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Freibeuter der Meere

Teil 4

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Vorwort

Dieses Kapitel ist ein wenig länger, als die vorhergehenden. Das liegt an zwei Dingen, die ich bis jetzt beim Schreiben nicht bedacht hatte.

Als erstes habe ich auf vielfachen Wunsch ein Personenverzeichnis angehängt. Mit großem Erstaunen musste ich feststellen, dass sich mal wieder viel zu viele Leute in meiner Geschichte rumtreiben. Tut mir leid, aber es hat sich so ergeben.

Als zweites habe ich auf Wunsch eines einzelnen Herrn aus dem Süden unseres Landes ein Glossar mit nautischen Begriffen angefügt. Auch dieser Umstand ist meiner Betriebsblindheit zuzuschreiben. Es war mir einfach nicht bewusst, dass viele Leser jenseits des Weißwurstäquators den Unterschied zwischen Bug und Heck nicht kennen.

Jetzt also auf dem neuesten Stand der Dinge, auf zu neuen Abenteuern.

Freibeuter der Meere

Feliciano und Clyde blieben noch bis zum Mittagessen, bevor sie sich weiter auf den Weg machten. Für Clyde war es das erste Mal, dass er mit Nudeln konfrontiert wurde. Zu Hause hatte es hauptsächlich Brei aus Getreiden oder Erbsen als Beilage gegeben. Seit einiger Zeit gab es auch diese Knollen aus der Neuen Welt, doch die waren in Lonlothian nicht besonders beliebt, lediglich in Arlemande waren sie öfter anzutreffen. Die Nudeln betrachtete Clyde zunächst etwas skeptisch, doch nachdem er probiert hatte, war er schlicht begeistert.

Nach dem Essen gingen sie zurück in den älteren Teil der Stadt. Dort mussten sie durch enge Gässchen, die sich in ihrem Auf und Ab dem hügligen Niveau angepasst hatten. Dann waren plötzlich die Häuser zu Ende und die Straße schlängelte sich einen weiteren Hügel empor. Oben angekommen, hielt Clyde unwillkürlich den Atem an. In einiger Entfernung stand ein Bauwerk, das er auf dieser Insel nicht vermutet hätte.

Eine massive Burg erhob sich auf einem Felsvorsprung, direkt an der Steilküste. Der sechseckige Grundriss der Außenmauern wurde nur durch sechs runde Ecktürme aufgelockert, die vom felsigen Grund bis weit über die wuchtigen Burgmauern hinausragten. Die Mauern hatten als obere Etage in regelmäßigen Abständen große Rundbogenfenster und darüber noch einmal einen Wehrgang. Die Türme wurden lediglich von einem Zinnenkranz gekrönt.

„Das ist Scythe-Castle.“

„Es ist sehr - eigenwillig.“

Feliciano lachte und drehte sich mit ausgestrecktem Arm in die Runde.

„Dies ist eine Insel. Wenn ein Feind kommt, muss er über das Wasser. Diese Burg ist niemals für den Kampf gebaut worden. Du kennst die Geschichte der Insel?“

Clyde nickte.

„Siehst du, der König war damals so stinkig, dass er diese Burg errichten ließ, um für alle Zeit sein Besitzrecht an der Insel zu dokumentieren.“

Clyde schüttelte ungläubig den Kopf.

„Da scheint der Herzog ja jemandem böse auf die Füße getreten zu sein.“

„Ja. Könige mögen es nicht, wenn sie beschummelt werden. Die Einzigen die schummeln dürfen sind sie selber. Und jetzt ist Scythe-Castle der Stammsitz der Earls of Scythe und natürlich der Amtssitz des Lord-Lieutenant und der Verwaltung.“

Als die beiden Offiziere näher kamen, bemerkte Clyde zwei Wachtposten vor dem großen Burgtor. Sie trugen die rote und blaue Uniform der Garde der Grafschaft.

Die beiden Besucher wurden genau beobachtet, doch man ließ sie ohne Kontrolle passieren.

„Bisschen nachlässig, oder?“

flüsterte Clyde Feliciano zu.

„Das glaubst aber nur du. Sie kennen jeden einzelnen Offizier unseres Schiffes. Ich wette, der Lord-Lieutenant hat heute von seinem Besuch an Bord die neuesten Änderungen mitgebracht und auch gleich verkündet. Die Grafschaft und ihre Truppe mag zwar klein sein, aber die Angehörigen der Garde sind genauso gut ausgebildet und motiviert wie wir.“

Ihr Weg führte sie durch einen kurzen Torweg in den Innenhof der Burganlage. Clyde bemerkte mit Erstaunen, dass das Haupthaus der Burg unmittelbar an die westliche Außenmauer angebaut war. Das gab den Bewohnern einen ungehinderten Blick auf die See. Ansonsten gab es etliche kleinere Gebäude, die Clyde als Ställe, Schmiede, Küchengebäude oder Unterkünfte identifizierte. So ähnlich sah es auf Banbhaidh-Castle auch aus. Feliciano strebte auf den Eingang des Hauptgebäudes zu, vor dem ebenfalls zwei Wachen standen. Die große Flügeltür öffnete sich in eine Empfangshalle mit breiten Treppen an der linken und rechten Seite. In der Halle befand sich lediglich ein einsamer Schreibtisch mit einem geschäftig aussehenden Sekretär. Dahinter waren zwei Türen zu erkennen, wovon die eine das Wappen der Grafschaft trug, die andere das gleiche Wappen, jedoch unterlegt mit zwei gekreuzten Säbeln.

„Hauptmann de Luca und Leutnant Cameron für den Lord-Lieutenant.“

Der Sekretär musterte die beiden etwas erstaunt und seufzte dann theatralisch.

„Einen Moment, meine Herren. Ich werde sehen, ob Sir Brian ein wenig Zeit für sie erübrigen kann. Es ist gerade keine Zeit für eine Audienz.“

erklärte der Sekretär gewichtig und verschwand durch die Tür mit dem Wappen der Grafschaft.

Feliciano streckte hinter dem Rücken des Sekretärs seine Zunge heraus.

„So ein Idiot. Sir Brian empfängt jeden Offizier des Schiffes oder der Garde ohne Anmeldung. Als ob wir das nicht wüssten.“

Sir Brian Sandlake saß in seinem Arbeitszimmer hinter einem Schreibtisch, der mit einer großen Anzahl an Papieren überhäuft war. Als der Sekretär ihm seine Besucher meldete, sah er erleichtert auf.

„Ah, unser frischgebackener Hauptmann de Luca. Und unser neuester Zugang, Leutnant Cameron. Setzt euch, bitte. Ich habe in gewisser Weise schon gehofft, dass ihr heute hier vorbeikommt. Eine kleine Erfrischung?“

Feliciano de Luca sah Clyde fragend an. Als dieser den Kopf schüttelte und dann kurz darauf nickte, stutzte Feliciano etwas, aber dann verstand er.

„Wir hatten keine Ahnung, dass wir erwartet würden, Sir Brian. Eine kleine Erfrischung wäre nett.“

Sir Brian nickte seinem Sekretär zu, der sofort darauf verschwand.

„Ich habe euch nicht schon heute erwartet. Zu einem kleinen Höflichkeitsbesuch in den nächsten Tagen vielleicht, denn Clyde sollte ja auch den nominellen Oberbefehlshaber seiner Truppe kennenlernen.“

Sir Brian bemerkte Clydes erschrockenen Blick und lachte.

„Keine Angst, es ist ja nichts passiert. Ich lege auch, ehrlich gesagt, keinen gesteigerten Wert auf das ganze Trara. Es ist nur so, dass ein Lord-Lieutenant offiziell der Oberbefehlshaber aller Miliz-Truppen seiner jeweiligen Grafschaft ist. Das ist hier bei uns besonders sinnfrei, weil wir über sehr wenige Truppen verfügen. Das Schiff mit seiner Besatzung ist keine militärische Einheit. Es ist ein Handelsschiff mit einem Kaperbrief. Wie der jeweilige Kapitän oder Eigner seine Besatzung ausstaffiert, ist sein eigenes Problem.“

Alle drei sahen sich an und lachten.

„Tatsächlich zählen zur Miliz nur vier Truppenteile. Zunächst die Gardes du Corps. Das ist die offizielle Leibgarde des Earls und dient hauptsächlich zur Repräsentation. Sie besteht aus sechs Offizieren und sechs Unteroffizieren, also zwölf Mann, wird aber trotzdem als Kompanie gezählt. Dann die Scythe-Guards. Diese bestehen aus zwei Kompanien mit jeweils 32 Mann. Ihre Aufgaben sind der Wachdienst in der Festung und am Hafen. Ebenso greift der High Sheriff unserer Grafschaft auf sie zurück, um bei Bedarf die Polizeiaufgaben auf der Insel zu erfüllen. Dann haben wir eine Kompanie Marineinfanterie mit bisher zwölf Mann und einem Offizier. Das ist Felicianos Truppe. Da soll sich die Zusammensetzung ja drastisch ändern. Es werden – wieviel?“

„Dreiunddreißig.“

„Ach ja, richtig. Zweimal sechzehn Mann und Feliciano. Macht zusammen 109 Mann. Dann kommen jetzt noch die Scythe-Scouts dazu. Das sind…?“

Clyde zuckte zusammen, als er bemerkte, dass ihm eine Frage gestellt worden war.

„Oh, äh… vier. Bis jetzt.“

„Vier? Na gut. Dann hätten wir also 113 Mann. Das wäre in einer richtigen Armee gerade einmal eine komplette Kompanie und wir stellen hier offiziell ein Bataillon dar.“

Clyde saß einen Moment still da und dachte über das nach, was der Lord-Lieutenant gerade gesagt hatte.

Da wurde die Tür geöffnet und eine junge Frau in der Kleidung des Hauspersonals brachte ein Tablett mit mehreren Gläsern.

Als jeder ein Glas hatte und die Frau wieder gegangen war, nahm Sir Brian den Faden wieder auf.

„Wo waren wir? Ach ja. Bei unserer ruhmreichen Armee. Warum ich ebenfalls gehofft hatte, dass jemand vorbeikommt, ist der zeitliche Ablauf der Ergänzung bei der Marineinfanterie. Ich nehme an, ihr habt bereits mit Harold gesprochen?“

„Ja, ich habe ihm gesagt, er soll eine Liste machen…“

Sir Brian lachte leise und schüttelte den Kopf.

„Das wird wohl nicht reichen. Ich denke, ihr wisst nicht, was bei Harold so alles los ist. Fast täglich kommen irgendwelche Leute, und nicht nur jüngere Leute, die unbedingt mitfahren wollen. Einige kommen einfach her um hier zu leben. Sie haben sich niedergelassen, Geschäfte gegründet oder Arbeit gefunden. Nehmt Tarray als Beispiel. Inzwischen leben weit über zweitausend Leute in der Stadt.“

Feliciano blies die Backen auf.

„Harold hat so etwas angedeutet. Oh je. Wir brauchen wohl doch die Schießbahn. Das muss noch vorbereitet werden. Dann die Unterbringung. Was ist mit der FAIRYTALE? Die liegt in der Werft. Wohin mit den Leuten? Die Ausrüstung… Die Uniformen…“

Felicianos Stimme wurde immer gepresster. Clyde schüttelte ihn an der Schulter.

„Felice, komm wieder runter. Das lässt sich alles regeln.“

„Allerdings. Ihr solltet nachher wohl besser noch einmal zum Hafen runtergehen, bevor Harold überrannt wird.“

Feliciano sah den Lord-Lieutenant erfreut an, dann umarmte er Clyde.

„Danke. Ich war wohl etwas hektisch. Und noch etwas - du bist echt süß, wenn du Felice sagst.“

Clyde bemerkte, wie er zum unzähligsten Mal rot wurde, seit er an Bord des Schiffes gekommen war. Um seine Unsicherheit etwas zu überspielen griff er nach seinem Glas, nippte etwas daran und verzog das Gesicht. Sir Brian lachte.

„Ja, etwas gewöhnungsbedürftig. Das beliebteste Getränk ohne Alkohol hier in der Gegend. Apfelsaft aus der Grafschaft Scythe, versetzt mit etwas Wasser. Trotzdem kommt der saure Apfel durch. Es gab ein altes Sprichwort darüber, dass die Äpfel hier so sind wie die Einwohner – hart und sauer. In letzter Zeit ist das etwas abgeändert worden. Jetzt heißt es zwar immer noch, dass die Einwohner so sind wie die Äpfel – diesmal aber sind manche sauer, einige süß, aber alle haben eine raue Schale.“

Feliciano und Clyde lachten, ebenso wie Sir Brian.

Der Lord-Lieutenant sah auf die große Standuhr neben der Tür zu seinem Arbeitszimmer.

