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Freibeuter der Meere

Teil 7

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Ragnar Thorsson sah misstrauisch nach oben zu dem riesigen Lateinsegel, das auf dem Logger mühselig neu aufgeriggt worden war. Das alte hatte Clyde ja in Flammen aufgehen lassen. Sie hatten Glück gehabt, dass noch ein Ersatz vorhanden gewesen war. Der Logger mit dem originellen Namen EDWINIA war auf dem Rückweg nach Caerdon und Ragnar dachte über die Aufträge nach, die er dort erfüllen sollte.

Am einfachsten war wohl die Aufgabe, den toten Banditen abzuliefern. Das konnten die Zwillinge machen, die ebenfalls mit zurück nach Caerdon kamen. Dann waren da der tote Verräter und die Papiere. Dazu musste er Kontakt mit Sir Sean aufnehmen, was schon viel schwieriger war.

Der musste ihm auch helfen, das Gold zu bergen oder ihm verraten, was er damit machen sollte. Und zum Schluss war da noch Leopold von Winterstein. So schlecht sah der junge Mann gar nicht aus. Ragnar hatte erfahren, dass er zweiundzwanzig Jahre alt war und in Leuchtenburg die Militärakademie absolviert hatte. Er war im letzten Jahr als Leutnant der Kavallerie dort entlassen worden und danach zu seinen Vater auf dessen Wunsch nach Britannica gereist.

„Da vorne ist die Ansteuerungstonne!“

Ragnar wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als sie die Ansteuerung des River Tyne erreichten. Mit leichtem Grinsen sah er zu dem jungen Bootsmannsmaaten, den Peter Jaden ihm mitgegeben hatte. Er hatte ihn bei der Besatzung der ESTRAY nicht bewusst wahrgenommen, denn er war erst nach dem letzten Besatzungsaustausch an Bord gekommen. Ebenso hätte Ragnar nicht gedacht, dass Mickey Fraser für eine Beförderung in Frage gekommen war. Doch jetzt, mit seiner neuen Aufgabe, war bei Mickey nicht mehr viel von seinem spielerischen Verhalten übriggeblieben.

„Wir lassen die Tonne an Backbord.“

„Aye-Aye, Sir.“

Mickey gab seine Befehle an den Rudergänger und die Seeleute vollkommen ruhig und überlegt, als ob er das schon seit Jahren machen würde. Ragnar nahm sich vor, ihn im Auge zu behalten.

Im Hafen von Caerdon fuhr die EDWINIA langsam an den Becken des Handelshafens vorbei und näherte sich den Liegeplätzen des königlichen Yachthafens. Dieses Hafenbecken war zwar klein und ziemlich weit innerhalb der Hafenanlagen, hatte aber den Vorteil, am dichtesten zum Palast zu liegen. Ragnar hatte die blaue Flagge der Freibeuter gehisst und dazu die Flagge der Grafschaft Scythe.

Kaum hatten sie angelegt, als auch schon ein Wachposten der königlichen Leibwache nähertrat und beide Flaggen von der Pier aus musterte.

„Verzeihung, Sir, aber dies ist der königliche Yachthafen. Haben sie eine Erlaubnis zum Anlegen?“

Ragnar grinste ihn über die Reling an.

„Dann bin ich ja hier richtig. Ich habe den Auftrag des Earls of Scythe in einer dringenden Angelegenheit genau hier festzumachen. Würden sie bitte Sir David Owen benachrichtigen, dass wir einen Gast ihrer Majestät an Bord haben.“

Der Wachposten nickte lediglich zur Bestätigung und machte sich auf zum Palast. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich vom Palast eine kleine Gruppe näherte. Sie bestand aus mehreren Soldaten in der Uniform der königlichen Leibwache. Der vorderste von ihnen trug einen goldenen Brustpanzer und Ragnar seufzte erleichtert.

„Ich bin Hauptmann Owen von der königlichen Leibwache. Man hat mir berichtet, ihr hättet hier angelegt im Auftrag des Earls of Scythe und ihr hättet einen besonderen Gast an Bord. Darf ich fragen, worum es sich handelt?“

„Das ist richtig, Sir David. Zur näheren Erklärung habe ich ein Schriftstück für sie. Es ist von Lord Clyde Cameron im Auftrag des Earls.“

Ragnar reichte einen versiegelten Umschlag über die Reling.

Sir David hatte bereits gestutzt, als der junge Offizier ihn mit seinem Titel ansprach, mit dem er sich nicht vorgestellt hatte. Nach der kurzen Ansprache wanderte sein Blick nach oben zur Flagge der Grafschaft, dann sah er schweigend auf den noch ungeöffneten Umschlag. Langsam ahnte er, dass hier wohl wieder der dritte Sekretär des Lordkanzlers benötigt würde.

Nach einem kurzen Blick auf das Siegel erbrach er es und las den Inhalt des Briefes. Unbewusst nickte er dabei. Wie er vermutet hatte. Wenn die Freibeuter von Scythe etwas zu erledigen hatten, war es nie einfach.

„Wie möchten sie es durchführen?“

„Oh, ich denke, ich werde zunächst mit meinem Gast meine Aufwartung machen. Dazu müsste dann bitte der dritte Sekretär benachrichtigt werden. Dieser sollte dann entscheiden, was in Hinsicht auf meinen Passagier weiter passiert. Den Kandidaten für die Constabulary können die gerne selber abholen. Ich denke nicht, dass sie eine Einladung des Palastes ablehnen werden. Was mit meiner Fracht passieren soll, liegt in ihrer Entscheidung, Sir David.“

Sir David grinste leicht und nickte dann.

„Ich werde ihren Gastgeber benachrichtigen. Warten sie bitte, bis sie weitere Nachrichten erhalten. Die Constabulary wird benachrichtigt. Was ihre Fracht anbetrifft… Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Am besten, sie fragen ihren Gastgeber.“

Mit einem militärischen Gruß entschwand der Hauptmann der Palastwache und Leopold von Winterstein trat hinter Ragnar.

„Wir gehen in den Palast? Warum? Und zu wem?“

„Wir werden jemanden aufsuchen, dem du bitte deine ganze Geschichte erzählst. Von deinem ersten Besuch im Hafen bis zu deiner Gefangennahme. Es ist wichtig.“

Ragnar sah sich um und winkte Leopold, ihm zu folgen. In der Kapitänskajüte standen sie sich gegenüber und Ragnar wurde etwas überrascht, als Leopold ihm eine Hand auf seine Brust legte. Ragnar schwieg und rührte sich nicht. Zögernd näherte sich Leopold und sah ihm in die Augen. Dann näherte er sich weiter zu einem flüchtigen Kuss.

Ragnar seufzte leise und zog Leopold an sich für einen weiteren, weit intensiveren Kuss. Als sie sich trennten, lächelte Ragnar.

„Es tut mir leid, aber für mehr haben wir keine Zeit. Doch wir werden uns bestimmt wieder treffen. Was ich dir eigentlich sagen wollte, ist etwas anderes. Dein Vater hat seine gesamte berufliche und gesellschaftliche Reputation aufs Spiel gesetzt um dich zu beschützen. Du solltest nachher unbedingt mit ihm reden.“

Leopold sah Ragnar erstaunt an, bis dieser ihm den Hintergrund ihrer Suche und der daraus resultierenden Rettungsaktion erklärte.


Es dauerte kaum eine halbe Stunde, bis Gilroy Longbottom an Bord der EDWINIA erschien. Er hatte zunächst ein kurzes Gespräch mit Ragnar, dann führten die Zwillinge die Beiden in den Laderaum zur Leiche des Verräters.

„Unglaublich, es ist tatsächlich Eric Josway. Wie kann das sein? Was ist da passiert?“

Ragnar übergab Gilroy die Unterlagen, die Mister Josway bei sich gehabt hatte. Der blätterte sie schnell durch und schüttelte ungläubig den Kopf. Danach führte Gilroy Ragnar und Leopold von Winterstein hinüber zu einer Unterredung mit Sir Sean.

Die Nachricht über den Verrat eines seiner Mitarbeiter hatte Sir Sean sichtlich mitgenommen. Dennoch saß er in aufrechter Haltung hinter seinem Schreibtisch und konzentrierte sich ganz auf den Bericht von Ragnar und dann auf den von Leopold von Winterstein.

„Sie sagen also, sie hätten sich zunächst diskret am Hof über die FAIRYTALE und ihre Besatzung erkundigt. Wen genau haben sie denn gefragt?“

Leopold wusste inzwischen, was hier vor sich ging. Mit sprachlosem Erstaunen hatte er dem Bericht von Ragnar gelauscht und dabei bemerkt, wie dämlich er doch gewesen war. Hatte er ernsthaft geglaubt, es hätte ihn niemand erkannt?

„Ich muss zugeben, Sir Sean, dass ich mehrere Personen befragt habe. Es waren aber hauptsächliche jüngere Leute, von denen ich annahm, sie würden nicht gleich abweisend reagieren.“

Sir Sean verzog seine Lippen.

„Politische, oder auch wie in diesem Fall, Ansichten zur – ähem – Liebe, haben nicht unbedingt etwas mit dem Alter zu tun. Auch junge Leute können sehr konservative Einstellungen haben. Es kommt da eindeutig auf die richtigen Kreise an. Aber dann wurden sie doch noch kontaktiert?“

„Ja, eigentlich vollkommen überraschend. Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Ich war im Hafenviertel unterwegs, als mich ein junger Bursche ansprach. Ob ich Leopold sei und ein bestimmtes Schiff suchen würde. Als ich bejahte, gab er mir einen Zettel und verschwand dann wieder in der Menge.“

„Haben sie den Burschen noch einmal wiedergesehen oder haben sie den Zettel noch?“

Leopold schüttelte den Kopf.

„Der Bursche? Nein, von denen laufen ja dutzende im Hafen herum. Den habe ich mir auf die Schnelle nicht gemerkt. Den Zettel habe ich auch nicht mehr. Der war in meinem Überrock. Keine Ahnung, wo der abgeblieben ist. Aber da stand nur der Name der Kneipe drauf, wo ich hinsollte, das ‚Jolly Roger‘.“

„Richtig. War da etwas Auffälliges?“

„Ich war noch gar nicht richtig drin, hab‘ ich schon einen Schlag auf den Kopf bekommen. Ich bin dann dort im Keller aufgewacht und war gefesselt und geknebelt. Ich wusste nicht einmal, wie lange ich da drin war, bis man mich plötzlich ziemlich hektisch herausschleifte und auf ein Schiff brachte.“

Sir Sean seufzte dramatisch. Das war ja nicht viel. Nun gut, erst einmal alles der Reihe nach.

„Mister Thorsson, sind sie sicher, dass dies hier alles ist, was der verblichene Mister Joswig bei sich hatte?“

Ragnar sah nachdenklich auf das kleine Bündel, das Sir Sean vor sich auf den Tisch legte. Gilroy musste es ihm gegeben haben. Nachdrücklich klopfte Sir Sean auf die Papiere.

„Überlegen sie gut, Mister Thorsson. Es ist äußerst wichtig. Diese Papiere beinhalten eine Menge Aufzeichnungen von unseren Arbeiten hier. Ich kann ihnen auch verraten, dass es eine Liste enthält von Personen, mit denen wir in Herblonde Kontakt haben.“

Ragnar erbleichte. Damit wäre Britannica von einer wichtigen Informationsquelle über seinen Kriegsgegner abgeschnitten. Abgesehen davon, dass in Herblonde wohl etliche Leute ihren Kopf verlieren würden.

„Ich war nicht dabei, als er durchsucht wurde, aber das ist alles, was Lord Clyde mir übergeben hat.“

„Wo befindet sich der Leichnam jetzt?“

„Immer noch auf der ESTRAY. Ich möchte nicht drängen, aber ich würde ihn auch gerne loswerden. Ich hoffe, die Constabulary hat diesen Banditen inzwischen abgeholt.“

„Oh, bestimmt. Die sind immer sehr darauf bedacht, ihre gesuchten Verbrecher öffentlich auszustellen. Ich nehme an, der Korpus wird einige Zeit vor dem alten Seagate verbringen. Was mit dem Kopfgeld ist, weiß ich allerdings nicht. Sie sollten sich vielleicht selbst mit der Constabulary in Verbindung setzen.“

Ragnar stutzte. An ein Kopfgeld hatte er überhaupt nicht gedacht.

„Dann kommen wir zu ihrer Fracht. Es ist Beutegut, das bei einer rechtmäßigen Kaperung erlangt wurde. Der Wert wird vom Prisengericht auf das Prisengeld mit angerechnet werden. Sie können ihr Schiff und alles darauf Befindliche ruhig dem Prisengericht überantworten.“

„Dann bräuchten wir zumindest eine Unterkunft, bis die ESTRAY oder die FAIRYTALE wieder da sind.“

„Oh, richtig. Mister Longbottom, ich fürchte, der Tag wird heute lang. Zunächst muss der verblichene Mister Joswig an Bord noch einmal untersucht werden. Die Leiche kann dann dem Coroner überantwortet werden. Dann müssen wir Mister von Winterstein ein wenig passabel herrichten, dass er seinem Vater anständig gegenübertritt. Dieser Logger muss zum Prisengericht und die Besatzung braucht eine Unterkunft.“

Das Gesicht von Gilroy Longbottom wurde immer länger, doch dann strahlte er plötzlich.

„Sehr wohl, Sir Sean. Dann würde ich vorschlagen, wir bringen die Besatzung ins ‚Kings Quarter‘.“

Sir Sean verzog ein wenig sein Gesicht.

„In ein Bordell? Ich weiß nicht, ob das so… oh, ich verstehe. Ich nehme an, die Herren bleiben ohnehin unter sich und die Tarnung ist mehr als ausreichend. Wer würde ausgerechnet dort nach ihnen suchen.“

„Verzeihung, Sir Sean, aber warum sollen wir uns verstecken?“

„Ganz einfach. Der Logger wird dem Prisengericht übergeben. Die Verhandlung ist öffentlich. Der Auftraggeber dieser ganzen Aktion wird also erfahren, dass sein Plan nicht aufgegangen ist. Er wird voraussichtlich alles versuchen, um mehr Informationen zu erlangen. Es soll ihm so schwer wie möglich gemacht werden zu erfahren, was mit dem unseligen Joswig passiert ist und dass Mister von Winterstein hier ist. Je mehr er versucht nach Informationen zu graben, desto mehr wird er sich exponieren.“

„Also sind wir so eine Art Lockvögel.“

„So grob würde ich es nicht bezeichnen. Sie sollen sich ja auch bedeckt halten während der Zeit. Sie sollen nicht als Zielscheibe dienen. Ich finde die Idee sehr ansprechend. Damit bleibt dann nur Mister Joswig. Mister Longbottom, sie begleiten Mister Thorsson zurück auf den Logger. Mister von Winterstein wird hier leider so lange warten müssen, bis sie wieder zurück sind. Dann werden wir ihn… mal sehen, am besten, ich frage Sir David. Die Leibwache hat eigene Unterkünfte und Bäder. Wenn er wieder hergerichtet ist, werden wir einen Besuch bei seinem Vater arrangieren. Das dauert einen Moment. Spielen sie Schach, Mister von Winterstein?“

Während Leopold freudig nickte, machten sich Ragnar und Gilroy auf den Weg zurück.


Vor der EDWINIA standen die Zwillinge als Wachposten neben der Stelling. Ragnar wunderte sich ein wenig und fragte nach dem Grund.

„Es war ein Fremder hier. Hat behauptet, er käme vom Kämmerer und wollte die Goldbarren abholen. Als Mickey ihm sagte, dass hier niemand irgendetwas abholt, ist der Typ frech geworden. Mickey hat ihn ins Hafenbecken geworfen. Danach ist der Typ nicht wiedergekommen. Auch sonst niemand.“

Ragnar und Gilroy sahen sich alarmiert an.

„Es geht schon los. Wir müssen uns beeilen. Was ist mit dem Banditen?“

„Den hat die Constabulary schon abgeholt. Sie erwarten wohl noch einen Bericht, weil sie nicht wissen, wem das Kopfgeld ausgezahlt werden soll.“

„Habe ich fast befürchtet. Und der andere?“

„Den haben wir vorne im Laderaum. Da isses noch am kühlsten.“

Als Ragnar an Bord eilte, kam Mickey Fraser sofort auf ihn zu, doch Ragnar winkte ab.

„Alles in Ordnung. Ich hab‘ schon gehört, was passiert ist. Die Leute sollen klar machen zum Ablegen. Wir verholen an die Pier des Prisengerichts, sobald wir diesen Mister Joswig noch einmal durchsucht haben und der Coroner ihn abgeholt hat.“

Mickey nickte und drehte sich zu seinen Leuten um, während Gilroy rasch Ragnar folgte, der nach vorne zum Laderaum eilte. In dem Raum stank es erbärmlich nach Fisch zu dem sich jetzt auch ein leichter Verwesungsgeruch mischte.

Eric Josway lag der Länge nach auf dem Boden ausgestreckt. Seinen Gehrock hatte man neben ihm abgelegt.

„Wie lange ist er jetzt schon tot?“

„Oh, wie lange waren wir bei Sir Sean? Hm, das Gefecht, die Fahrt, ich würde sagen, so etwa vier bis fünf Stunden.“

Gilroy sah seufzend auf die Leiche herab.

„Dann ist er jetzt so steif wie ein Brett. Aber ich nehme an, man hat seine Kleidung bereits durchsucht. Was haben wir noch? Keine Wertgegenstände, keine Siegelringe oder so was? Hatte er viel Geld bei sich?“

Ragnar schüttelte den Kopf.

„Geld hatte er, soviel ich weiß, überhaupt keines dabei. War schon etwas merkwürdig. Auch sonst keinen Schmuck oder Ähnliches.“

Dann erinnerte er sich an das Landungsunternehmen, wo sie die tote Frau in der Hütte gefunden hatten. Mario hatte ihm später die Sache mit den doppelten Nähten erklärt. Wortlos nahm Ragnar den Gehrock auf und kontrollierte noch einmal alles gründlich.

„Hier. Da könnte etwas sein.“

Wortlos zückte Gilroy ein Stileto, ähnlich wie Mario eines besaß. Interessiert sah Ragnar zu, wie Gilroy geschickt zwei Nähte auftrennte und dann plötzlich ein Gegenstand zu Boden fiel.

„Was ist das denn?“

„Ein Medaillon!“

Ragnar bückte sich und hob das kleine silberne Schmuckstück auf. Vorsichtig betätigte er den Verschluss und der Deckel sprang auf. Statt eines sonst üblichen Porträts erblickte Ragnar nun ein Wappen, das ihm allerdings überhaupt nichts sagte.

Gilroy hatte sich neugierig herübergebeugt und sah ebenfalls auf das Wappen. Ihm schien es etwas zu sagen, denn er zog scharf seine Luft ein.

„Verdammt, ihr müsst so schnell wie möglich hier weg. Und ich muss Sir Sean unbedingt davon benachrichtigen. Los, nach oben!“

Ragnar stürmte hoch und sah sich um.

„Mickey! Wir verlegen sofort. Der Coroner kann die Leiche auch beim Prisengericht abholen. Ihr bereitet euch darauf vor, von Bord zu gehen sobald beim Prisengericht alles abgewickelt ist. Wir werden für die nächsten Stunden oder vielleicht sogar Tage erst mal untertauchen. Aber das erkläre ich, wenn es soweit ist.“

Gilroy Longbottom eilte von Bord, während die Stelling eingenommen wurde und das Schiff sich dann langsam von der Pier entfernte.

Noch während die EDWINIA den königlichen Yachthafen verließ, konnte Ragnar eine Gruppe von Soldaten erkennen, die angeführt von einem Mann in Zivil, die Pier betrat und dem Logger hilflos hinterherstarrte.

