Und als du mich dann direkt angestarrt hast, bekam ich Panik. Eigentlich war ich mit Gabe verabredet. Als ich sah, dass er fröhlich mit einem Typen, deinem Kollegen, auf der Tanzfläche am abhotten war, wollte ich ihn nicht stören und ließ einfach meinen Blick schweifen. Tja, und dann sah ich dich und du sahst mich und... Naja, den Rest kennst du.«

»Hast du mich eigentlich im Café beim Frühstück bemerkt?«, wollte Sonni wissen.

»Ja, deswegen geriet ich doch überhaupt erst in Panik. Ich sah dich am Fenster sitzen und fand dich eigentlich ganz cool und ziemlich attraktiv, war aber nicht gerade in der Stimmung, weil ich mich immer noch über einen Streit vom Vortag in der Uni ärgerte. Außerdem schienst du auch gerade ziemlich von der Rolle zu sein. Erst hast du nur Löcher in die Luft gestarrt, hast so vor dich hin gedöst, bis du plötzlich in eine Art Trance geraten bist. Du konntest mich sehen, oder?«

»Ja... Irgendwie...« Sonni schüttelte seinen Kopf, stach mit der Gabel ein Stück Rührei ab und stopfte es sich in den Mund. Felix lehnte sich in seinem Küchenstuhl zurück und ließ seinen Blick über Sonni wandern. Ein glückliches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Dämons aus.

»Du wirkst glücklich.«, stellte er zufrieden fest.

»Ja«, erwiderte Sonni und sah Felix mit strahlenden Augen an. Sonni zwinkerte, grinste und meinte dann: »Ich bin sehr glücklich. Wer einen Freund hat, der so ein Rührei zubereiten kann, muss einfach glücklich sein.«

Freitags-Blues

Freitage hatten immer etwas zähes, was merkwürdig war, da sich weder Verbrechen noch Verbrecher an Wochentagen orientierten. Ganz im Gegenteil. Ein großer Teil aller Beziehungstaten fiel auf das Wochenende, nämlich genau dann, wenn sich Eheleute, Freunde, Geliebte, hormonelle Zweckgemeinschaften und Seitensprungpartner nicht aus dem Weg gehen konnten. Aber an Freitagen passierte gemeinhin relativ wenig, als dass die Kommissare unter der Leitung POR Prechtel hinzugezogen werden müssten. Die Kollegen nutzten deswegen die ruhigere Zeit, um ihre Akten auf Vordermann zu bringen. So wurden fleißig Berichte geschrieben, die Fotos von Tatorten sortiert und kategorisiert, Zeugenaussagen zugeordnet und die Ergebnisse von Spurensicherung, KTU und Rechtsmedizin den korrespondierenden Fallakten hinzugefügt. Freitags regierte der klassische Beamtendreikampf: Lochen-Heften-Ablegen.

An diesem speziellen Freitag kam eine Besonderheit hinzu. Den Kriminalkommissaren Kevin Bredow und Sonni Lundkvist war während der Verfolgung eines Verdächtigen eben jener ums Leben gekommen. Wie die beiden Ermittler damit auf emotionaler Ebene klar kamen, war mehr oder weniger ihr Problem. Für die Behörde viel wichtiger als das Seelenheil ihrer Mitarbeiter war in erster Linie die ebenso lückenlose wie umfassende Dokumentation des Vorfalls. Wohlmöglich kam sonst noch irgendein Anwalt oder gar ein Journalist auf die Idee, die Beamten hätten sich nicht absolut korrekt verhalten. Wenn dem Innensenator irgendetwas wichtig war, dann immer den Rücken frei zu behalten. Politiker schätzen es bekannter Weise überhaupt nicht, wenn das böse Wort Skandal im Zusammenhang mit ihrem Ressort in der Presse auftauchte. Entsprechend umfangreich präsentierte sich der Schreibkram für Sonni und Kevin. Es mussten Fragebögen ausgefüllt, Unfallskizzen angefertigt und frei formulierte Unfallprotokolle abgegeben werden.

Die Fragen waren, darin herrschte allgemeine Übereinkunft, eigentlich eine absolute Frechheit und konnten nur von Leuten erarbeitet worden sein, die nie mit praktischer Polizeiarbeit in Kontakt gekommen waren. »Haben Sie während der Verfolgung des Verdächtigen alle möglichen Handlungsalternativen gegeneinander abgewogen?« Ja was denn? Hätte er etwa, so überlegte Sonni, die Verfolgung abbrechen sollen, weil die Gefahr bestand, jemand könnte über einen Haufen Hundescheiße stolpern und sich dabei das Genick brechen? Er konnte sich einfach nicht des Verdachts erwehren, dass hier eine Behörde einfach nur ihren Arsch retten wollte. Im Zweifelsfall konnte sie sich hinstellen und behaupten, die ermittelnden Beamten hätten leider unüberlegt und unangemessen gehandelt, indem sie eben nicht alle Optionen gegeneinander abgewogen hätten. Für was für Idioten, überlegte deswegen auch Kevin, halten die uns eigentlich? Er war gerade dabei, einen besonders dreisten Fragebogen auszufüllen.

»Die spinnen!«, knurrte er laut und schreckte Sonni auf, der gerade mit Lineal, Geodreieck und Bleistift eine Unfallskizze anfertigte.

»Wer spinnt?«, wollte Sonni von Kevin wissen.

»Die Typen, die sich diesen Fragebogen ausgedacht haben. Glauben die wirklich, dass wir ihnen die Munition frei Haus liefern, mit der sie uns dann abschießen können? Wenn du es drauf anlegst, wirst du immer irgendein Fehlverhalten aus den Berichten konstruieren können.«

»Ich weiß. Und wenn wir das Zeug nicht ausfüllen, machen wir uns ebenfalls verdächtig.«

»Apropos Bericht: Was ist eigentlich aus dem USB-Stick geworden? Hat Scotty schon etwas rausbekommen?«

»Gute Frage. Kriegen wir es raus!«

Die große Wanduhr des Büros zeigte elf Uhr dreißig, eine gute Zeit, um den Kollegen Anker noch rechtzeitig zu erwischen. Die übliche Zeit, zu der die Kollegen am LKA in die Betriebskantine zum Mittagstisch pilgerten, lag zwischen halb eins und eins. Freitags gingen sie tendenziell etwas früher, da an diesem Tag bereits um zwei Uhr nachmittags der Feierabend eingeläutet wurde. Entsprechend zuversichtlich wählte Sonni die behördeninterne Nummer der Abteilung für Computerforensik und harrte der Stimme des IT-Experten.

»Lundkvist hier. Hallo Kollege Hauswald, ist Scotty... Was?«

Das Fragewort wurde von Sonni derart schrill bis psychotisch artikuliert, dass Kevin erschrocken zu seinem Kollegen aufblickte. Als diesem dann auch noch das hautnahe Blut aus den Kapillaren wich und er kreidebleich wurde, ahnte der Kriminalkommissar zur Ausbildung, dass das Telefongespräch nicht den erwarteten Verlauf nahm.

»Wann ist das passiert?«, hörte Kevin Sonni ängstlich und besorgt fragen. Leider hatte sein Kollege nicht die Lauthörfunktion des Telefonapparats aktiviert, weswegen nur eine Hälfte des Dialogs mit dem kriminaltechnischen Assistenten Hauswald zur Interpretation zur Verfügung stand. Kevin schätzte zwar weder Unwissenheit noch Spekulationen, doch was blieb ihm übrig? Passiert, das hieß, es musste etwas Unerwartetes vorgefallen sein. Und kreidebleich hieß, dass es nichts erfreuliches sein konnte.

»Wie geht es... Oh, ich verstehe... Nein, das heißt... Ja, ja, die habe ich noch, aber das ist jetzt unwichtig. Viel wichtiger ist, dass Scotty wieder... Wie...? Ja, auf jeden Fall! Danke Kollege.«

»Was ist passiert?«, rief Kevin besorgt, noch bevor der Hörer des Telefons auf der Gabel lag.

Statt sofort zu antworten, brauchte Sonni einen Moment, um sich zu sammeln. Blass und deutlich aufgewühlt schaute er Kevin mehrere Sekunden lang an, nickte dann müde mit dem Kopf und holte tief Luft.

»Scotty hatte gestern Abend einen schweren Unfall. Er wurde mit seinem Fahrrad von einem Auto angefahren. Fast vor dem LKA, direkt an der Kreuzung am Platz der Luftbrücke, ist er mit seinem Rad unter ein Auto gekommen.«

»Scheiße!« Kevins Gesichtsfarbe glich sich Sonnis an. »Ist er...?«

»Nein, er ist nicht... Er hat verdammtes Glück gehabt und lebt. Hauswald, Scottys Assistent, meint sogar, dass er wohl mehr Glück als Verstand hatte. Sein Kollege hat alles mit angesehen. Scotty hatte ihn auf seinem Fahrrad noch bis zum U-Bahnhof begleitet. Unmittelbar nachdem sich die beiden voneinander verabschiedet hatten und Scotty losradelte, ist es geschehen. Hauswald meint, dass er einfach nicht kapiert, wie das überhaupt passieren konnte. Scotty muss vollkommen blind gewesen sein, das Auto, das ihn dann anfuhr, nicht gesehen zu haben. Er ist ihm direkt vor die Räder gefahren. Am Ende hatte er wohl mehr Glück als Verstand, dass der PKW-Fahrer sehr langsam fuhr und sofort in die Eisen ging. Ohne diesen blöden Fahrradhelm wäre es aber verdammt eng geworden. Das Ding hat Scotty das Leben gerettet. Er liegt jetzt im AVK auf der Intensiv im künstlichen Koma. Sein Zustand soll aber nicht mehr kritisch sein.«

Noch Während Sonni Kevin das Gespräch mit Hendrik Hauswald mit seinen eigenen Worten schilderte, machte es in seinem Hirn Klick. Er wusste jetzt, wann sich sein Amulett entladen hatte. Genaugenommen hegte er einen deutlichen Verdacht. Sonni sah sich zwar nicht als ausgemachten Computerexperten, aber dann doch soweit in der Technik bewandert, um zu wissen, dass Abstürze dieser Kisten im Allgemeinen nicht mit elektrischen Entladungen einhergingen. Da war etwas oberfaul. Ob es wohl möglich war, einen Fluch in eine Bilddatei einzubetten? Es sah ganz danach aus, als wenn heute noch ein Besuch bei Tim anstand, dem Teufel, Lederschneider und Fachhändler für Lustbekleidung.