„Es ist zwar noch nicht ganz so weit, aber ich pflege die Teezeit einzuhalten. Wenn ihr noch ein wenig Zeit habt, möchte ich euch beide einladen, mit mir eine Tasse zu trinken.“

Clyde hielt zwar nichts von Tee, doch Feliciano nickte ihm zu. Wenn der Oberbefehlshaber zum Tee lud, tat man gut daran, dem zu folgen.


Als Feliciano und Clyde nach dem Tee wieder durch die Stadt zurückgingen, bemerkten sie am Hafen einen kleinen Menschenauflauf. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass sich vor dem Heuerbüro tatsächlich eine ganze Anzahl Männer unterschiedlichen Alters versammelt hatten. Vor der Tür des Heuerbüros waren bereits zwei Mann der Wache in ihren blau-roten Uniformen aufgezogen.

„Was ist hier denn los?“

„Ich fürchte, es hat sich schon herumgesprochen, dass wir wieder anheuern. Lass uns mal sehen, wie weit das Ganze gediehen ist.“

Die beiden drängelten sich durch die Menschentraube nach vorne zur Tür, die der Posten für sie sofort frei gab. In dem kleinen Büro war die Lage nicht viel besser. Vor dem Tresen drängten sich ein halbes Dutzend Männer und versuchten gleichzeitig, auf den Heuerbaas einzureden.

„Ruhe, Leute. Ruhe! Ihr seid doch schon alle registriert. Jeder, der auf der Liste steht, bekommt eine Gelegenheit, sein Können zu beweisen.“

„Gibt es ein Problem, Harold?“

„Ah, Feliciano. Gut dass ihr gerade vorbeikommt. Ich habe kein Problem, aber wir müssen wohl doch einen Schiesswettbewerb einführen. Ich habe weit über hundert Einträge von Leuten hier, die alle meinen, gute Schützen mit einer Flinte zu sein.“

„Bah, mit Flinten ist das einfach. Die Leute müssen mit unseren Karabinern schießen können. Lass mich mal überlegen. Der erste Durchgang ist ein Ziel von der Größe… hm, da müssen wir mal sehen, was sich findet. Aber die Durchgänge finden auf dreißig, fünfzig und siebzig Meter statt.“

Harold nickte.

„Und wann soll der Wettbewerb stattfinden?“

„Morgen früh auf dem Übungsplatz der Wache. Sagen wir, um zwei Glasen der Vormittagswache.“

Die umstehenden Männer hatten dem Wortwechsel schweigend gelauscht und einige Gesichter waren länger geworden, andere sahen verwirrt aus. Harold klärte sie auf.

„Ihr habt es gehört. Es gibt einen Schießwettbewerb mit Karabiner. Morgen früh um neun Uhr auf dem Schießplatz. Das ist nach Westen raus auf dem halben Weg zur Burg. Ihr könnt das schon mal draußen verkünden. Ich mache noch einen Aushang fertig.“

Einer plötzlichen Eingebung folgend sah der Heuerbaas in eine seiner Listen.

„Soll es ein Mindestalter für die Teilnahme geben?“

Feliciano und Clyde sahen sich kurz an.

„Siebzehn.“

Antworteten beide gleichzeitig. Auf Harolds fragenden Blick seufzte Feliciano.

„Es kann zwar Ausnahmen geben, aber im Allgemeinen sind die jüngeren nicht in der Lage, einen Karabiner lange ruhig zu halten, oder mit dem Rückstoß fertig zu werden. Wir bleiben bei siebzehn. Gibt es einen Grund für die Frage?“

„Ja, allerdings. Der jüngste Kandidat für den Karabiner ist Dreizehn. Hat behauptet, seit mehreren Jahren damit auf die Jagd zu gehen.“

„Dreizehn? Auf gar keinen Fall. Der Captain zieht uns das Fell über die Ohren, wenn wir mit einem Dreizehnjährigen für die Seesoldaten auftauchen. Dann erst mal vielen Dank. Wir sind morgen früh draußen am Übungsplatz.“

„Äh, was ist denn mit meiner Liste?“

Harold lächelte etwas säuerlich.

„Ja, das ist so eine Sache. Ich habe zwar eine ganze Anzahl von Leuten gefunden, die Lesen und Schreiben können, aber sehr vertrauenerweckend sahen die meisten nicht aus. Ein Teil von ihnen hat sich auch für den Schießwettbewerb mit dem Karabiner gemeldet. Nur direkt als Bogenschützen habe ich keinen.“

„Dann werden wir morgen früh sehen, wer sich aufgerafft hat und wer gut genug ist. Danke, Harold.“

Sie zwängten sich wieder nach draußen und dort sah Feliciano Clyde fragend an.

„Was hältst du von einem vernünftigen Abendessen?“

Clyde war erstaunt. Wohin würde das denn führen?

„Du… du willst mich zum Abendessen einladen?“

„Ja, warum nicht? Oh, es sollte nicht so aussehen, als ob…“

„Felice, mach dir bitte keine Gedanken darum, wie es aussieht. Ich nehme natürlich gerne deine Einladung an.“

Feliciano strahlte und zog Clyde etwas näher an sich heran. Der belohnte ihn mit einem kurzen Kuss.

Feliciano führte Clyde in eine der Tavernen am Hafen, die von einem Rotaner geführt wurde. Nach dem Essen und einer angenehmen Unterhaltung trennten sie sich dann.

„Ich habe meinen Mamas versprochen, bei ihnen zu übernachten und Romano ist bestimmt auch noch neugierig.“

„Das macht nichts. Wir sehen uns ja noch öfter. Ich werde mal deine Kammer ausprobieren.“

Nach einem ausdauernden Abschiedskuss trennten sie sich dann tatsächlich. Clyde trieben ein paar Gedanken um, während er sich zurück an Bord rudern ließ.

Was ist plötzlich los mit mir? Bin ich jetzt eine kleine Schlampe geworden? Ich verstehe es einfach nicht. Warum treibt mir der bloße Gedanke an einen anderen Mann die Röte ins Gesicht, obwohl ich ihn nur einen Moment später küssen oder sonst was mit ihm machen will. Das war doch vorher nicht, bevor ich an Bord gekommen bin. Woher kommt diese Anziehung? Ist es ein bestimmter Typ? Nein, die Jungs sind so unterschiedlich in ihrem Wesen und auch in ihren Körpern. Oh, ihr Götter, ich werde schon wieder rot. Aber ich mag sie, sie sind echt niedlich. Niedlich? Ist es das? Nein. Ich würde Frank nicht unbedingt als niedlich bezeichnen. Und Finn? Der ist bestimmt nicht niedlich mit seinen Muskeln und dem Ungeheuer, das seine Brustwarze verschlingt. Verdammt, ich kann einfach nicht aufhören an die Jungs zu denken. Irgendetwas führt mich immer wieder zu ihnen zurück. Was immer das Schicksal für mich bereithält, es ist anscheinend auch mit ihnen verbunden.


Am nächsten Morgen wurde er unsanft durch ein Klopfen an der Kammertür geweckt.

„Guten Morgen. Vier Glasen.“ rief eine helle Stimme.

Clyde grummelte etwas, aber dann fiel ihm ein, dass er in drei Stunden auf dem Schießplatz sein wollte. Etwas verspannt rollte er sich aus der Hängematte. Oben an Deck hörte er das gleichmäßige Klacken der Pumpe, das er inzwischen eindeutig zuordnen konnte. Er war zunächst etwas unschlüssig, doch dann nahm er mutig ein Handtuch von einem Haken, verließ die Kammer und stieg, nackt wie er war, den Niedergang nach oben.

Wie jeden Morgen nutzte auch heute ein Teil der Besatzung den Strahl der Lenzpumpe als Dusche. Im Hafen waren es zwar etwas weniger Leute als auf See, doch Clyde wurde mit einem seltenen Anblick belohnt. Unter dem kalten Wasserstrahl seiften sich gerade Jean-Luc und Lieutenant Hochbauer gegenseitig ein. Clyde hatte sich schon gefragt, wer denn nun Jean-Lucs Freund war, aber dies schien die Antwort zu sein. Ihm fiel auch Jean-Lucs Kommentar zu Sigurd Hochbauer ein: Im Dienst ist er ein bisschen streng, aber während der Freiwache ist er echt nett. Jetzt wusste er, wie Jean-Luc zu dieser Einschätzung gekommen war.

Das zweite, was Clyde erstaunte, waren die Haare von Sigurd Hochbauer. Clyde hatte schon beim ersten Mal den langen Zopf bewundert, doch dieses Mal trug der junge Mann sein Haar offen und eine wahre Kaskade dunkelblonden Haars fiel ihm den Rücken hinunter fast bis zu…

Etwas Eiskaltes, Nasses traf Clyde auf der Brust und er hörte Jean-Luc lachen.

„Ich hoffe, du hast nur auf die Haare geschaut. Los, komm her, wir haben noch Seife für dich.“

Clyde lachte und erzitterte dann, als er von den beiden jungen Männern unter den Wasserstrahl gezerrt wurde. Gleich darauf spürte Clyde, wie er von den beiden gleichzeitig auf Vorder- und Rückseite eingeseift wurde. Diesmal war er froh, dass das Wasser so kalt war. Nach dem Abspülen schnappte sich Clyde sein Handtuch und begann sich abzurubbeln.

„Wenn du vernünftig baden willst, gibt es in Tarray ein gutes, seriöses Badehaus. Mit heißem Wasser und einem Schwimmbecken. Sehr zu empfehlen.“

Clyde betrachtete Lieutenant Hochbauer skeptisch.

„Na ja. Die Idee ist ja sehr verlockend, aber ich habe bis jetzt noch kein Geld.“

Jean-Luc und Sigurd sahen sich fragend an.

„Was? Du warst noch nicht beim Zahlmeister? Du müsstest mindestens deine Verpflichtungsprämie und deinen Sold als Matrose dort haben. Das wären dann gut drei Sovereigns.“

„Drei Sovereigns? Damit komme ich einen ganzen Monat aus.“

Sigurd Hochbauer lachte.

„Das glaube ich kaum. Du wirst am Anfang eine ganze Menge mehr brauchen. Es gibt neue Uniformen für euch, wie ich gehört habe. Die Offiziere müssen ihre selber kaufen. Dann bist du als Leutnant jetzt Mitglied der Offiziersmesse. Dort wird für das Essen eine Gebühr von einem Sovereign, einem Shilling und einem Penny pro Monat erhoben. Außerdem musst du alle alkoholischen Getränke dort selber bezahlen. Apropos Messe. Wenn du möchtest, können wir uns zum Frühstück dort treffen.“

Clyde realisierte erst jetzt, dass er als Leutnant tatsächlich Mitglied der Offiziersmesse war und nicht mehr zusammen mit den Seekadetten essen würde.

„Äh, ja. Gerne, danke.“

Von einem neuen Gedanken durchzuckt sah Clyde erst auf sein Handtuch und dann an sich herab.

„Ich muss mich dann wohl noch umziehen. Bin gleich da.“

Lachend sahen Jean-Luc und Sigurd dem davoneilenden Clyde hinterher.


In der Messe war wenig Betrieb. Vorsichtig hatte Clyde die Tür geöffnet und spähte hinein. Lediglich der Master saß an dem langen Tisch und trank aus einer großen Tasse. Ein leerer Teller stand vor ihm.

„Ah, Clyde. Komm ruhig rein. Du gehörst ja nun auch zu diesem erlauchten Kreis.“

Clyde war sich nicht sicher, wie die Worte gemeint waren, aber der Master lachte.

„Die älteren Herren unserer glorreichen königlichen Marine haben Gift und Galle gespuckt, als sie erfahren haben, dass auf der FAIRYTALE alle ihre geheiligten Traditionen übernommen worden sind. Es gab etliche abfällige Kommentare, unter anderem auch den, dass wir nie zu dem ‚erlauchten Kreis wahrer Marineoffiziere‘ gehören würden.“

Clyde setzte sich zögernd dem Master gegenüber und zuckte zusammen, als er plötzlich von der Seite angesprochen wurde.

„Guten Morgen, Sir. Was hätten sie denn gerne zum Frühstück?“

Überrascht sah Clyde hoch und blickte in die haselnussbraunen Augen von Moritz, die ihn aufmerksam musterten.

„Oh, wieder zurück in der Messe?“

„Jawohl, Sir. Der Captain hat den Kutter und den Logger an die Pier des Prisengerichts verlegen lassen und die Besatzungen wieder zurück auf die FAIRYTALE geholt. Harvey arbeitet jetzt hier in der Kombüse. Aber was hätten sie denn gerne zum Frühstück?“

„Äh, ja. Also… Keine Ahnung. Was gibt es denn normalerweise morgens?“

„Da hätten wir zunächst die Getränke. Kaffee, Tee, Kakao, verschiedene Säfte oder Dünnbier.“

„Was ist denn Kakao?“

Der Master hob den Kopf und sah herüber.