„Wer sind die denn? Diese Uniformen habe ich bis jetzt noch nie gesehen.“

Auch die Zwillinge sahen skeptisch hinüber auf die Pier.

„Das ist die Palastwache. Die königliche Leibwache ist nur zuständig für den Flügel mit den Gemächern der Königin und die öffentlichen Plätze, wo sie sich für gewöhnlich aufhält. Also der Audienzsaal, der Thronsaal und so was. Die Palastwache ist für alles andere drum herum zuständig. Sie untersteht eigentlich dem Lordkanzler.“

„Und wer ist der Mann, der sie begleitet?“

„Keine Ahnung. Können wir nicht mehr erkennen.“

„Na, das ist ja gerade noch mal gut gegangen. Wir segeln jetzt den Tyne herunter, bis wir beim Prisengericht in Greencourt sind. Bis die gemerkt haben, wo wir hinwollen und ebenfalls dort eintreffen, sind wir hoffentlich schon weg. Ihr könnt euch schon mal einfallen lassen, wie wir unauffällig ins ‚Kings Quarter‘ kommen.“

Die Zwillinge sahen sich grinsend an.

„Oh, wir gehen in den Puff? Das wird lustig. Ich kenne da einen netten…“

„Um unterzutauchen, nicht zum rummachen. Wir müssen uns die nächste Zeit so bedeckt wie möglich halten.“

Einer der Zwillinge nickte zustimmend. Die Seeleute wieder in die Stadt zurückzubringen würde nicht besonders auffällig sein. Schwieriger waren da schon Ragnar und sie beide. Die Uniformen waren deutlich zu auffällig.

Dann war da noch das Transportproblem. Greencourt lag direkt am River Tyne, etwa fünf Seemeilen südlich von Caerdon. Der Ort war hauptsächlich ein Stützpunkt der Navy mit einem großen Werftgelände.

Das königliche Prisengericht lag direkt am Hafen und einer der Agenten besichtigte auch sofort den Logger. Er war sichtlich überrascht von der Ladung, nahm aber alles zu Protokoll. Die Zwillinge waren in Richtung der Werften verschwunden.

Nach einer guten Stunde tauchten sie wieder auf, ein breites Grinsen im Gesicht. Ragnar musste erst den Agenten des Prisengerichts loswerden, bevor er sich um die Beiden kümmern konnte.

„Nun, Mister Thorsson. Die Begutachtung des Schiffes ist abgeschlossen. Ich werde ihren Lordschaften meinen Bericht und das Manifest vorlegen. Die Verhandlung wird wohl erst morgen oder übermorgen stattfinden. Wir benötigen dann noch einen Bericht mit einer eidesstattlichen Versicherung über den Tathergang der Kaperung.“

Ragnar nickte und überreichte einen Umschlag mit dem Gewünschten.

„Ah, sehr gut. Ich sehe, sie kennen sich aus. Sollten ihre Lordschaften geruhen, die Kaperung anzuerkennen und das Schiff aufzukaufen, wird die Summe dem Eigentümer des Kaperbriefes überstellt. Nach Abzug des Anteils ihrer Majestät, natürlich. Das ist in ihrem Fall der Earl of Scythe, richtig?“

Ragnar nickte lediglich. Die Prisengerichte waren ein schönes Geschäft für die Krone. Sie entschieden, ob eine Kaperung rechtmäßig war. Wenn das der Fall war, kaufte ein Agent im Auftrag des Prisengerichts das in Frage kommende Schiff samt Ladung auf. Zu einem vom Prisengericht festgelegten Schätzpreis. Der Inhaber des Kaperbriefes bekam das Geld ausbezahlt, abzüglich eines Anteils für die Königin. Der Agent konnte nun Schiff und Ladung weiterverkaufen, der Verkaufserlös ging ebenfalls in die Staatskasse. Der Agent bekam lediglich eine Provision.

„Sehr schön. Dann wünsche ich noch einen schönen Tag. Ach ja. Das Schiff wird wohl in etwa einer Stunde verholt. Sie haben also noch etwas Zeit, sich um einen Rücktransport zu bemühen.“

Mit würdevollen Schritten verließ der Prisenagent den Logger und Ragnar sah ihm ungeduldig hinterher. Dann wandte er sich an die Zwillinge.

„Und?“

„Wir haben was gefunden. Wir werden mit einem der Frachtkähne zurückfahren. Die holen das Material aus Caerdon, das nicht über Land hier angeliefert werden kann. Da geht einer heute noch zu den Holzladeplätzen.“

„Wo ist das denn?“

„Etwas außerhalb der Hafenanlagen von Caerdon. Sie haben da einen großen Umschlagplatz für Langholz eingerichtet. Da werden die großen Stämme verladen, die nachher zu Masten oder dem Kiel verarbeitet werden.“

„Und das ist unauffällig?

„Jep. Die Frachtkähne gehen einmal am Tag in Richtung Caerdon, abhängig von der Tide. Da sind sie nachmittags oder abends am Umschlagplatz, können am nächsten Morgen beladen werden und gehen am Mittag zurück nach Greencourt. Es ist üblich, dass bei der Tour nach Caerdon eine ganze Anzahl Arbeiter mitgenommen werden, die dann den Umschlag durchführen oder einfach nur in die Stadt wollen.“

„Gut, was ist mit unseren Uniformen?“

Diesmal sahen die Zwillinge sich etwas unsicher an.

„Hier an Bord ist nichts wirklich Brauchbares. Wir können versuchen, in Greencourt etwas zu bekommen. Ob es aber hier Sachen gibt, die dir passen würden…“

Ragnar sah unwillkürlich an sich herab. Gut, er war etwas größer als der durchschnittliche Britannier, aber da war doch sicherlich was möglich.


Mickey Fraser hatte sich schlicht zwei Mann der Besatzung genommen und war losgezogen, neue Sachen zu besorgen. Ragnar war besorgt, denn in nicht einmal einer Stunde würde der Prisenagent zurückkehren und den Logger verholen. Bis dahin mussten sie von Bord verschwunden sein.

Der Sand in der Glasenuhr verrann unerbittlich und Ragnar wurde immer nervöser. Er wollte auf jeden Fall seine Sachen wechseln. Niemand sollte ihn in dieser Uniform außerhalb von Greencourt zu sehen bekommen. Die violette Farbe war zwar sehr schön, aber doch deutlich zu auffällig.

Die Glasenuhr war bereits einmal gedreht worden und nun auch schon zur Hälfte durchgelaufen, als sich Mickey mit seinen beiden Männern näherte. Alle drei trugen mehrere kleine Leinensäcke bei sich. An Bord angekommen leerten sie den Inhalt der Säcke auf das Deck.

„So, das sollte wohl ausreichen. Das sind Klamotten wie sie auch die Holzarbeiter tragen. Wir sollten eigentlich nicht besonders auffallen.“

„Wo hast du die her?“

„Jedenfalls nicht geklaut, wenn du das meinst. Wie in jedem Kaff, wo viele Arbeiter beschäftigt sind, gibt es mindestens einen Laden, wo man billig gebrauchte Sachen kriegen kann. Und siehe da, ich habe ihn gefunden.“

Ragnar sah nun erstaunt zu, wie Mickey die Sachen verteilte und jeder seiner fünf Seeleute ein kleines Bündel bekam. Dann waren die Zwillinge an der Reihe und zum Schluss drückte er Ragnar ebenfalls ein paar Sachen in die Hand. Mit einem Blick auf die Glasenuhr grinste Mickey und zog Jacke und Hemd aus.

„Ich weiß, wir haben es eilig. Also los.“

Damit legte er auch den Rest seiner Sachen ab und Ragnar konnte so ungehindert seinen Körper bewundern. Seine Arbeit in der Takelage hatte dem jungen Mann einen sehr gut trainierten Körper beschert. Und auch andere Körperteile schienen sehr ausgiebig trainiert worden zu sein.

Die anderen fünf Seeleute legten nun ebenfalls völlig ungerührt ihre Sachen ab, gefolgt von den Zwillingen. Ragnar bemerkte mit einem leichten Lächeln, dass sich die Zwillinge wirklich in allen anatomischen Einzelheiten glichen. Dann sah er den erwartungsvollen Blick von Mickey. Ragnar lächelte ihn nur an und begann langsam seine Sachen abzulegen.

Alle sahen ihm neugierig dabei zu, bis einer der Zwillinge Mickey anstieß.

„Hey, wir wollen los. Dafür ist jetzt keine Zeit.“

Mickey sah schuldbewusst an sich herab und griff nach einer Hose. Nun dauerte es nicht lange, bis alle wieder ausreichend bekleidet waren. Ragnar schüttelte den Kopf.

Seine Sachen bestanden lediglich aus einer Hose aus braun gefärbtem Segeltuch und einem hellen Leinenhemd. Auch die anderen hatten ähnliche Sachen. Die Zwillinge trugen statt eines Hemdes lediglich eine kurze Weste, diesmal aber in verschiedenen Farben.

„Sorry, aber es gab keine zwei von einer Farbe. Jetzt kann man euch endlich auseinanderhalten.“

„Gib dir keine Mühe. Wir werden die Dinger wahrscheinlich öfter tauschen. Wir haben da einen Ruf zu verlieren.“

Mickey seufzte vernehmlich, dann begann er, die abgelegten Sachen einzusammeln und in den mitgebrachten Säcken zu verstauen.

„Jeder schnappt sich einen Beutel mit seinen Sachen. Die Waffen müssen auch verstaut werden. Besonders die Karabiner sind zu auffällig.“

Ragnar nickte und sah sich um. Direkt am Mast befand sich eine Reihe Belegnägel und daneben steckte eine Zimmermannsaxt. Ragnar ging hinüber und nahm sie in die Hand. Die dürfte unauffällig genug sein für einen Holzarbeiter.

„Dann los. Wie kommen wir jetzt zu diesem Frachtkahn?“

Der Holzkahn war wenig mehr als eine schwimmende Plattform mit Bordwänden. Der Rumpf war so flach und breit wie möglich, damit ausreichend Fracht geladen werden konnte, dabei aber der Kahn nicht zu tief ging. Angetrieben wurde das merkwürdige Gefährt durch Ruderer und eine kleine Hilfsbesegelung. Die Holzarbeiter stellten bei der Gelegenheit auch die Rudermannschaft.

Der Schiffsführer fragte nicht nach dem woher oder wohin. Er ging davon aus, dass alle wussten wo er hinfuhr. Er kassierte lediglich zwei Pennies pro Person, umsonst durfte mitfahren, wer auch ruderte. Lediglich Ragnar zahlte seine zwei Pennies, dann legte der Kahn auch ab.

Auf dem Fluss nutzte der Schiffsführer eine Hilfsbesegelung, die seine normalerweise acht Ruderer bei ihrer Arbeit unterstützten. Er war ohnehin auf die Gezeiten angewiesen, denn alleine mit dem kleinen Segel und der Muskelkraft wäre der schwerfällige Kahn nicht in der Lage gewesen, gegen die Strömung des Flusses zu bestehen.

Ragnar stand neben dem Mast und sah das Ufer langsam vorbeikriechen.

„Ist nicht wie bei einem richtigen Schiff. Die alte Schachtel hier ist ganz schön plump.“

Ragnar drehte sich zu dem Schiffsführer um, einem älteren Mann in abgetragenen Sachen, ähnlich den seinen.

„Wann werden wir dort sein?“

Der Schiffsführer betrachtete einen Moment das Ufer und schätzte die Geschwindigkeit. Dann sah er zu den vollgefüllten Ruderbänken.

„Sind gut unterwegs, mit den jungen Herren. Noch zwei Stunden, bis wir an den Kanal kommen. Danach geht’s etwas schneller. Bis Sonnenuntergang werden wir auf jeden Fall dort sein.“

„Kanal?“

„Jau. Der Holzkanal. Ist eigentlich ziemlich unauffällig. Im Bogen von St. Ives geht ein kleiner gegrabener Kanal in Richtung Westen. Ist etwa drei Meilen lang und endet im Holzhafen. Im Kanal wird getreidelt.“

Ragnar hob die Augenbrauen. Davon hatte er bisher nur gehört, es aber noch nie gesehen. Die Schiffe wurden von Pferden am Ufer gezogen. So richtig konnte er sich das nicht vorstellen, aber er war neugierig es kennenzulernen.

In einem weitgezogenen Bogen des Flusses konnte Ragnar bald darauf tatsächlich eine kleine Lücke erkennen. Es war die Einfahrt zu einem kleinen, schmalen Kanal, der sich schnurgerade in Richtung Westen zog.

Die Ruderer hatten wegen der Strömung des Flusses etwas Schwierigkeiten den Kahn in die Einmündung zu bugsieren, doch dann waren sie glücklich aus dem Fahrwasser heraus.

Neben dem Kanal verlief parallel eine Straße und dort standen bereits zwei Pferdeknechte, jeder mit einem schweren, massigen Arbeitspferd. Die Schleppleinen wurden übergeben und jeweils ein Pferd an einer Leine am Bug und am Heck angeschirrt. Die Pferdeknechte schwangen sich auf ihre Pferde und trieben sie langsam an. Die Leinen kamen steif und der Kahn bewegte sich langsam voran.

Der Schiffsführer hatte alle Hände voll zu tun, mit dem Ruder gegen den Zug zu arbeiten und den Kahn frei vom Ufer zu halten. Nach einer Weile hatte das kleine Schiff schon richtig Fahrt aufgenommen und die Pferde verfielen in einen leichten Trab. Jetzt, wo auch richtig Druck auf dem Ruderblatt herrschte, war das Schiff schon mit kleinsten Ruderbewegungen auf dem richtigen Abstand zum Ufer zu halten.

Ragnar hatte sich beinahe schon an den merkwürdigen Anblick und das Gefühl gewöhnt, von etwas anderem als dem Wind angetrieben zu werden, da war voraus schon das Ende des Kanals zu erkennen. Er mündete schlicht in ein rechteckiges Hafenbecken, wo schon mehrere der Holzkähne lagen.

Die Pferde verminderten ihre Geschwindigkeit und die Pferdeknechte warfen nun einfach die Leinen los. Der Kahn verlor ebenfalls sofort an Fahrt, die Leinen wurden eingeholt und dann machten sich die Ruderer wieder an die Arbeit.

Mit einer jahrelangen Routine manövrierte der Schiffsführer den Holzkahn an den ihm bestimmten Liegeplatz.


Die Sonne war noch nicht einmal untergegangen, als der Kahn im Holzhafen festmachte. Ragnar sammelte seine Männer und sah erwartungsvoll zu den Zwillingen.

„Also, wir sollen ins ‚Kings Quarter‘. Wie kommen wir von hier aus dahin?“

„Kein Problem. Wir laufen die kurze Strecke bis nach Caerdon. Dauert höchstens eine halbe Stunde. Da müssen wir uns dann aufteilen. Eine so große Gruppe ist immer ein bisschen auffällig. Ich beschreibe nachher ein paar Möglichkeiten, um auf verschiedenen Wegen zu unserem Ziel zu kommen.“

Ragnar nickte und sie marschierten los. Die ersten Häuser der Stadt waren auch nicht mehr weit und Thies ließ anhalten.

„So, das ist Cranewood. War mal ein Dorf, gehört jetzt zur Stadt. Von hier aus ist es nur noch etwa eine Viertelstunde, je nachdem, welchen Weg man wählt. Wir sind neun Mann. Ich würde vorschlagen, wir teilen uns in drei Gruppen und gehen dann auf verschiedenen Wegen.“

Ragnar sah sich nachdenklich um. Mickey Fraser stand bei seinen fünf Seeleuten und sah ihn erwartungsvoll an. Auch die Zwillinge schienen auf eine Entscheidung zu warten. Hier an Land war Ragnar etwas weniger sicher. An Bord wusste er genau, was zu tun war, hier kannte er sich nicht aus.

„Also gut. Drei Gruppen. Thies nimmt sich zwei Seeleute, Mickey zwei und der letzte bleibt zusammen mit Henk bei mir.“

Die Zwillinge grinsten sich an und nickten. Mickey deutete der Reihe nach auf seine Männer.

„Du gehst mit dem Lieutenant. Ihr beide geht mit Thies und ihr bleibt bei mir.“

Der junge Mann, den Mickey Ragnar zugeteilt hatte, sah den großen Isafjorder etwas erschrocken an, nickte aber.

Nun erklärte Thies Mickey den Weg zum ‚Kings’ Quarter‘, während Ragnar seinen neuen Begleiter genauer betrachtete.

Bei einer Besatzung von mehr als 240 Mann auf der FAIRYTALE waren die einfachen Seeleute mit etwa 140 Mann der größte Anteil. Ragnar kannte nicht jeden. Die ESTRAY hatte einen Teil ihrer Besatzung von der FAIRYTALE und einen kleineren Teil direkt vom Heuerbüro bekommen. Ragnar wusste nicht, zu welcher Gruppe der junge Mann vor ihm gehörte, auch wenn er ihm bei der Besatzung der ESTRAY wegen seiner ungewöhnlichen Hautfarbe schon einmal aufgefallen war.

„Nun gut. Wer bist du?“

„Leon Marrakecho, Sir.“

Ragnar sah erstaunt auf den dunkelhäutigen jungen Mann herab, der keine Familiennamen, sondern nur eine Herkunft zu besitzen schien. Außerdem – Marrakesch? Lag das nicht bereits auf dem südlichen Kontinent, den die Letrioner so erbittert gegen andere Eroberungen verteidigten, aber selber nur sehr wenige, winzige Stützpunkte dort halten konnten.

„Du stammst nicht direkt aus Letrion, oder?“

„Nein, Sir. Aus Marrakesch. Das liegt direkt am Übergang. So nennen die Letrioner die einzige Ortschaft an der Nordküste von Dahar, die ein regelmäßiger Pendelverkehr mit Letrion verbindet. Der Übergang heißt eigentlich Askandi, aber niemand nennt den Ort unter diesem Namen. Alle nennen ihn nur ‚den Übergang‘. Rings um den Übergang gibt es noch einige kleinere Orte, so auch Marrakesch.“

Ragnar wusste nicht, wie er die folgende Frage formulieren sollte, doch Leon kam ihm zuvor.

„Ich kann mir denken, was als nächstes kommt. Ja, ich bin ein Mischling mit einer Eingeborenen aus Dahar. Mein Vater war ein letrionischer Kaufmann in Marrakesch. Ich habe noch drei Geschwister, alle von derselben Mutter. Als die Geschäfte schlecht liefen, musste mein Vater zurück zu seiner Familie nach Valencia. Da konnte er natürlich keine Frau und Kinder aus Dahar mitbringen. Also hat er uns kurzerhand verkauft.“

„Er hat – was?“

„Uns verkauft. So, wie seine anderen Waren. Ich weiß bis heute noch nicht, wo meine Schwestern sind. Ich bin auf einer Galeere der letrionischen Marine gelandet.“

Ragnar sah noch einmal prüfend an dem jungen Mann herab. Er war nur mittelgroß, aber doch ziemlich breit in den Schultern. Vorhin, beim Umziehen, war er Ragnar bei seinem Rundblick kurz aufgefallen, aber da hatte er auf andere anatomische Einzelheiten geachtet.