»Was überlegst du?«, meldete sich Kevin, dem Sonnis tagträumerischer Blick nicht entgangen war.

»Wenn ich das so genau wüsste.«, seufzte Sonni, der ahnte, dass langsam der unvermeidliche Zeitpunkt gekommen war, seinem Kollegen reinen Wein einzuschenken. Er hatte es verdient, insbesondere bei dem massiven Vertrauen, das Kevin ihm bisher entgegengebracht hatte. Sonni quälte deswegen auch nicht die Frage, ob, sondern wie er die reale Welt von Engeln, Teufeln und Dämonen erklären sollte. Durfte er es überhaupt? Und wenn ja, würde ihm Kevin überhaupt Glauben schenken? Vielleicht war es an der Zeit, dass ihm Tim ein wenig entgegenkam und unter die Arme griff.

»Sag mal, hast du heute Abend schon etwas vor?«, fragte Sonni, der eine Entscheidung getroffen hatte. »Ich würde dich gerne jemandem vorstellen.«

»Ähm...«, kam es verlegen von Kevin, dessen Gesichtsausdruck die Frage umfassend beantwortete. Der Mann hatte etwas vor. »Das ist mir jetzt ein wenig peinlich, aber ich bin mit Gabe verabredet. Ich weiß nicht, was der Junge vorhat, aber es scheint ihm ziemlich wichtig zu sein. Oh Mann, Sonni, ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas über einen Mann sage, aber Gabe ist einfach nur fantastisch. Ich wusste nicht, dass ein Mann – ach, was sag ich? – ein Mensch, dermaßen zärtlich sein kann. Du bist mir nicht böse, oder?«

»Quatsch! Ich freu mich für dich. Du wirkst, nach all dem Scheiß, der mit deiner Ex und unserem Fall passiert ist, richtig glücklich.«

»Das bin ich auch.«

»Dann wünsch ich dir viel Spaß. Und wo wir gerade bei Spaß sind, wo steckt eigentlich unsere Kollegin vom BKA?«

Trotz oder gerade wegen des holprigen Starts hatten Kevin und Sonni POR Kornmüller – Die Dorothea – schätzen gelernt. Die Frau war bei aller gelegentlichen Schroffheit ein mit allen Wassern gewaschener Profi, wenn auch mit gewissen Ticks, wie Smartphones in Kaffeedosen zu sperren. Die Frau litt unter einem chronischen Verfolgungswahn. Wobei die Berliner Kollegen ihr zubilligen mussten, dass dieser nicht ganz aus der Luft gegriffen schien. Eigentlich sogar mehr als das, wie Sonni erschreckend bewusst wurde, als ihm einfiel, was sein Chef über diverse Informationslecks im LKA vertraulich enthüllt hatte.

»Stimmt, wo steckt Doro eigentlich?«, wunderte sich nun auch Kevin. Wie aufs Kommando schneite prompt die Polizeioberrätin ins Büro.

»Mahlzeit Kollegen!«, rief sie den beiden zu und ließ sich in einen freien Drehstuhl plumpsen. Dorothea war sichtlich gut gelaunt.

»Eure Wirtschaftsjungs und -mädels sind wirklich gut.«, verkündete die BKA-Beamtin. »Wir haben bis eben an der neuen Sonderkommission gebastelt. Die haben ordentlich was auf dem Kasten und stellen die richtigen Fragen. Die Leute sind heiß darauf, die Machenschaften Breitkopfs und seines Ladens aufzudecken und trockenzulegen. Ich hoffe nur, dass uns die Politik nicht dazwischen funkt. Ähm...«, druckste Dorothea herum.

»Ja?«, hakte Sonni schmunzelnd nach, der sich noch gut an den forschen bis barschen Auftritt bei ihrer ersten Begegnung erinnern konnte.

»Ich wollte euch doch eigentlich zum Abendessen einladen...« Dorothea war ihre Beichte hörbar unangenehm. »Wir hatten ja locker angedacht, das heute Abend zu machen, aber... ähm...«, fuhr Dorothea fort, ließ den Satz aber unbeendet.

»Du musst uns vertrösten.«, brachte es Kevin auf den Punkt, wechselte einen Blick mit Sonni, grinste schief, aber auch ähnlich verlegen wie Dorothea und meinte dann: »Es braucht dir nicht unangenehm zu sein. Wir sind nicht besser...«

»Wie jetzt? Ihr?«, fragte POR Kornmüller und wechselte mit ihrem Zeigefinger zwischen Kevin und Sonni hin und her.

»Sonni fragte mich eben, ob ich heute Abend schon etwas vorhätte. Also, kein Grund für ein schlechtes Gewissen. Außerdem hatten wir noch nicht fest gemacht.«

»Dann machen wir es jetzt fest!«, schlug Dorothea vor. »Was haltet ihr von nächstem Donnerstag?«

Die zwei Polizisten fanden den Vorschlag gut und stimmten zu.

»Fein!«, jubelte die Kollegin und sprang von ihrem Stuhl auf. »Sorry Jungs, aber ich muss weiter. Halten wir uns gegenseitig auf dem Laufenden?«

»Aber Dorothea« Sonni schmunzelte, »Du weißt doch, dass die Ermittlungen offiziell eingestellt wurden.«

»Ach ja, richtig.«, schmunzelte Dorothea zurück, »Dann wünsche ich viel Erfolg bei euren abgeschlossenen Ermittlungen. Wir sehen uns. Spätesten Donnerstag.«

Fetisch Shopping

Zwei Stunden später, gegen halb vier Uhr nachmittags, packten Sonni und Kevin ihre Sachen zusammen und verabschiedeten sich ins Wochenende. Bevor der Kriminalkommissar den Weg in Richtung seiner Wohnung einschlug, sah er seinem jungen Kollegen nach. Kevin hatte sich verändert. Er wirkte ausgeglichener, entspannter und vor allem glücklicher. Gabe schien ihm wirklich gut zu tun. Hoffentlich, so überlegte Sonni, beging er keinen Fehler, den er später bereute. Hatte Kevin durch Gabe entdeckt, dass er etwas für Männer empfand oder kompensierte er nur das Scheitern seiner Beziehung? Er mochte Kevin. Objektiv betrachtet war er zwar nur ein Kollege, aber subjektiv lag ihm sein Wohlergehen durchaus am Herzen, obwohl ihm natürlich bewusst war, dass Kevin volljährig und er nicht sein Aufpasser war.

Eigentlich hatte Sonni beabsichtigt, direkt zu Tim zu gehen, entschied sich dann aber doch für einen Zwischenstopp in seiner Wohnung. Irgendwie stand ihm der Sinn nach einer ausgiebigen, heißen Dusche. Außerdem wollte er die Lederhose loswerden, die er nun schon seit dem vorigen Morgen mit kleinen Unterbrechungen mehr oder weniger dauerhaft trug. Bei aller geilen Erotik, die Tims Meisterwerk versprühte, irgendwann reichte es. Zumal mit dem Tod des Guhls die Notwendigkeit nicht mehr bestand, das Teil tragen zu müssen und mit dem Motorrad wollte er auch nicht mehr fahren. Das Stückchen von Sonnis Wohnung bis zu Tim Teufels Wohn- und Arbeitsstätte war in weniger als einer Viertelstunde bequem zu Fuß absolviert und es somit völliger Unsinn, dafür das Motorrad besteigen zu wollen.

Statt Leder musste deswegen Denim für einen attraktiven Auftritt sorgen. Nach Dusche, gründlicher Nassrasur und der Qual der Wahl zwischen vier verschiedenen After Shaves entscheiden zu müssen, begann Sonni eine Kollektion möglicher Outfits aus dem Kleiderschrank zu ziehen und auf seinem Bett auszubreiten. Mit der wortlos an sich selbst gestellten Frage »Wieso brezelst du dich eigentlich so auf?« griff der Kommissar zum klassischen Ensemble aus weißen Retropants, schwarzen Jeans, weißem Muskel-Shirt als Unterhemd und einem moderat farbigen Flanellhemd, das gut mit den Lederarmbändern harmonisierte. Ohne Lederhose und mit entladenem Amulett blieb ihm nichts anderes übrig, als die Dinger anzulegen. Ob sie nötig waren, wollte Sonni nicht entscheiden. Der Guhl mochte zwar tot sein, aber nach der Sache mit Scotty war es vermutlich nicht verkehrt, auf Nummer sicher zu gehen. Wer sich mit übernatürlichen Wesen anlegte, musste auf alles gefasst und vorbereitet sein.

Der restliche Aufbrezelei verlief schnell und unprätentiös. Bereits wenige Minuten später schloss Sonni seine Wohnung ab und ließ die Schlüssel in die Außentasche seiner Lederjacke gleiten. Ein bisschen Kerligkeit sollte dann doch sein.