„Ein Getränk von den Tausend Inseln. Die Eingeborenen trinken es dort. Mir persönlich ist es zu bitter.“

„Wir servieren es auch mit Zucker. An Speisen haben wir am Morgen Rührei, Speck, Würstchen, gebratene Nieren, Porridge, Räucherheringe oder auch Toast mit Marmelade.“

Clyde schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken an gebratene Nieren. Er aß zwar Fleisch, doch nicht am frühen Morgen und auch sonst nur sehr spärlich.

„Dann bitte Rührei ohne Speck und ein wenig Toast. Ach ja, ich werde es mit diesem Kakao versuchen. Mit Zucker, bitte.“

Die Tür ging auf und Sigurd Hochbauer erschien in Zivil. Die noch feuchten Haare hingen ihm immer noch lose den Rücken herunter. Der Master hob missbilligend seine Augenbrauen, sagte aber nichts.

„Entschuldigung, Jason. Es musste etwas schnell gehen. Ich hatte unserem jungen Leutnant hier versprochen, ihm beim Frühstück Gesellschaft zu leisten.“

Jason Lawrence brummte etwas Unverständliches und erhob sich dann.

„Einen schönen Tag noch. Wir werden um acht Glasen zur Werft verholen. Der Bootsverkehr wird dann eingestellt. Wer vorher noch an Land will, sollte sich beeilen.“

Ohne weiteren Gruß entfernte sich der Master.

„Was hat der denn? Ein wenig grummelig am Morgen.“

Sigurd Hochbauer sah interessiert zu, als Clyde sein Frühstück serviert bekam.

„Aha, noch jemand, der keinen Geschmack an einem typisch britannischen Frühstück findet. Für mich einmal das Gleiche bitte, Moritz.“


Nach dem Frühstück eilte Clyde schon in Richtung der Fallreepstreppe, als ihm die Bemerkung über den Zahlmeister einfiel. Nach einem kurzen Blick auf das Stundenglas neben der Schiffsglocke machte er kehrt und suchte die Schreibstube des Zahlmeisters.

In dem kleinen Raum standen Miles Redcliff und Luciano Rossi, sein Schreiber, jeder an einem Schreibpult und arbeiteten im Licht mehrerer kleiner Laternen.

„Clyde, was führt dich her?“

Clyde kannte Luciano aus der Junior-Messe und lächelte ihn schüchtern an.

„Ich wollte nur einmal sehen, ob ich … ich meine, ich habe kein Geld und da…“

Miles Redcliff sah auf.

„Was? Und da kommst du jetzt erst? Warte einen Moment.“

Der Zahlmeister legte das Schriftstück weg an dem er gearbeitet hatte und nahm ein großes Buch zur Hand.

„Hmmm, mal sehen. Aha, hier. Clyde Cameron. Am fünfzehnten des Monats eingestellt auf Grund freiwilliger Verpflichtung. Das gibt ein Handgeld von drei Shilling. Ernennung zum Leutnant der Seesoldaten am ersten August. Das heißt also, du bekommst die Heuer für den halben Monat Juli als Matrose von fünf Shilling. Am Ende des Monats August bekommst du dann den Sold als Leutnant. Die Kosten für die Verpflegung als Matrose wurden bereits abgezogen, ebenso wie für die Ausrüstung und Bekleidung. Kostet dich fünf Pence für einen halben Monat Verpflegung in der Juniormesse und einen Shilling und einen Penny für Bekleidung. Dafür kannst du die Sachen auch behalten, wenn du willst.“

Clyde nickte freudig, doch der Zahlmeister hob eine Hand.

„Wir sind noch nicht fertig. Gestern ist der Bescheid des Prisengerichts hereingekommen. Auf Befehl des Captains wurde das Prisengeld aufgeteilt. Du warst zum Zeitpunkt des Gefechts gegen die SIRÈNE als Matrose an Bord. Daher erhältst du elf Sovereigns, einen Shilling, sieben Pence. Der Beitrag für die Offiziersmesse beträgt einen Sovereign, einen Shilling, einen Penny, zahlbar am Anfang des Monats. Dein Konto enthält momentan also zehn Sovereigns und sieben Shilling.“

Plötzlich fing Clyde an zu stottern.

„Könnte ich… könnte ich, ich meine…“

„Klar. Wieviel möchtest du denn haben?“

„Fünf Sovereigns?“

„Hm, das ist deine Sache, aber ich gebe dir einen guten Rat. Nimm nicht so viel. So schön Tarray auch sein mag, auch dort gibt es Taschendiebe und Beutelschneider.“

„Oh, dann nur zwei.“

„Eine gute Entscheidung.“

Miles machte einige Eintragungen die Clyde quittieren musste und dann bekam er zwei Sovereigns in verschiedenen Münzen von Luciano ausbezahlt.

Oben an Deck schielte er wieder herüber zum Stundenglas. Die kleinen hölzernen Stecker daneben markierten die abgelaufenen halben Stunden. Es gab sechs Stecker und das Glas war halb durchgelaufen. Er hatte also noch knapp eine dreiviertel Stunde bis der Bootsverkehr eingestellt wurde.

Schnell ging er hinunter zum Deck der Seesoldaten. Außer den Scouts war das Deck leer. Die drei waren gerade dabei, ihre Ausrüstung zu reinigen, als er hereinkam.

„Die anderen sind alle rüber zum Schießplatz.“

meldete sich Mario sogleich. Clyde hatte so etwas vermutet.

„Da gehen wir auch hin. Nehmt eure Waffen mit. Ach ja, jeder nimmt eine zusätzliche Waffen mit, die er gut beherrscht. Auch wenn sie nicht offiziell zur Ausrüstung gehört. “

Finn runzelte die Stirn und sah hinüber zu Schwert und Streitaxt, die neben seiner Kiste lagen. Mario strahlte und fing an, in seiner Seekiste zu kramen.

Als sie abmarschbereit waren, erwischten sie gerade noch eines der letzten Boote. Clyde führte sie hinüber zum Schießplatz. Während des Weges flüsterte er eine ganze Zeit lang mit Frank.


Gegen halb neun erreichte Clyde mit seiner kleinen Truppe den Schießplatz, der wohl auch als Exerzierplatz diente.

Überrascht blieb er stehen, denn am Rand des Übungsplatzes hatte sich eine große Anzahl Männer aller Altersgruppen eingefunden und wurde bereits von einigen der Seesoldaten in die Handhabung der kurzen Karabiner eingewiesen.

Sie hatten fünf Bahnen abgesteckt, mit leeren Schnapskrügen als Ziele. Frank wies Clyde grinsend auf einen Eselskarren hin, der abseits der Schießbahn stand und randvoll mit leeren Krügen war.

„Das wird zunächst einmal eine Demonstration der Donnerbüchsen werden. Was habt ihr euch ausgedacht?“

Der erste, der sich nach vorne schob, war Mario. Über seiner Jacke trug er nun ein schwarzes Kreuzbandelier, in dem auf jeder Seite vier Wurfmesser steckten.

„Wurfmesser. Auf zehn Meter. Ich könnte eine der großen Holzscheiben nehmen und darauf acht Ziele markieren.“

„Sehr schön, was haben wir noch?“

Frank schüttelte seinen Kopf.

„Karabiner kommt ja wohl nicht in Frage. An Fernwaffen kann ich nichts weiter. Oder sollen wir auch Nahkampf machen?“

„Nein. Das ist heute Fernkampftag.“

Finn hob nur demonstrativ seinen Bogen an. Dann zog er zögernd ein Stück Stoff aus seiner Hosentasche und gleich darauf ein halbes Dutzend kleiner grauer Kugeln.

„Was ist das denn?“

Clyde wurde von Mario unterbrochen.

„Du kannst mit einer Schleuder umgehen?“

Finn zuckte mit den Schultern.

„Wir mussten alles lernen, was bei uns zu Hause als Waffe verwendet wird. Ich kann auch noch Stockfechten und sogar mit einem Speer umgehen.“

Mario sah Finn nachdenklich an, während Clyde nur nickte und dann zu Feliciano hinübersah.

„So, ich werde mit Feliciano sprechen und dann machen wir zwischen seinen Durchgängen unsere Vorführungen.“

Feliciano hatte schon einen ganzen Berg von Arbeit hinter sich. Harold hatte ihm eine Liste von über hundert Bewerbern gegeben, die er nach ein paar kurzen Fragen an die Leute auf knapp siebzig zusammengestrichen hatte. Es war wohl am einfachsten, im ersten Durchgang jeden Bewerber auf einen der Krüge schießen zu lassen und wer daneben schoss war draußen. Er war echt gespannt, wie viele für die siebzig Meter übrig bleiben würden.

Als die Scouts eine große Holzscheibe aufstellten, stutzte er. Wollte Clyde auch einen Wettbewerb veranstalten? Kurz entschlossen ging er hinüber.

„Guten Morgen, Clyde. Was habt ihr denn vor?“

„Guten Morgen. Zwischen euren Durchgängen wollen wir einmal zeigen, was man noch alles machen kann, außer laut zu knallen.“

Feliciano lachte gutmütig.

„Na schön. Du möchtest eine Vorführung machen? Wie hast du dir das gedacht?“

Clyde erklärte, wie er sich den Ablauf gedacht hatte und Feliciano nickte.

„Das ist sogar sehr gut. Da haben wir mehr Zeit zum Auswerten. Dann los.“

Als erste Aufgabe für die Karabinerschützen hatte sich Feliciano nun doch entschlossen, jeden Bewerber zweimal schießen zu lassen. Er musste auf eine Entfernung von dreißig Metern einen tönernen Schnapskrug treffen, den Karabiner nachladen und mit einem zweiten Schuss einen weiteren Krug treffen.

Als alle Bewerber mit der ersten Aufgabe fertig waren, war Feliciano etwas enttäuscht. Die meisten hatten zwar das erste Ziel getroffen, aber nach dem Nachladen war das Ergebnis deutlich schlechter geworden. Nicht einmal die Hälfte war durchgekommen.

Clyde sah hinüber zu Feliciano, doch die Karabinerschützen waren wohl noch nicht so weit für den nächsten Durchgang. Dann konnten sie mit ihrer ersten Vorführung beginnen.

Mario war damit beschäftigt, vor der aufgestellten mannshohen Holzscheibe ein genaues Maß abzuschreiten. Dann stellte er sich mit seinen Wurfmessern in Positur. Zur Überraschung aller hatte Finn sich seiner Jacke und des Hemdes entledigt, nur das Halstuch hatte er umgelassen. Nun stellte er sich mit nacktem Oberkörper direkt vor die Holzscheibe. Clyde konnte nun Finns Tätowierung zur Gänze bewundern, die von der rechten Schulter bis über die Mitte der Brust reichte und in leuchtend blauer Farbe ein Fabeltier zeigte, das mit aufgerissener Schnauze versuchte, Finns linke Brustwarze zu verschlingen.

Trotz des reizvollen Anblicks wusste Clyde, was kommen würde, sobald die beiden fertig waren. Nämlich ein heftiges Donnerwetter über Mario und Finn, selbst wenn sie das Ganze ohne Schrammen überstehen würden.

Mario machte seinen ersten Wurf und das Messer landete nur wenige Zentimeter links neben Finns Hals. Das nächste war schon etwas näher auf der anderen Seite. Da Finn mit den Armen an seine Seiten gepresst dastand, machte Mario es sich einfach und setzte jeweils ein Messer links und rechts neben die Ober- und die Unterarme. Die letzten beiden landeten dicht neben den Oberschenkeln.

Während Feliciano den nächsten Durchgang über 50 Meter anlaufen ließ, suchte Clyde nach Mario, aber der blieb erst einmal verschwunden. Anscheinend wusste er genau, was ihm blühte. Lediglich Finn saß in aller Ruhe auf dem Rasen neben der Schießbahn.

„Wessen Idee war das?“

Finn sprang auf.

„Meine, Sir. Ich kann sonst keinen großen Beitrag leisten, also…“

„Du kannst keinen großen Beitrag leisten? Und deshalb gehst du das Risiko ein, von dem kleinen Messerjongleur aufgespießt zu werden? Wir sprechen uns nachher an Bord. Aber jetzt kommt eine andere Einlage. Wir wollen doch mal sehen, ob wir die Zuschauer nicht noch ein bisschen mehr beeindrucken können. Schnapp dir deinen Bogen und komm mit.“

Finn wollte nach seiner Jacke und seinem Hemd greifen, doch Clyde schüttelte den Kopf.