„Seit wann bist du denn hier bei uns?“

„Ich bin seit drei Jahren hier in Britannica. Seit der Seeschlacht von Vereelden. Meine Galeere wurde geentert und wir wurden befreit. Ich habe eine Zeitlang auf einem Küstensegler gearbeitet, bis ich mir darüber im Klaren war, wer ich bin und was ich will. Da habe ich meinen Kapitän gebeten, mich auf Scythe abzusetzen, was er auch gemacht hat.“

„Drei Jahre? Wie alt bist du denn jetzt?“

„Einundzwanzig. Ich war fünfzehn, als ich auf der Galeere angefangen habe und mit achtzehn hat man mich befreit.“

Die Seeschlacht von Vereelden vor der Küste von Nassouwe war einer der Wendepunkte im Krieg von Britannica gegen Letrion gewesen. Eine Flotte von Galeeren hatte eine Anlandung an der Südküste von Britannica versucht. Die erste Welle der Anlandung war mittels Magie zurückgeschlagen worden. Die restliche Flotte von Galeeren musste sich nach Osten zurückziehen, weil die Druiden vor der Südküste von Britannica einen schweren Sturm hatten aufziehen lassen. Diese Galeeren wurden nun von einem gemeinsamen Flottenverband von Britannica und Nassouwe vor den Sandbänken von Vereelden gestellt und vernichtet.

Ragnar schüttelte nur mit dem Kopf, aber er wusste, dass viele Besatzungsmitglieder der FAIRYTALE und nun auch der ESTRAY eine solche oder ähnliche persönliche Geschichte hinter sich hatten.

Ragnars Blick wanderte noch einmal an dem jungen Mann herab. Die Haut hatte den Ton einer Haselnuss und die Augen waren tief braun, fast schwarz. Ragnar bemerkte, dass Leon leicht lächelte, als er so gemustert wurde. Er schien sich daran gewöhnt zu haben, angestarrt zu werden.

„Äh, ja. Dann mal los.“

Als Ragnar sich umsah, erkannte er, dass sich die beiden anderen Gruppen bereits entfernt hatten. Etwas verblüfft sah er Henk Behrendt an.

„Was denn jetzt?“

„Wir versuchen, auch zeitlich etwas Abstand zu halten. Könnte peinlich werden, wenn wir auf verschiedenen Wegen gehen und dann doch gemeinsam da vor der Tür stehen. So, hier geht’s lang. Wie gesagt, dauert etwa eine Viertelstunde.“

Langsam marschierten sie los und erreichten auch in der angegeben Zeit das ‚Kings Quarter‘.

Hätte Henk ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, wäre Ragnar an dem Gebäude vorbeigewandert. Die Vororte von Caerdon waren zwar inzwischen recht dicht bebaut, in vielen Gegenden konnte man aber immer noch den ländlichen Charakter erkennen. Teure Landhäuser wechselten sich mit alten Bauernhöfen ab und an der Hauptstraße gab es auch schon eine durchgehende Reihe von Häusern dicht nebeneinander. Eines dieser Gebäude, flankiert von einem schon sichtlich alten Bauernhof und einem Lagerhaus, hatte Ragnar zunächst für eines der zahlreichen Gasthäuser entlang der Straße gehalten.

Erst als Henk auf das Schild über der Tür wies, wusste Ragnar, dass sie an ihrem Ziel waren.

Ragnar musste unwillkürlich lachen, als er das Schild mit dem Namen sah. ‚Kings Quarter‘ ließ einen automatisch an eine ‚königliche Unterkunft‘ denken, doch das Schild zeigte deutlich mehrere Münzen mit dem Abbild von König Harold VII. Der hatte einige Jahre lang neue Münzen ausgeben lassen zum Wert von einem Viertel Sovereign, daher der Name Kings’ Quarter. Durchgesetzt hatten sich die Münzen nie und es wurden auch nicht viele ausgegeben, doch einige waren immer noch im Umlauf.

„So, das ist doch mal eine Aussage. Kein königliches Quartier, aber dafür wohl königliche Preise.“

Henk grinste.

„So teuer ist es hier gar nicht. Nicht mal, wenn man zusätzlich zur Unterkunft auch noch etwas Spaß haben will.“

Damit ging er zur Tür und klopfte dreimal. Sofort wurde geöffnet und eine vierschrötige Gestalt sah heraus. Misstrauisch musterte sie Henk.

„Aha. Wurde auch Zeit. Die anderen sind schon da. Die Dame möchte mit euch sprechen.“

Henk nickte nur und Ragnar warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Die Dame ist Mary Gallagher. Stammt aus Erin und leitet dieses Etablissement. Wenn sie uns sprechen will, ist irgendetwas im Busch.“

Der Türsteher ließ sie ein und geleitete sie durch einen kurzen, breiten Gang in einen Empfangsraum. Ragnar sah sich erstaunt um.

Der Gang öffnete sich in einen großen quadratischen Raum, dessen geschmackvolle und wohl auch teure Ausstattung Ragnar nicht erwartet hatte. Der Raum war schummrig beleuchtet und ein leichtes Aroma nach Frische lag in der Luft. An den Wänden hingen etliche Gemälde, die Szenen aus der Mythologie von Britannica zeigten, auf denen sich die Darsteller jeder Art erotischer Spiele hingaben.

Kleine, meist zweisitzige Sofas, über den ganzen Raum verteilt, waren noch unbesetzt und nur eine junge Frau in einem durchsichtigen Oberkleid ordnete Blumenarrangements.

Ragnar betrachtete die Bilder an der Wand und fragte sich, ob Mann und Frau wirklich solche Spielchen trieben. Viel Zeit zum Betrachten blieb ihm freilich nicht, denn sie wurden in den weiter gebeten. Durch einen weiteren, deutlich schmaleren Gang, kamen sie in einen weiteren, etwas kleineren Empfangsraum.

Hier bemerkte Ragnar den abrupten Themenwechsel. Die Einrichtung war fast die Gleiche wie im ersten Raum, doch die Gemälde zeigten hier gutgebaute, nackte Männer, die sich vielerlei unterschiedlicher fleischlicher Genüsse hingaben.

Ragnar starrte fasziniert auf eines der Bilder und fragte sich ernsthaft, ob eine solche Stellung überhaupt möglich war.

Der Türsteher geleitete sie schnell durch den Empfangsraum in ein anschließendes Zimmer, das nicht so groß war und auch nicht so prächtig eingerichtet. Er beherbergte auch keine Sofas, sondern einen großen Tisch mit etlichen Stühlen und am anderen Ende einen Schreibtisch, der im Moment allerdings unbesetzt war.

Thies und Mickey waren mit ihren Gruppen bereits eingetroffen und hatten es sich auf den Sitzgelegenheiten bequem gemacht. Ragnar wollte schon etwas sagen, als sich eine weitere Tür öffnete und eine Dame erschien. Nein- die Dame erschien.

Die Dame war von unbestimmbarem Alter, aber ganz gewiss kein junges Mädchen mehr. Ihre schlanke Gestalt wurde durch ein enganliegendes Kleid betont, dass sich, entgegen der vorherrschenden Mode, nicht ins Unermessliche bauschte, sondern von der Hüfte ab glockenförmig zu Boden fiel. Ragnar bemerkte, dass das Grün des Kleides genau mit der Farbe der Augen abgestimmt war, das dann mit dem Rot der Haare kontrastierte, die in langen Locken bis auf die Schultern fielen.

Und noch etwas spürte Ragnar, als sie eintrat. Die unverwechselbare Anwesenheit von Glamour. Sie musste eine Halbelfe sein, so wie Clyde.

Die Dame lächelte, als sie eintrat, doch dann sah sie Ragnar direkt an und ihr Lächeln fror etwas ein. Schnell hatte sie sich jedoch wieder gefangen.

„Meine Herren, ich bin Mary Gallagher, auch bekannt als die Dame. Ich leite dieses Etablissement und ich bin entzückt, dass sie heute zu uns gefunden haben. Auch wenn sie höchst wahrscheinlich nicht zu unseren Kunden zählen werden, möchte ich ihnen sagen, dass ich erfreut bin, einem alten Freund von mir einen Gefallen zu erweisen.“

Ragnar konnte sich in etwa denken, wer dieser alte Freund war. Es schien, als ob er immer weiter in diese Kreise von Spionage und Verrat hineingezogen wurde.

„Wir werden sie mit jeweils zwei Mann auf einem Zimmer im oberen Stockwerk unterbringen. Da besteht die Möglichkeit, unerkannt das Nachbargebäude zu betreten und so im Gefahrenfall unser Etablissement zu verlassen. Floris wird euch jetzt die Zimmer zeigen.“

Sie verließ ohne weitere Umstände den Raum und kurz darauf trat ein junger Mann ein, der von Henk und Thies stürmisch und mit einem Kuss begrüßt wurde.

Ragnar kam nicht umhin festzustellen, dass der junge Mann richtig gut aussah und in Statur und Erscheinung etwas den Zwillingen glich, auch wenn er etwas kleiner und jünger war.

„So, Leute. Das ist Floris, unser jüngerer Bruder. Er ist hier fest angestellt als Hausbursche und auch als Begleiter. Falls ihr Fragen habt, fragt ihn einfach. Er kennt sich aus. In allen Dingen, die das Haus betreffen.“

Ragnar hob die Augenbrauen. Die Zwillinge schienen keinen Anstoß daran zu nehmen, dass ihr kleiner Bruder hier als ‚Begleiter‘ arbeitete. Doch sie redeten munter aufeinander ein, während Floris zwischendurch den anderen winkte, ihnen zu folgen.

In der oberen Etage wurden dann schnell die Zimmer verteilt. Floris sah sich ein wenig zögernd um.

„Hier oben sind normalerweise die speziellen Gäste untergebracht. Leute, die gerne eine Möglichkeit haben, unauffällig und unerkannt zu verschwinden, wenn unten zu viel los ist. Wir haben aber nur vier Räume hier. Deswegen müssten einige etwas zusammenrücken.“

Einer der Zwillinge flüsterte mit Mickey, der daraufhin erfreut grinste. Dann wandte er sich an Ragnar.

„Die Zwillinge haben vorgeschlagen, dass ich ein Zimmer mit ihnen teile. Bleiben nur noch die fünf Mannschaften und sie, Sir.“

Ragnar hatte schon geahnt, warum Mickey so breit grinste, aber er brauchte auch nicht lange zu überlegen. Er sah zu den fünf Seeleuten hinüber.

„Meinetwegen. Ihr vier teilt euch zwei Zimmer und Leon kommt mit zu mir.“

Leon sah ihn überrascht an, doch Mickey nickte nur.

„Ihr habt es gehört. Wir müssen uns hier oben nur ruhig verhalten. Was ist mit Essen und Getränken?“

„Ist für alles gesorgt. Die Eingangstür hier oben wird verschlossen. Jedes Zimmer bekommt einen Schlüssel dafür. Maria wird euch alles nach oben bringen. Sie ist außer mir die Einzige, die sonst noch einen Schlüssel für diese Etage hat. Natürlich hat die Dame auch noch einen, aber die kommt nur selten her. Trotzdem solltet ihr aufpassen, wenn jemand den Gang betritt. Die Tür dort am anderen Ende führt auf den Dachboden des Nebenhauses. Da passt der gleiche Schlüssel. Dort müsst ihr dann nach draußen, auf das Dach der Scheune und dort durch die Dachluke nach drinnen. Vom Heuboden aus könnt ihr runter und dann nach draußen.“

Ragnar hob leicht die Augenbrauen.

„Eine Scheune mitten in der Stadt?“

Floris zuckte mit den Schultern.

„Wir sind hier ja nicht wirklich mitten in der Stadt. Das Haus wurde ja extra wegen seiner Abgeschiedenheit ausgewählt. Bis vor 20 oder 30 Jahren soll hier lediglich ein Bauerndorf existiert haben.“

„Na gut. Ich nehme an, wir können die Bäder nicht benutzen?“

„Doch, aber immer nur mit höchstens zwei Mann. Eines der Separee-Becken ist für euch abgeteilt worden. Wenn Maria mit dem Essen kommt, kann sie euch mehr erzählen. So, ich muss wieder runter, mal sehen, ob schon ein Kunde wartet.“

Floris wandte sich um und nach einem schnellen Kuss von seinen Brüdern und auch Mickey verschwand er nach unten. Ragnar sah Mickey nur an und schüttelte den Kopf. Und da hatte er gedacht, der wäre ruhiger geworden. Es war wohl die Gelegenheit, oder die Umgebung. Er fragte sich, wie Mickey wohl im Kampf reagieren würde.

„So Leute, erst mal alle auf die Buden. Eigentlich sollten wir hier in Sicherheit sein, aber trotzdem Wachsam bleiben.“

Ragnar trat ein und Leon folgte ihm zögernd. Ragnar legte seinen Kleidersack und die Axt auf dem großen Bett ab und drehte sich um.

„Was ist? Bist du mit der Verteilung nicht einverstanden?“

Leon schüttelte den Kopf.

„Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Hier ist es nur so groß und so schön. Ich habe nur selten in einem richtigen Bett schlafen können in den letzten sechs Jahren.“

Damit deutete er auf das große Doppelbett auf das Ragnar seine Sachen gelegt hatte. Auch sonst war das Zimmer recht großzügig eingerichtet. Es gab neben dem Doppelbett jeweils eine Kommode, am anderen Ende stand ein großer Kleiderschrank. In der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch war bereits für zwei Personen eingedeckt, lediglich das Essen fehlte noch.

„Eigentlich würde ich ja gerne vor dem Essen noch baden, aber das wird ja wohl…“

Ein leises Klopfen unterbrach Ragnar. Leon ging zum Bett, nahm die Axt auf und ging dann zur Tür. Langsam öffnete er sie, doch davor stand lediglich eine Frau mittleren Alters.

„Guten Abend. Ich bin Maria. Ich wollte fragen, ob ihr erst essen oder erst in die Bäder wollt.“

Ragnar musterte die Frau und konnte sich kein rechtes Bild von ihr machen. Sie war wohl sicherlich schon an die vierzig, hatte aber immer noch ein schönes ebenmäßiges Gesicht und auch ihr Körper schien noch einiges zu versprechen, obwohl er jetzt von einem einfachen Kleid mit einer weißen Schürze bedeckt wurde.

„Oh, ja. Sehr schön. Ich denke, wir gehen zuerst in die Bäder. Es wird auch nicht lange dauern. Versprochen.“

Maria machte kurz ein verblüfftes Gesicht, dann lachte sie.

„Keine Angst, ich weiß, wie lange so etwas dauern kann. Aber ihr habt Recht. Die anderen möchten auch noch hinunter. Floris hat unten alles für euch vorbereitet. Ihr geht ganz normal die Treppe hinunter, dann im ersten Stock den Gang nach rechts. Am Ende führt eine Treppe bis hinunter in den Keller.“

Sie hatte sich schon abgewandt, drehte sich aber noch einmal um.

„Ach so. Die Axt könnt ihr ruhig hier oben lassen. Im Moment ist alles ruhig.“

Ragnar nickte zum Dank und Leon legte die Axt wieder zurück auf das Bett. Dann folgte er Ragnar die Treppe herunter.

Der Zugang zu den Bädern, den Maria beschrieben hatte, war offensichtlich nicht der Haupteingang. Im Keller wurden sie von Floris vor einer schmucklosen schmalen Tür erwartet.

„Das ist eigentlich der Zugang für das Personal. Vorne ist schon etwas Betrieb und es ist wohl besser, wenn euch niemand hier sieht. Einfach hier herein. Das Separee ist schon vorbereitet. Immer geradeaus.“

Ragnar und Leon gingen einen kleinen Gang entlang und kamen in einen Vorraum, von dem weitere Türen abzweigten.

„Aha, die hier ist abgeschlossen. Da geht es wahrscheinlich in das große Bad. Hier. Ein Umkleideraum und Duschen.“

Ohne zu Zögern legte Ragnar seine ungewohnten Sachen ab und wanderte hinüber in die Dusche. Leon folgte ihm nur einen Moment später. Bevor Ragnar noch etwas sagen konnte, hatte Leon sich die Seife gegriffen und begann Ragnar zu waschen. Er tat es ausgiebig und anscheinend mit viel Begeisterung. Leon war gründlich, sehr gründlich und Ragnar wusste genau, wie das enden würde.

Doch bevor die ganze Sache hier aus dem Ruder lief, drehte sich Ragnar kurz und schnappte sich die Seife. Unter Leons erstaunten Blicken begann er dessen dunklen Körper zu waschen und fand ihn immer faszinierender. Ein wenig erinnerte der Körperbau an Clyde, was die Größe und auch die Muskulatur betraf, doch die dunkle Haut war etwas ganz anderes.

„Komm mit.“

Ohne weitere Aufforderung packte Ragnar Leon an der Hand und zog ihn hinüber in das kleine Badebecken. Sie entspannten sich kurz in dem warmen Wasser, dann spürte Ragnar eine Hand, die langsam seine Brust herabwanderte. Lächelnd hielt er die Hand an, dann wandte er sich an Leon.

„Wir haben versprochen, es dauert nicht so lange hier unten. Lass uns hoch gehen und etwas essen. Danach haben wir noch die ganze Nacht.“

Leon sah Ragnar mit großen Augen an. Die ganze Nacht? Meinte er das wirklich ernst?


Sie hätten zwar die ganze Nacht gehabt, doch schon gegen Mitternacht waren beide sanft entschlummert, erschöpft von dem mehr als ausgiebigen Spiel. Ragnar musste sich eingestehen, dass die Stellung sehr wohl möglich war, die er auf einem der Bilder gesehen hatte.

Ein Wechsel der Geräuschkulisse weckte Ragnar. Es war fast wie an Bord, wenn sich andere Geräusche vor den normalen Hintergrund schoben. An Bord bedeutete es meistens, dass etwas Außergewöhnliches passierte und so war er darin geübt, sofort zu reagieren.

Auch hier schien sich etwas Ungewöhnliches zu ereignen. Vor dem Haus gab es lautes Klirren von Metall auf Metall und von unten konnte man jetzt die ersten Schreie hören. Ragnar wurde unwillkürlich an die Erzählung von Clyde über die Vorfälle in dem Rasthaus erinnert. Rasch weckte er Leon.

„Schnell, weck die anderen. Unten passiert was.“

Nackt wie er war, sprintete Leon los. Einen Augenblick später war er zurück, gefolgt von Mickey Fraser, der sich auch nicht die Zeit genommen hatte, etwas anzuziehen.

„Klar machen zur Flucht. Nehmt nur das Nötigste mit. Die Uniformen bleiben hier. Wenn wir rauskommen, brauchen wir nicht noch extra aufzufallen. Die Zwillinge sollen ihre Waffen bereithalten.“

Mickey nickte und entschwand. Leon war dabei, sich anzuziehen und Ragnar folgte ihm.

Plötzlich erschütterte ein lauter Knall das gesamte Gebäude. Die Wände zitterten und das Holz begann zu ächzen.

„Was war das? Das klang fast wie eine Explosion. Was machen die da unten?“

Die Eingangstür zum Gang wurde aufgeschlossen und die Zwillinge zielten mit ihren Karabinern, doch lediglich Floris trat ein. Sein Hemd war zerrissen und von einem kleinen Schnitt auf der Stirn lief Blut.

„Schnell! Ihr müsst verschwinden. Sie haben die Sicherheitstür im ersten Stock gesprengt. Unsere Wächter können sie nicht aufhalten. Es sind mindestens ein Dutzend.“

Ragnar sah sich sichernd um.

„Wer sind sie? Und was wollen sie?“

„Keine Ahnung. Sie tragen schwarze Kleidung und sind mit Säbeln und Musketen bewaffnet. Außerdem habe ich mindestens einen Magier gesehen!“

„Was? Woher…“

„Er hat sich mit der Dame angelegt. Sein Pech. Sie hat mich hochgeschickt um euch rauszuholen. Sie selbst wird sich ebenfalls zurückziehen.“

„Dann los, nichts wie raus.“

Floris ging voraus und führte sie durch den Dachboden des Nebenhauses auf den Stall und dort auf den Heuboden. Von dort aus kletterten alle die schmale Leiter hinunter auf die Tenne. Als sie sich dem Tor zuwenden wollten, wurde es von außen geöffnet.