Im Kiez rund um den Winterfeldtplatz war wie immer wieder der Teufel los. Freitagabends erstürmte das feierwillige Volk die unzähligen Kaffees, um sich vor Einnahme einer Mahlzeit in den ebenfalls unzähligen Restaurants den einen oder anderen Aperitif zu gönnen. Sonni stellte amüsiert fest, dass der Campari Spritz als In-Getränke des letzten Jahres vom Hype des Hugos als abendliches Einstiegsalkoholika abgelöst worden war. Der Hugo, das sei der angesagte Aperitif hieß es. Sonni musste innerlich lachen. Die durchaus erfrischende und leckere Mischung aus Prosecco, Holundersirup, Minze, Mineralwasser und Eiswürfeln, war ein in Südtirol weit verbreitetes Getränk, das er dort schon vor einigen Jahren, während eines an sich coolen Motorradurlaubs genossen hatte. Weniger cool war die anschließende Trennung von dem Typen, den er bis dahin als Freund betrachtet hatte. Dieser konnten den Reißverschluss seiner Lederkombi einfach nicht zu lassen und musste sich unbedingt mit einem anderen Biker auf dem Klo einer Autobahnraststätte während der Rückreise amüsieren. Als er ihn in flagranti dabei ertappte, wie er sich genüsslich über den Schwanz des anderen Kerls hermachte, den dieser locker aus dem Stall seiner Kombi hängen ließ, wusste Sonni, dass es eine lange und sehr einsame Heimfahrt werden würde.

»Sonni, es ist nicht das, wonach es aussieht.«, rief der Typ noch Sonni hinterher, der schüttelte nur den Kopf und dachte sich, dass es peinlicher eigentlich nicht mehr ging.

Mit diesem Mix aus sowohl netten als auch weniger prickelnden Erinnerungen erreichte Kommissar Sonni Lundkvist den Fachhandel für Lustbekleidung des Tim Teufel. Im ersten Moment zeigte er sich überrascht, kurz vor acht Uhr abends den Durch- und Eingangsbereich des Geschäfts noch hell erleuchtet vorzufinden, bis sein Blick auf das Firmenschild des Klamotten- und Sex-Toy-Ladens fiel und ihm die Öffnungszeiten in Erinnerung brachte. Das Geschäft hatte noch gut zwei Stunden geöffnet. Am Äußeren des Ladens ließ sich dies bestenfalls daran erkennen, dass ein zwar einsamer aber eben eingeschalteter Scheinwerfer das schlichte Firmenschild ausleuchtete und diverse Deckenlampen die Durchfahrt zum Hof erhellten. Die weiß lackierte, metallene Eingangstür ließ dagegen keinerlei Rückschlüsse auf aktuell stattfindende Geschäftstätigkeit zu. Ein kurzer Blick ins Innere des Gewerbehofs erlaubte immerhin den möglichen Schluss, dass das Gebäude nicht vollkommen verwaist war. Einige der in den Hof blickenden Fenster waren erleuchtet, ließen darüber hinaus aber wenig erkennen. Entweder ließ Sonnis Standort und der sich daraus ergebene steile Blickwinkel nur eine Sicht auf die hohen Decken der Lofts zu, oder die Fenster waren, wie im Erdgeschoss, aus undurchsichtigem Milchglas.

Eigentlich war Sonni sowieso egal, ob der Laden nun geöffnet hatte oder bereits geschlossen war. Er wollte zu Tim, um einerseits sein Amulett wieder aufzuladen und andererseits ein wenig mit dem Teufel zu plaudern. Genug zu besprechen gab es ja. Spätestens mit dem Tod Kowalskis, dem Guhl, war ein Teil seiner Aufgabe erledigt und ihm Tim im Gegenzug ein paar Antworten schuldig. Mit diesem Gedanken griff Sonni nach der Türklinke und stieß die schwere Stahltür auf.


»Okay, ich nehm das Teil.«

»Cool! Der ist sein Geld aber auch wirklich wert. Die haben absolut bruchsicheres und hygienisches Material verwendet. Brauchst du sonst noch was? Peitsche, Fesseln oder einfach nur Gleitgel?«

»Nee, nur den Schwanzkäfig.«

»Kein Problem. Das macht dann 139,90 Euro. Zwei passende kleine Schlösser und drei Schlüssel sind mit drin. Du und dein Freund werden an dem Teil viel Freude haben.«

»Ich hoffe doch inständig, dass mein Männe an dem Teil keine Freude hat.«

»Auch wieder wahr.«

Freitagabend und der Laden brummte. Während bei Sonnis erstem Besuch gähnende Leere herrschte und auch beim zweiten nur drei Kunden den Laden bevölkerten, war die Bude an diesem Freitagabend gerammelt voll. Allein im Hauptverkaufsraum tummelten sich gut und gerne elf Kunden, fünf Verkäufer und Andi, der wortkarge Verkäuferschlingel mit dem Erscheinungsbild einer Mischung aus Emo-Boy, Bobtail und Stricher. Eben gerade hatte einer der Fachberater für Lustbekleidung einem Typen einen Peniskäfig verkauft. Der Kunde konnte es an Bieder- und Spießigkeit locker mit jedem Kreissparkassendirektor aufnehmen. Szenetypische Kleidung? Fehlanzeige! Szenetypisches Räuberzivil, sprich Sport- und Freizeit-Ware? Ebenfalls nicht. Der Mann trug keine Lederjacke, sondern einen No-Name Windbreaker, keine kerlige Leder- oder Cargohose, sondern stinknormale Dockers. Er trug auch keine Stiefel oder Sneakers, sondern Timberland Classic Boat. Der Typ wirkte wie ein lieber, harmloser Familienpapi, aber kaufte ein Sextoy für seinen Freund, mit dem er über dessen Schwanz, oder konkreter dessen Nutzung bestimmen konnte. Der Einband sagt eben doch nichts über das Buch aus.

Nachdem Mr. Mega-Normalo sehr breit und hinterhältig grinsend mit einer kleinen Papiertüte das Fachgeschäft für Lustbekleidung verlassen hatte, wandte sich der Verkaufsmensch an Sonni. Im Gegensatz zum Kunden war dieser ein echter Kerl und entsprach in seiner Aufmachung schon eher der Erwartung, die gemeinhin an SM- und Fetischfans gestellt wurde. Mit Lederarmbändern an den Handgelenken, einem Logo-T-Shirt des Fachhandels für Lustbekleidung, dessen Nähte durch die netten Muskelpäckchen seines Trägers bis an ihre Belastungsgrenze geführt wurden, einer ebenso schwarzen wie kerligen und ledernen Cargo-Hose und fetten Boots, war der Mann die beste Werbung, die Tim Teufel für seinen Laden auffahren konnte, und um seine Kleidungsstücke sprichwörtlich an den Mann zu bringen. Ein Blick in die Runde bestätigte Sonnis Vermutung, dass das Verkaufspersonal auch gleichzeitig die Funktion wandelnder Anschauungsstücke wahrnahm. Allen gemein war das Logo des Fachhandels für Lustbekleidung, das jeder Verkäufer in irgendeiner Weise auf dem Körper trug. Die Mehrheit hatte den naheliegenden und praktischen Weg gewählt und eines der Logo-T-Shirts übergezogen, bei denen Sonni beim zweiten Hinschauen erkannte, dass der Logoaufdruck in klassischen Hankey-Code-Farben zur Signalisierung der präferierten sexuellen Praktik gefertigt war. Zusätzlich zu den Farben trugen die Shirts noch so schöne Begriffe wie »Top, Bottom, Pitcher, Catcher, Bad Boy, Pig« oder einfach nur ganz straight »Master«. Die Farben deckten das übliche Grundspektrum ab, vom harmlosen Dunkel- und Hellblau für Anal- und Oralverkehr, über Rot für die Freude des Faustkampfs, bis hin zu Grau, Schwarz und Gelb, was bekannterweise für Bondage, SM und Liebhaber des Wassersports stand. Wem die Farbcodes nicht geläufig waren, brauchte eigentlich nur auf die vom jeweiligen Verkäufer getragene Kleidung und Accessoires zu achten. Deutlicher als die Aufschrift »Wide Receiver« in leuchtendem Dunkelblau und einem Reißverschluss direkt zwischen den knackigen Halbkugeln seiner Gesäßfläche präsentierten sich eigentlich nur die Jungs mit der grauen und schwarzen Farbe. Der Bondagefan hatte sich mit »Bottom« beschriftet und trug Hals- und Armbänder aus Leder mit D-Ringen, die wohl zum festketten dienten, während der Typ mit schwarzer »Master« Aufschrift schlicht Handschellen und eine Peitsche am Gürtel seiner Lederhose trug. Am eindeutigsten trat allerdings das »Pig« auf, das seine leuchtend gelbe Schrift auf einem Ganzanzug aus glänzendem, schwarzem Latex trug. Die Trichtermaske, die vom Gummiharness, der Brust, Rücken und Hüften zierte, baumelte, ließ dann auch keine weiterführenden Fragen offen. Der Grund für die sehr plakative Aufmachung der Verkäufer war natürlich klar. Ein Kunde wusste sofort, an wen er sich wenden musste, um einen Experten für seine persönlichen Vorlieben zu erhalten.

Sonnis direktes Gegenüber war in hellgrau beschriftet und wies mit dem Wort »Bottom« darauf hin, dass es sich bei ihm um den designierten Ansprechpartner für alle Fragen des Bondage handelte. Dass er dabei als passiver Spielpartner auftrat, war grundsätzlich plausibel. Wer hätte dem mutmaßlich dominanten Kreissparkassendirektor besser den richtigen Schwanzkäfig für seinen submissiven Freud empfehlen können, als jemand, der aus eigener Praxis wusste, wie sich so ein Ding anfühlte? Soweit Sonni erkennen konnte, stach eigentlich nur ein Typ aus der Verkäuferschar hervor: Andi, das hagere Emo-Bobtail-Stricher-Jüngelchen hinter dem Verkaufstresen an der Kasse. So unterschiedlich sich die einzelnen Mitglieder der Verkäufertruppe auch präsentierten, wirkten sie in ihrer Gesamtheit ziemlich uniform. Andi indes wirkte wirklich anders, weswegen sich Sonni fragte, ob er sich vielleicht auch auf eine andere Weise von seinen Kollegen unterschied.