„Die brauchst du dafür nicht. Auch keinen Köcher, nur drei Pfeile.“

Dann führte er Finn zur 50-Meter-Linie, wo die letzten Karabinerschützen mit nicht sehr erfreuten Gesichtern abzogen.

„Rechts neben dem ersten Tonkrug hat Frank einen Eichenast aufgerichtet. Kannst du ihn sehen?“

Finn nickte, sah nach vorne und erkannte den Ast. Dann spürte er Clydes Hand auf seinem nackten Rücken. Sofort verschob sich sein Gesichtsfeld und der Zweig rückte näher. Finn hob den Bogen und begann das Ziel aufzufassen.

„Noch nicht. Ich sage dir wann.“

Finn spürte, wie sich eine Spannung aufbaute, genau wie kürzlich während des Landungsunternehmens.

„Jetzt!“

Finn ließ den ersten Pfeil los und er traf den Eichenzweig genau in der Mitte. Durch die geringe Entfernung und die hohe Durchzugskraft des Bogens steckte er fast genau horizontal. Der nächste Pfeil kam heran und spaltete den ersten. Diesem erging es nicht besser, als auch der dritte Pfeil herankam und seinen Vorgänger spaltete.

Schon nach dem zweiten Pfeil waren ringsum fast alle Geräusche verstummt, doch mit dem Dritten schien der Bann gebrochen. Jubel und Beifallsrufe brandeten auf, sogar laute Pfiffe gellten über den Platz.

Auch die Bewerber des Schießwettbewerbs sahen halb fasziniert, halb entsetzt auf die gespaltenen Pfeile.

Als nächster war erst einmal wieder Feliciano dran, der seine übriggeblieben Bewerber zur 70-Meter-Linie führte.

Die Anzahl hatte sich von den anfänglichen Bewerbern bis jetzt mehr als halbiert und daher hatte Feliciano beschlossen, dass jeder Bewerber drei Schüsse auf die große Entfernung abgeben sollte. So bestand wenigstens die Möglichkeit, ein paar Treffer zu erzielen. Der erste Durchgang bewies ihm, dass er recht gehabt hatte. Nicht ein einziger hatte getroffen.

Mit einer resignierten Geste übergab er den Platz erst einmal an Clyde um ein paar eindringliche Worte an die niedergeschlagenen Schützen zu richten.

Noch einmal war es Finn, der diesmal zur 70-Meter-Line der Karabinerschützen ging und fünf Tonkrüge musterte, die in einer Reihe nebeneinander aufgebaut worden waren. Ruhig legte er eines seiner kleinen Bleigeschosse in die Schlinge und schwang seine Schleuder. Mit lautem Krachen zerbarst der erste Tonkrug und in regelmäßigen Abständen folgten die anderen vier.

Die Zuschauer applaudierten wieder und etliche sahen sich wissend an. Die Schleuder war auch hier auf der Insel eine übliche Waffe der Hirten.

Felicianos Bewerber waren im zweiten Durchgang etwas besser, doch er war bei weitem noch nicht zufrieden. Bis jetzt hatten sich nur elf Mann qualifiziert und er brauchte zweiundzwanzig! Er musste sich etwas einfallen lassen.

Vor dem entscheidenden Karabinerschießen hatte Clyde nur noch eine Vorführung geplant. Er schickte Finn hinüber zu der großen Holzscheibe, die Mario vorher benutzt hatte und ließ ihn eine Entfernung von hundert Schritten abmessen. Finn hatte Jacke und Hemd noch nicht wieder angezogen und Clyde bewunderte die muskulöse Figur mit der sonnengebräunten Haut, doch er wusste, er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Er trat zu Finn und setzte ihm eine dichte schwarze Kapuze auf. Dann berührte er ihn mit seiner flachen Hand zwischen den Schulterblättern. Langsam hob Finn den Bogen und schoss, ohne selbst sehen zu können, auf die Scheibe.

Es war nicht das erste Mal, dass Finn mit dem Bogen schoss, ohne etwas zu sehen, doch da zielte er nach seinem Gehör. Dieses hier war etwas ganz anderes. Er sah die Scheibe nicht, er wusste, wo sie war. Sie und der Pfeil waren Eins. Etwas was zusammengehörte und was er zusammenbringen konnte, wenn er nur die Bogensehne losließ.

Nach dem zweiten Schuss spürte Finn noch etwas anderes. Ein prickelndes Hochgefühl, das er bisher nur bei einer anderen Gelegenheit erlebt hatte. Die langsam steigende Unruhe brachte ihn zu einer körperlichen Reaktion, die schon fast schmerzhaft war. Hin- und hergerissen von seiner Konzentration auf das Ziel und seiner stetig wachsenden Erregung gab er den dritten Schuss ab. Er gab seine Konzentration auf und seine Anspannung wich einer kleinen Explosion. Überrascht und etwas verschämt riss sich Finn die Kapuze vom Kopf und hielt sie vor seinen Unterkörper, während er sich mit schnellen Schritten in Richtung einer kleinen Buschgruppe entfernte.

Mario hatte ihn schon vorgewarnt, dass bei einer längeren Anwendung der Trefferlupe etwas Ähnliches passieren könnte, doch er hätte nie geglaubt, dass ihn dieses Gefühl so überwältigen würde.

Die Zuschauer hatten nur Augen für die Zielscheibe, in der drei Pfeile steckten, in einem Zielgebiet von der Größe eines Sovereign. Die zunächst erstaunten Ausrufe der Zuschauer wechselten zu begeistertem Applaus, doch Clyde nahm sehr wenig Notiz davon, denn Mario war wieder aufgetaucht.

Erstaunt bemerkte Clyde, dass Mario eine geladene Pistole trug. Mario grinste ihm etwas entschuldigend zu, dann deutete er auf die Scheibe mit den drei Pfeilen. Clyde lächelte zurück. Der Junge schien ja ein großes Vertrauen zu haben.

Clyde stellte sich nun links hinter ihn und fasste ihm mit einer Hand in den Nacken. Das Schießen mit Feuerwaffen war eine ganz andere Angelegenheit, als mit dem Bogen. Eine Pistolenkugel war bis etwa 20 Meter genau. Fliegen würde sie etwa zweihundert Meter weit, doch dann fiel sie auch schon irgendwo zu Boden. Auf hundert Meter würde man im Normalfall nicht einmal das sprichwörtliche Scheunentor treffen.

Dennoch hob Mario nun seine Pistole. Der Anstellwinkel war erhöht und Mario versuchte so ruhig wie möglich zu bleiben. Seine Sicht auf das Ziel war zwar durch die Trefferlupe fokussiert, dennoch ließ jede noch so kleine Bewegung von Mario das Ziel hin und her wandern.

Die Zuschauer waren in andächtiges Schweigen versunken und so manche Wette wurde abgeschlossen. Als der Schuss brach, starrte jeder hinüber zur Scheibe. Die dort am Nächsten stehenden brachen plötzlich in begeisterte Schreie aus. Clyde und Mario gingen hinüber und sahen, dass die Kugel einen von Finns Pfeilen abgeknickt hatte.

Clyde beugte sich etwas zu Mario herunter und gab dem überraschten Rotaner einen Kuss, dann begaben sie sich an den Rand der Schießbahn zum letzten Durchgang der Karabinerschützen. Nachdem diese dann auch das Schießen auf 70 Meter beendet hatten, beriet sich Feliciano mit etwas säuerlichem Gesicht mit Pascal. Clyde trat neugierig näher.

„Mach eine Liste mit der Reihenfolge der Treffer aus dem ersten und dem zweiten Durchgang. So toll sind die alle nicht.“

Pascal schüttelte nur den Kopf und fing an zu rechnen. Feliciano drehte sich zu Clyde.

„Das dauert noch was mit der Auswertung. Habt ihr noch was auf Lager?“

Clyde überlegte einen Moment. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das hier und jetzt wagen sollte, aber dann zuckte er mit den Schultern. Die Gerüchte über ihn waren ohnehin schon in Umlauf. Da konnte er sie gleich noch etwas anfeuern. Clyde grinste innerlich bei dem passenden Vergleich.

„Ja. Dauert einen Moment.“

Clyde winkte Frank zu sich und nach einer kurzen Erklärung räumte dieser mit der Unterstützung von ein paar Seesoldaten den Platz um die Holzscheibe frei. Clyde ging hinüber zur Markierung für die Hundert Meter. Dann konzentrierte er sich und auf seiner Handfläche erschien ein Feuerball. Mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk schleuderte er den Ball auf die Scheibe und ließ noch gleich einen weiteren folgen.

Der Effekt war spektakulär. Im Gegensatz zu Feuerpfeilen, die ihr Ziel langsam entzündeten, zerbarst der Feuerball in einer kleinen Explosion und verteilte sich über die ganze Scheibe. Der zweite Feuerball ließ das Holz nur noch als schwarze Flocken zu Boden rieseln.

Das Schweigen ringsum war fast bedrückend, doch dann hörte Clyde die ersten Jubelschreie. Ja, dieses Land akzeptierte seine Magier, denn sie waren die Garantie dafür, dass ihre Heimat ein freies Land blieb.

Auch Feliciano und Pascal winkten ihm begeistert zu, während er wieder zu ihnen zurückging. Pascal rechnete immer noch und Clyde sah ihm neugierig über die Schulter.

„Was macht der denn hier?“

Pascal betrachtete den Eintrag auf den Clyde deutete.

Arje deFries. Nassouwe. 17 Jahre. Kaufmannsgehilfe. Muskete, Armbrust.

„Armbrust gibt’s doch schon seit langer Zeit nicht mehr.“

Pascal schüttelte den Kopf.

„Hier vielleicht nicht. Aber es gibt Gegenden, da wird sie noch benutzt. Besonders wenn Pulver und Blei teuer sind, so wie in Nassouwe. Außerdem ist er gar nicht so schlecht. Mit dem Karabiner auf Platz 23.“

Clyde überlegte einen Moment und wandte sich wieder an Pascal.

„Ihr braucht doch nur zweiundzwanzig. Wenn ihr hier durch seid, zeigst du ihn mir bitte.“

Pascal nickte und drehte sich einmal im Kreis.

„Schon gefunden. Da drüben, der kleine mit den goldenen Locken.“

Bevor Clyde jedoch hinübergehen konnte, begann Feliciano mit der Verkündigung der Ergebnisse. Bei den Gewinnern war der Jubel groß, bei den Verlierern überwog die Enttäuschung. Clyde suchte noch einmal nach dem Jungen mit den goldblonden Locken.

Der hatte sich zu einem nahen Baum zurückgezogen und lehnte daran, den Blick in weite Ferne gerichtet.

Als Clyde sich ihm näherte, konnte er ihn etwas besser betrachten. Fast so groß wie er selber, hatte er als auffälligstes Merkmal tatsächlich diese hellen, goldblonden Haare, die sich in kleinen Locken kräuselten. Seine blauen Augen blickten in die Ferne und sein Gesicht sah nicht sehr fröhlich aus.

„Bist du Arje deFries?“

Der Junge richtete sich gerade auf und sah Clyde neugierig entgegen. Noch ein Offizier. Aber er gehörte, den Farben nach zu urteilen, nicht zu den Seesoldaten. Soviel hatte er schon gelernt. Doch halt! War das nicht der junge Mann, der vorhin die Feuerbälle geworfen hatte? Arje wurde etwas nervös.

„Ja, der bin ich. Warum fragt ihr?“

„Mein Name ist Clyde Cameron. Von den Scythe-Scouts. Hättest du Interesse daran, den Scouts beizutreten?“

Arje sah Clyde vollkommen verblüfft an. Einfach so? Und wer waren die Scythe-Scouts?

„Verzeihung, Sir. Aber wer sind die Scythe-Scouts? Ich habe noch nie von einer solchen Einheit gehört.“

Clyde lächelte dünn. Wenigstens war er ehrlich. Aber wie konnte er ihm das auf die Schnelle beibringen, ohne zuviel Preis zu geben?

„Oh, die Scouts sind neu. Wir sollen eine Aufklärungseinheit werden. Feindaufklärung im infanteristischen Einsatz und Informationsbeschaffung für die Kaperunternehmen.“

Arjes Kopf ruckte herum. Feindaufklärung? Informationsbeschaffung? Was war das denn für eine Truppe? Dann fiel ihm ein, was sein Vater über die Geschichte von Nassouwe erzählt hatte, von dem Befreiungskrieg gegen Letrion. Als die Einwohner von Nassouwe bei Nacht und Nebel das halbe Land mit seinen Kanälen unter Wasser gesetzt hatten. Machten die Scouts so was Ähnliches?

„Kann… hmmm, kann ich mir das noch überlegen?“

Clyde war überrascht, zögerte aber keinen Moment. Schnell sah er sich um.