Die Torflügel wurden aufgerissen und gaben den Blick frei auf mehr als ein Dutzend Männer in schwarzer Kleidung und mit Säbeln bewaffnet. Inmitten der Gruppe stand ein Mann, zu dem alle anderen einen ziemlichen Abstand hielten. Er trug als einziger zusätzlich zu seiner schwarzen Kleidung einen bodenlangen schwarzen Umhang. Ein breitkrempiger Hut mit der schwarzen Feder sah etwas lächerlich aus.

„Haben wir also richtig vermutet. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. So sagt man doch bei den Seeleuten, richtig?“

Ohne eine Antwort abzuwarten sprach der Mann weiter.

„Unser Herr wird erfreut sein, dass wir Erfolg hatten. Ihr werdet zur Belohnung fast schmerzlos sterben. Natürlich erst dann, wenn ich alles über eure letzte Fahrt erfahren habe.“

Der Magier, denn ein solcher musste es wohl sein, hob seinen rechten Arm und eine leuchtende blaue Kugel erschien, die sich immer weiter ausdehnte.

„Seht einfach her und sagt, mir, was ihr wisst.“

„NEIN!“

Der Schrei entrang sich Ragnar und er spürte, wie ihm die Kontrolle über seine Magie entglitt. Der Schrei war gleichzeitig die Antwort für den Magier und die Verzweiflung darüber, dass es ihm nicht möglich war, seine Magie im Zaum zu halten.

Alle, auch die Angreifer vor dem Tor, starrten nun Ragnar an, der plötzlich von innen heraus zu leuchten schien. Ein düsteres violettes Leuchten umgab ihn und verschleierte seine Züge.

Sein Körper schien zu wachsen und sprengte seine Kleidung die in Fetzen vom Körper fiel. Sein Aussehen veränderte sich, Arme und Beine verwandelten sich und ein riesiger Körper fiel nach vorne. Der Kopf formte sich neu und ein lautes Brüllen ließ nun die Scheune erzittern. Das violette Leuchten ließ nach und der riesige Polarbär, der einst Ragnar gewesen war, erhob sich zu seiner vollen Größe.

Aus den Reihen der Seeleute hinter Mickey Fraser ertönte eine leise, ungläubige Stimme.

„Berserkr.“

Mit ungläubigen Gesichtern wichen die schwarz gekleideten Männer zurück und auch der Magier versucht nun angstvoll einen neuen Zauber zu wirken. Trotz der Größe und seines plumpen Aussehens sprang der Bär plötzlich nach vorne und seine Tatzen wirbelten nach links und rechts. Die Männer mit ihren Säbeln hatten keine Chance und dann stand der Magier alleine vor dem riesigen Tier. Hoffnungslos hob er eine Hand zu einer letzten Abwehr, doch der Bär trennte mit einer fast beiläufigen Bewegung den Kopf mit dem albernen Hut vom Rumpf.

Mit pendelndem Kopf suchte der Bär nach weiteren Gegnern, doch er fand keine. Dann dreht er sich um. Mickey erkannte ein Paar roter Augen in denen der Wahnsinn glühte. Langsam wich er mit seinen Leuten weiter zurück in die Scheune.

Lediglich Leon sah dem Bären zwar angstvoll, aber doch auch neugierig entgegen. Ganz langsam näherte er sich dem riesigen Tier, das seine Augen nun auf ihn fixiert hatte.

Mickey wollte ihn warnen, traute sich aber nicht, etwas laut zu rufen. Leon trat immer näher. Einen knappen Meter vor dem Bären kam er zu stehen, der ihn immer noch mit leicht pendelndem Kopf fixierte.

Zögernd streckte Leon seine rechte Hand aus und legte sie dem Bären auf die schwarze Nasenspitze. Der Bär stellte seine Bewegungen ein. Leon sah nun in seine Augen und flüsterte leise.

„Ragnar.“

Der Bär brüllte auf und Leon wich zurück, doch dann erkannte Leon, dass das rote Leuchten der Augen aufgehört hatte und diese nun eisblau waren.

Wie von einer Axt gefällt brach der Bär zusammen und innerhalb von Sekunden lag die nackte Gestalt von Ragnar vor Leon auf dem Boden.


Als die EDWINIA sich von der ESTRAY trennte, sah Thorben ihr mit gemischten Gefühlen hinterher. Er war sich darüber im Klaren, dass es so die einfachste und schnellste Möglichkeit für Clyde war, seine Informationen zu verschicken. Dennoch fehlten nun sechs Matrosen und noch viel wichtiger, ein Offizier, hier an Bord.

Unwillkürlich drehte sich Thorben zu Diethard Wegener, der etwas nervös neben dem Rudergänger stand und die Befehle für das Trimmen der Segel gab. Sven sah Thorbens Blick und machte ein beruhigendes Zeichen. Anscheinend hatte Diethard alles im Griff.

Die ESTRAY musste nun versuchen, die verlorene Zeit aufzuholen und die FAIRYTALE draußen in der Nähe des Treffpunktes zu finden. Dort wollten sie dann in Sichtweite nebeneinander nach dem Rendezvouspartner Ausschau halten. Das war einfacher gesagt als getan. Das Wasser war eine endlose Wüste und sie hatten zwar eine Position und ein Datum, aber keine genaue Uhrzeit.

Die ESTRAY konnte zwar mit ihrer Besegelung ziemlich hoch an den Wind, doch bei den nordwestlichen Winden mussten sie trotzdem kreuzen, um an ihr Ziel zu gelangen.

Der Ruf des Ausgucks riss Thorben aus seiner Betrachtung.

„An Deck! Schiff steuerbord voraus!“

Automatisch sahen alle nach vorne, doch von hier unten sah man nur das Wasser.

„Ist zu erkennen, was für ein Schiff es ist?“

„Nein. Aber es führt Rahsegel. Sieht aus wie in voller Fahrt.“

„Ist es vielleicht die FAIRYTALE?“

„Nein, bestimmt nicht. Die kenne ich. Die Segel passen nicht.“

Thorben überlegte nicht lange.

„Sven, wir werden versuchen, sie abzufangen. Halte genügend vor. Wir müssen sofort reagieren, wenn sie den Kurs ändern.“

„Aye aye, Sir.“

Sven sah hoch zum Verklicker, der ihm die relative Windrichtung verriet und sprach dann mit Diethard. Kurz darauf änderte die ESTRAY ihren Kurs nach Steuerbord.

Thorben zögerte einen Moment, doch dann wandte er sich nochmals an Sven.

„Schiff klarmachen zum Gefecht.“

„Schiff klarmachen zum Gefecht. Aye aye, Sir.“

Als die ersten Befehle über das Deck schallten, kamen auch die Scouts aus ihrer kleinen Unterkunft. Clyde sah sich um, konnte aber nichts entdecken.

„Was ist los?“

Thorben deutete nach Backbord, wo sich nun das fremde Schiff befinden musste.

„Es nähert sich jemand mit voller Fahrt. Ein größeres Schiff, wie es aussieht. Wenn es unser Ziel sein sollte, entfernt es sich gerade sehr schnell vom Rendezvouspunkt.“

„Du meinst, sie werden von der FAIRYTALE verfolgt?“

Thorben zuckte mit den Schultern.

„Die Möglichkeit besteht. Wir werden sehen, ob sie versuchen uns auszuweichen.“

„Können sie uns nicht einfach ignorieren?“

„Doch, schon, aber wir sind vor dem Wind schneller als sie. Wir könnten ihnen leicht überallhin folgen und sie müssten schon versuchen, uns bei Nacht oder Nebel abzuhängen.“

„An Deck! Das Schiff ist immer noch auf seinem Kurs. Sieht aus wie ein kleines Kriegsschiff oder ein bewaffnetes Handelsschiff.“

Clyde blickte nachdenklich in die angegebene Richtung, wo sich jetzt etwas Weißes über dem Horizont zeigte.

„Ich habe ein verdammt schlechtes Gefühl. Möglicherweise ist es ja sogar dieser Freibeuter, der uns vor Kingstown versenkt hat. Wenn ja, dann ist er schwer bewaffnet.“

„Wir werden sehen. Das wird aber wohl noch eine halbe Stunde dauern.“

„An Deck! Zweites Schiff in Sicht! Kommt ebenfalls auf uns zu, mit voller Fahrt.“

„Könnte das die FAIRYTALE sein?“

„Ist noch nicht zu erkennen.“

„Wir müssen abwarten, ob sich erkennen lässt, wer sich uns so schnell nähert. Wenn es wirklich dieser Freibeuter sein sollte, haben wir ein Problem. Seine Kanonen reichen erheblich weiter als unsere. Außerdem brauchen wir uns auf ein Gefecht gar nicht einzulassen. Wenn sie so bewaffnet sind wie die FAIRYTALE haben sie eine Breitseite 312 Pfund an Geschoßgewicht, gegen unsere 24.“

„Also was würden wir dann machen?“

Thorben sah noch einmal nachdenklich zum Horizont.

„Wie weit reicht dein Feuerzauber?“

„Oh, das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Ich weiß nur, wenn ein Feuerball nicht trifft, dass er dann noch eine ganze Strecke weit fliegt um dann zu erlöschen. Unsere Lehrer haben uns immer darauf hingewiesen, ein Ziel sorgfältig anzuvisieren, oder darauf zu achten, dass sich dahinter nichts Brennbares befindet.“

„Glaubst du, du triffst ein Segel auf eine Kabellänge?“

Clyde überlegte. Eine Kabellänge, das war 1/10 Seemeile. Eine ziemliche Entfernung, selbst mit der Trefferlupe. Das Ziel bewegte sich und er selbst bewegte sich auch.

„Ich kann es versuchen. Allerdings kann ich nichts garantieren. Auf die Entfernung habe ich einen Feuerball noch nie eingesetzt. Und ich kann auch nicht unbegrenzt die Dinger verschießen. Höchstens vier oder fünf hintereinander.“

„Ein oder zwei Treffer reichen vollkommen. Ich will nur, dass sie an Fahrt verlieren und dadurch manövrierunfähig werden. Die FAIRYTALE häute dann erheblich leichteres Spiel.“

„Wenn sie es denn tatsächlich ist. Ich…

„An Deck! Das zweite Schiff ist die FAIRYTALE. Der Rumpf kommt jetzt über die Kimm.“

Thorben ließ sich das Fernrohr von Diethard geben und sah hindurch. Von hier aus waren von dem verfolgenden Schiff lediglich die Segel zu erkennen, von dem ersten Schiff war nun auch der Rumpf zu sehen. Thorben reichte schweigend das Glas an Clyde.

Der starrte eine ganze Weile auf das erste Schiff und schüttelte dann den Kopf.

„Ich kann noch nichts erkennen. Wir müssen so dicht ran, dass wir die Galionsfigur sehen können. Dann wissen wir, ob es sich wirklich um den Freibeuter handelt.“

Thorben seufzte.

„Ich hatte befürchtet, dass du so etwas sagst.“

„Captain, das fremde Schiff hat seinen Kurs geändert. Es hält jetzt genau auf uns zu.“

Thorben schnappte sich von Clyde das Fernrohr und sah hindurch.

„Tatsächlich. Sie wollen uns anscheinend im Vorbeigehen ausschalten. Mal sehen, was er gleich macht.“

Thorben drückte das Fernrohr etwas geistesabwesend dem Schiffsjungen hinter sich in die Hand, dann wandte er sich an Sven.

„Kurs ändern. Wir halten jetzt genau auf ihn zu. Egal, wohin er dreht, wir halten weiter auf ihn zu. Das sollte ihn erst einmal verunsichern. Mal sehen, wie er reagiert.“

Sven nickte und Diethard gab seine Befehle an Rudergänger und die Seeleute. Die ESTRAY änderte ihren Kurs und die Entfernung zwischen den beiden Schiffen verminderte sich rasch.

„Ach so, Clyde. Kannst du mir einen Gefallen tun? Ragnar ist ja jetzt nicht hier und du bist der einzige Offizier außer mir. Du müsstest bitte als Batterieoffizier fungieren.“

Clyde sah Thorben überrascht an, nickte aber.

„Jawohl, Sir. Bin gleich wieder da.“

Zu Thorbens Überraschung verschwand Clyde in der Luke zu seiner Unterkunft um kurz darauf wieder zu erscheinen. Im Gegensatz zu seinem sonstigen Auftreten trug er nun zur Uniform auch seinen Säbel, in der Hand hielt er einen kleinen silbernen Gegenstand.

„Woher hast du die denn?“

Clyde sah etwas peinlich berührt auf das Deck. In seiner Hand hielt er die silberne Batteriepfeife von Ragnar.

„Die hat Ragnar doch benutzt, als ich das erste Mal den Feuerball auf diesen Logger abgeschossen habe. Danach habe ich ihm gesagt, ich bin kein Hund, nach dem man pfeifen kann. Da hat er mir die Pfeife gegeben mit dem Kommentar, ich sollte mich schon mal dran gewöhnen.“

Thorben hob seine Augenbrauen, erwiderte aber nichts. Sven hatte während der ganzen Zeit das fremde Schiff im Auge behalten.

„Das Schiff ist jetzt gut erkennbar. Ich würde sagen, ein bewaffnetes Handelsschiff. Führt keine Flagge. Ist aber ganz schön schnell. Kein Wunder, dass die FAIRYTALE sie nicht einholen konnte.“

Thorben fuhr herum und wurde etwas abgelenkt, als ihm jemand ein Fernrohr entgegenstreckte. Automatisch nahm Thorben es an und erkannte den Schiffsjungen, den Diethard als Signalgasten abgeteilt hatte. Ruckartig blickte Thorben nun nach oben, doch dort wehte bereits die blaue Gefechtsflagge. Der Junge sah ebenfalls nach oben.

„Die habe ich bei Gefechtsalarm gesetzt, so wie man es mir gesagt hat.“

Thorben nickte.

„Ja, völlig richtig. Ich sehe, du hast aufgepasst.“

Dann schenkte er dem sich nähernden Schiff seine volle Aufmerksamkeit.

„An Deck ist nichts zu erkennen. Da tut sich nichts. Möglicherweise machen sie ihre Kanonen gefechtsklar. Also, wir nähern uns bis auf eine Kabellänge. Achtet darauf, dass wir nicht genau vor ihnen sind, ich weiß nicht, wie weit bei denen die Jagdgeschütze reichen.“

Sven nickte und gab die Anweisungen an Diethard weiter.

Clyde wandte sich nun zu seiner kleinen Truppe, die sich beim Mast versammelt hatte.

„Also, wenn es sich tatsächlich um diesen Freibeuter handelt, werde ich versuchen, seine Segel mit einem Feuerball zu zerstören. Dann müssen wir uns frei von ihm halten, bis die FAIRYTALE eintrifft. Während eines Gefechts können wir nicht viel machen, aber ihr bleibt auf jeden Fall hier oben und wartet auf weitere Befehle.“

Frank nickte und Mario kontrollierte schweigend seinen Karabiner.

„Hey, Clyde. Das könnte dich interessieren.“

Wortlos nahm Clyde von Thorben das Fernrohr entgegen und sah hindurch.

„Sie sind es tatsächlich!“

Deutlich war nun die Galionsfigur in Form eines Schlangenkopfes zu erkennen.

„Dann klarmachen zum Angriff. Sven, bei einer Kabellänge nach Backbord abdrehen und versuchen, in dem Abstand den Gegner zu passieren. Beide Batterien vorladen für Kartätschenbeschuss.“

Erstaunt sahen sich einige ältere Seeleute um, aber Clyde zog seinen Säbel.

„Backbordbatterie klarmachen für Kartätschenbeschuss! Geschützführer zeigen Feuerbereitschaft.“

Sofort begannen die Geschützbesatzungen zu arbeiten. Nacheinander ging bei jedem Geschützführer eine Hand hoch. Clyde zählte durch und nickte.

„Steuerbordbatterie klarmachen für Kartätschenbeschuss! Geschützführer zeigen Feuerbereitschaft.“

Sofort wechselten die Geschützbesatzungen die Seite und begannen auch dort, die Kanonen feuerbereit zu machen. Langsam gingen auch hier die Hände hoch.

Clyde drehte sich zu Thorben und grüßte mit dem gezogenen Säbel.

„Beide Batterien klar für Kartätschenbeschuss. Beide Batterien feuerbereit.“

Thorben sah Clyde etwas erstaunt und auch etwas amüsiert an. So hatte er ihn noch nie erlebt. Sven hatte unterdessen das andere Schiff weiter im Auge behalten.

„Wir haben den Abstand gleich erreicht.“

Wie zur Bestätigung sah man am Bug des fremden Schiffes zwei kleine Qualmwölkchen aufsteigen und kurz darauf war auch der Knall zu hören. Zwei Fontänen stiegen neben der ESTRAY aus dem Wasser und Thorben sah stirnrunzelnd zu ihnen hinüber.

„Abdrehen wie befohlen.“

Die ESTRAY schwenkte nach Backbord und wo sie eben noch gewesen war, stiegen zwei weitere Fontänen auf.

„Meinst du, es geht mit dem Abstand?“

Clyde sah zweifelnd hinüber, doch er nickte. Entschlossen schickte er einen Feuerball auf den Weg. Durch die Drehung der ESTRAY wurde auch Clyde etwas aus dem Ziel gedreht und der Feuerball raste zwischen Vor- und Hauptmast hindurch.

Clyde fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen und nahm das Vorsegel als Ziel. Durch die schnelle Fahrt beider Schiffe hatte er nicht mit dem nötigen Vorhalt gerechnet, doch der Feuerball traf stattdessen das Großsegel.

Mit einer flammenden Explosion wurde das Segel entzündet und laute Schreie hallten über das Deck des anderen Schiffes. Vollkommen fasziniert beobachtete Clyde nun, wie die Flammensäule rasch anstieg und sich über die Bramsegel zu den Marssegeln emporfraß. Innerhalb von Sekunden stand der ganze Großmast in Flammen.

Das Schiff hatte stark an Fahrt verloren und der Kapitän hatte eine sofortige Kursänderung eingeleitet. Er legte das Schiff quer zum Wind, damit die Flammen nicht auf die Segel des Vormastes übergreifen sollten.

Clyde drehte sich fragend zu Thorben um.

„Noch einen?“

„Nein. Das dürfte reichen. Wir wollen sie nur manövrierunfähig machen, nicht versenken. Was glaubst du, was passiert, wenn das Feuer sich ausbreitet und irgendwann die Pulverkammer erreicht.“

Clyde macht dicke Backen und erinnerte sich an seine Ausbildung mit brennbaren Stoffen.

Die ESTRAY entfernte sich rasch von dem immer noch brennenden Schiff, als man auch schon die FAIRYTALE näherkommen sah.

Am Kreuzmast des anderen Schiffes stieg nun die Kriegsflagge von Herblonde empor.

„Also doch. Sie werden ja wohl kaum die Flagge unseres Kriegsgegners gesetzt haben, nur um uns zu täuschen.“

„Wir werden sehen. Aber jetzt ist erst einmal die FAIRYTALE dran.“


Auf der FAIRYTALE schritt Captain Daniel Hansom ungeduldig auf dem Achterdeck auf und ab. Dass ihnen das Schiff in der Nähe des Rendezvouspunktes entkommen war, war alleine seine Schuld. Der Master hatte noch gefragt, ob sie etwas abseits des Punktes kreuzen sollten, aber Daniel hatte angeordnet, sie sollen den Punkt direkt anlaufen. So schnell wie möglich.