Er war anders, wie ein Umschalten auf außersinnliche Wahrnehmung sofort bestätigte. Bis auf ihn waren sowohl die Verkäufer als auch die Kunden ganz normale Menschen. Das Jüngelchen hinter der Theke war es nicht. Andi war ein Vampir, der Sonnis Blick bemerkte, ihm diabolisch zublinzelte und sich anzüglich über die Fangzähne leckte. So langsam verstand Sonni, warum Tim meinte, dass er sich hundertprozentig auf Andi verlassen konnte und er sicherstellte, dass nichts aus dem Laden gemopst wurde.

»Und«, sprach ihn das submissive Bondage-Grau-Hemd an, »Was kann ich dir Gutes antun?«

Eins musste Sonni Tim lassen, er wusste, wie er seine Klamotten an den Mann brachte. Der Kerl vor ihm war wirklich attraktiv, wusste genau, wie er mit der Kundschaft flirten musste und zögerte auch keine Sekunde, seine Opfer direkt in ein Verkaufsgespräch zu verwickeln, was er damit einleitete, einen kleinen Schritt zurückzutreten, Sonni mit einer eben gerade noch nicht übertriebenen Geste aufmerksam zu mustern und mit einem vielsagenden »Hm!« den Verkaufsangriff zu starten.

»Leg mal deine Jacke ab!«, forderte er Sonni auf, wartete aber nicht ab, ob seiner Aufforderung nachgekommen wurde. Der Mann war ein Verkaufsprofi und half seinem überrumpelten Opfer direkt aus dem Kleidungsstück. Kaum hatte diese Sonnis Schultern verlassen, hüllte ihn bereits eine andere Lederjacke ein, die sich einfach nur geil anfühlte. Sonni wusste von seiner Lederhose, dass Tim nicht nur sein Handwerk verstand, sondern ein wirklicher Meister seines Fachs war. Die Lederjacke, die ihm der Verkäuferkerl übergezogen hatte sah nicht nur verdammt geil aus, sondern war schlicht und einfach perfekt verarbeitet. Sie griff einerseits den Stil moderner Motorrad-Racing-Jacken auf, fügte aber auch ein paar geniale Bondageelemente hinzu, die aber nur dann auffielen, wenn ein Betrachter wusste, wonach er suchte.

»Und?«, wollte das Bondage-Verkäuferkerlchen wissen.

»Geil! Absolut geil.«

»Das Teil kannst du überall tragen.«, meinte sein Gegenüber. »Im Job ist es einfach nur eine geile Lederjacke und nachts im Club kannst du mit den versteckten Zusätzen viel Spaß haben.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Sonni schmunzelnd, was der Verkäufer als ernsthaftes Interesse an beweglichkeitseinschränkenden Kleidungsstücken interpretierte. Der Mann war eben Bondagefan.

»Hm, was meinst du, hast du Lust, mal was wirklich Gewagtes zu probieren?«

»Ähm, eigentlich wollte ich...«, versuchte Sonni den Enthusiasmus seines Fachhändlers zu bremsen, was aber ebenso vergebens war, wie der Versuch eine Raubkatze in einen Vegetarier zu verwandeln. Sonni musste neidlos anerkennen, dass der Typ genau wusste, wie er seine Produkte an den Mann bringen konnte. Damit die Kunden nicht die Flucht ergriffen sorgte er dafür, dass sie die Ware weiter trugen, während er die Kundenklamotten, wie in diesem Fall Sonnis Lederjacke, sicher beiseitelegte und losmarschierte, um sein nächstes Angebot zu holen. Dabei achtete er ganz genau darauf, dass er seinen Kunden nie aus dem Auge verlor, damit dieser nicht seine Sachen packte und den Laden ohne etwas zu kaufen verließ.

Was der Kerl schließlich anschleppte, ließ Sonni schlucken. Hielt er dem Kriminalpolizisten doch tatsächlich einen Berg aus Leder, der ausgebreitet eine ausgewachsene Luxuszwangsjacke bildete, vor die Nase. Wie kam der Mann darauf, dass sich Sonni für solch fesselnde Kleidungsstücke interessieren könnte, zumal dieser selbst nicht wusste, ob ihm so etwas überhaupt gefiel? Eine leichte Erregung in der Lendengegend war durchaus vorhanden, was aber auch am Verkäuferkerl oder insgesamt an der sexuell aufgeladenen Atmosphäre im Laden liegen konnte. An der lag es dann wohl auch, dass sich Sonni ohne Gegenwehr die Lederjacke abnehmen ließ und freiwillig mit seinen Armen in die Zwangsjacke schlüpfte. Der Verkäufer, der auf den Namen Tom hörte, hängte Sonni die Jacke anfangs nur leicht über und ließ ihm Zeit, sich an das Tragegefühl zu gewöhnen. Immerhin wurden derartige Kleidungsstücke auf der Rückseite geschlossen. Das Ding war richtig schwer. Mehrere Kilo kühlen, weichen und kernig duftenden Leders ruhten auf Sonnis Schultern, der erstaunt feststellte, dass aus der leichten Erektion eine veritable geworden war. Das Teil machte ihn definitiv heiß.

»Wollen wir das gute Stück schließen?«, fragte Tom in wenig subtil sondern deutlich bezirzendem Ton. Natürlich war die Frage weniger als Frage sondern als Hinweis darauf gemeint, was als nächstes geschah. Tom umrundete Sonni, fädelte den Reißverschluss auf der Rückseite ein und schloss die Zwangsjacke.

»Noch ein wenig locker. Da ist noch kein Zwang in der Jacke.«, meinte der Verkäufer süffisant und begann die unzähligen Schnallen zu schließen, die ebenfalls auf der Rückseite angebracht dazu dienten, die Jacke an die Größe und Statur des Trägers anpassen zu können. Langsam wurde es eng, geil eng. Sonni fühlte, wie sich das Leder gleichzeitig dicht aber auch erregend an seinen Körper schmiegte und ihn unerbittlich einschloss.

»Die Gurte hier unten gehen durch den Schritt und sichern die Jacke dagegen, über den Kopf abgestreift zu werden.«, erläuterte Tom und führte sie genau dort hindurch, wo sie hindurchgeführt werden sollten. Bei der Zwangsjacke handelte es sich natürlich nicht um ein echtes medizintherapeutisches Produkt, wie es unter anderem für die Ruhigstellung von Patienten mit Selbstverletzungstendenzen verwendet wurde. Diese Jacke war ganz klar ein Sextoy und wollte auch nichts anderes sein. Dies bedeutete insbesondere, dass sie über diverse Sonderausstattungen verfügte, etwa ein integriertes Halsband oder diverse D-Ringe zur Fixierung des genießenden Bottoms.

»Bereit für das Finale?«

Wieso machte Sonni die Jacke dermaßen an? Er konnte es kaum fassen, aber die Enge, das Wissen, die Jacke selbst nicht mehr ausziehen zu können und auf Toms Wohlwollen angewiesen zu sein, erregte Sonni. Seine Erektion hatte schmerzhafte Ausmaße angenommen, dabei waren seine Arme bisher noch frei und nicht in der für Zwangsjacken klassischen Weise vor dem Körper verschränkt und fest verschnürt. Doch dies sollte sich nun ändern. Mit einem wissenden Grinsen auf den Lippen zog Tom die Gurte der Ärmel hinter Sonnis Rücken zusammen, fädelte deren Laschen in die dazugehörigen Schnallen und zog sie stramm.

»Geil was?«

Statt direkt zu antworten konnte Sonni nur grunzen. Tom hatte Recht. Es war absolut geil und Sonni hatte nicht den blassesten Schimmer, warum dem so war. Er stellte sich vor, dass ihm Felix diese Jacke anlegte und er sich seinem Freund wehrlos hingab. Es ging bei der Zwangsjacke, das Begriff Sonni plötzlich, nicht um Dominanz, sondern um Vertrauen. Sonni malte sich aus, sich Felix vollkommen ergeben zu können, sich fallen zu lassen und die Kontrolle abzugeben. Der Gedanke war sehr erregend, aber nicht ausschließlich. Da war mehr, das über pure Geilheit hinausging.

»Oh, oh!«, meldete sich Tom zu Wort. »Diesen Blick kenne ich. Mir war gleich klar, dass du der Richtige für dieses Meisterwerk bist.«

»Ähm...«, stammelte Sonni, dem der eigentliche Grund seines Besuchs komplett entfallen war.

»Hey, keine falsche Scham!«, meinte Tom. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich habe mir von Tim auch so eine Jacke anfertigen lassen. Wenn mein Mann sie mir anlegt, ist das immer wieder ein sehr intimer und befreiender Moment. Du verstehst genau, was ich meine, oder?«

»Hmmm...«

Sonni wusste gar nicht, wie ihm widerfuhr. Wie schaffte das dieser Kerl nur? Er kannte Sonni doch gar nicht. Trotzdem schien er dessen heimliche Begierden und Bedürfnisse besser zu kennen, als Sonni selbst. Bisher wäre der nie auf die Idee gekommen, dass ihn Bondage in irgendeiner Weise anmachen könnte. Er musste an Leder-Meister Mike denken und an dessen erfolglose Versuche, Sonni für sich zu gewinnen. Mikes Avancen hatten ihn immer kalt gelassen. Und nun eröffnete ihm eine blöde Zwangsjacke neue erotische Horizonte. Was war anders?