„Selbstverständlich. Wenn du dich dafür entschieden haben solltest, geh einfach zu dem kleinen Rotaner mit dem violetten Halstuch dort drüben. Er wird dich einweisen.“

„Vielen Dank, Sir. Äh, ist das richtig, dass sie der Offizier sind, der vorhin diese Feuerbälle geworfen hat?“

Clyde grinste innerlich, ließ sich aber nichts anmerken.

„Ja, das war ich. Warum?“

„Oh, nur so, Sir. Vielen Dank, Sir.“

Clyde ging wortlos zurück zu seiner kleinen Einheit. Er wusste nach der letzten Frage, wie Arje sich entscheiden würde.

Als Clyde bei seinen drei Leuten eintraf, seufzte er.

„Sehr gut. Ich glaube, wir haben heute gleich zwei, nein eigentlich sogar drei Aufgaben erledigt.“

Auf die verdutzten Blicke bedeutete Clyde ihnen, sich zu setzen.

„Bevor ich anfange, möchte ich euch danken.“

Clyde sah erstaunte Blicke ringsum.

„Ihr kennt mich fast gar nicht und dennoch habt ihr mir und meinen Fähigkeiten zugetraut, eure Aufgabe zu erfüllen.“

Clyde sah nun Finn direkt an.

„Es tut mir leid. Ich hätte dich warnen sollen, aber ich hatte nicht gedacht, dass es so stark wird. Ich habe es auch gespürt. Wenn du möchtest, können wir den Zauber unter anderen Umständen wiederholen und ich kann dir zeigen, wie du damit umgehen kannst.“

Clyde und Finn wurden simultan rot, während Mario leise kicherte. Clyde bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, während er sich räusperte.

„Ansonsten war es natürlich ein voller Erfolg. Erstens habe ich einen Überblick über ein paar der Fähigkeiten bekommen die jeder von euch beherrscht. Ich bin mir sicher, es gibt noch mehr, was wir gebrauchen können, doch erst einmal so weit. Zweitens haben wir den Leuten gezeigt, was wir können. Nicht nur euren Kameraden, sondern auch den Zuschauern. Das war heute fast so gut wie jede Jahrmarktsdarbietung. Drittens haben wir erfolgreich unsere Mannschaft ergänzen können.“

Alle drei sahen nun Clyde vollkommen erstaunt an, aber der winkte ab.

„Abwarten. Ich nehme an, innerhalb der nächsten halben Stunde wird jemand auf Mario zukommen und ihn nach den Scouts befragen. Erzähl ihm einfach alles, was er wissen muss.“

Mario machte ein verwundertes Gesicht.

„Bist du auch Hellseher?“

„Nein, natürlich nicht. Das ist eine der anderen Gaben der Sidhe. Aber warte einfach ab.“

Dann sah Clyde sich um, ob ihnen jemand unerwünschte Aufmerksamkeit schenkte.

„Und viertens, habe ich jemanden mit einem speziellen Auftrag losgeschickt. Mal sehen, ob ich recht hatte.“

Clyde sah nun Frank Beutler an, der anscheinend völlig unbeteiligt an den ganzen Vorführungen gewesen war.

„Es hat tatsächlich jemanden gegeben. Ganz normal zwischen den Zuschauern. Zunächst hat er unauffällig das Karabinerschießen beobachtet. Die Nummer mit den Wurfmessern schien ihn etwas irritiert zu haben. Beim nächsten Karabinerschießen habe ich die neu hinzugekommenen Zuschauer beobachtet, aber da war nichts auffälliges mehr. Die Sache mit dem Blindschuss hat ihn völlig fasziniert. Ihr werdet es nicht bemerkt haben, aber er hat fast neben euch gestanden. Bei den Feuerbällen ist er fast abgedreht. Hat sich sehr weit zurückgezogen, so dass er dich eben noch beobachten konnte.“

Mario lauschte dem Bericht mit offenem Mund.

„Wir haben das alles gemacht, um jemanden zu finden, der uns beobachtet?“

„Nein, nicht nur. Wie gesagt, ich wollte wirklich zeigen, was wir können. Ich hatte nur das Gefühl, dass nach der ganzen Aufregung mit meiner Entführung und dem Sklavenmarkt irgendwie noch nicht Schluss sein konnte. Das ist einer der Punkte, die ich nachher noch mit euch besprechen möchte. Aber weiter, Frank.“

„Wie gesagt, die Sache mit dem Blindschuss war wohl besonders interessant. Er hat Finn genau beobachtet. Dann kam Mario mit der Pistole. Da hat er fast neben der Zielscheibe gestanden. Hat wohl gedacht, wir schummeln mit der Kugel, oder sowas.“

Clyde pfiff grinsend durch die Zähne.

„Das kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht wollte er ja auch nur Finn ganz aus der Nähe betrachten.“

Finn sah zu Boden und schüttelte den Kopf, als ob er eine Erinnerung vertreiben wollte.

„Das glaube ich kaum. Der Mann hat ein Papier gezückt und etwas aufgeschrieben. Ich konnte nicht erkennen, was es war, aber es dauerte nicht lange. Allerdings hat er dabei euch beide betrachtet und auch die Zielscheibe.“

„So weit nicht Ungewöhnliches.“

„Na, zumindest hat er sich anders verhalten als die meisten Zuschauer. Auch hat er die ganze Zeit mit niemand anderem gesprochen. Nachdem Mario dann mit der Pistole geschossen hat, hat er sich sogar umgedreht und die Zuschauer betrachtet. Anscheinend wollte er wohl herausfinden, ob sie es seltsam finden, wenn jemand auf hundert Meter mit der Pistole schießt. Und zum Schluss ist er hingegangen und hat unauffällig die Kugel aus dem Brett gepult.“

„Was? Glaubt der etwa, die Kugel war verzaubert?“

Frank dachte kurz nach.

„Und nach den Feuerbällen hat er ein wenig in der Asche gestochert. Aber da hat ihn die Wache vertrieben. Das war wohl alles.“

„Vielen Dank. Das war weit mehr, als ich erwartete hatte. Wir warten noch, bis Feliciano seine Truppe gesammelt hat und gehen dann zurück an Bord. Wir müssen unbedingt eine Besprechung abhalten und das möchte ich nicht hier draußen machen. Ah, Mario. Da kommt dein Einsatz.“

Mario sah in die Richtung, in die auch Clyde blickte und erkannte einen jungen goldblonden Mann, der zielstrebig auf ihn zukam. Clyde ließ die beiden zunächst alleine und wurde dann kurze Zeit später von Mario angesprochen.

„Herr Leutnant. Das ist Arje deFries und er möchte der Einladung folgen und den Scouts beitreten.“

„Aha. Na denn, herzlich willkommen bei den Scythe-Scouts. Du musst dich an Bord registrieren lassen und bekommst dann deine Ausrüstung. Mario wird dich begleiten und dir alles erklären. Wir sehen uns an Bord wieder.“

Dann fiel Clyde etwas ein, was er vergessen hatte zu fragen.

„Aber du weißt schon, welchen Ruf das Schiff und besonders seine Besatzung hat? Viele von uns verbinden persönliche Beziehungen. Und du solltet wissen, dass du schon mal von jemandem gefragt werden könntest, der gerne etwas Zeit mit dir direkt verbringen möchte.“

Oh, ihr Götter. Ich höre mich schon an wie der Captain.

Arje schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn jetzt strahlte er über das ganze Gesicht.

„Deshalb wollte ich ja auch unbedingt an diesem Wettbewerb teilnehmen. Jetzt kann ich mich so geben, wie ich bin und vielleicht sogar noch ein Abenteuer dabei erleben. Darf ich mich vorher noch von meiner Familie verabschieden?“

„Deiner Familie?“

„Jawohl, äh - Sir. Wir sind erst im letzten Monat hergezogen. Mein Vater, meine Mutter, zwei Schwestern und zwei Brüder. Mein Vater hat eine Anstellung auf der Werft bekommen, als Schiffbaumeister.“

„Und sie sind damit einverstanden, dass du auf der FAIRYTALE anheuern willst?“

„Um ehrlich zu sein, das war einer der Gründe, warum wir hier hergezogen sind. Und natürlich das großzügige Angebot von Master Finch.“

Clyde wusste inzwischen, dass Master Jebediah Finch der Eigentümer der Werft in Tarray war und dass die Werft ausgebaut werden sollte um nicht nur Reparaturen, sondern auch Neubauten herstellen zu können.

Finn hob eine Hand.

„Ja?“

„Hauptmann de Luca hat uns gesagt, wir sollen heute noch in einer Schneiderei vorbeischauen. Dort würden wir vermessen, oder so etwas.“

„Oh, wenn das so ist: Frank, du weißt, wo die de Lucas ihre Schneiderei haben?“

Frank nickte wortlos.

„Dann nimmst du alle mit dorthin. Wer fertig ist, kommt zurück an Bord. Ich begebe mich sofort an Bord. Alles klar? Noch jemand Fragen?“

Alle schüttelten den Kopf und Clyde löste die Versammlung auf.


Kaum an Bord wurde Clyde vom Schiffszimmermann angehalten. Clyde hatte sich einen Schiffzimmermann immer als einen älteren, kleinen, vierschrötigen Mann mit einem langen Vollbart vorgestellt, doch dieser hier war ganz anders.

Reinhard Vocke war noch keine dreißig Jahre alt, über 1,90 m groß und hatte breite Schultern. Seine dunkelblonden Haare hielt er kurz geschnitten, lediglich eine lange Strähne fiel ihm manchmal über das linke Auge. Clyde hatte erfahren, dass er bereits Schiffszimmermeister war, als er vor ein paar Jahren an Bord der FAIRYTALE kam.

„Ah, Leutnant Cameron. Gut dass ich sie treffe. Die Wohndecks für die Scouts und die Seesoldaten sind fertig.“

Clyde musste ihn völlig erstaunt angesehen haben, denn der dunkelblonde Riese lachte.

„Wir haben damit schon auf See angefangen. Es musste ja nichts verändert werden. Spanten sind keine betroffen und es mussten auch keine Durchbrüche gemacht werden. Wir haben lediglich ein paar Balken neu gezogen, eine Anzahl Bohlen verlegt und die Wände befestigt. Bei den Scouts haben wir eine extra Tür eingebaut und Wandverstärkungen für insgesamt zehn Hängematten angebracht. Wenn sie möchten, können wir runter gehen. Das Wohndeck ist gleich hier unter dem Batteriedeck.“

„Ich bin beeindruckt, Mister Vocke. Nach ihnen.“

Der Schiffszimmermann führte Clyde den üblichen Weg durch das Batteriedeck. Beim Niedergang für die Junior-Messe wandte er sich nach vorne zu einem neuen Niedergang, der vorher nicht dort gewesen war. Hier ging es hinunter in einen kleinen Vorraum, in dem die Treppe endete. Knapp zwei Schritte weiter befand sich eine massive, mit Metallbeschlägen versehene Holztür.

„Die Tür wurde auf Anordnung des Captains gefertigt. Das ist bei dem vorderen Deck der Seesoldaten nicht.“

Clyde nickte nur und folgte dem Mann in den angrenzenden Raum. Der Raum war mit vier Laternen beleuchtet und Clyde war mehr als angenehm überrascht. Obwohl nur für zehn Mann vorgesehen, war der Raum fast so groß wie die Junior-Messe. Der Vorraum mit der Treppe teilte den ehemals quadratischen Grundriss in zwei unterschiedlich große Rechtecke auf. Die größere Fläche wurde durch Stehbalken untergliedert, jeweils fünf Stück in einem Abstand von einem Meter in der Mitte des Raumes. Von dort konnte je eine Hängematte auf jeder Seite zur entsprechenden Wand gespannt werden. Unter jedem Ring für die Hängematte befand sich eine nagelneue Seekiste.

Die kleinere Fläche wurde bereits durch einen langen Tisch mit zehn Stühlen eingenommen. Der Tisch brauchte also nicht verschoben werden, wenn die Leute schlafen wollten. Ein ungeheurer Luxus für die unteren Decks.

Clyde war auch angemessen beeindruckt.

„Ich bin überwältigt. So viel Platz habe ich nicht erwartet.“

„Der Captain meinte, ihr würdet ein wenig mehr Platz brauchen, weil ja vielleicht auch noch zusätzliche Ausrüstung hier gelagert werden muss.“

„Ja, vielen Dank, Mister Vocke. Eine sehr gute Arbeit.“

Der Zimmermann verabschiedete sich erfreut und Clyde ging los um seine Sachen aus der kleinen Kammer zu bergen, die er vorübergehend bewohnte.

Bei seiner zweiten Tour sah er Finn, Arje und Frank an Bord kommen.