Auch er wusste, dass für das Treffen keine Zeit angegeben war und er befürchtete, dass es schon in der Morgendämmerung hätte stattfinden sollen. So legte er Wert auf eine schnelle Anfahrt. Unter vollen Segeln hatte die FAIRYTALE das fremde Schiff aufgescheucht und es stellte sich heraus, dass es ihr in Geschwindigkeit zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen war.

Missgelaunt sah er hinüber zum Master, der aber mit stoischem Gesicht hinaus auf die See blickte und das fremde Schiff mit einem Fernglas im Auge behielt. Sigurd Hochbauer war Wachhabender Offizier und unterhielt sich mit dem neuen Steuermannsmaaten. Kieran Thorsgard stammte, trotz seines isafjordischen Namens, aus Britannica. An der Ostküste, im Herzogtum Eastmarsh lebten viele Nachkommen der einstigen Isafjorder, die versucht hatten in grauer Vorzeit Britannica zu erobern.

Auch einer der Seekadetten der Wache war neu. Daniel Hansom hatte sich entschlossen, nicht alle drei freien Posten der Seekadetten aus den Reihen der Schiffsjungen zu besetzen. Calvin Miller stammte aus Tarray und war der Sohn eines Fischers. Er fuhr schon zur See, seit er laufen und schwimmen gelernt hatte. Im Gegensatz zu vielen Seeleuten, legten die Fischer der Inseln viel Wert darauf, dass ihre Kinder schwimmen lernten. Es bestand kein Grund, bei den Gefahren der Arbeit auch noch zusätzlich zu seinem Leben seine Seele zu verlieren. Die Fischer glaubten, die Seele eines Ertrunkenen würde sich in einem Selkie manifestieren.

Die Seekadetten der anderen beiden Wachen kamen aus den Reihen der Schiffsjungen und zu seiner großen Freude war Arni Gunnarson ausgewählt worden. Der zweite war ein schmaler dunkelhaariger Junge aus Rota, Alessandro Cantori.

Der Captain wurde aus seinen Betrachtungen über die Besatzung gerissen, als der Master sich umdrehte.

„Da passiert etwas. Sie haben ihre Segelstellung verändert.“

Daniel Hansom ruckte herum.

„Was? Warum?“

„Nichts zu erkennen.“

„Ausguck! Was ist da vorne los?“

„An Deck! Ein weiteres Schiff. Sehr klein. Nicht viel zu erkennen.“

Daniel Hansom sah den Master an.

„Ein weiteres Schiff? Und dann ändern sie ihren Kurs?“

„Wir werden ja sehen, wie sich das entwickelt. Zumindest können wir jetzt etwas… was zum… Verdammt, das kleine Schiff muss die ESTRAY sein.“

„Was?“

Daniel Hansom riss dem ruhig dastehenden Wachhabenden Offizier förmlich das Fernglas aus der Hand. Was er vor sich sah, konnte er kaum glauben.

Der Großmast des fremden Schiffes stand in hellen Flammen! Selbst auf diese Entfernung konnte man die Feuersäule erkennen, die am Mast emporwanderte und nun auch die oberen Segel erreichte. Das Schiff änderte jetzt stark seinen Kurs und Daniel nickte unbewusst. Sie mussten versuchen, die Segel der anderen beiden Masten zu retten. Doch das war mehr als unwahrscheinlich.

Dann erinnerte er sich an die Aussage des Masters. Richtig, das konnte eigentlich nur Clyde gewesen sein. Wenn sie das fremde Schiff angriffen, mussten sie es als Gegner identifiziert haben.

„Lieutenant Hochbauer! Schiff klar zum Gefecht. Batteriedeck Vollkugeln. Oberdecksbatterie Kartätschen. Hauptmann de Luca, alle Seesoldaten auf die Plattformen. Sie sollen alles unter Feuer nehmen, was irgendwelche Geschütze bedient. Nicht auf die Offiziere schießen, an die habe ich noch ein paar Fragen.“

Lieutenant Hochbauer gab den Befehl schon weiter und Daniel Hansom wurde durch das laute Geräusch einer Trommel erschreckt. Noch so eine Neuerung. Feliciano de Luca hatte nachgefragt, ob die Seesoldaten einen Trommler haben dürften.

„Wozu braucht ihr einen Trommler? Und wer soll das sein?“

„Die Trommler, also eigentlich sind es zwei pro Kompanie, gehören eigentlich zur Infanterie. Sie geben beim Marschieren den Takt vor und geben auch die Signale für Schwenkungen und solche Sachen. Mit ihrer Hilfe werden die Kompanien und Bataillone im Gefecht aufgebaut.“

„Sie werden ins Gefecht mitgenommen?“

„Nein, natürlich nicht. Vor oder bei Beginn der Kampfhandlungen werden sie zu einem Sammelpunkt zurückgezogen.“

„Aha, aber wir sind hier an Bord. Da wird nicht marschiert.“

Feliciano seufzte etwas und verdrehte die Augen.

„Jawohl, Sir. Wir sind aber, obwohl wir Seesoldaten heißen, eine Infanterieeinheit. Rein theoretisch gehören zu einer Kompanie auch noch ein Kompaniefeldwebel, ein Schreiber und ein Fouragier. Den Trommler haben wir zufällig unter den Schiffsjungen entdeckt. Er war dran die Schiffsjungen zu verlassen. Als Seekadett ist er nicht ausgewählt worden und Toppsgast oder Richtkanonier wollte er nicht so gerne werden.“

„Und er kann trommeln?“

„Oh ja, sehr gut sogar. Von dem was er erzählt hat, habe ich entnommen, dass er zu einer Gauklertruppe gehört hat, die durch das Land gezogen ist. Irgendwo hat man die Gaukler des Diebstahls bezichtigt und eingesperrt. Jared konnte entkommen und hat sich hierher durchgeschlagen.“

„Jared? Moment, ich glaube, an den kann ich mich erinnern. Kommt der nicht ursprünglich aus Erin? So ein kleiner Rothaariger, mit vielen Sommersprossen?“

„Ja, das ist er. Hier an Bord hätte er bei uns nicht viele Aufgaben. Ich habe schon mit Miles gesprochen. Im Seebetrieb könnte er als Schreiber arbeiten und die Bücher der Seesoldaten führen. Im Gefecht ist er Trommler und Signalwiederholer.“

„Signalwiederholer?“

Feliciano seufzte noch einmal.

„Jawohl, Sir. Für alle Gefechtsbefehle gibt es Trommelsignale. Also, Klar Schiff zum Gefecht, oder Enterangriff, oder Feuer einstellen.“

„Das heißt aber auch, wir müssen die Besatzung damit bekannt machen. Was nützen die Trommelsignale, wenn sie keiner versteht?“

So kam es, dass mehr als einmal am Tag stundenlang irgendwelche Trommelsignale geübt wurden, die am Anfang zu einiger Konfusion unter der Besatzung führten.

Jared Kingsley stand mit seiner Trommel auf dem Achterdeck, fast neben dem Kommandanten und bemerkte sehr wohl, dass dieser zusammenzuckte, als er mit dem Gefechtsalarm begann.

Lieutenant Seymore kam hoch zum Achterdeck. Lieutenant Hochbauer hatte seinen Posten mit dem Master getauscht.

„Schiff ist klar zum Gefecht, Sir.“

„Danke, Percy. Dann wollen wir mal sehen, wen Clyde da angebraten hat.“

„Bist du sicher, dass es Clyde war?“

„Hast du die Flammensäule gesehen? Ich wüsste nicht, was sonst so ein Feuer ausgelöst haben könnte.“

„Na gut. Ich werde dann mal…“

„An Deck! Das fremde Schiff hat eine Flagge gesetzt. Sieht aus wie die Kriegsflagge von Herblonde.“

Daniel Hansom nickte grimmig und sah nach oben zur blauen Flagge der Freibeuter von Britannica.

„Dann wissen wir ja jetzt, woran wir sind.“

Die FAIRYTALE näherte sich nun rasch dem fast bewegungslos daliegenden Schiff.

„Ist die ESTRAY irgendwo zu sehen?“

„Bis jetzt noch nicht. Obwohl sie eigentlich… Doch, da hinten. Sie kommt gerade hinter dem anderen Schiff hervor.“

„Übermittelt ein Signal. Sie soll sich erst einmal entfernt halten. Ich möchte nicht, dass sie versenkt wird, wenn das Gefecht im Gange ist.“

„Aye aye, Sir.“

Irritiert drehte sich der Captain um. Im Gefecht waren zwei Midshipmen für den Signaldienst abgeteilt, je einer beaufsichtigte Bug- und Heckgeschütze und zwei standen hinter dem Captain und dem Master als Läufer bereit. Die anderen Offiziere waren alle bei ihren Geschützbatterien.

Der Midshipman für den Signaldienst, der jetzt hinter Captain Hansom stand, war einer der Neuen. Calvin Miller hatte seine Position auf der Steuerbordseite bei den Flaggenleinen, an Backbord stand Elvar Olsson.

Der goldblonde Junge mit dem dichten Haarschopf las erst etwas in einem kleinen Buch nach, dann wühlte er in einem großen Jutesack. Kurze Zeit später wehten mehrere bunte Flaggen aus.

„Die ESTRAY hat das Signal erkannt und bestätigt.“

Das Signal wurde wieder heruntergenommen und die einzelnen Flaggen in dem Sack verstaut.

„Dann wollen wir mal sehen, ob der Angriff der ESTRAY wirklich so viel Schaden gemacht hat, wie es aussieht. Jason, ich möchte hinter dem Schiff vorbei. Wir gehen kein Risiko ein.“

Wenn sie es schafften am Heck des Gegners vorbei zu kommen, konnten sie mit einer vollen Breitseite den Heckspiegel beschießen. Die schweren Kugeln der 18-Pfünder würden den Heckaufbau durchschlagen und durch die gesamte Länge des gegnerischen Schiffes fegen. Deshalb war es im normalen Gefecht auch unabdingbar darauf zu achten, dass der Gegner einen nicht ausmanövrierte und sich hinter einen setzte.

Das fremde Schiff war ohne ordentliche Besegelung fast nicht manövrierfähig. Die Flammensäule hatte an ihrem obersten Punkt auch auf die Bramsegel von Fock und Kreuzmast übergegriffen. Das gesamte laufende Gut des Großmastes war ebenfalls verbrannt und Daniel Hansom fragte sich, wie stark das stehende Gut beschädigt war.

Mit dem stehenden Gut waren die Masten versteift und die schweren Taue mussten den gesamten Druck auffangen, den die Segel an den Mast weitergaben. Waren sie beschädigt, würde der Mast unter der Last des einfallenden Windes abknicken.

„Ich frage mich, warum sie die anderen Segel nicht auch geborgen haben. Wollen sie die Masten loswerden?“

Captain Hansom sah zum Master, der den gleichen Gedanken gehabt hatte. Hinter ihnen sah Percy Seymore zweifelnd nach drüben.

„Ich glaube, sie haben gerade ein paar Probleme mit der Besatzung. In der Situation würde ich auch ungerne aufentern zum Bergen.“

Daniel nickte, als der leise Knall eines Pistolenschusses herüberschallte.

„Aha.“

Kurz darauf sah man einige Seeleute aufentern und die restlichen Segel wurden langsam geborgen.

„Scheinbar hat sich die Schiffsführung durchgesetzt. Pierre, fordere sie zur Kapitulation auf.“

Pierre Lutteur nahm sich eine Flüstertüte und rief ein paar Sätze herüber. Die Antwort war nur sehr kurz und sogar Daniel Hansom konnte mit

„Jamais!“ etwas anfangen.

Pierre drehte sich um.

„Niemals. Sonst hat er nichts gesagt.“

Captain Hansom sah seinen Ersten Offizier fragend an. Das war eine dieser Situationen in der er nicht wusste, ob alles so richtig war, wie er entscheiden würde.

„Percy, sag was. Wir können doch nicht einen unbeweglichen Gegner einfach so versenken.“

„Unbeweglich mag er ja sein, aber unbewaffnet ist er nicht. Wenn wir näher kommen, werden sie wohl bis zum letzten Atemzug kämpfen. Wenn wir Antworten haben wollen, müssen wir sie uns mit Gewalt holen.“

Daniel Hansom nickte langsam und bedächtig.

„Ja, es wird uns wohl nichts weiter übrig bleiben. Jason, wie abgesprochen hinten vorbei. Steuerbordbatterie klar zum Gefecht.“

Die Passage hinter dem gegnerischen Schiff war nicht so einfach, wie sich Daniel Hansom das gedacht hatte. Der Gegner hatte zwei Heckgeschütze in der Galerie und setzte sie auch sofort ein. Nach dem Knall zu urteilen waren es schwere 24-Pfünder, für die wohl extra eine verstärkte Bettung eingebaut worden war.

Die beiden Kugeln fanden auch ihr Ziel und schlugen in den Rumpf der FAIRYTALE. Dem Krachen nach zu urteilen, hatten sie den Rumpf durchschlagen, aber sich darum zu kümmern war Sache des Zimmermanns.

„Feuererlaubnis für Batteriedeck! Laufendes Gefecht!“

Die FAIRYTALE glitt nun langsam am Heck des Gegners entlang und man konnte bis oben die Batteriepfeife von Lionel Holland hören. Der ganze Rumpf erzitterte als die vordersten 18-Pfünder des Batteriedecks ihr Feuer eröffneten. Die Treffer fetzten förmlich die Verkleidung von der Heckgalerie des Gegners. Eben noch konnte man den Namenszug LE COMBATTANT lesen, dann war auch er verschwunden. Alle weiteren Kanonen wurden einzeln abgefeuert, immer dann, wenn der beste Winkel für einen Schuss längs durch das gegnerische Schiff erreicht war.

„Klar zur Wende! Backbordbatterien feuerbereit!“

Während die FAIRYTALE wendete, sah Daniel Hansom durch sein Fernrohr zurück auf das Chaos, das sie angerichtet hatten. Die Heckgalerie war so gut wie nicht mehr vorhanden. Die beiden schweren Kanonen lagen umgestürzt auf ihren Bettungen und man konnte erkennen, wie ein Rinnsal von Blut am Heck herunterlief. Er wagte es nicht, sich auszumalen, wie es im Inneren des Schiffes aussah.

Daniel erschauerte, doch Percy sah kopfschüttelnd nach oben.

„Sie weht immer noch. Sie werden wohl nicht aufgeben.

„Ausguck! Ist irgendetwas an dort drüben an Oberdeck zu erkennen?“

„Aye, Sir. Da laufen noch etliche Leute rum, Sieht so aus, als ob sie sich bewaffnet haben.“

Percy schüttelte wiederum seinen Kopf.

„Was soll das? Glauben sie wirklich, sie können uns vom Entern abhalten?“

„Sie müssen. So lange die Flagge noch weht, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.“

Die FAIRYTALE hatte die Wende beendet und konnte sich nun dem Gegner vor dem Wind nähern. Ihr Kurs führte sie schräg vor dessen Bug, wobei der Captain entscheiden musste, ob er entern wollte oder ein Passiergefecht riskierte.

Der Blick auf die versammelte Mannschaft auf dem gegnerischen Schiff gab den Ausschlag.

„Backbordbatterien klar halten! Batteriedeck Einzelfeuer auf die Stückpforten. Oberdeck eine geschlossene Salve!“

Sigurd Hochbauer wies seine Richtkanoniere auf dem Batteriedeck entsprechend an. Sie durften selber entscheiden welches Ziel aufgefasst und wann die Kanone abgefeuert wurde. An Oberdeck hatte Pierre Lutteur das entgegengesetzte Problem. Hier mussten die Richtkanoniere versuchen, im Vorbeifahren die entsprechende Höhe zu halten und auf ein Signal alle Kanonen gleichzeitig abzufeuern. Das hatte, abgesehen von einem sehr einschüchternden Effekt den Grund, dass niemand dem flächendeckenden Bombardement so leicht entgehen konnte.

Als die FAIRYTALE langsam an der Backbordseite des gegnerischen Schiffes entlangfuhr, dröhnten die ersten Abschüsse von Kanonen herüber. Lautes Krachen und Schreie aus dem Batteriedeck verkündeten, dass sie ihr Ziel gefunden hatten.

Daniel Hansom knirschte mit den Zähnen.

„Batteriedeck Feuererlaubnis!“

Kaum war der Befehl übermittelt, Begannen die 18-Pfünder mit ihrem Vernichtungswerk.

„Oberdeck feuern, wenn wir genau querab sind!“

Pierre hob bestätigend seinen Säbel und einen Moment später wurde er gesenkt. Gleichzeitig ertönte die Batteriepfeife und die acht 12-Pfünder der Backbordseite feuerten gleichzeitig eine Ladung Kartätschen hinüber. Der Ruck der Breitseite ließ das ganze Schiff erzittern und legte es ein wenig nach Steuerbord.

Nach den beiden Salven der schweren Geschütze schwiegen auf der LE COMBATTANT die Waffen. Daniel Hansom sah misstrauisch hinüber. Er konnte nur hoffen, dass die gegnerische Mannschaft genügend dezimiert war um einen Enterangriff gewinnen zu können.

„Jason, noch einen Anlauf. Wir wollen entern. Mit Steuerbordseite anlaufen.“

Der Master nickte und sah zu den Segeln.

„Klar zur Halse!“

Die FAIRYTALE drehte nochmals. Der nächste Anlauf war schräg gegen den Wind, doch das war gar nicht so ungünstig, denn dann würden sich die beiden Schiffe nur langsam annähern und es kam zu keinem unkontrollierten Zusammenstoß. So näherte sich die FAIRYTALE von hinten der Backbordseite des Gegners.

„Klarmachen zum Entern mit Steuerbordseite!“

Das war das Stichwort für Percy Seymore und Feliciano de Luca. Sie sammelten ihre Truppen an mehreren Stellen an der Steuerbordreling und eine Gruppe von besonders ausgewählten Matrosen schwangen bereits die Leinen mit den Draggen.

In diesem Moment ertönten Abschüsse. Daniel Hansom sah sich irritiert um, doch er konnte nicht erkennen, woher die gekommen waren.

„An Deck! Die ESTRAY hat sich dem Gegner genähert und beschießt das Oberdeck an Steuerbord!“

Was war da los? Was hatte Thorben zu seinem Eingreifen veranlasst?


Die ESTRAY verharrte entsprechend ihren Befehlen in einem sicheren Abstand von dem gegnerischen Schiff, während die FAIRYTALE sich langsam an den Gegner heranschob. Dann wurde erkennbar, dass die FAIRYTALE den Kampf aufgenommen hatte. Sie schwang herum und segelte ohne dass jemand sie daran hindern konnte, hinter dem Heck des Gegners durch.

Selbst bis zu ihnen drang der dumpfe Knall der Abschüsse der schweren Geschütze des Batteriedecks. Thorben schüttelte den Kopf.

„Das ist das reinste Schlachtfest.“

Clyde versuchte sich gar nicht vorzustellen, wie es im Rumpf aussah, nachdem die schweren Kugeln dort durchgerast waren.

„Was kommt denn jetzt?“

Clyde sah angestrengt hinüber und Sven kniff etwas seine Augen zusammen.

„Sie drehen. Sie wollen wohl noch einmal anlaufen. Wenn sie entern wollen, muss die gegnerische Mannschaft so stark wie möglich dezimiert werden. Mal sehen, was geschieht.“

Und so konnten Clyde und auch der Rest der Besatzung verfolgen, wie die FAIRYTALE in einem Passiergefecht ihre gesamte Breitseite zum Einsatz brachte.

„Ihr Götter, das muss ja die Hölle dort an Deck gewesen sein.“

Clyde erschauerte ein Wenig, doch Mario, der hinter ihm stand, schüttelte den Kopf.