Verkaufsprofi

»Komm mit! Ich will dir etwas zeigen.«

Und wieder hatte Sonni das Gefühl, keine Wahl zu haben. Dabei hatte er nicht den Eindruck, dass Tom irgendwelche magischen Tricks, etwa Beschwörungen einsetzte. Wer mit Teufeln, Dämonen und Engeln umging, wurde in dieser Hinsicht vorsichtig. Der Typ schien einfach nur ein sehr, sehr guter Verkäufer zu sein, der einfach sein stärkstes Pfund in die Waagschale legte: Seine Überzeugung. Sonnis noch nicht ganz betäubte kriminalistische Sinne sagten ihm, dass Tom voll und ganz hinter seinen Produkten stand. Der Mann war ein Überzeugungstäter. Er war eben kein Gebrauchtwagenverkäufer, der einem ahnungslosen Jüngelchen als dessen erstes Auto einen schrottreifen Unfallwagen als ultimativen Megadeal aufschwatzte. Und so trottete Sonni, gut verpackt in einer Zwangsjacke und mit schmerzhafter, aber geiler Erektion in der Hose hinter Tom her. Der marschierte quer durch den Laden, an Andi, dem vampirischen Verkäuferschlingel vorbei, der sich tatsächlich eine Pause von seiner sonst immer etwas mürrischen Miene gönnte und Sonni mit einem kurzen, hinterhältigen aber auch amüsierten Grinsen bedachte.

»So, da wären wir.«, verkündete Tom, nachdem die beiden Männer in einem der speziellen themenorientierten Verkaufsräume angekommen waren. Dieser Raum hätte ganz unter der Überschrift »Alles was das Bondageherz begehrt.« gestanden, hätte jemand über dem Eingang ein entsprechendes Schild angebracht. Das Angebot reichte von weiteren Zwangsjacken aus Leder, Lycra und Latex über Fesselsäcken und -anzügen aus den gleichen Materialien bis hin zu Käfigen, Vakuumbetten und Bondagestühlen, die eindeutig den talentierten Händen eines anderen Tom nämlich Tom Bergers von Adult Constructions entstammten.

»Und, wie fühlt sich das Teil an?«, fragte der diesige Tom und fügte hinzu, »Ehrliche Antwort!«

»Ich weiß nicht...«, gestand Sonni von seinen Gefühlen verunsichert. »Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass mich das Teil nicht anmacht. Sie ist total geil.«

»Hast du jemanden?«, wollte Tom wissen. »Versteh mich nicht falsch. Ich will dich nicht anmachen. Ich frage nur, weil man so ein Teil zu zweit genießen sollte.«

»Es gibt da jemand, aber...« Sonni zuckte mit den Schultern.

»Lass mich raten. Bondage ist Neuland für dich und du weißt nicht, wie dein Freund reagiert. Kann ich verstehen.« Tom schien zu überlegen. Der Kerl war wirklich ein begnadeter Verkäufer. Er schien genau zu wissen, welche Knöpfe er bei Sonni drücken musste, um dessen Einwände gegen die Jacke auszuräumen, und das noch bevor dieser diese für sich selbst formuliert hatte. Womit Tom natürlich komplett hinterm Berg hielt, war der Preis. Zu dem fiel nicht das geringste Wort. Dabei war jedem klar, dass so ein Berg Leder mit dermaßen aufwendiger Verarbeitung einen ordentlichen Batzen Euronen kosten würde. Sonni vermutete sogar, dass der Preis im direkten Verhältnis zu Toms Bemühungen stand, ihm einzuheizen und das Teil aufzuschwatzen. Das eigentlich Unheimliche daran war, dass Toms Bemühungen tatsächlich fruchteten. Sonni war drauf und dran, diese Zwangsjacke haben zu wollen.

»Ich habe noch etwas für dich.«, verkündete Tom mit einem verschwörerischen Funkeln in den Augen. Ein provozierendes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich will dich zwar nicht überfordern, aber...«

»Was?«

»Der letzte Kick.«, flüsterte Tom Sonni ins Ohr und hielt ihm ein Sammelsurium aus Ledergurten und -stücken vor die Nase. Sonni brauchte eine Weile, um zu erkennen, was es war.

»Ein Kopfharness?«, fragte Sonni nervös.

»Nicht irgendeiner, sondern ebenfalls eines von Tims Meisterwerken. Ich weiß nicht, wo er diese Häute immer auftreibt. Sie sind gleichzeitig weich, anschmiegsam, aber auch unheimlich zäh und widerstandsfähig. Aber weißt du, warum es so geil ist, so etwas angelegt zu bekommen? Es ist doch eigentlich absurd, sich freiwillig mit einer Zwangsjacke fesseln zu lassen oder Ledergurte über den Kopf gespannt zu bekommen, die einen zum Schweigen verdonnern?« Tom war unheimlich. Seine Stimme, seine Wortwahl und seine gesamte Gestik hatte etwas beschwörendes und einlullendes, das Sonni fast in Trance versetzte. Dazu kam die berufsbedingte Unbefangenheit was Sextoys und Fetischklamotten betraf und eine glaubwürdige Ehrlichkeit. Der Mann schämte sich nicht, dass er sich gerne Fesseln ließ.

»Nein«, hauchte Sonni, der sich dem Einfluss Toms einfach nicht entziehen konnte.

»Weil es um absolutes Vertrauen geht.«, flüsterte Tom. »Du gibst dich deinem Freund hin, einfach so und ohne Netz und doppelten Boden. Das hier«, Tom packte Sonnis Zwangsjacke und zerrte dran, »das ist absolut ehrlich. Es ist ein Kopftrip für dich und deinen Freund. Was du an Kontrolle an ihn abgibst, muss er an Verantwortung übernehmen. Es zeigt euch gegenseitig, wie sehr ihr euch liebt. Komm, lass mich dir den Harness anlegen.«

»Okay« Was redete er da? Sonni war von sich entsetzt. Wieso stimmte er einem wildfremden Mann zu, sich mit einem Kopfharness knebeln zu lassen? Das war doch Wahnsinn? Schon. Aber gleichzeitig war die Vorstellung irgendwie auch total erregend. Sonni sah sich einem Wirbelsturm unterschiedlichster und zum Teil widersprüchlichster Empfindungen ausgesetzt. Und genau diese Gegensätze waren der eigentliche Kick. Zum einen machten ihn die Bondageklamotten überraschend an, gleichzeitig erschreckten sie ihn. Für Sonni war diese Form der Erotik völlig neu und fremd. Aber oft genug war es eben diese Erkundung fremder Gefilde, die sich als besonders lohnenswert herausstellte.

»Fein!«, meinte Tom, breitete das Kopfgeschirr aus und begann es Sonni anzulegen. Kühles und duftendes Leder schmiegte sich an Sonnis Kinn und über seine Lippen. Kleine Gurte wurden gespannt und stramm gezogen, sodass es ihm nicht mehr möglich war, den Mund zu öffnen. Sonni wusste nicht, was er denken, fühlen oder wie er reagieren sollte. Diese gewollte Hilflosigkeit war überwältigend, Angst einflößend und geil zugleich.

»Und?«, wollte Tom wissen.

»Hmmmmmmmmmm...«, stöhnte Sonni, der anders nicht antworten konnte. Das heißt, seine Augen konnten schon. Ein Blick und Tom wusste, dass er seinen Kunden genau dort hatte, wo er ihn haben wollte. Er wusste, dass ihm Sonni in diesem Zustand einfach alles abgekauft hätte, was er ihm aufschwatzte. Aber genau darum ging es Tom eben nicht. Natürlich war er ein Verkäufer und brauchte seinen Umsatz, aber nicht um den Preis, seinen Kunden übers Ohr zu hauen. Selbstverständlich hätte er Sonni für zigtausend Euro Zeugs aufschwatzen können, die dieser auch brav gekauft hätte, aber spätestens am nächsten Morgen bereut und in den Landen zurückgebracht hätte. Er wäre sauer und würde auf eine Rückabwicklung des Kaufs bestehen. Nur eines würde er nicht machen: Gut über Tim Teufels Fachhandel für Lustbekleidung und seine Verkäufer sprechen. So ein Kunde käme kein zweites oder gar drittes Mal wieder. Doch Tom wollte langfristige Kundenbeziehungen. Er wollte Menschen, die Freude und Spaß an und mit den Dingen hatten, die er ihnen verkaufte. So war Tom auch absolut davon überzeugt, dass Sonni die Zwangsjacke sehr gut gebrauchen konnte.

»Ich habe da eine Idee. Was hältst Du davon, wenn ich meinen Chef hole. Die Jacke scheint dir zwar perfekt zu passen, aber manchmal muss man noch ein paar Änderungen vornehmen. Ich sag dir aus eigener Erfahrung, dass es total abtörnend ist, wenn irgendwo ne Naht drückt. Außerdem kann er dir bestimmt einen wirklich guten Paketpreis machen. Nein, ich habe eine noch bessere Idee. Wir leihen dir die Jacke aus. Du nimmst sie mit nach Hause und kannst sie in Ruhe mit deinem Freund ausprobieren. Damit umgehen wir das Risiko, dass du das Teil kaufst, dein Männe damit aber nichts zu tun haben will. Was hältst du davon? Ist das okay?«

Mit einem kurzen Nicken stimmte Sonni Toms Vorschlag zu.

»Nicht weglaufen!«

Aus den Augenwinkeln sah Sonni, wie Tom den Verkaufsraum verließ und in Richtung Tims Atelier davoneilte. Für einen Moment war Kommissar Lundkvist allein und schüttelte über sich selbst und die Situation, in die er sich gebracht hatte, den Kopf. Was wohl Kevin zu den Klamotten sagen würde? Und viel wichtiger: Wie wird Felix reagieren?