„Wo ist Mario?“

Finn und Arje sahen zu Boden und Frank blickte zunächst kurz in den Himmel bevor er antwortete.

„Das dauert wohl etwas länger. Romano wollte ihn noch gesondert abmessen.“

Clyde stutzte, dann holte er tief Luft.

„Dieses kleine geile Frettchen! Ich weiß genau, was Romano abmessen will.“

Damit ließ Clyde offen, wen von den beiden er meinte, aber wahrscheinlich beide.

Frank grinste nur, während Finn und Arje ihren Leutnant wegen seiner unerwarteten Äußerung erstaunt ansahen.

„Unsere Unterkunft ist fertig. Wir haben nun unser eigenes Wohndeck. Dort sind alle Scouts untergebracht, einschließlich mir. Ihr müsst nur in der Kombüse eine eigene Backschaft anmelden. Ich werde in der Offiziersmesse essen. Aber kommt erst einmal mit. Ich zeige euch, wo es langgeht, dann könnt ihr eure Sachen holen.“

Die drei Jungs waren mehr als begeistert von ihrer neuen Unterkunft. Als sie sich fast fertig eingerichtet hatten, erschien auch Mario.

„Aha, der verlorene Sohn. Ihr drei dürft mich mit Mario kurz alleine lassen. Versucht mal, ein oder zwei zusätzliche Seekisten aufzutreiben.“

Die drei entschwanden ziemlich eilig und Mario wurde klar, dass er ein ernstes Gespräch vor sich hatte.

„Ich nehme an, es hat wenigstens Spaß gemacht?“

„Jawohl, Herr Leutnant.“

„Jawohl? Das ist alles? Mario, es scheint, du betrachtest das ganze Leben, auch das hier an Bord, als großen Spaß. Ist dir schon mal eingefallen, dass wir vielleicht auf dich warten, oder dass du vielleicht mit dem Messer daneben triffst, oder dass dich dein Glück verlässt, wenn du dich anschleichst?“

Marios Gesichtszüge wurden ernst und er sah zu Boden.

„Natürlich ist es mir eingefallen, aber wenn ich keinen Spaß habe, wofür lebe ich dann? Es ist doch dieses Glücksgefühl, wenn etwas Schwieriges klappt, wenn du mit jemandem... also ich meine, das macht doch das Leben aus.“

Mario setzte sich einfach auf den Boden und lehnte sich an die Wand. Clyde setzte sich schweigend neben ihn.

„Ich war sechs, als mich mein Vater und meine Brüder zu meinem ersten Einbruch mitnahmen. Ich war klein und flink und keine Villa eines reichen Kaufmanns war sicher vor mir. Tagsüber zogen wir als Gaukler von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und zeigten dort unsere Taschenspielertricks. Nachts galt es, etwas Lohnenderes zu ergattern. Wir hatten nicht immer Glück. Mein Bruder Marco wurde eines Nachts von einem Wachmann erschossen und wir mussten sehen, dass wir so schnell wie möglich die Gegend wechselten.“

Mario hatte sich jetzt gegen Clyde gelehnt, der ihn vorsichtig in den Arm nahm.

„Mit zwölf wurde ich dann auch schon mal nachts alleine losgeschickt. Da hat mich dann so ein dämlicher Hausdiener erwischt. Er hat ein kleines Netz nach mir geworfen. Ein Netz im Haus! Egal, jedenfalls, anstatt mich der Sicurezza zu übergeben, war der Hausherr der Ansicht, ich wäre wohl noch gut zu etwas anderem zu gebrauchen. Was er dann auch ausgiebig getan hat. Über ein halbes Jahr hat er mich in diesem dämlichen Keller gefangen gehalten, bis ich ihm gezeigt habe, was ich von ihm halte.“

Langsam liefen Mario die Tränen herunter und Clyde kam nicht umhin, daran zu denken, was Percy Seymore ihm einmal am Anfang während eines abendlichen Gesprächs an der Reling gesagt hatte. Jeder einzelne, und das ist wörtlich zu verstehen, hat eine schlechte, einige haben sogar schreckliche Erfahrungen erlebt. Ihr Leben hat sich drastisch geändert und sie mussten eine Entscheidung treffen. Sie haben sich entschlossen, ihr Leben in ihre eigenen Hände zu nehmen und es so zu gestalten, wie sie es gerne möchten. Darum sind die meisten von ihnen hierher zu uns gekommen.

Clyde war sich nicht sicher, ob er es ertragen könnte, noch mehr solcher Geschichten zu erfahren.

„Das nächste Jahr habe ich bei einigen Gauklertrupps verbracht. Es war nicht einfach. Ich war ja im Prinzip überzählig. Und bevor du fragst, ja, ich habe ein paarmal mit meinem Körper bezahlt. Einer der Idioten wollte mich sogar auf den Strich schicken, aber da bin ich abgehauen. Im Hafen von Tripolitani habe ich dann das erste Mal von den Freibeutern erfahren und wie sie fremde Schiffe plündern. Und dann haben sie die FAIRYTALE erwähnt. Einige haben sich lustig gemacht über die Besatzung, aber die meisten sprachen von ihr fast ehrfürchtig. Da wusste ich, wo ich hin wollte. Abenteuer erleben, Spaß haben und alles hinter mir lassen. Und habe ich es erwähnt? Mit einem Jungen zusammen zu sein, fällt bei mir unter die Kategorie, besonders viel Spaß haben.“

Mario grinste jetzt schüchtern und sah Clyde von der Seite an.

„Ich kann auch ernsthaft sein. Aber das ist dann meistens mit einem sehr spitzen Messer verbunden und mit dem Bewusstsein, am Ende aller meiner anderen Möglichkeiten zu sein. Ich habe es bis jetzt nur zweimal getan, aber ich habe es niemals bereut.“

Marios Stimme war jetzt hart und entschlossen und Clyde spürte, wie der Junge sich verkrampfte. Langsam beugte er sich zu ihm und gab ihm einen sanften Kuss.

„Du bist nun bei uns. Wir haben ein paar Aufgaben, die Entschlossenheit und Können verlangen, aber du wirst dabei nie alleine sein. Das bedeutet nicht, dass du keinen Spaß haben darfst, aber du bist nun auch verantwortlich für die anderen, genauso wie sie auf dich aufpassen. Lass es nicht zu, dass ihnen etwas passiert.“

Mario klammerte sich an Clyde und gab ihm einen Kuss, der etwas länger dauerte. Als Clyde ihn unterbrach grinste er Mario an.

"Ich dachte, du kommst gerade von einer interessanten Begegnung.“

Mario stand auf und Clyde folgte ihm.

„Das heißt ja nicht, dass man nicht noch weitere Begegnungen vorbereiten kann.“

„Vergiss es.“

Dann gab er Mario einen kräftigen Schlag auf sein Hinterteil.

„Aua! Vorsichtig damit. Der ist noch ein bisschen empfindlich.“


Nach dem Gespräch mit Mario, bekam dieser die Aufgabe, Arje beim Zahlmeister registrieren zu lassen und in den täglichen Dienstbetrieb einzuweisen. Der sah sich unsicher um und staunte, als ihm eröffnet wurde, dass er in einer Hängematte schlafen würde. Clyde überließ Mario die Einweisung im Deck und schickte Frank und Finn zum Einkaufen, denn sie hatten durch die Zeit auf dem Schießplatz das Mittagessen versäumt. Die Ausbeute vom Markt war, bedingt durch die schon fortgeschrittene Zeit, etwas mager. Sie bestand lediglich aus zwei Broten, einem halben Sack Äpfel und einem großen Korb mit Erdbeeren.

Clyde musterte misstrauisch die Erdbeeren.

„Die müssen doch ein Vermögen gekostet haben.“

„Gar nicht mal. Der ganze Korb für zwei Shilling. Wir haben sie billiger bekommen.“

„Ach so? Warum?“

„Keine Ahnung. Finn hat mit der Frau geredet. Ich hab kein Wort verstanden.“

Finn wurde so rot wie die Erdbeeren. Clyde sah ihn vorwurfsvoll an.

„Du hast gälisch mit ihr gesprochen? Warum denn das?“

Finns Kopf ruckte hoch. Dann sprach er so schnell auf Clyde ein, dass dieser kaum folgen konnte. Der Rest saß nur da und sah sich fragend an.

„Finn, für alle.“

„Ich habe nichts gemacht, Sir. Sie hat mich nur in der alten Sprache gegrüßt und ich habe geantwortet. Dann hat sie mich nach dem Bogenschießen gefragt und dann nach dem Feuermagier. Sie wollte euren Clan-Namen wissen. Na, da hab‘ ich ihr erzählt, dass ihr zur Hälfte ein Sidhe seid.“

Clyde schloss ergeben die Augen. Scythe gehörte zwar nicht zum Herzogtum von Lonlothian, doch die Einwohner waren, genau wie die der Kaledonischen Inseln, oder die von Erin, Kinder des nördlichen Landes. Sie kannten die Sidhe und ehrten sie und ihre Magie.

„Und dafür gab es die Erdbeeren billiger?“

„Sie hat gesagt, sie ehrt einen Sohn der Síodhach.“

Clyde schloss seinen Mund und starrte Finn an. Die unvermeidliche Frage kam von Mario.

„Wer ist das denn?“

Clyde verdrehte die Augen.

„Nein. Ich werde jetzt nicht die Geschichte der Túatha Dé Danann vortragen. Fragt einen Barden, die erzählen gerne. “

Aus dem Hintergrund kam die helle Stimme von Arje.

„Damit seid ihr bei den Einwohnern von Scythe jetzt nicht nur bekannt als Magier sondern auch als Halbelf.“

„Eigentlich nicht das, was ich mit der Vorführung bezweckt habe. Aber es war wohl unvermeidlich. Kurz etwas anderes. Wenn wir hier zusammensitzen, möchte ich das so informell wie möglich halten. Schließlich wohne ich ja auch hier im Deck. Mein Name ist Clyde und so möchte ich auch angeredet werden. Wenn wir mit anderen Personen höheren Ranges zu tun haben oder im Einsatz sind, ist das etwas anderes.“

Finn sah ihn mit säuerlichem Gesicht an.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann. Es widerspricht allem, was ich bisher gelernt habe.“

„Finn, du bist jetzt hier bei uns an Bord und nicht mehr im Anwesen deines Großvaters. Du unterstehst der Befehlsgewalt des Earls of Scythe und der seiner Offiziere, von denen ich die Ehre habe, einer zu sein. Löse dich von deiner Vergangenheit und sei derjenige, der du gerne sein möchtest.“

Finn sah Clyde verwundert an, dann begann er zu lächeln.

„Ja, ich denke, ich weiß, was du meinst. Ich war zu lange damit beschäftigt, auf meinen Großvater wütend zu sein. Er hat nur das getan, was er tun musste. Auch wenn es ihm wohl nicht gepasst hat. Hoffe ich wenigstens.“

„Er hat sogar noch mehr getan. Er hat nämlich dafür gesorgt, dass die Königin unseren Captain gebeten hat, dich an Bord der FAIRYTALE zu nehmen.“

Finn sah Clyde erstaunt an.

„Was? Tatsächlich? Ich glaube, da muss ich über Einiges nachdenken.“

Clyde zog ihn an sich und gab Finn einen Kuss. Der Kuss dauerte an und Finn fing plötzlich an zu zappeln, so dass Clyde ihn wieder losließ. Mario betrachtete den rotblonden Jungen aus Erin mit einem wissenden Grinsen.

Der nächste Schritt in diesem kleinen Kreis ließ Clyde etwas zögern. Er wusste, früher oder später musste er ihnen alles über den Auftrag der Scouts und die Hintergründe erzählen, aber konnte er jedem einzelnen auch vertrauen? Er konnte ja nicht immer die Hälfte seiner Truppe vor die Tür schicken, wenn etwas besprochen wurde.

Es gab eine Möglichkeit, aber die empfand Clyde zunächst etwas als peinlich. Mario würde das wahrscheinlich toll finden, aber der Rest? Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er keine andere Möglichkeit hatte.

„So, Leute. Ich möchte gleich etwas Ungewöhnliches durchführen. Ich bin überzeugt davon, dass ihr alle inzwischen erfahren haben, dass ich nicht nur ein Feuermagier bin, sondern auch etwas Glamour beherrsche, die Magie der Sidhe. Also wundert euch über gar nichts. Es tut nicht weh und es dauert auch nicht lange.“

Die vier jungen Herren warfen sich fragende Blicke zu, einige davon ängstlich, andere ratlos.

„Als erstes möchte ich euch bitten, euch auszuziehen. Komplett.“

Jetzt wanderten noch mehr fragende Blicke hin und her. Finn und Arje zögerten sichtlich. Doch als Clyde begann, seine Sachen abzustreifen, folgten Frank und Mario sofort und die beiden anderen etwas langsamer. Zwischen allen vier wanderten neugierige Blicke hin und her und auch Clyde wurde eingehend betrachtet.