„Isses nich. Wenn man die richtige Deckung hat, kann man auch das überstehen. Außerdem, denk mal an unsere Leute. Je mehr Gegner tot sind, desto weniger sterben von uns.“

Ja, dachte Clyde, Mario hat da so seine pragmatischen Ansichten.

„Was machen die denn da?“

Clyde sah erstaunt zu Arje, der zur LE COMBATTANTE hinüberblickte.

„Was, wo denn?“

Auch Thorben war nun aufmerksam geworden und nahm sein Fernrohr zur Hilfe.

„Na, da soll doch…“

Thorben fuhr zu Sven herum.

„Klar Schiff zum Gefecht!“

Dann sah er zum Verklicker und auf ihre Segel.

„Backbordbatterie klarmachen für Kartätschenbeschuss.“

Seven sah Thorben etwas ungläubig an, doch Befehl war Befehl. Schnell kam Bewegung in die Mannschaft, als die ersten Befehle gerufen wurden.

Thorben wandte sich an Clyde.

„Sieh mal genau rüber. Die haben die Reste ihrer Besatzung in Deckung gebracht und nun hier auf ihre Steuerbordseite geholt. Die sind auf der anderen Seite fast gar nicht zu entdecken. Ich möchte denen ihren Plan verhageln. Wir machen einen kurzen Anlauf und feuern eine Breitseite mit unseren Kanonen. Vielleicht könnt ihr ja auch gezielt noch jemanden erwischen.“

Clyde wandte sich erstaunt um, erinnert sich aber dann daran, dass er ja Batterieoffizier war, solange Ragnar fehlte. Schnell gab er Frank ein paar Anweisungen und ging dann zu den Kanonen.

„So, Leute. Wenn wir Glück haben, bemerken die nicht einmal, dass wir kommen. Die konzentrieren sich ganz auf die FAIRYTALE. Ich brauche eine geschlossene Breitseite. Wir werden wohl auf eine große Entfernung schießen müssen, sonst bekommen wir die Erhöhung nicht hin.“

Die Richtschützen nickten zustimmend. Es lag nun an ihnen, ob ihr Angriff ein Erfolg wurde, aber sie waren ja auch nicht umsonst für diese Aufgabe ausgewählt worden.

Einer der Richtschützen, ein noch relativ junger Mann um die Zwanzig spähte zweifelnd über das Rohr seines Geschützes und sah dann nach nebenan, aber von dort kam keine Hilfe.

„Ein Problem?“

Nervös fuhr der junge Mann herum zu Clyde.

„Nein, Sir. Aber ich habe noch nie mit voller Erhöhung schießen müssen. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Einstellung bei dieser Entfernung ausreicht.“

Clyde nickte und sah sich kurz um. Einen Moment war wohl noch Zeit.

„Das ist doch deine Kanone hier, deine persönliche Waffe sozusagen, oder?“

Der junge Mann schien etwas verwirrt, nickte aber.

„Jawohl, Sir.“

„Dann zieh mal dein Hemd aus.“

Nun vollends verwirrt, tat der Richtschütze dennoch, was ihm befohlen worden war.

„So, und jetzt fass die Kanone an und dann sieh an ihr vorbei auf das Schiff.“

Aufseufzend tat der Mann wie geheißen und spürte auf einmal Clydes flache Hand auf seinem Rücken.

Er sah zwar immer noch das andere Schiff vor sich, doch sein Sichtfeld verengte sich und das Schiff schien viel näher zu sein. Von der Kanone zog sich ein langer Bogen hinüber zu dem Schiff, um kurz davor im Wasser zu verschwinden.

„Eine Kerbe zurück.“ flüsterte er.

Er hörte, wie sich jemand an der Höhenrichtung zu schaffen mache und nun ruckte der Bogen etwas nach oben um an Ende direkt an der Bordwand des anderen Schiffes zu enden.

Die Hand auf seinem Rücken verschwand und der junge Mann erwachte wie aus einem Traum. Sein Oberkörper war schweißüberströmt und er zitterte nicht nur wegen des merkwürdigen Erlebnisses, sondern auch wegen der völlig anderen Gefühle, die ihn dabei durchzuckt hatten.

„Was…, was war das?“

„Lass es dir nach dem Gefecht von den Scouts erklären.“

Clyde drehte sich zu Thorben und grüßte mit dem Säbel.

„Backbordbatterie klar zum Feuern!“

Thorben nickte und sah nach vorne. Fast lautlos hatte sich die ESTRAY dem fremden Schiff genähert und niemand hatte sie bis jetzt bemerkt. Ein lauter Schrei ließ Thorben herumfahren und er erkannte eine nun wild wedelnde Gestalt in den Fockwanten des ihres Gegners.

„Feuer!“

Clydes Batteriepfeife ertönte und alle sechs Geschütze der Breitseite feuerten ihre Kartätschenladung ab. Die verschossenen Behälter mit ihren vielen kleinen Bleikugeln platzten am Ziel auf und verteilten sich explosionsartig. Die Wirkung war verheerend. Clyde musste wieder an Mario und seinen pragmatischen Ansatz denken. Sie oder wir. In der jetzigen Situation gab es kein Zurück mehr.

„Abfallen nach Steuerbord! Sven, wir gehen wieder auf sicheren Abstand, bis wir andere Befehle erhalten.“


„An Deck! Die ESTRAY hat eine Breitseite abgefeuert. Sieht so aus, als ob dort drüben Leute versteckt waren.“

Daniel Hansom nickte grimmig. Etwas Ähnliches hatte er befürchtet.

„Anlaufen zum Entern!“

Die FAIRYTALE lief nun an der Backbordseite der LE COMBATTANT entlang und wurde langsamer. Die Männer mit den Draggen machten sich bereit und auf Befehl des Ersten Offiziers wurden die kleinen Anker hinübergeworfen, dann die Leinen dichtgeholt. Die Fahrt kam aus dem Schiff und langsam näherten sich die Rümpfe.

Percy Seymore erhob seinen Säbel und deutete nach vorne. Das war das Signal für die einzelnen Gruppen den Gegner zu entern.

Der eigentliche Kampf an Bord der LE COMBATTANT dauerte nicht lange. Der größte Teil der Besatzung hatte sich an Steuerbordseite verschanzt und war durch die ESTRAY ausgelöscht worden. Die wenigen Überlebenden waren überwältigt worden.

Noch während des Enterkampfes sah Percy plötzlich, wie die Kriegsflagge der LE COMBATTANT langsam niedergeholt wurde. Sofort ließ er seine Leute den Kampf abbrechen. Die wenigen Gegner die noch standen, sahen sich erstaunt um, bemerkten dann aber ebenfalls, dass ihre Flagge gestrichen worden war.

Langsam ging Percy hinüber auf das Achterdeck, wo ein halbes Dutzend toter Männer lagen. Ein junger Mann, nein, ein Junge noch, hatte die Flagge von Herblonde in seinen Armen und trat vor Percy. Sein Gesicht war tränenüberströmt.

„Wir kapitulieren, Monsieur. Ich bin Cadet Russelier. Der letzte überlebende Offizier, so wie ich es sehe. Leider habe ich keinen Säbel, den ich ihnen überreichen kann.“

„Ich danke ihnen, Cadet. Ein Säbel ist nicht nötig. Ich akzeptiere die Kapitulation auch so. Ich bin Lieutenant Seymore von der FAIRYTALE.“

Die Augen des Jungen wurden plötzlich groß.

„Die… die FAIRYTALE? Das Schiff, wo alle…“

Plötzlich verstummte er. Ihm wurde bewusst, dass er beinahe eine Beleidigung ausgesprochen hätte. Das wäre in seiner jetzigen Situation nicht besonders gut.

Percy sah ihn auch mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

„Ich werde das mal großzügig überhören. Wir werden jetzt ihr Schiff durchsuchen. Ich muss sie auffordern, uns nicht dabei zu behindern. Ich werde… nein, Moment.“

Suchend sah Percy sich um und erblickte bei einer anderen Gruppe Jean-Luc. Winkend bedeutete er ihm näherzukommen.

„Das ist Seekadett Montfére. Er wird ihr Begleiter sein, während wir das Schiff durchsuchen. Versuchen sie nicht, ihm zu entkommen oder ihn zu überwältigen. Ihre Kapitulation und die des ganzen Schiffes wäre damit verfallen.“

Der Cadet sah Jean-Luc unsicher entgegen. Der Name hatte schon verraten, dass er ebenfalls aus Herblonde stammte. Aber er gehörte zur Besatzung der FAIRYTALE. Wie ließ sich das vereinbaren? War doch nicht alles wahr, was man ihnen erzählt hatte?


Die FAIRYTALE lag nun ordnungsgemäß vertäut längsseits der LE COMBATTANT. Die ESTRAY hatte an deren Steuerbordseite festgemacht. Thorben und Clyde waren in die Kapitänskajüte der FAIRYTALE befohlen worden, während Percy Seymore die Durchsuchung der LE COMBATTANT leitete.

In der Kapitänskajüte der FAIRYTALE hörte Daniel Hansom sich die Berichte von Thorben und Clyde an. Er war von dem raschen Ablauf der Dinge sichtlich überrascht.

„Ihr habt also diesen Logger ebenfalls mit einem Feuerball ausschalten können. Wenn das allgemein bekannt wird, wird die Navy versuchen, sich alle Feuermagier zu krallen, die in Britannica rumlaufen.“

Clyde lächelte schwach.

„Das dürfte nicht so einfach sein. Fast alle haben eine feste Anstellung und um sie zwangsweise zu rekrutieren, müsste sich die Navy wohl mit dem Erzdruiden anlegen.“

Daniel Hansom lächelte ebenfalls bei dem Gedanken und wedelte leicht mit einer Hand.

„Das nun mal beiseite, bin ich äußerst zufrieden mit euren Ergebnissen. Besonders mit dem letzten Einsatz vor dem Enterkampf. Ohne eure Unterstützung wäre alles nicht so glatt gelaufen.“

Thorben und auch Clyde strahlten ob des Lobes, als Percy Seymore eintrat. Der Captain sah ihn fragend an. Percy seufzte laut.

„Das hat ganz schön reingehauen. Also, der Rumpf ist trotz der schweren Beschädigungen am Heck immer noch intakt. Sie macht erstaunlich wenig Wasser. Das Chaos beginnt eigentlich erst ab dem Batteriedeck. Unsere Breitseite hat dort so einiges zerstört, unter anderem das Lazarett und einige Unterkünfte. Von den zwanzig Geschützen sind nur drei auf ihren Lafetten geblieben. An Oberdeck sieht es etwas besser aus, was die Bewaffnung betrifft. Die Geschütze sind alle einsatzbereit. Sie haben dort nur acht 12-Pfünder.“

„Was? Nur acht?“

„Ich nehme mal an, sie wollten Gewicht sparen. Hat man ja auch an der Geschwindigkeit gesehen. Mit der Bewaffnung wiegen die Geschütze etwa 250 Tonnen gegenüber unseren 312.“

Daniel Hansom nickte nachdenklich. Ja, schnell waren sie gewesen. Hätte die ESTRAY sie nicht abgefangen…

„Was ist mit den Masten und der Besegelung?“

„Alles hinüber. Die Masten sind nicht mehr brauchbar. Das stehende Gut ist instabil und das laufende Gut ist zum größten Teil in Flammen aufgegangen. Da ist nichts mehr zu retten."

Daniel Hansom runzelte die Stirn und dachte nach. Er hatte eine vage Idee, aber die kostete Zeit. Er war sich nicht sicher, wie Percy diese neue Idee aufnehmen würde.

„Das wäre erst mal alles. Thorben, du kannst auf die ESTRAY zurückkehren. Sie bleibt längsseits, bis ihr neue Befehle bekommt. Clyde, du bleibst noch hier.“

Thorben verabschiedete sich kurz und Clyde sah erwartungsvoll zum Captain.

„Wir sind noch nicht fertig. Ich möchte erst noch hören, was Percy auf der LE COMBATTANT alles gefunden hat.“

„Da war auch nicht mehr viel zu retten. Die Kapitänskajüte haben wir mit dem Angriff auf das Heck vollkommen zerstört. Die Offiziere sind alle tot, bis auf diesen Cadet Russelier. Ein merkwürdiger Junge. Jean-Luc hat ihn in der Junior-Messe untergebracht, auf sein Ehrenwort hin, nicht zu fliehen.“

Clyde hob amüsiert eine Augenbraue, doch der Captain sah ihn etwas strafend an.

„Da gibt es nichts zu lachen. Gerade in Herblonde wird auf die sogenannte Ehre besonders Wert gelegt.“

„Also, wie gesagt, keine Unterlagen, bis auf eine Ausnahme. Der Captain trug diesen Brief bei sich.“

Percy zückte nun einen gefalteten Brief, der an einigen Stellen rote Flecken aufwies.

„Das war ich. Ich hab versucht, ihn so sauber wie möglich rauszuholen, aber, na ja.“

Daniel Hansom faltete das Schriftstück auseinander und sah darauf.

„Das ist Herblondaise.“

„Ich weiß. Jean-Luc hat ihn für mich übersetzt. Geht in etwa so: Wir sind erfreut, euch weiterhin zu den Unterstützern unserer Sache zu zählen. Sollte unser Unternehmen von Erfolg gekrönt sein, wird seine Majestät geruhen, euch in den Adelsstand zu erheben. Doch vorher benötigen wir die drei Gegenstände, die Monsieur Boucher euch benannt hat. Wie wir wissen, ist einer davon bereits auf der SIRÉNE auf dem Weg zu uns. Die Zeit drängt. Der Marineminister hat euch auch weiterhin für die Erfüllung unserer Aufgaben freigestellt. Unterschrift HDG.“

„HDG? Steckt dieser Herzog also auch hier dahinter? Und welche drei Gegenstände? Was soll das?“

Clyde dachte an das Gefecht mit der SIRÉNE zurück und daran, was sie dort gefunden hatten.

„Das Fass! Das mit der Axt. Sie suchen magische Artefakte!“

Daniel und Percy sahen Clyde überrascht an.

„Was? Aber wozu?“

„Ich habe keine Ahnung, aber es wird in dem Brief doch erwähnt, dass die Zeit drängt. Möglicherweise wollen sie ein Ritual durchführen, dass nur zu bestimmten Zeiten möglich ist.“

„So etwas gibt es?“

„Ja, aber sie sind selten. Und sehr mächtig. Weil sie die Natur beeinflussen, müssen sie im Einklang mit dem Tages- und Jahreslauf durchgeführt werden.“

„Verdammt, was ist, wenn an Bord der LE COMBATTANT sich ebenfalls ein solches Artefakt befindet? Hoffentlich haben wir das nicht zerstört.“

Clyde schüttelte den Kopf.

„Das hätten Miles oder ich höchst wahrscheinlich bemerkt. Dabei wird immer etwas magische Energie freigesetzt.“

Percy Seymore sprang auf.

„Dann also los! Wir müssen sehen, ob sich an Bord irgendetwas findet. Vielleicht sollten wir erst einmal alle heil gebliebenen Fässer kontrollieren.“

Daniel nickte.

„Ein Wachhabender Offizier kann hier bleiben. Ansonsten nimmst du alle Offiziere und Seekadetten mit rüber. Nein, warte, was ist mit diesem herblonder Cadet? Weiß der vielleicht irgendetwas?“

„Den müsste Jean-Luc befragen. Sein britannisch ist nicht so gut.“

„Dann los.“


Während sich eine Schar von Offizieren über das gesamte Inventar der LE COMBATTANT hermachte, saß Jean-Luc zusammen mit Louis Russelier in der Junior-Messe. Der junge Cadet hatte sich wie ein Häuflein Elend in eine Ecke verzogen und erwartete das Schlimmste.

Er hatte sich ohnehin gewundert, dass man ihn nur auf sein Ehrenwort hin frei herumlaufen ließ. Na ja, immer unter Aufsicht von Jean-Luc. Hatte es nicht geheißen, die Britannier machen keine Gefangenen und schon gar nicht die Freibeuter?

Dann die FAIRYTALE. Ein Sammelpunkt der Sünder, die keine Reue verspürten und somit nicht von der Kirche erlöst werden konnten. Einen kleinen Moment kam ihm der Gedanke, ob sie wohl überhaupt erlöst werden brauchten, wenn sie sowieso nicht der Kirche der Reuigen Sünder angehörten.

Dann fielen ihm seine eigenen Sünden ein, die er auch treu und brav dem Priester an Bord gebeichtet und bereut hatte. Waren seine Gedanken an das Zusammensein mit jemand anderem denn nicht ebenso schlecht, wie das, was hier an Bord angeblich ganz offen praktiziert werden sollte?

Seine sündhaften Gedanken wurden durch das Öffnen einer Tür unterbrochen und ein junger Mann in einer grünen Uniform trat ein. Louis wurde es unwillkürlich heiß in seiner Uniform, als er sich den rothaarigen Mann mit den niedlichen Sommersprossen genauer betrachtete.

„Louis, das hier ist Leutnant Cameron von den Scythe-Scouts.“

„Leutnant Cameron, dies ist Louis Russelier, Cadet in der Marine des Königs von Herblonde.“

Louis erhob sich rasch und war erstaunt, als ihm der Leutnant die Hand reichte. Er sah ihn an und erkannte faszinierende grüne Augen, die zu strahlen schienen.

Etwas irritiert von seinen eigenen Gedanken, zog er schnell seine Hand zurück. Was war los mit ihm?

„Wir können uns auch wieder setzen. Es ist so, dass ich ein paar Fragen an unseren Gast habe, die die Reisen der LE COMBATTANT betreffen. Ich spreche kein Herblondaise und deshalb sollst du ein wenig helfen.“

Jean-Luc nickte und sah erwartungsvoll zu Clyde.

„Also, Louis, wir wissen, dass die LE COMBATTANT vor etwa zwei Monaten in der Neuen Welt war. Sie war dort als letrionischer Freibeuter getarnt und hat ein britannisches Handelsschiff überfallen.“

Louis wurde blass und sah zu Boden. Das war sein Todesurteil. Nichts konnte ihn jetzt noch vor dem Zorn der Britannier retten.

„Viel interessanter wäre es zu erfahren, was das Schiff in der Neuen Welt sonst noch so gemacht hat. Ich nehme an, es gab eine Landungsoperation an einer unbekannten Küste.“

Louis sah den rothaarigen Leutnant entsetzt an. Woher wusste er davon?

„Aber… aber das war doch alles geheim. Niemand weiter war zugegen, als wir in den Urwald aufgebrochen sind.“

„Du warst mit?“

Louis nickte schwach.

„Fast die halbe Besatzung war an Land. Der Kommandant war nicht einverstanden, aber ein gewisser Monsieur Boucher von der SIRÉNE hatte das Sagen. Vier Tage lang sind wir durch den Dschungel marschiert, immer den Angaben einer Karte nach, die der Erste Offizier mithatte. Am vierten Tag haben wir sie dann gefunden?“

„Wen?“

„Die Eingeborenen. Sie hatten sich dort versammelt um irgendetwas zu machen. Es war ein großer Steinbau in Form einer Pyramide und sie schienen auf etwas zu warten. Unsere Seesoldaten haben sofort das Feuer eröffnet und sie sind vor dem Knall der Karabiner geflüchtet. Ganz oben auf der Pyramide war eine kleine Kammer. Ich weiß nicht, was da drin war, aber es ist in einem Fass verstaut worden und wir haben uns dann auf den Rückweg gemacht.“

Clyde schüttelte den Kopf. Sie hatten einen Gegenstand geborgen, der für rituelle Tötungen verwendet worden war. Die angestaute Menge an magischer Energie war immens gewesen. Was hatten sie damit gewollt?