»Boa ey, ist das geil!«, rief ein Typ, der mit einem anderen am Eingang des kleinen Raums vorbeigeschlendert kam, bei Sonnis Anblick aber stehen geblieben war und nun in den Raum trat. »Ey, so was brauchen wir auch!«

Der Ey-Typ mit der Begeisterung für Sonnis Zwangsjacke durfte gerade mal knapp zwanzig gewesen sein. Sein Kumpel, mit dem er zusammen war, wirkte wenige Jahre älter. Sonni taxierte ihn auf sechs- oder siebenundzwanzig Jahre. Wesentlich größer als der Altersunterschied war ihr Auftreten. Während der junge Typ mehr so als Pseudoskaterkiddi daher kam und etwas beunruhigend hektisches hatte, wirkte sein Begleiter sowohl kleidungsmäßig als auch vom Temperament wesentlich zurückgenommener. So ging dieser direkt auf Sonni zu, suchte die Zwangsjacke ab, wurde fündig, das heißt, dass er nach dem Anhänger mit dem Preis griff, diesen studierte.

»Du hast ne Panne!«, meinte er schlicht und war mit dem Thema durch. Ohne weiteren Kommentar von sich zu geben, verließ er den Raum. Durch diese spröde Reaktion war nun Skaterkerlchens Neugier geweckt. Auch er griff nach dem Preisschild. Seine Augen wurden groß und glupschten aus ihren Höhlen. Ein einzelnes »Wow!« entwich dem Typen. Ebenfalls mit dem Thema durch, eilte er seinem Kumpel hinterher und ließ einen verdatterten Sonni allein zurück.

»Ey Typ, sieht aber geil aus!« Meldete sich plötzlich nochmals das Jüngelchen, der nochmals kurz seinen Kopf in den Raum streckte, seinen Spruch abließ und Sonni einen Daumen hoch zeigte. Dann war er wieder weg.

»Hmpf!«, knurrte Sonni in sein Kopfgeschirr und stellte dabei verwundert fest, dass das Warten auf Toms Chef seine Erregung in keiner Weise geschmälert hatte. Ganz im Gegenteil breitete sich in Sonni ein Gefühl wohliger Geborgenheit aus. Die Zwangsjacke hatte etwas von einem schützenden Panzer.

»So, Chef«, erklang Toms Stimme vom Durchgang herein. »Er heißt Sonni und hat gerade seine Vorliebe für Zwangsjacken entdeckt.«

»So, so, hat er das?«, erklang Tims sonores Organ, in dem ein unverhohlen amüsierter Unterton mitschwang. Als sich dann auch noch ein breites Grinsen auf den Lippen des Teufels ausbreitete, kaum dass er Sonni in dessen Zwangsjacke entdeckte, runzelte Tom die Stirn. Er ahnte, dass gerade mehr geschah, als er momentan erfassen konnte.

»Sonni, mein Freund, ich wusste gar nicht, dass du einen Faible für Bondage kultivierst.«, lachte der Teufel und klopfte dem Kommissar freundschaftlich mit seiner Pranke auf die in schwarzes Leder gehüllte Schulter, zog ihn zu sich heran und drückte ihn zur Begrüßung.

»Chef, du kennst ihn?«, rief Tom entsetzt.

»Oh ja. Tom, darf ich dir meinen guten Freund Sonni Lundkvist vorstellen?«

»Oh, shit!«

Tee mit Engel

Nein, Tom fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, überhaupt nicht wohl. Seine Unsicherheit wäre greifbar gewesen, hätten Sonnis Arme nicht in den gut verschnürten Ärmeln einer ledernen Zwangsjacke gesteckt. Wie sie da genau hineingekommen waren, war ihm nach wie vor ein Rätsel. Wie hatte es Tom nur fertiggebracht, fragte er sich, sich freiwillig von ihm in dieses Teil schnüren zu lassen? Immerhin war er Polizist, ein Bulle, der nie die Kontrolle verlor. Und dann kommt dieser zugegeben sehr kerlige, attraktive Verkäuferschlingel daher und wickelte ihn um den Finger. Selbst jetzt, mit Tim im Raum und der Katze aus dem Sack, dass Sonni eigentlich zu Toms Chef wollte, war die erotisch aufgeladene Atmosphäre nicht etwa verpufft, sondern nach wie vor quicklebendig. Sonni fühlte sich, so wie er war, durchaus wohl in seiner zweiten Haut, vielleicht abgesehen von seiner eingeschränkten Artikulationsfähigkeit.

»Ich glaube, Sonni möchte sich uns mitteilen können.«, überlegte Tim ironietropfend. Da Tom alles andere als auf den Kopf gefallen war, schaltete er sofort und begann, Sonni den Kopfharness abzunehmen.

»Du musst Tom seinen Enthusiasmus entschuldigen.«, wandte sich Tim zwischenzeitlich an Sonni. »Der Junge meint es ja nur gut.«

»Gut für seine Provision?«, stichelte der von physischen Sprachhemmungen befreite Sonni augenzwinkernd, was aber nur Tim sehen konnte.

»Hey! Ich hab dich zu nichts gezwungen.«, grummelte Tom, der die Bemerkung als ungerecht empfand, bis er Sonni breites Grinsen entdeckte.

»Nein, gezwungen nicht. Nur überrumpelt.«, erwiderte der Mann in der Zwangsjacke. »Was ist dein Trick? Ich hatte nicht den Eindruck, mich gegen deine Verkaufskünste wehren zu können. Ich wollte es auch gar nicht.«

Toms Reaktion war interessant. Statt Sonnis Frage zu beantworten, leitete er sie quasi weiter, indem er einen Hilfe suchenden Blick an Tim richtete. Der schmunzelte und musterte Tom eine Weile. Er ließ ihn richtiggehend zappeln, bis nach endlosen Sekunden aus dem Mustern ein fast gütiges Nicken wurde.

»Tom ist ein Empath. Er weiß, was sein Gegenüber begehrt. Keine Angst, er kann keine Gedanken lesen sondern fühlt instinktiv, was sein Kunde ersehnt, wobei dem selbst meist nicht bewusst ist, was er eigentlich will. Du hast es selbst erlebt, oder wolltest du schon immer in so ein Lederteil gesteckt werden?« Den letzten Satz fügte Tim mit einem kräftigen Griff an Sonnis Schulter an.

»Nein, nicht dass ich wüsste.«, nickte Sonni. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass mich Bondage interessieren könnte. Ist mein Verlangen wirklich so offensichtlich?«

»Ähm...«, stammelte Tom und wandte sich erneut händeringend an Tim. »Ist er einer von euch?«

»Da sind sich die Experten noch nicht einig. Soll heißen, was unser lieber Sonni genau ist, lässt sich abschließend noch nicht genau sagen. Aber eins ist er auf jeden Fall: ein Freund.«

Sonni war baff, wie deutlich Tim ihm seine Freundschaft zeigte. Es war eine Sache, jemandem in einem Zwiegespräch seine Gefühle zu offenbaren, es aber in Anwesenheit einer fremden Person zu tun, hatte eine völlig andere Bedeutung. Zumal Tims Stimme und sein gesamtes Auftreten eine Ernsthaftigkeit verströmte, die Sonni einen gleichzeitig wohligen wie erschütternden Schauer über den Rücken jagte. Es kam eben nicht täglich vor, vom leibhaftigen Teufel seine Zuneigung erklärt zu bekommen. Noch etwas kniffeliger waren die Gewissensbisse, die Tim Sonni damit bescherte. Die Frage, die ihn quälte, lautete: Was war mit Felix? Noch am Morgen hatte er sich eingestanden, sich Hals über Kopf in den feurigen Ifrit verknallt zu haben. Keinen halben Tag später stand er gut verschnürt mit einer kräftigen Erektion vor Tim und ertappte sich beim Gedanken, vom Teufel nicht nur in den Arm genommen zu werden. Das konnte kaum gut gehen, oder?

»Ähm«, setzte Tom zu einer Erklärung an. »Was dein sexuelles Verlangen betrifft... Ich will es mal so erklären. Wenn hier Leute in den Laden kommen, kann ich eigentlich immer recht gut erkennen, was sie wollen, worauf sie stehen oder was sie geil macht. Wobei du erkennen nicht wörtlich nehmen solltest. Es ist wie ein zusätzlicher Sinn. Bei manchen Kunden nehme ich die Wünsche nur sehr schwach wahr, bei anderen dann wieder deutlich stärker. Bei dir hätte ich mir fast die Ohren zuhalten müssen. Ich weiß nicht wieso, aber du brüllst dein Verlangen heraus.«

»Und dieses Verlangen ist... Bondage?«, wollte Sonni nervös wissen.

»Gruselig, was?«, erlaubte sich Tom eine scherzhafte Bemerkung, nachdem ihm klar geworden war, dass Sonni keinen Groll gegen ihn hegte. »Tröste dich. Das ist total normal. Die meisten Leute mit denen ich zu tun habe, wissen und ahnen nicht, was sie eigentlich wollen. Ich glaube, dass ich dich deswegen so gut lesen konnte, weil wir auf einer ähnlichen Wellenlänge liegen.« Tom griff nach der Zwangsjacke und massierte diese und den darin steckenden Sonni. »Ich habe dir keinen Unsinn aufgetischt. Ich besitze auch so ein Teil und genieße es, wenn mich mein Mann darin einpackt.«

»Okay...«, meinte Sonni unsicher.

»Okay?«, kam es synchron von Tim und Tom.