„Ich gehe jetzt hinüber in die Mitte des Raumes. Ihr setzt euch hin und bildet einen Kreis… nein, das reicht nicht. Ihr bildet einen Halbkreis vor mir, aber so, dass sich niemand berührt.“

Clyde ging hinüber und setzte sich auf den Boden, während die anderen ihm folgten und weiterhin neugierige Blicke in alle Richtungen warfen. Als Clyde nach vorne sah, erblickte er Finn direkt sich gegenüber, der deutlich mit einer Erektion kämpfte. Clyde lächelte ergeben. Er hatte den Kampf schon nach einigen Augenblicken aufgegeben.

„Bleibt bitte ruhig und wundert euch über nichts. Ich sage euch, wenn es vorüber ist.“

Clyde hob als erstes die Hände zu seinen Ohren und befreite sie mit einem Glitzern. Dabei hörte er Finn etwas murmeln.

„Bitte, Finn. Keine Schutzzauber. Auch wenn es keine richtigen magischen Sprüche sind, stören sie doch ein wenig.“

Finn verstummte sofort. Clyde schien anzufangen zu glühen. Seine helle Haut wurde noch heller und fing an zu glitzern wie zuvor die Ohren. Das Glitzern spannte sich über seinen gesamten Körper und aus den leichten Sprenkeln wurde ein sanftes, gleichmäßiges Strahlen. Als das Strahlen gleichmäßig wurde, dehnte es sich aus. Es sprang hinüber zu Finn, dann zum nächsten. Alle leuchteten jetzt gleichmäßig in einem sanften hellen Licht.

Die Jungen in dem Halbkreis wagten es nicht, sich zu rühren. Einige wagten kaum zu atmen. Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, doch es dauerte nur wenige Augenblicke. Das Leuchten um Clyde und die anderen vier Jungen erlosch nicht, sondern es zersprang in tausende kleine Strahlen, die wie Sternschnuppen zu Boden regneten.

Clyde war sichtlich erschöpft. Nach einem kurzen Blick in die Runde war er etwas peinlich berührt. So schlimm hätte es eigentlich nicht werden dürfen, doch er konnte sich ein Grinsen trotzdem nicht verbeißen. Anlass war die sehr intensive Reaktion von zwei der jungen Herren auf die Nebenwirkungen des Zaubers, die sie jetzt feucht auf ihren Körpern spüren konnten. Finn sah mit rotem Kopf an sich herab, ebenso wie Arje, der aber mehr überrascht als peinlich berührt war.

Doch Clyde hatte noch etwas anderes gesehen. Etwas, was er nicht zu hoffen gewagt hatte. Während des Zirkels hatte er Verbindungen gesehen. Wie mit kleinen Fäden waren er und alle anderen Jungen miteinander verbunden. Und nicht nur er mit jedem anderen. Auch untereinander gingen einige Fäden hin und her, so dass ein regelrechtes Netz gesponnen war. Dann war da noch etwas gewesen, was Clyde nun irritierte. Der Halbkreis, den sie gebildet hatten schien in der magischen Sicht größer zu sein, ein voller Kreis. Und er hatte Lücken. Es gab vier Lücken, so, als ob noch vier Personen fehlen würden um den Zirkel zu einer Einheit werden zu lassen.

Dabei war das gar nicht seine Absicht gewesen. Er wollte eigentlich einen Affinitätszauber wirken. Etwas, was ihm sagen konnte, ob er den Jungen vertrauen konnte, die ihn umrundeten. Der Zauber hatte ihm weit mehr als das gezeigt. Etwas, was er eigentlich gar nicht wissen wollte. Und wenn er diesen Gedanken mit den Lücken konsequent weiterverfolgte… Sein Blick fiel wieder auf Finn.

„So, das war’s. Und es tut mir leid, wenn einige von euch etwas mehr von dem Zauber äh, beeinflusst wurden. War nun ja leider schon das zweite Mal heute, Finn.“

Finn seufzte und bedachte Clyde mit einem nachdenklichen Blick. Mario konnte sich mit einem Kommentar nicht zurückhalten.

„Der kann auch bestimmt noch öfter.“

Finn und Clyde bedachten Mario mit einem giftigen Blick, während Frank dem kleinen Rotaner einen Hieb auf den Oberarm verpasste.

In dem folgenden Schweigen ertönte plötzlich die Stimme von Arje.

„Dürfte ich wissen, wozu das gut war? Ich meine, es war gut. Aber das war ja wohl nicht der Zweck dieses … dieses Zaubers.“

Clyde lächelte. Na, wenn er es gut fand. Es war jedenfalls nicht zu übersehen. Aber Arje hatte Recht. Sie sollten schon erfahren, wozu das Ganze wirklich gut war.

„Das war ein Affinitätszauber. Und bevor jemand fragt, er ist sehr schwer zu erklären, weil jeder einzigartig ist. In diesem Fall war es eigentlich meine Absicht herauszufinden, ob jemand unter uns ist, der Magie ablehnt oder gar feindlich gegenübersteht. Das betrifft auch meine Person, die ja ursächlich mit Magie verbunden ist. Es ist also sozusagen die Frage nach einer gefühlsmäßigen Akzeptanz von Magie und mir gewesen.“

„Da hättest du uns auch fragen können.“

Clyde schüttelte den Kopf.

„Nein. Wenn ich euch frage, könntet ihr mir etwas Beliebiges erzählen. Bei dem Zauber aber hat sich euer wahres, inneres Wesen geäußert und niemand von euch hat einen dunklen Schatten hinterlassen.“

„Nee, nur eine Menge Feuchtigkeit. Waren das diejenigen, die besonders scharf auf dich sind?“

Diesmal bekam Mario erheblich festere Schläge von beiden Seiten. Clyde versuchte, ihn zu ignorieren.

„So, ihr dürft euch wieder anziehen. Und dann werde ich eine kurze Geschichte erzählen. Für die meisten ist das alles ganz neu, aber am Ende wird vielleicht klar, warum ich den Zauber gewirkt habe und was da alles auf uns zukommt.“

Kurze Zeit später setzte sich Clyde an das Kopfende des Tisches und die vier anderen verteilten sich auf die freien Plätze.

„Vor achtzehn Jahren, mitten im November kam eine fremde Frau vor die Tore von Banbhaidh-Castle, in ihren Armen ein kleines Bündel mit einem schreienden Säugling. Sie sagte, eine Sidhe habe sie beauftragt, das Kind abzugeben, denn es sei der Bastard des Herzogs persönlich.“

„Einfach, so?“

„Ja, Mario. Einfach so. Die Worte eines Sidhe werden selten angezweifelt, selbst wenn sie von einem Sterblichen weitergegeben werden, denn die Sidhe haben eine für uns ungewöhnliche Eigenschaft. Sie können nicht lügen. Sie werden vielleicht etwas weglassen oder gar nicht reden, aber die Idee einer Lüge selbst ist ihnen fremd.“

Mario sah Clyde ungläubig an, doch der fuhr fort.

„Die Herzogin nahm den Säugling, sah ihn an und wusste, dass die fremde Frau die Wahrheit gesagt hatte. So wurde der Bastard als vierter Sohn des Herzogs von Lonlothian aufgenommen und erhielt den Namen Clyde.“

„Es gab ein kleines Fest zur Namensgebung und mitten während der Feierlichkeiten erschien eine geheimnisvolle rothaarige Frau zwischen den ganzen Gästen. Sie hielt sich nicht mit irgendwelchen Gesprächen auf, nicht einmal den Herzog begrüßte sie. Sie ging lediglich zu der Wiege mit dem kleinen Clyde und streute etwas Feenstaub über ihn. Dann sagte sie nur ‚Cynfelin‘ und verschwand wieder so unauffällig wie sie gekommen war.“

Finn nickte etwas geistesabwesend, während nicht nur Mario Clyde nun mit großen Augen anstarrte.

„So kam ich also zu meiner Begabung. Cynfelin ist ein Wort aus der alten Sprache von Cymru. Es heißt übersetzt in etwa ‚Hund des Belinos‘. Belinos ist einer der alten Götter von Britannica und der Herr über Leben und Tod. Die Hunde sind seine treuen Gefährten, die den Menschen je nach Situation, Leben oder Tod bringen.“

„Aber du bist kein Druide oder Priester.“

Clyde lachte.

„Nein, Frank. Der Begriff eines Cynfelin ist einem Halbelfen vorbehalten, der die Gabe von Leben und Tod bekommen hat. So wie ich sie bekommen habe, haben auch andere Halbelfen eine von vier Gaben bekommen, die die Sidhe verleihen. Leben und Tod, Wasser und Erde, Zeit und Raum und Wissen und Vergessen sind die vier Gaben. Wie diese Gaben sich tatsächlich in jedem einzelnen äußern, ist dann sogar noch unterschiedlich.“

Arje räusperte sich.

„Ich weiß, es klingt vielleicht etwas respektlos, aber was hat das alles mit uns zu tun?“

„Richtig, kommen wir auf die jüngsten Vorfälle zu sprechen. Vor etwa drei Monaten gab es die ersten Hinweise, dass ein oder mehrere britannische Freibeuter angeblich letrionische Handelsschiffe überfallen und ausgeraubt haben sollen. Das führte sogar zu einer offiziellen Beschwerde des letrionischen Gesandten am Hofe der Königin. Am 17. Juni wurde ein britannisches Handelsschiff durch ein letrionisches Handelsschiff aufgebracht und versenkt. Angeblich hat der Britannier den Letrioner überfallen, doch der soll sich erfolgreich gewehrt haben. Das dem nicht so war, weiß ich aus eigener Anschauung, denn ich war auf dem britannischen Schiff und wir wurden von einem schwer bewaffneten letrionischen Freibeuter überfallen.“

„Was passierte dann?“

„Die überlebende britannische Besatzung wurde ausnahmslos massakriert und ich wurde als Passagier zunächst in ein rotanisches Gefängnis geworfen. Bei einer Gerichtsverhandlung wurde ich zur Sklaverei verurteilt und dann später auf dem Sklavenmarkt verkauft.“

Finn runzelte die Stirn.

„Wie geht denn das? Ich dachte, freie Bürger der sieben großen Staaten dürfen nicht in die Sklaverei verkauft werden.“

Frank Beutler lehnte sich vor.

„Doch, dürfen sie. Wenn sie ihre Bürgerrechte verlieren. In Arlemande ist das ziemlich einfach. Da reicht schon die Verurteilung für den Schuldturm. Man wird für eine Zeitlang Sklave, bis die Summe abgearbeitet ist, dann bekommt man seine Bürgerrechte zurück. Das scheint hier allerdings anders gelaufen zu sein.“

Clyde seufzte.

„In jedem der sieben großen Staaten, außer in Britannica ist Sklaverei grundsätzlich erlaubt und durch Gesetze geregelt. Um zu verhindern, dass britannische Bürger nach irgendwelchen Gesetzesverstößen in fremden Staaten als Sklaven verkauft werden, hat die Königin eine Übereinkunft initiiert, die den Verkauf von britannischen Bürgern verhindern soll. Diese Sklavereiakte ist leider nie von irgendjemandem unterzeichnet worden.“

Mario nickte schweigend. Dann sah er hinüber zu Clyde.

„Ja, man muss etwas aufpassen, wenn man nicht auf dem Verkaufsstand enden will.“

„Und jetzt kommt das Mysteriöse. Obwohl ich nie jemandem etwas gesagt hatte, schienen alle genau zu wissen, wer ich war. Die Rotaner haben mich ohne Kommentar dem Kontingent der persönlichen Haussklaven zugeteilt, als ob auch das schon vorher festgelegt worden sei. Dann kam die Versteigerung und mit ihr ein neues Rätsel. Ein letrionischer Offizier der Kirche der Reuigen Sünder hat mitgeboten, aber den Göttern sei Dank, nicht genug.“

„Was zum Henker will ein Kirchenoffizier mit einem persönlichen Haussklaven? Darf der das überhaupt?“

„Ha, er war verkleidet wie in einem schlechten Theaterstück, mit Umhang und so. Es deutet alles darauf hin, dass dieser Kirchenoffizier ebenfalls ganz genau wusste, wer ich war. Da ich aber seit meiner Gefangennahme nie öffentlich Magie gewirkt hatte, konnte er mich nicht auf fremdem Boden der Ketzerei beschuldigen. Also musste er mich irgendwie nach Letrion schaffen.“

„Ketzerei“, murmelte Finn. „Der Tod auf dem Scheiterhaufen.“

Arje sah verwirrt aus.