„Und was war danach?“

„Wir sollten ursprünglich nach Herblonde zurückkehren, aber dann wurde das Fass an die SIRÉNE übergeben und wir mussten nach Neu-Amsterdam. Dort lagen wir drei Tage ohne dass etwas passiert wäre, aber dann fuhren wir plötzlich nach San Christofero. Dort ging der Kommandant an Land und als er nach ein paar Stunden wiederkehrte, hieß es, dass wir uns umtarnen sollten und so schnell wie möglich nach Caerdon segeln. Den Rest kennt ihr ja wohl.“

Clyde überlegte einen Moment. Da gab es noch eine kleine Unstimmigkeit.

„Du hast gesagt, ihr habt drei Tage in Neu-Amsterdam zugebracht, um dann plötzlich nach San Christofero zu fahren. Wo solltet ihr denn ursprünglich hin?“

Louis sah Clyde nun merkwürdig an.

„Was sollen die ganzen Fragen? Was ist denn an unserer Reiseroute so interessant? Der einzige der darauf eine ausreichende Antwort geben könnte, ist ja nun tot.“

Clyde seufzte.

„Also gut, du hast es nicht anders gewollt. Weißt du was in dem Fass war, das ihr geborgen habt?“

Louis schüttelte den Kopf.

„Dann will ich es dir sagen. Ein magischer Gegenstand. Eine Axt, aufgeladen mit dunkler Magie.“

„Nein! Das ist vollkommen unmöglich. Kein wahrer Gläubiger der Kirche beschäftigt sich auch nur am Rande mit irgendwelcher Magie.“

„Nicht nur das. Die LE COMBATTANT hatte den Auftrag, drei dieser Artefakte zu besorgen und nach Hause zu bringen. Wo sie benutzt werden würden.“

Louis wurde blass. Er fühlte einen Klumpen im Magen, als ob er sich gleich übergeben müsste.

„Niemals! Schwarze Magie ist gebannt, sogar in Britannica, soweit ich weiß. Niemand würde es wagen, damit zu hantieren. Die Inquisition würde jeden auf dem Scheiterhaufen verbrennen.“

„Jemand hat damit hantiert. Und ich kann dir sogar sagen, wer. Du selbst hast seinen Namen erwähnt. Pierre Boucher hatte den Auftrag, drei Artefakte zu sammeln. Wir müssen unbedingt wissen, wo die anderen beiden sind.“

Louis starrte Clyde nun mit großen Augen an.

„Was… was wollt ihr damit?“

„Nichts. Wir möchten nur gerne verhindern, dass sie jemand in die Hände bekommt, der davon keine Ahnung hat. So etwas kann nur böse enden.“

Die Stimme des Cadets klang nun etwas höhnisch.

„Ach, aber ihr habt die Ahnung, ja?“

Jean-Luc stieß ein leises Lachen aus und Louis sah irritiert zu ihm herüber. Clyde lächelte ebenfalls.

„Kann man so sagen.“

Clyde streckte eine Hand aus und über der umgedrehten Handfläche erschien ein kleiner Feuerball. Louis wich mit einem Schrei zurück soweit er konnte.

Ein Verdammter! Einer, dessen Seele niemals gerettet werden konnte. Und dann auch noch hier an Bord. Zweifach verdammt, ohne Hoffnung. Dann schoss Louis ein Gedanke durch den Kopf, der ihn erzittern ließ. Als der Feuerball erlosch, sah er dem Magier ins Gesicht und fand ihn wunderschön und begehrenswert.

Was? Woher kam das jetzt? Hatte er ihn verhext? Einen Zauber angewendet? Doch dann fiel ihm ein, dass er den Rothaarigen schon niedlich gefunden hatte, als er hereingekommen war. Viel schlimmer war jedoch, dass Louis bemerkte, dass sich auch seine niederen Gefühle regten. Mehr als deutlich spürte er es, je länger er diesem Leutnant ins Gesicht sah. Hoffentlich bemerkte es niemand.


Auf der LE COMBATTANT wurde inzwischen jedes noch so kleine Schapp durchsucht, die gesamte Ladung wurde auseinandergerissen und selbst einige durch die Zerstörung scheinbar unzugänglichen Stellen wurden untersucht.

Den entscheidenden Fund machte der kleinste und jüngste der Seekadetten. Alessandro Cantori war erst vor wenigen Tagen vierzehn geworden, aber dennoch vom Captain für die Laufbahn zum Seekadetten ausgewählt worden. Der kleine, schlanke Rotaner mit den untypischen hellblonden Haaren balancierte freihändig über einen Balken, der von der Kapitänskajüte übriggeblieben war. Es war einer der Querbalken die ursprünglich die Bodenbretter getragen hatten. Am Ende des Balkens war noch ein Rest des Fußbodens zu sehen und eine schmale Tür, die zu einem Raum direkt an der Außenwand des Schiffes führte.

Lionel Holland, der mit den beiden Seekadetten seiner Wache das Achterschiff untersuchte, hielt unwillkürlich den Atem an. Thomas Meinhardt neben ihm wollte etwas rufen, doch Lionel bedeutete ihm, ruhig zu sein.

Mit ausgebreiteten Armen erreichte Alessandro das kleine Stück Fußboden und sofort öffnete er schwunghaft die Tür. Er spähte kurz in den Raum und drehte sich dann zu seinem Lieutenant um.

„Hier, Sir. Ein Fass. Ich glaube, wir haben es.“

Die Bergung des Fasses dauerte dann auch entsprechend lange, denn es mussten etliche Taljen angeschlagen werden, um das Fass aus seiner jetzigen Position nach oben zu schaffen. Alessandro war bei dem Fass geblieben und musste es ordnungsgemäß laschen. Was für ihn kein Problem war, denn er hatte hier an Bord schließlich nicht nur das Kriegshandwerk gelernt, sondern auch mit Ladung und Waren eines Handelsschiffes umzugehen. So wie jeder andere Seekadett auch.

Als das Fass von zwei Seeleuten dann an Oberdeck abgestellt wurde, hatten sich fast alle Offiziere der FAIRYTALE und auch der Captain darum versammelt.

„So, diesmal wissen wir, was uns erwartet. Wer hat die Axt?“

„Einen Moment, bitte.“

krächzte es hinter Lionel Holland und Alessandro Cantori erschien hinter der breiten Gestalt des Lieutenants. Er räusperte sich kurz, weil seine Stimme sich immer noch nicht so ganz für eine tiefere Tonlage entschieden hatte.

Die versammelte Gruppe der Offiziere sah ihn an, doch er blickte entschlossen zum Captain auf.

„Ich habe mir während der Zeit unten das Fass genauer angesehen. Es gibt eine Möglichkeit es zu öffnen, ohne es zu zerstören.“

Daniel Hansom hob die Augenbrauen und sah herunter auf den kleinen, fast zierlichen Seekadetten.

„Dann mal los.“

Alessandro trat zu dem Fass und fuhr mit einer Hand einmal rund um die Oberseite. An einer Stelle hielt er an. Dann zückte er einen Marlspieker und prökelte etwas an dem Holz. Mit einem zustimmenden Brummen, oder besser vielleicht Quieken, zog er nun einen dünnen Draht aus dem Holz heraus. Dann packte er den oberen Rand des Fasses und hob den Deckel scheinbar mühelos ab.

Clyde trat nun vor und spähte in das Fass. Wie schon bei dem ersten war es bis zum Rand mit Schafwolle gefüllt. War das jetzt Zufall, oder hatte es mit der Wolle etwas auf sich, was Clyde nicht kannte? Egal. Langsam begann er die Wolle aus dem Fass zu holen, Dann erinnerte er sich an seine zufällige Berührung der Axt aus dem ersten Fass. Hier wollte er kein Risiko eingehen. Er stieß Alessandro neben ihm leicht an und der begann nun weiter das Fass zu leeren.

Ein paar Hände voll später meldete sich Alessandro.

„Ich glaube, da ist was.“

„Wie sieht es aus?

„Wie das Ende eines Stabes. Ein großer Wanderstab oder sowas.“

Clyde sah alarmiert in das Fass. Tatsächlich. Aus der schmutzigweissen Wolle stach das obere Ende eines Stabes heraus. Er war neugierig zu erfahren um was es sich handelte, doch seine letzte Begegnung mit einem Artefakt hielt ihn davon ab, es zu berühren.

„Es ist ein Stab und ich habe keine Ahnung, wozu er gut sein soll. Wir müssen ihn nach Caerdon zum Erzdruiden bringen um mehr zu erfahren.“

Captain Hansom nickte und sah zum Horizont, wo sich die Sonne schon stark angenähert hatte. Dann sah er wieder zu Clyde.

„Das machen wir morgen. Mit der Morgendämmerung wird die ESTRAY nach Caerdon gehen und das Fass abliefern. Ach ja, den herblonder Cadet werdet ihr auch mitnehmen. Ich möchte noch mit Thorben sprechen. Und danach mit dir. Ich bin in meiner Kajüte.“

Clyde sah ihm hinterher, als er sich brüsk umdrehte und in Richtung der Planke verschwand, die nun die FAIRYTALE und die LE COMBATTANT verband.


Das Gespräch mit dem Captain war unergiebig. Clyde berichtete, was der Cadet ihm erzählt hatte und Daniel Hansom schüttelte den Kopf.

„Das meiste davon wissen wir ja, oder haben es uns zusammenreimen können. Das einzig Interessante ist der Aufenthalt in Neu-Amsterdam und die schnelle Rückkehr nach Caerdon.“

„Ich vermute, sie haben eine Depesche bekommen mit weiteren Befehlen. Sie mussten ihre ursprüngliche Reise abbrechen und hierher zurückkommen.“

„Das heißt aber, die Nachricht kann nicht aus Caerdon gekommen sein. Für die Reise von Neu-Amsterdam bis Caerdon braucht man mindestens neun Tage, bei ungünstigem Wind auch erheblich länger. Eine Nachricht von hier hätte ebenso lange gebraucht. Da waren wir aber noch auf See, kurz nachdem wir die SIRÈNE geentert hatten.“

„Also muss die Nachricht noch von San Christofero aus geschickt worden sein. Mal sehen. Also vor der Versteigerung gibt es eine Nachricht an unsere Königin über die Tatsache, dass jemand versteigert wurde. Nach der Versteigerung wird eine Nachricht an die LE COMBATTANT geschickt, wer von wem ersteigert wurde. Was sagt uns das?“

„Das derjenige keine andere Möglichkeit mehr hatte, seine Nachricht zu übermitteln. Nehmen wir ruhig an, derjenige saß auf der SIRÉNE und wusste, dass er mit dem Schiff weder rechtzeitig eintreffen würde, noch in Britannica einlaufen konnte. Also musste die LE COMBATTANT mit ihrer Tarnung die Nachricht überbringen. Fragst sich nur, an wen. Dann musste sie am Rendezvouspunkt warten, weil wir den Kutter, der dafür vorgesehen war, schon aus dem Verkehr gezogen hatten.“

Clyde sah den Captain nachdenklich an.

„Dann bleibt uns nur noch die Frage, wo die LE COMBATTANT nach dem Rendezvous hin sollte. Eigentlich kann es nicht weit sein.“

„Was? Warum nicht?“

„Wir haben doch darüber gesprochen, dass sie möglicherweise ein Ritual zu einem bedeutenden Datum durchführen wollen. In dem Brief stand, dass die Zeit drängt. Das nächste Datum für eine solche Sache wäre eigentlich das Äquinoktium.“

Daniel Hansom hob seine Augenbrauen.

„Die Tag-und Nacht-Gleiche. Ist immer um den 21. März und den 23. September.“

„Das wäre in genau einem Monat. Da hätten sie auch noch mal nach Neu-Amsterdam und wieder zurück gekonnt. Hm, nein. Hinüberzukommen ist wegen der starken Westwinde immer etwas schwieriger. Also mindestens vierzehn Tage hin. Dort aufhalten und dann wieder zurück. Das dürfte eng werden.“

„Das habe ich gemeint. Das Ziel muss hier irgendwo sein. Sagen wir mal, maximal fünf Tagesreisen.“

Daniel Hansom nickte nachdenklich, öffnete seinen Schreibtisch und holte eine große Rolle heraus. Damit ging er hinüber an den großen Tisch. Mit Clydes Hilfe rollte er eine Karte der Alten Welt aus und befestigte die Ecken mit extra dafür vorgesehenen kleinen Bleigewichten.

„Hier, da liegt Caerdon und wir sind jetzt ungefähr hier.“

Der Captain tippte auf einen Punkt auf der Karte westlich von Caerdon.

„Fünf Tage bei guter Geschwindigkeit sind etwa, ähhh… 1.440 Seemeilen.“

Der Captain griff nach einem Zirkel und maß am rechten Rand etwas ab. Dann eilte er mit dem Zirkel von ihrer jetzigen Position in die verschiedensten Richtungen.

„Hier, das reicht bis weit in den Norden von Isafjord. Im Nordwesten sogar bis rüber zur Eisinsel. Im Süden kommen wir bis um Letrion herum in das große Binnenmeer. Oder auch an die Küste im Süden bis nach Askandi. Wenn wir nach Osten fahren, kommen wir im kleinen Binnenmeer bis nach Livland. Du hast die Auswahl.“

Clyde starrte fast verzweifelt auf die Karte.

„Das ist sinnlos. Wir brauchen einen Hinweis.“

„Kann uns dieser Cadet noch etwas sagen?“

Clyde lief etwas rot an.

„Sorry, aber den habe ich wohl zu sehr erschreckt. Ich habe ihm gezeigt, dass ich ein Magier bin und darauf ist er in Panik ausgebrochen. Er hat sich zusammengerollt und angefangen zu heulen. Eigentlich ein merkwürdiges Verhalten für jemanden, der im Gefecht so mutig gewesen ist.“

Daniel Hansom sah Clyde verblüfft an.

„Hast du nicht daran gedacht, dass er vielleicht ein gläubiger Reuiger Sünder ist? Mit deiner Magie hast du dich als Verdammter zu erkennen gegeben und ich glaube, er fühlt sich auf der FAIRYTALE auch nicht besonders wohl, zwischen all den Männern, die sein Seelenheil in Form seiner Unschuld bedrohen.“

Clyde öffnete seinen Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Er musste unbedingt mit dem Jungen reden, hatte aber keine Ahnung, wie er das jetzt anfangen sollte.


Für die Nacht hatten sich die Scouts wieder in die Segellast der ESTRAY zurückgezogen. Clyde musste unbedingt mit Peter Jaden reden, ob es nicht eine Möglichkeit gab, ihre Unterkunft ein wenig gemütlicher zu gestalten.

Clyde warf sich im Schlaf unruhig hin und her. Er hatte einen Alptraum, in dem er von einem riesigen weißen Bären durch eine weite Schneelandschaft gejagt wurde. Als der Bär ihn erreichte und nach ihm schnappte, wurde Clyde von einem lauten Schrei geweckt.

Im Schein der abgeblendeten Sturmlaterne konnte er Dian erkennen, der sich völlig schweißgebadet von seinem Lager aufgerichtet hatte. Der nächste, der sich erhob war Finn und auch er sah sich verwirrt um.

„Was war das? Ich bin gerade von einem Eisbären gejagt worden.“

Dian sah vollkommen verschreckt zu ihm herüber.

„Was? Du auch? Ich…“

„Ruhe, Leute. Ich hatte den gleichen Traum. Das kann eigentlich nur bedeuten…“

Ein lautes Klopfen ertönte an der Luke und kurz darauf sah Diethard Wegener herunter.

„Ihr glaubt es nicht, aber ich hatte gerade einen Alptraum, in dem ich…“

„… von einem Eisbären gejagt wurde.“

Verblüfft sah Diethard zu Finn, der langsam nickte.

„Ich glaube, ich fange an zu verstehen. Feuer, Wasser, Erde, Luft. Wir können einander nicht entkommen. Alle von uns sind hier, bis auf das Wasser. Irgendetwas ist mit Ragnar passiert.“

Clyde nickte grinsend.

„Du solltest eine Stelle als Orakel antreten. Aber du hast Recht. Sieht so aus, als ob in Caerdon etwas schief gegangen ist. Wir sollten Captain Hansom benachrichtigen. Diethard, weck bitte auch Thorben und Sven. Ich habe das Gefühl, als würden wir etwas früher ablegen als geplant.“

Eine halbe Stunde später war die ESTRAY auf dem Weg nach Caerdon.


In der Scheune neben dem ‚Kings Quarter‘ sah Leon angstvoll auf Ragnar herab. Schnell bückte er sich und untersuchte den Körper vor ihm.

„Er lebt noch.“

Nun kamen auch die anderen näher und die Zwillinge bückten sich ebenfalls um Leon zu helfen. Mickey sah sich um.

„Hey, Kjell, was hast du vorhin damit gemeint?“

„Was? Ich hab‘ gar nichts gesagt.“

Der große, dunkelblonde Isafjorder sah etwas ängstlich zu Ragnars regungslosem Körper herüber. Mickey schüttelte seinen Kopf.

„Doch, ich hab’s genau gehört. Irgendwas was mit Bär-sowieso.“

Langsam wich Kjell etwas zurück und hob abwehrend seine Hände.

„Nein, nein. Damit will ich nichts zu tun haben. Das ist eine Sache der Schamanen. Ich wusste nicht mal, dass unser Lieutenant ein Schamane ist.“

Mickey sah nachdenklich hinüber zu Ragnar und dann wieder zu Kjell.

„Selbst wenn er einer ist, ist das seine Sache. Aber was ist mit dem Bären?“

„Das… also das ist so. Jeder der Clans hat ein Totemtier und das symbolisiert die Fähigkeiten oder die Aufgaben des jeweiligen Clans, oder so. Ach, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Beim Clan der Schneeeule zum Beispiel bewahren sie alle Sagen, Geschichten und sowas auf. Ihre Schamanen sind auch Barden und sie können mit ihren Instrumenten Zauber wirken. Bei Rentier sind die Schamanen oft Handwerker und bei Eisbär, na ja, du hast es ja gesehen. Die Bärenschamanen verwandeln sich im Kampf tatsächlich in einen Bären, den Berserkr. Der Nachteil dabei ist, wenn sie einmal verwandelt sind, erkennen sie niemanden mehr. Sie greifen alles und jeden an, bis der Zauber versiegt.“

„Was? Aber wieso hat er Leon nicht angegriffen?“

Kjell zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“

Die Zwillinge hoben simultan ihre Köpfe, als draußen auf der Straße das leise Klappern von Hufen näher kam.

„Da kommt jemand. Das sind mehrere Reiter und ziemlich schnell. Los, helft mal mit.“

Mickey kam mit seinen Leuten nach vorne und brachte den immer noch bewusstlosen Ragnar weiter nach hinten in die Scheune. Die Zwillinge spähten aus dem offenen Scheunentor.

Selbst ein Unbedarfter hätte die Szene vor der Scheune nicht übersehen können. Die zahlreichen Angreifer mit ihren zerfetzten Körpern und Gewändern lagen immer noch vor dem Tor.

Dort hielten jetzt auch vier Männer ihre Pferde an und sahen sich auf der Straße um. Einer von ihnen ritt nun näher an die Scheune heran und blickte in die Dunkelheit hinein. Obwohl er niemanden erkennen konnte, sprach er einfach ins Ungewisse.

„Ihr könnt ruhig herauskommen. Wir gehören nicht zu ihnen.“

Mickey Fraser kam aus dem Dunkel der Scheune etwas nach vorne und sah zu dem Reiter hinauf. Er stieß ein ungläubiges Lachen aus, doch gleichzeitig überflutete ihn auch Erleichterung. Rasch drehte er sich um.