»Du hast mich überzeugt. Ich kauf das Teil.«, verkündete Sonni. Manchmal, so überlegte er, muss man sich auch mal eine Verrücktheit gönnen.


Einige Minuten später befanden sich Sonni und Tim in dessen Atelier. Auf den Arbeitstischen lagen unzählige Lederartikel, von Hosen über Jacken bis hin zu Masken. Jedes Teil befand sich in einem unterschiedlichen Stadium seiner Fertigstellung. Während bei einer Sklavenmaske noch ein paar abschließende Nähte und der Reißverschluss zu fehlen schienen, ließ sich eine zukünftige Lederhose nur an der Form der zugeschnittenen Lederstücke erkennen. In der Luft hing der berauschende Duft frisch gegerbten Leders und der benebelnde Geruch des Lederklebers. Sonni hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen, während Tim mit dem Rücken an einer Werkbank lehnte und den Polizisten freundlich betrachtete. Der Teufel wirkte auf Sonni gut gelaunt, allerdings hatte er auch den Eindruck, für den Fürsten der Hölle untypische, melancholische und verträumte Unterstimmungen wahrzunehmen. Natürlich trug er die übliche Lederhose, Stiefel und eines der eigenen Logo-T-Shirts, das wenig subtil den Text »Chef« in schwarzer Farbe trug.

»Soll ich dich gar nicht aus der Jacke lassen?«, wollte Luzifer, der Lichtbringer, wissen. Tom war so nett und hatte Sonnis eigene Jacke gebracht und war dann in den Verkaufsraum zurückgekehrt.

Auf die Frage wackelte Sonni mit den Schultern. Zu mehr war er nicht in der Lage. »Ich weiß nicht, aber ich fühle mich wohl. Schräg oder?«

»Nicht wirklich. Glaube mir, ich habe schon deutlich schrägeres erlebt.« Diesen Satz nahm Sonni dem Meister der Lustbekleidung uneingeschränkt ab. »Allerdings nehme ich nicht an, dass du mich heute wegen meiner Handwerksprodukte besuchen wolltest, oder?«

»In gewisser Weise schon.«, entgegnete Sonni. »Das Amulett hat wieder ausgelöst. Leider zu spät. Ich befürchte, dass ein Kollege Opfer eines Fluches geworden sein könnte. Wahrscheinlich war der für mich bestimmt, aber das muss ich noch überprüfen. Außerdem wollte ich dir berichten, dass der Guhl... Er ist tot. Er wurde von zwei LKW überrollt. Ich weiß nicht, ob es ein Trost ist, aber er war auf der Stelle tot.«

»Du bist ein sehr mitfühlender Mann, Sonni Lundkvist.« Des Teufels Stimme verströmte Wärme und Dankbarkeit. »Kein Wunder, dass Felix Feuer und Flamme für dich schwärmt. Nun gut...« Mit einem Satz löste sich Tim von der Werkbank, klatschte in die Hände und deutete Sonni, ihm zu folgen. »Ich hoffe, du hast noch nichts vor und hast Lust, den Abend mit mir und ein paar Freunden zu verbringen?«

»Ich weiß nicht recht...« Sonni zögerte. Eigentlich hatte er beabsichtigt, Felix anzurufen. Er sehnte sich nach seiner Stimme und noch mehr nach seinem Körper. Verdammt, schmunzelte Sonni in sich hinein, du bist verliebt wie ein Backfisch.

»Vielleicht kann ich dir die Entscheidung ein klein wenig schmackhafter machen, wenn ich dir sage, dass ein ganz spezieller Feuerdämon ebenfalls kommen wird.«

»Klingt gut.«, antwortete Sonni verschmitzt. »Ähm, vielleicht solltest du mich dann doch aus diesem Ding befreien?«

»So, meinst du?«, zog in Tim auf. »Ich könnte mir vorstellen, dass sich Felix über so ein nett verschnürtes Päckchen freuen könnte.«

Natürlich ließ der Teufel Sonni nicht wirklich weiter in dessen Zwangsbekleidung simmern und befreite ihn aus der ledernen Oberbekleidung. Als der mehrere Kilo schwere Haufen Kuhhaut dann endlich vor Sonni auf einem Stuhl lag, wagte dieser einen Blick auf das Preisschild. Neugierig war er dann schon.

»Oh Kacke!«, entfuhr es dem Kriminalkommissar, als er den deutlich vierstellige Eurobetrag las. Da aber Sonni nach dem Grundsatz »Ein Mann, ein Wort« lebte und zuvor schon gesagt hatte, dass er die Jacke kaufen wolle, griff er nach seiner eigenen Jacke und angelte nach der Geldbörse in dessen Innentasche. So wie es aussah, musste die Kreditkarte ein wenig leiden.

»Du nimmst doch Kreditkarten, oder?«, wollte Sonni von Tim wissen.

»Wofür?«, konterte dieser.

»Für die Jacke. Ich habe gesagt, dass ich sie kaufe. Außerdem will ich Tom nicht um seine Provision bescheißen.«

»Der Gedanke ehrt dich, aber ich habe eine andere Idee.«, entgegnete Tim. »Ich wollte mit dir morgen doch unserem kleinen Freakclub, der Hölle, einen Besuch abstatten. Wie ich schon erwähnte, steht das übernatürliche Völkchen nicht unbedingt auf Normalsterbliche, weswegen du mich als meinen, nun, sagen wir, Lustsklaven begleiten wirst. Was hältst du davon, wenn ich dir das Teil schenke, du es dafür aber morgen trägst?«

»Und was ist mit Toms Provision?«

»Keine Angst, der wird schon nicht zu kurz kommen.«, versicherte Tim. »Also, lass dein Geld stecken. Ich behalte die Jacke hier. Ich plane da nämlich noch ein paar kleine Änderungen. Aber darum kümmere ich mich morgen. Fahr du jetzt schon mal hoch in meine Wohnung. Ich räume hier noch kurz auf und komme dann nach.«


Wie ertrug Tim nur diesen unerträglich langsamen Fahrstuhl? Der Lastenaufzug quälte sich die Stockwerke empor. Gelegentlich gaben die Führungsschienen, in denen der Fahrkorb an sich gleiten sollte, metallisch scharrende und kratzende Geräusche von sich. Dieser Lift hatte rein gar nichts mit hypermodernen Personenbeförderungsanlagen angesagter Stahl-Glas-Hochhausmonster gemein. Dieses Gerät hatte eben so viel Charakter, wie das Gebäude selbst. Statt LED-befeuerten nahtlos in Edelstahlpaneele eingelassene Sensortasten reihten sich schon ein wenig wackelige und leicht vergilbte Plastikknöpfchen übereinander, deren Hinterleuchtung von kleinen Glühbirnchen befeuert wurde, die ihre besten Zeiten weit hinter sich gelassen hatten und nur deswegen nicht durchgebrannt waren, weil sie dafür zu faul waren. Was für die Stockwerksrufknöpfe galt, galt noch mehr für die Kabine. Deren Lack war ab. Und trotzdem, obwohl das Teil wirklich etwas schäbiges hatte, gefiel es Sonni. In welchem Fahrstuhl ließ sich sonst über Gebrauchspuren an Fahrstuhlstockwerksrufknöpfen philosophieren?

Stilecht kam der Lift mit einem Ruck zum Stehen. Sonni konnte die Motorrelais im Schaltschrank des Aufzugs im Geiste klacken hören. Hier verzögerte keine computergeregelte Leistungselektronik den Fahrkorb so sanft ab, dass die Insassen ja nichts von einem Bremsprozess spürten. Kopfschüttelnd verließ Sonni die Kabine und trat in Tims helles und freundliches Loft. Größer konnte ein Kontrast zwischen alt und neu kaum sein.

»Hallo Sonni, möchtest du einen Tee?«

Da stand er – Raphael, der Erzengel. Barfuß, mit nacktem Oberkörper und nur mit ein paar Chinos eines amerikanischen Sport- und Freizeitbekleidungsherstellers behost, stand er am Tresen der offenen Küche und übergoss Tee im Filter einer Glasteekanne mit heißem Wasser. Dieser Mann war kein Engel, er war ein Gott, ein Sexgott. Sonni flogen fast die Augen aus den Höhlen. Raphaels Oberkörper erfüllte ein Maß an Perfektion, dass selbst Michelangelo es nicht gewagt hätte, die Linien dieses Körpers als Vorlage für eine Statue zu verwenden und aus einem Marmorstück herauszuschlagen. Das Ergebnis konnte nur eine Kopie, eine viel, viel schwächere Kopie sein. Jeder Muskel, jede Rundung, jede Linie und Kurve besaß die genau richtige Proportion, exakt das perfekte Maß. Nichts war übertrieben ausgebildet, kein Muskel überbetont oder war umgekehrt zu kurz gekommen oder zu schwach ausgebildet. Raphaels Körper war der Prototyp aller Prototypen des Modells »Mann«. Raphael war der Archetyp eines Menschen.

Seine Haare waren es nicht. Die seidig glänzende, bis tief in den Rücken reichende Mähne platinblonder Haare entriss den Mann vollends irdischer Sphären. Sonni kannte Raphi nun schon seit einigen Jahren und hatte dabei schon immer das Gefühl, dass dieser Clubbesitzer etwas anders war. Aber nie, zu keiner Zeit, wäre er auf die Idee gekommen, dass es sich bei Raphael um keinen Menschen handelte. Dafür gab er sich in der Öffentlichkeit zu normal, so normal, wie ein Betreiber eines angesagten schwulen Techno-Clubs sein konnte. Offenbar zeigte er dabei immer nur ein verhülltes Selbst. Nicht so in Tims Loft. Hier konnte sich Raphael so geben, wie er wirklich war. Es fehlten nur die Flügel. Und dieses überirdische Wesen stand am Tresen und kochte halb nackt, gut gelaunt und mit fröhlicher Miene Tee. Surrealer ging es nicht.