„Wir können raus.“

Dann machte er sich auf den Weg nach draußen. Vor dem Pferd blieb er stehen und sah den Reiter lächelnd an.

„Hallo Andy, ich habe nicht erwartet, dich hier zu treffen.“

„Das Gleiche könnte ich auch sagen, Mickey. Erzähl mal, was passiert ist.“

Mickey Fraser zögerte sichtlich. Der Reiter seufzte etwas und nickte dann.

„Es ist schon in Ordnung. Wir sind extra wegen eines Zwischenfalls hierher gerufen worden.“

Mickey sah nun etwas unsicher zu den anderen drei Reitern hinüber. Einer von ihnen erregte seine Aufmerksamkeit. Trug der etwa eine weiße Robe?

Der Reiter vor ihm bemerkte Mickeys Blick und winkte nach hinten. Die anderen drei Reiter kamen näher und Mickey sah sie erst ungläubig an, dann wandte er sich an Andy.

„Das… das ist…“

„Ich bin Gwydion. Und dabei belassen wir es heute Nacht. Ich sehe, du kennst Andrew Fraser bereits.“

Mickey schluckte trocken.

„Ja, Herr. Ich bin Michael Fraser, ein Vetter von Andy. Mein Vater ist der Bruder seines Vaters. Wir sind einige Jahre zusammen in Erconwood Hall aufgewachsen.“

„Nun, Michael, dann wirst du mir doch sicherlich erzählen, was vorgefallen ist.“

Mickey gab nun einen kurzen Abriss über den Ablauf der Nacht, ohne allerdings zu erwähnen, warum sie hergekommen waren.

„Das ist alles mehr als merkwürdig. Wir haben eine Nachricht von Lady Gallagher erhalten, mit der Bitte um Hilfe. So wie es aussieht, habt ihr euch ja erfolgreich wehren können. Darf ich den jungen Mann kennenlernen, der hier so gewütet hat?“

„Gewiss, Sir. Wenn ihr mir in die Scheune folgen wollt.“

Die anderen waren inzwischen herangekommen und lauschten völlig erstaunt dem merkwürdigen Gespräch. Henk sah skeptisch zum dem weiß gewandeten älteren Mann, der nun vom Pferd stieg. Er hatte ihn bis jetzt nur ein einziges Mal gesehen, aber er würde ihn immer und überall wiedererkennen.

„Du weißt, dass das der Erzdruide ist?“

flüsterte er Mickey zu, der nur stumm nickte.

Nun stiegen auch die restlichen zwei Begleiter von ihren Pferden. Einer von ihnen nahm die Zügel aller vier Tiere und führte sie etwas weg.

Der Erzdruide wandte sich nun an die versammelte Truppe, die ihn aus einiger Entfernung neugierig ansah.

„Dann beginnen wir mal mit dem einfachen Teil. Dies sind Andrew Fraser und Leif Fossit. Dort hinten bei den Pferden ist Tarek Jones. Lady Gallagher, die ihr, wie ich hörte, bereits kennengelernt habt, hat uns eine Nachricht zukommen lassen und wir sind so schnell wie möglich hergeeilt. Aber so wie es aussieht, ist unsere Hilfe gar nicht mehr notwendig. Ich möchte mich nun vergewissern, dass keine weitere Gefahr mehr besteht.“

Mickey drehte sich automatisch um, um nach Ragnar zu sehen, dann seufzte er.

„Es ist alles nicht so ganz gelaufen, wie wir es erhofft hatten.“

Während Mickey den Erzdruiden zum Lager von Ragnar führte, wandte Kjell sich an Henk Behrendt.

„Wer ist der Mann in der weißen Robe? Ein Priester?“

„Kann man so sagen. Er ist der Erzdruide von Britannica.“

Kjell wurde blass.

„Was? Noch mehr Magie?“

„Sieht so aus.“

Mickey und der Erzdruide waren nun bei Ragnar angekommen, der immer noch bewusstlos auf einigen leeren Säcken lag. Leon und Floris kümmerten sich um ihn.

Fast beiläufig hob der Erzdruide eine Hand an und über der Gestalt von Ragnar erschien eine kleine Kugel, die ein sanft schimmerndes Licht verbreitete.

Nun konnten sie erkennen, dass Ragnar sich unruhig hin und her wälzte. Seine Hände und Arme zuckten manchmal vor, als ob sie nach etwas schlagen würden.

Der Erzdruide schüttelte den Kopf. Dann hockte er sich neben Ragnar und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Fast augenblicklich wurde Ragnar ruhiger.

„Er hat es nur sehr schwer unter Kontrolle. Das könnte gefährlich werden. Ich möchte ihn nur ungerne wecken, aber es geht wohl nicht anders.“

Noch einmal legte der Erzdruide Ragnar eine Hand auf die Stirn und sofort schlug der seine Augen auf.

„Was… ? Bin ich…“

Hektisch sah Ragnar an sich herab und stöhnte erleichtert, als er kein Fell oder Krallen entdecken konnte.

„Wer… wer seid ihr?“

„Ich bin Gwydion. Lady Gallagher hat uns zur Hilfe gerufen.“

„Ihr seid ein Druide?“

„Ja, kann man so sagen.“

Ragnar versuchte sich aufzurichten, doch der Erzdruide drückte ihn sanft auf sein Lager zurück.

„Bleib ruhig liegen. Ein solcher Zauber verbraucht eine Menge Energie. Du hast ihn nicht absichtlich ausgelöst, oder?“

Die etwas nebenher gestellte Frage machte Ragnar aufmerksam, doch er schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf.

„Nein, er hat mich überwältigt. Ich wollte ihn nicht freilassen, doch der Ruf war stärker.“

Der Erzdruide nickte befriedigt. Eine andere Antwort hätte dem jungen Mann eine Menge Ärger einbringen können.

Mickey Fraser war inzwischen etwas abgelenkt worden von einem weiteren Begleiter des Erzdruiden, der sich gerade mit den Zwillingen unterhielt. Der große, schlanke junge Mann mit den goldblonden Haaren schien sie intensiv zu befragen und machte sich auch noch Notizen.

Doch auch noch etwas anderes bemerkte Mickey und irgendwie schien es ihn zu stören. Die Zwillinge lächelten hier, scherzten da und schienen regelrecht zu flirten. Der junge Mann hatte es wohl anscheinend auch bemerkt, doch er versuchte, allen Annäherungen irgendwie sachlich aus dem Weg zu gehen.

„Der arme Leif. Möchtest du ihn nicht erlösen?“

Mickey fuhr herum zu Andrew Fraser. Dann sah er noch einmal zu den Zwillingen. Warum sollte er den blonden jungen Mann erlösen sollen?

„Was? Warum? Es sieht doch so aus, als ob er ganz gut damit klar kommt.“

„Tut er nicht. Er versteckt sich immer hinter seiner Arbeit, aber er ist ganz schön empfindlich. Die beiden sind ein Bisschen viel für ihn.“

„Du meinst, einem einzelnen wäre er nicht abgeneigt?“

Andrew Fraser sah unschuldig nach oben, wo sich aber lediglich das Scheunendach wölbte.

„Ich habe nichts gesagt. Finde es selbst heraus. Ach übrigens, Leif ist ebenso ein Magier wie ich oder Tarek dort draußen.“

Mickeys blick wanderte nach draußen zu den Pferden und dann zu dem goldblonden jungen Mann. Von Andy wusste er es ja, aber die anderen beiden auch? Warum war der Erzdruide mit drei Magiern unterwegs?

Entschlossen ging er nun auf die kleine Gruppe zu.

„Hallo, ich bin Mickey Fraser und Andy meinte, ich sollte meine Aussage auch zu Protokoll geben.“

Leif Fossit drehte sich irritiert um und sah sich direkt einem jungen Mann gegenüber mit strohblonden Haaren und strahlend blauen Augen. Die Augen verrieten eine andere Erfahrung als das etwas unschuldig aussehende Gesicht.

Auch Mickey war fasziniert. Die goldblonden Haare und die blaugrauen Augen verrieten seine Herkunft aus den Eastmarshes, wo bis heute die Nachkommen der ersten Eroberer aus Isafjord lebten.

Leif war etwas größer als Mickey, doch auch etwas schlanker. Mickey erinnerte sich an den Hinweis, dass Leif ein Magier war. Er würde wohl etwas weniger an den Waffen geübt haben als Andrew. Oder als Mickey, bevor er auf die FAIRYTALE gegangen war.

Leif räusperte sich und holte Mickey in die Realität zurück.

„Du wolltest etwas zu Protokoll geben?“

„Äh, ja. Also, wir können uns da drüben hinsetzen und dann kann ich alles erzählen.“

Leif sah sich unsicher um.

„Äh, ja, also…“

„Dann los. Komm mit.“

Mickey zog los und Leif folgte ihm etwas unsicher. Die Zwillinge sahen ihnen verblüfft hinterher. Dann sahen sie sich an und prusteten los.

„Was meinst du, wie lange?“

„Ich gebe ihnen höchstens eine halbe Stunde.“

„Er ist aber sehr schüchtern.“

„Macht nichts. Mickey kann sehr überzeugend sein.“


Die ESTRAY lief mit voller Fahrt in die Dockyards von Caerdon ein. Clyde war an Oberdeck und zappelte nervös neben Thorben auf und ab.

„Nun beruhig dich wieder. Wir finden sie schon.“

„Du hast gut reden. Du hast den Traum ja auch nicht gehabt.“

„Darüber bin ich auch recht froh. Ich kann, ehrlich gesagt, dem ganzen Zauberkram nichts abgewinnen. Ein anständiges Gefecht ist mir da lieber.“

Clyde wollte gerade Thorben an ein Seegefecht erinnern, dass er ohne Magie nicht gewonnen hätte, als Sven neben ihn trat.

„Wo sollen wir denn jetzt hin? Wir können ja nicht ziellos durch den Hafen kreuzen.“

„Ihre letzten Befehle lauteten, in den königlichen Yachthafen zu fahren und dort mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Wir gehen ebenfalls dort hin.“

Die ESTRAY hatte kaum festgemacht, als schon eine einsame Gestalt sich dem Schiff näherte. Clyde erkannte sofort Sir David.

„Guten Morgen. Ich hatte nicht vermutet, dass ihr so früh unterwegs seid.“

„Ich inspiziere nur die Wachen. Und wie der Zufall es so will, führte mich der Weg just zum Hafen. Ihr werdet bereits erwartet. In meinem Büro ist ein Bote mit einer wichtigen Nachricht. Ich würde vorschlagen, euer Schiff legt wieder ab und ihr trefft euch außerhalb von Caerdon wieder.“

„Nanu, was ist passiert?“

„Das kann euch wahrscheinlich unser gemeinsamer Freund besser erzählen. Sucht euch ein paar Leute und folgt mir. Wir haben nicht mehr viel Zeit, es wird gleich hell.“

Während Clyde Thorben die Situation erklärte, ließ Frank die Scouts auf der Pier antreten. Sie waren kaum unterwegs zum Palast, als die ESTRAY auch bereits wieder ablegte. Niemand außer Clyde wusste, wo sie hinfahren würde.

Im Büro des Hauptmanns der Leibwache hob Clyde amüsiert seine Augenbrauen. Der angekündigte Bote war niemand anderer als der Novize, den er in dem steinernen Hain kurz kennengelernt hatte.

Er trug immer noch die graue Kutte der Novizen und hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Er hatte ein schmales Gesicht mit grauen Augen, die nun gar nicht mehr so selbstsicher zu Clyde hinübersahen wie beim letzten Mal.

„Ich habe eine Nachricht vom Erzdruiden für euch, euer Lordschaft.“

Nanu, auf einmal so förmlich? Clyde lächelte ihn an.

„Du bist Caelin, richtig? Das mit der Lordschaft lassen wir für offizielle Veranstaltungen.“

Caelin nickte etwas unsicher. Dann sah er Clyde erwartungsvoll an.

„Und? Was jetzt? Ich dachte, du hättest eine Nachricht.“

Der Junge machte ein verkniffenes Gesicht und schüttelte dann den Kopf.

„Ich brauche ein Passwort. Die Nachricht ist in meinem Gedächtnis gesichert.“

Clyde sah Caelin erstaunt an. Von solch einem Verfahren hatte er schon mal bei seiner Ausbildung gehört, denn das gehörte zu einer der vier Gaben der Halbelfen. Die Gabe hieß Wissen und Vergessen und umfasste viele Zauber, die auch den Geist eines Menschen beeinflussen konnten.

Dann fiel Clyde ein, dass er bei Andrew Wissen und Vergessen gespürt hatte. Hatte der etwa den Zauber gewirkt?

„Und nun?“

„Ihr müsst ein bestimmtes Wort aussprechen. Wenn ich es höre, ist der Zauber aufgehoben und ich kann die Nachricht übermitteln.“

„Oh, ganz toll. Und welches Wort soll ich sprechen?“

Der Novize lächelte leicht.

„Den Namen eurer Mutter.“

Clyde stutzte. Niemand sprach den Namen eines Sidhe aus, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Nicht einmal er würde es wagen. Doch das wusste Andrew ebenso gut wie Clyde. Dann huschte die Erkenntnis über Clydes Gesicht. Er sollte den Namen nehmen, den sie sich selbst gegeben hatte, um in der Welt der Menschen umherwandern zu können.

Clyde beugte sich vor und flüsterte dem Novizen etwas ins Ohr. Dessen Gesichtszüge zeigten nun Erleichterung und er sah Clyde an.

„Der Bär ist fort, doch es bedarf Zeit, ihn zu zähmen. Wir sind auf dem Weg dorthin, wo der Fluss seinen Namen verliert, nachdem er ihn an die Festung abgegeben hat.“

Clyde sah den Novizen mit großen Augen ratlos an.

„Das soll eine Nachricht sein? Das ist ja nicht gerade erleuchtend.“

Die Scouts hatten sich hinter Clyde versammelt und mitbekommen, was Caelin gesagt hatte. Finn überlegte einen Moment.

„Sie werden nicht allzu weit weg gegangen sein. Weit genug, um nicht sofort gefunden zu werden, aber dicht genug, um noch eingreifen zu können wenn es notwendig werden sollte.“

„Was heißt das für uns?“

„Wir suchen einen Ort, der maximal eine Tagesreise entfernt liegt. Mit schnellen Pferden möglicherweise. Vorzugsweise am Meer, denn sie werden damit rechnen, dass wir mit dem Schiff kommen.“

Clyde blickte reihum in ratlose Gesichter.

„Dorthin, wo der Fluss seinen Namen verliert, nachdem er ihn an die Festung abgegeben hat. Ich glaube, ich weiß, wo das ist.“

Clyde drehte sich wieder zu Caelin.

„Du weißt, wo das ist? Lass uns auch an deiner Weisheit teilhaben.“

„Ihr braucht… du brauchst gar nicht sarkastisch zu werden. Ihr sucht doch einen Ort an der Küste, wo die Festung nach einem Fluss benannt wurde. Das kann Caer Taff sein. Das liegt direkt am Afon Taf. Der Fluss heißt noch immer so, aber der Name der Festung hat sich im Laufe der Zeit verändert und nun heißt sie Caer Dydd.“

„Du meinst Caerdydd, hier unten an der Mündung des Tyne?“

Caelin nickte bestimmt.

„Etwas anderes kommt hier im Umkreis nicht in Frage. Ich komme aus der Gegend und kenne mich da ganz gut aus.“

„Was ist mit der anderen Seite, südlich des Tyne?“

„Da nähern sie sich der Südküste von Britannica. Ich glaube nicht, dass sie den Eindruck erwecken wollten, als würden sie fliehen, oder nach Herblonde übersetzen wollen.“

Clyde verdrehte die Augen.

„Nein, natürlich nicht. Wir müssen los und die ESTRAY finden. Ich weiß ungefähr, wo Thorben hin wollte. Dann fahren wir nach Caerdydd und sehen, ob wir richtig gelegen haben.“

„Wir?“

„Ja, du auch, Caelin. Der Erzdruide wird dich sicher gerne zurückhaben wollen. Außerdem ist es zu gefährlich, hier alleine zurück zu bleiben.“

Caelin überlegte einen Moment und nickte dann. Schweigend folgte er den Anderen nach draußen.


Noch vor Sonnenaufgang wurde Leopold von Winterstein von einem Bediensteten geweckt.

„Eine Depesche, euer Hochwohlgeboren. Der Mann sagte, es sei dringend. Es ginge sozusagen um Leben und Tod.“

Mit einer dramatischen Geste präsentierte der Bedienstete das brisante Schriftstück auf einem silbernen Tablett. Leopold rieb sich verschlafen die Augen und starrte auf den Umschlag. Schnell griff er ihn und öffnete die Nachricht. Kaum hatte er sie gelesen, sprang er förmlich aus dem Bett.

Der Bedienstete wurde geradezu erschreckt von der spontanen Bewegung, noch mehr aber von dem vollkommen unbekleideten Zustand des Grafensohnes.

Völlig ungerührt sah der sich im Schlafzimmer um.

„Meine Uniform! Nein, halt! Den Straßenanzug. Sofort. Hermann soll die Pistolen laden und klar legen. Dann soll er meinen Braunen satteln. Ich bin in fünf Minuten in der Küche, sie sollen etwas zum Mitnehmen zusammenstellen.“

„Aber… aber… was wird denn der Herr Graf dazu sagen. Euer Vater wird außer sich sein…“

„Keine Angst, ich werde ihn vor meiner Abreise aufsuchen. Und jetzt schnell.“

Von seinem Vater verabschiedete sich Leopold nur kurz. Sie hatten am vorherigen Abend sehr lange miteinander gesprochen und der alte Graf von Winterstein hatte Leopold einigermaßen überrascht. Er hatte ihn nach Britannica eingeladen, weil er der Ansicht war, dass hier das einzige Land war, in dem sein Sohn glücklich werden würde.

„Du weißt es also?“

„Mein lieber Leopold. So etwas kann man nicht verheimlichen. Es gab da mehr als einen subtilen Hinweis. Ich wollte nicht, dass du vor der Inquisition endest, die so viel Leid über unsere Heimat gebracht hat.“

Leopold hob erstaunt die Augenbrauen. Zum ersten Mal gab sein Vater zu erkennen, dass er die Zustände in seiner Heimat mehr als kritisch betrachtete. Gehörte er etwa zu den heimlichen Befürwortern der Salvatoristen?

Das weitere Gespräch gab keinerlei Aufschlüsse mehr und Leopold zog sich auch bald darauf auf sein Zimmer zurück.

Eine halbe Stunde nach seinem Besuch in der Küche war Leopold von Winterstein unterwegs nach Caerdydd. Die Nachricht von Sir Sean war dahingehend dringend gewesen, als er andeutete, dass er nun wüsste, wer der Verräter war, der in unmittelbarer Nähe der Königin agierte.

Und derjenige hatte so viel Macht und Einfluss, dass im Moment niemand vor ihm sicher war. Selbst er, Sir Sean, würde sich vorerst zurückziehen und ein geheimes Versteck aufsuchen, von dem aus er weiter operieren wollte. Er wies ebenfalls darauf hin, dass er keine weiteren Nachrichten oder Anordnungen in Umlauf setzen würde. Sollte noch etwas eintreffen, wäre es eine Fälschung.

Leopold dachte einen Moment lang darüber nach, dass ja schon diese Nachricht eine Fälschung sein konnte, verwarf den Gedanken aber wieder.

In einem der Nebensätze war eine Formulierung gebraucht worden, die er selbst zu Sir Sean gesagt hatte. Niemand sonst konnte davon wissen. Er war neugierig, was am Ende seiner kurzen Reise auf ihn warten würde.

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