»Nun mach schon den Mund zu!«, lachte der Erzengel, der Sonni beim Glotzen ertappte. »Komm lieber her und hilf mir bei den Teetassen und Keksen. Essen gibt es später.«

»Ähm, ja...«, stammelte Sonni und löste sich aus seiner Schockstarre. Zögerlich, unsicher und ziemlich umständlich bahnte sich der Kriminalkommissar einen Weg zur Küche, was natürlich Raphi nicht entging.

»So schlimm?«, wollte er wissen und blinzelte Sonni mit seinen blauweiß glitzernden und glimmenden Augen an. Und um noch einen oben drauf zu setzen enthüllte er auch noch seine schneeweißen Flügel und breitete sich aus.

»Uhm...«, stöhnte der schwule Polizist, der massive Schwierigkeiten hatte, seinen Blick von Raphaels ebenso perfektem wie geilem Körper zu lösen. Und dann auch noch diese Mörderspannweite seiner Flügel. »Du hast keine Ahnung und... ähm... könntest du deine Augen abschalten und die Flügel einklappen? Das ist echt irritierend.«

»Sagt der Mann mit Höllenfeuerflammen hinter den Pupillen.«, lachte der Engel und erntete einen geschockten Sonni. »Echt? Kann man die sehen?«

»Mann nicht, ich schon.«, erklärte Raphi mit beruhigender Stimme. »Junge, entspann dich! Ich bin's Raphi, die blonde Schwuppe mit dem Partyclub.«

»Ja, ja«, knurrte Sonni. »Clubbetreiber mit Nebenberuf Erzengel.«

»Touché.«, stand der geflügelte Mann zu, schaute auf die Küchenuhr und meinte freudig: »So, Tee ist fertig. Bringst du das Geschirr mit? Linker Unterschrank, zweites Fach. Wir brauchen, zwei, drei... sechs, ja, sechs Service.«

Sonni schüttelte ungläubig den Kopf. Was trieb er hier eigentlich? Wie war er nur hier reingeraten? Die ganze Situation hatte etwas vollkommen irreales. Oder war es etwa normal, mit einem Erzengel in der Wohnung des Teufels den Kaffeetisch zu decken. Okay, es war Tee, aber Sonni wollte nicht pingelig sein, sondern verstehen, was für ein schräges Ding mit ihm und seinem Leben gerade abging. Deswegen bekam er auch gar nicht mit, wie er den Tisch deckte. Tief in seine Gedanken versunken, kam er erst wieder zu Besinnung, als ihn Raphi etwas fragte. Das heißt nachdrücklich fragte, weil Sonni auf Fragen in normaler Lautstärke nicht reagierte.

»Kandis und Milch?«

»Kandis, bitte!«, antwortete Sonni verträumt und starrte geistesabwesend auf seine Glastasse dampfenden Tees. Der Aufguss roch gut. Ein feines Aroma stieg Sonni in die Nase.

»Das ist echter SFTGFOP1, das heißt Special Finest Tippy Golden Flowery Orange Pekoe 1., handgepflückter Darjeeling, One bud and two leaves, und keine Schnittreste, wie sie in Teebeuteln verarbeitetet werden.«

Sonni verstand zwar nur die Hälfte von dem, was ihm Raphael erzählte, er war eben mehr ein Kaffeemensch, musste aber zugeben, dass dieser Tee wirklich gut schmeckte und nichts, rein gar nichts mit dem zu tun hatte, was beim Discounter als Tee gehandelt wurde. Obendrein entfaltete das Zeug auch noch eine Wirkung, die Sonni so nicht erwartet hätte. Er begann sich wach, angeregt, aber auch ruhig und ausgeglichen zu fühlen. Der Stoff hatte es in sich, und das ganz ohne Alkohol.

»So, mein lieber Sonni, dann erzähl mal.«, begann Raphael ein Gespräch. Der Engel hatte sich neben Sonni gesetzt, damit dieser ihn nicht die ganze Zeit angaffen musste. »Felix ist ein lieber Dämon. Wenn ich das Feuer in deinen Augen sehe, seid ihr euch recht nahe gekommen.«

»Tss«, schnalzte Sonni mit der Zunge. »Nahe ist gut. Ich bat ihn, mich voll durchzuknuspern. Sex mit vollem Höllenfeuer. Es war... ähm, intensiv.«

»Ja, das ist es. Es ist aber auch sehr intim. Du weißt, was es für Felix bedeutet?«

Raphis Andeutung verunsicherte Sonni. Er hatte schon den Eindruck, dass Felix Höllenfeuer ein wichtiger Teil seines Wesens sein musste, war aber nicht auf die Idee gekommen, dass es eine tiefere Bedeutung haben könnte. Hatte Sonni bisher den Dampf über seiner Teetasse bewundert, schreckte ihn dieser Gedanke auf. Er ruckte herum und starrte den Engel mit großen Augen an: »Ähm, nein. Was hat es zu bedeuten?«

»Dass er dich mag, dass er dich sehr mag.« Raphael schüttelte seinen Kopf und lächelte, damit sich Sonni entspannte. Raphael wusste sehr genau, wie ungewohnt und unheimlich seine Präsenz auf Sonni wirken musste. Er kannte diese Reaktion. Sie kam nicht oft vor, da sich Engel, Teufel, Dämonen und der ganze andere übernatürliche Zoo, wie er es nannte, normalsterblichen Menschen nur selten zu erkennen gab. Das lag nicht daran, dass sich Engel und Teufel für besser hielten, sondern weil sie die Erfahrung gemacht hatten, dass die Menschen heutzutage von der anderen Welt neben ihnen, der Welt der Schatten und des Zwielichts, nichts wissen wollten. Ja, sie verschlangen massenweise Fantasyromane, suchten ihr Heil in abstruser Esoterik oder wandten sich merkwürdigen Sekten zu, doch das, was direkt unter ihren Augen geschah, dem tatsächlichen Wesen von Gut und Böse, dafür waren sie blind. Umso umsichtiger mussten Teufel wie Tim oder Engel wie Raphael mit denen umgehen, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Sphären betraten. Sonni war ein solcher Kandidat. Weil vor zwei Generationen Tims Bruder seine Libido nicht beherrschen konnte, durchströmte die Blutlinie der Lundkvists der Samen des dämonischen. Es brauchte nur einen geeigneten Auslöser, um diesen zum Keimen zu bringen, einen Auslöser wie der Höllenhauch, den Sonni überstrich als er Breitkopfs Ring berührte.

Allerdings war es eine Sache, erweckt zu werden, aber eine völlig andere, mit der sich anschließend offenbarenden Welt klarzukommen. Soweit Raphael das abschätzen konnte, machte Sonni bei diesen Veränderungen eine alles in allem gute Figur. Seit er den Polizisten vor ein paar Jahren kennenlernte, hatte er ihn als aufrichtige, selbstlose und liebenswürdige Seele schätzen gelernt. Dass der Mann auch noch ziemlich attraktiv daherkam, schadete dabei nicht wirklich. Was aus Raphaels Sicht die Sache ärgerlich gestaltete, war Sonnis Präposition zu Tims Domäne. Sonni Lundkvist war eindeutig dämonenaffin, was aber nicht hieß, dass er nicht alles getan hätte, um dem immer noch sehr jungen Polizisten zu helfen, sich in seiner neuen und ungewohnten Welt zurecht zu finden.

»Ja, Felix ist ein Feuerdämon und Tims Verwalter seines Höllenfeuers.«, fuhr Raphael seine Erklärung fort. »Er röstet und knuspert verdammte Seelen durch. Seelen, die sich selbst verdammt haben. Du erinnerst dich daran, was Tim und ich dir über den Himmel und die Hölle erzählten? Dass beides gleichzeitig existiert und nicht existiert? Sie nur so real sind, wie es eine Seele zulässt. Sie sind die Manifestation dessen, was als Geist, Seele oder Bewusstsein übrig bleibt. Nenn es, wie du willst, es bleiben abstrakte, materielose Konzepte. Was aber real ist, sind die Kräfte der Domänen, wie Felix Höllenfeuer. Das ist sehr real. Einzig die Wirkung wird durch die Seele bestimmt. Das Konzept des Fegefeuers hat einen Hintergrund. Jede Seele verdammt sich selbst, wählt seine eigene Hölle. Manchmal kommt es dabei vor, dass sie so etwas wie Reue empfinden. Es ist ein Funke Hoffnung, der es ihnen erlaubt, am Ende sich selbst zu verzeihen und die Hölle zu verlassen. Was dich betrifft. Du hast dich nicht verdammt. Dir fehlt zum Glück eine Grundvoraussetzung, um verdammt zu sein. Du bist nicht tot. Du hast wohl auch nichts wirklich ernsthaftes zu bereuen oder zu büßen, weswegen die Wirkung von Felix Feuer eine völlig andere ist.« Raphi schüttelte frustriert den Kopf über seine kläglichen Erklärungsversuche. »Was fasle ich hier eigentlich zusammen und rede um den heißen Brei? Verträgst du die Wahrheit?«

»Sag' du es mir. Vertrage ich sie?«

Raphael zog spockmäßig eine Augenbraue hoch, musterte Sonni und nickte: »Jo, kannst du. Also, halt dich fest. Felix ist das Feuer. Was du gespürt hast, war sein innerstes Selbst, die Quintessenz seiner übernatürlichen Existenz. Er hat sich dir in diesen Moment vollkommen entblößt. Dir ist schon klar, was das bedeutet?«

»Ähm, nicht wirklich.«

»Dass er dich liebt, du Torfkopf!«

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