„Wieso Ketzerei? Was hast du mit der Kirche zu tun?“

Mario seufzte tief und sah zu Arje herüber.

„Ihr wisst wohl gar nichts über die Kirche. Die Ausübung von Magie ist im Glauben der Reuigen Sünder die höchste Stufe der Ketzerei, denn sie verhindert auf ewig deine Reue und somit auch die Erlösung von deinen Sünden. Alle Magier enden auf dem Scheiterhaufen.“

Arje sah Mario immer noch etwas verwirrt an.

„Das klingt etwas merkwürdig. In Nassouwe gibt es keine Kirche der Reuigen Sünder. Wir haben nur Salvatoristen-Kirchen.“

Finn hingegen war mit seinen Gedanken schon viele weiter.

„Was ich allerdings nicht verstehe…“

Clyde sah nun Finn direkt an.

„Ja?“

„Mit der Nummer haben die rotanischen Handelsfürsten die britannische Königin verprellt. Einen ihrer Adligen zur Sklaverei zu verurteilen ist politisch gesehen eine ganz gewagte Sache. Obwohl es streng genommen nach rotanischem Recht zulässig ist. Dann beschweren sich die Letrioner über britannische Piratenüberfälle, liefern aber einen britannischen Gefangenen an Rota aus? Wo liegt da der Sinn? Bist du sicher, dass es Letrioner waren?“

Clyde nickte nachdenklich. Obwohl, da war was gewesen…

„Als Nächstes die Versteigerung. Was veranlasst einen rotanischen Gouverneur, wider allen diplomatischen Geschickes, eine Versteigerung eines britannischen Adligen als Haussklave zuzulassen? Ein weiterer Fall, der hier nur wieder die Königin verärgert. Damit wären die Rotaner schon in zwei Fettnäpfchen getreten. Dann der mögliche Kauf und die Verbrennung eines britannischen Bürgers als Ketzer, der aber leider der Sohn eines Herzogs und einer Sidhe ist. Damit wäre die Königin in Erklärungsnot gegenüber ihrem eigenen Adel und gegenüber den Sidhe. Und damit in Zugzwang gegenüber gleich zwei Staaten.“

Mario knallte mit der Hand auf den Tisch.

„Jemand versucht also die britannische Königin mit aller Macht gegen Letrion und auch Rota aufzubringen.“

Clyde nickte ihm zu.

„Sieht so aus, aber ich bin noch nicht fertig. Der Zufall hat uns diesen Händler aus Herblonde über den Weg geschickt. Wir haben bei ihm Sachen gefunden, die darauf hindeuten, dass jemand unterwegs ist und regelmäßig geheime Informationen aus dem Umkreis der Königin außer Landes schafft. Einige von euch waren selber dabei, als wir den Kutter gefunden haben.“

Frank, Mario und Finn nickten.

„Und jetzt kommt das Interessante. Ein etwas schmieriger Typ aus Herblonde, Pierre die Ratte, hat Informationen über mich gesammelt. Ihr erinnert euch an Martin, den wir dort auf dem Schiff gefunden haben? Er ist deshalb so misshandelt worden, weil sie wissen wollten, was ich ihm während unseres Aufenthalts im Gefängnis alles erzählt habe.“

„Das wird für mich immer verwirrender.“

Clyde sah Arje entschuldigend an.

„Nicht nur für dich. Zum Schluss noch das rätselhafteste Detail. Schon bevor ich verkauft worden war, hatte bereits irgendjemand eine Nachricht nach Britannica geschickt, dass der Sohn eines britannischen Herzogs als Lustsklave verkauft worden sei. Dieser Jemand wusste jedenfalls ganz genau, wer ich war und was es bedeutete, dort verkauft zu werden. Diese Nachricht ist dann auch noch öffentlich bei einer Generalaudienz der Königin unterbreitet worden.“

Finn zählte seine Finger ab.

„Wann war die Nachricht hier?“

„Was? Zur Generalaudienz, wenn ich mich recht erinnere.“

„Aha. Wie ich gelernt habe, ist die Generalaudienz nur einmal im Monat. Die Nachricht von der Versteigerung konnte schon deshalb vorzeitig raus, weil sich am Inhalt nichts ändern würde. Sie musste wohl deshalb noch vor der Versteigerung raus, um rechtzeitig zur Generalaudienz hier einzutreffen. Eine Nachricht, an wen verkauft wurde, würde dann wahrscheinlich erst zur nächsten Generalaudienz eintreffen. Diesen Monat war sie am fünfzehnten, nächsten Monat ist sie, soviel ich weiß, zwei Tage früher. Ich schätze mal, der Königin sollte ursprünglich mit der zweiten Depesche berichtet werden, die Kirche habe dich gekauft und nach Letrion geschafft. Jetzt können sie ihr natürlich berichten, ein einschlägig bekannter britannischer Freibeuter hätte dich als Lustsklave erworben.“

Clyde wurde blass.

„Verdammt, ich muss mit dem Captain sprechen. Aber was ist an den Terminen zur Generalaudienz denn so interessant?“

Finn grinste.

„Großer Hofstaat. Alles was Rang und Namen hat ist da. Wenn da etwas verkündet oder vorgetragen wird, weiß es eine Stunde später das halbe Land. Der Captain muss zusehen, dass er sich etwas einfallen lässt.“

Mario lachte.

„So viel zum Thema Geheimhaltung. Wenn alles öffentlich besprochen wird, ist das doch nichts Geheimes mehr.“

Finn sah Mario mit gerunzelter Stirn an.

„Hast du nicht zugehört? Es ist ja im Sinne dieser Entführer, dass die Nachricht so schnell und so weit wie möglich verbreitet wird. Jede Einzelheit zwingt die Königin zum Handeln. Da kann nichts verheimlicht werden. Entscheidungen über ihr Handeln fallen natürlich erst später. Meistens auf einer Sitzung des Geheimen Kronrates und die sind nun wirklich geheim.“

Oder auch nicht‘ schoss es Clyde durch den Kopf, als ihm die Abschrift der Protokolle einfiel.

ich muss dringend mit dem Captain reden‘.

Arje schwirrte der Kopf. Er war der einzige, der von der ganzen Angelegenheit noch überhaupt nichts wusste. Das alles war für ihn ganz schön verwirrend, klang aber auch irgendwie abenteuerlich. Leise flüsternd wurde er in die Vorgänge der letzten Tage und Wochen eingeweiht.

Frank Beutler hatte sich während der ganzen Gespräche mit einem Apfel versorgt und saß munter kauend am Ende des Tisches.

„Übrigens, ich hab‘ den Typ vom Schießplatz auf dem Markt wiedergesehen. Ich glaube nicht, dass er bemerkt hat, wie ich ihn beobachtet habe.“

Clyde war nun ganz von seinen letzten Problemen abgelenkt. Auf eine Aufforderung von Clyde hin, fasste Frank noch einmal zusammen, was er auf dem Schießplatz erfahren hatte. Dann kam er zu den neueren Nachrichten.

„Wenn ich es richtig gesehen habe, wohnt er im ‚Lachenden Seehund‘. Ich wollte nun nicht gerade reinspazieren und Old Henry nach seinen Gästen ausfragen. Ich nehme an, er wird seine Erkenntnisse vom Schießplatz irgendwie an einen Kontakt oder Auftraggeber verschicken, aber ich habe keine Ahnung, wann oder wie. Kann auch sein, dass er überhaupt nicht mehr bleibt und seine Nachrichten jemandem persönlich überbringt.“

„Danke, Frank. Jemand eine Idee, wie wir rauskriegen, wer das ist und was er hier will?“

„Hm, haben wir dazu irgendwelche Hintergrundinformationen? Irgendetwas, was wir als Grund angeben können, wenn wir fragen?“

Clyde sah Mario überrascht an, aber dann erinnerte er sich, dass der so etwas wohl schon einmal gemacht haben könnte. Das würde auch ein Punkt sein, wenn er gleich den Captain aufsuchte.


Die Unterhaltung mit dem Captain dauerte mehr als eine Stunde und kurz darauf saßen die Scythe-Scouts wieder um ihren Tisch versammelt.

Clyde sah in die kleine Runde und zögerte sichtlich. Er war sich nicht sicher, ob das, was jetzt auf sie zukam, nicht zu schwierig oder zu gefährlich sein würde.

„Also, Leute. Wir müssen davon ausgehen, dass jemand hier in Britannica sitzt, der gegen die Königin intrigiert. Wir haben es mit Überfällen, Entführungen und falschen Informationen zu tun. Dabei scheint Derjenige Kontakte nach Herblonde, vielleicht auch Letrion und Rota zu haben. Da gibt es aber keine weiteren Anhaltspunkte. Ich habe den Captain auch über die Vorgänge auf dem Schießplatz unterrichtet. Er ist nicht überzeugt davon, dass der Mann dort etwas mit der ganzen Sache zu tun hat, aber wir sollen ihn vorsichtshalber weiter beobachten.“

Finn sah etwas skeptisch in die Runde.

„Es kann sich natürlich auch um jemanden handeln, der einfach nur an Magie interessiert ist, genauso gut könnte es jemand sein, der von der Tatsache überrascht wurde, dass hier Magie in aller Öffentlichkeit ausgeübt wird.“

„Ja, die Möglichkeit besteht natürlich. Aber ich möchte da kein Risiko eingehen. Frank?“

„Wie gesagt, ich habe den Mann vom Schießplatz heute Nachmittag auf dem Markt wieder gesehen. Wenn ich es richtig gesehen habe, wohnt er im ‚Lachenden Seehund‘. Ich weiß aber nicht, ob er jetzt immer noch da wohnt.“

Clyde sah fast beiläufig zu Mario, der sein unschuldigstes Gesicht aufgesetzt hatte.

„Willst du mir jetzt etwas sagen, oder soll ich raten? Du möchtest gerne die Aufzeichnungen haben, die der Mann gemacht hat, richtig?“

„Völlig richtig. Denn genau das ist ebenfalls ein Teil der Aufgabe, die wir als Scythe-Scouts haben. Unerkannt zu beobachten und zu berichten. Wenn nötig, auch Dinge zu besorgen.“

Arje schien die ganze Zeit etwas sagen zu wollen, doch nun platzte er heraus.

„Warum, beim Erbauer, sollten wir so etwas tun?“

Clyde hob die Augenbrauen. Hatte er ihn falsch eingeschätzt?

„Ich dachte, die Scouts dienen zur Feindaufklärung und zur Informationsbeschaffung für die Kaperunternehmungen. Die Sache hat doch aber mit beiden nicht viel zu tun, oder?“

Clyde zögerte etwas, doch in diesem Moment erlöste ihn eine weitere Stimme.

„Sag ihnen, warum sie das tun sollten.“

Clyde fuhr herum und erkannte den Captain, der wohl schon eine ganze Weile an der Tür gestanden hatte.

„Es geht wohl nicht anders. Erzähl ihnen einfach die Geschichte.“

Clyde seufzte leise und setzte sich wieder hin.

„Dann soll es so sein. Meine Geschichte fängt vor etwa zwanzig Jahren, hier in Britannica an. Mitten in der Nacht eilt eine einsame Gestalt durch die Gänge des königlichen Palastes…“

Die Geschichte wurde nicht so elegant, wie Percy sie erzählt hatte, doch Clyde hatte nicht ein Detail vergessen.

Daniel Hansom war während der Erzählung eingetreten und hatte die Tür geschlossen. Schweigend nahm er am Tisch Platz und musterte reihum die jungen Zuhörer.

Frank Beutler kannte er nun schon etwas länger, obwohl der Seesoldat noch nie besonders in Erscheinung getreten war.

Bei Mario Ginarotti war das etwas anderes. Er war schon zweimal aufgefallen. Beim ersten Mal ging es um ein kleines Eifersuchtsdrama, in dem er wohl eine bestehende Beziehung nicht ganz so respektiert hatte, wie er sollte. Beim zweiten Mal ging es um einen Fall, bei dem ein älterer Seemann einen der Schiffsjungen vergewaltigt hatte. Bei diesem Fall war Mario eingeschritten und hatte dem Captain das Hängen erspart.

Über Finn O’Brian wusste Daniel Hansom nur, was die Königin erzählt hatte. Da musste sich noch herausstellen, ob er sich an Bord bewährte.

Und bei Arje deFries war sich der Captain nicht darüber im Klaren, warum Clyde ihn überhaupt ausgesucht hatte. Hier wusste er nur, was im Musterungsbuch eingetragen war.

Alles in allem eine eher durchschnittliche Truppe, doch das war Clydes Entscheidung. Was jetzt kam, war schon interessanter. Würden sie die neue Aufgabe akzeptieren und auch die Tatsache, dass sie damit zu Agenten im Auftrag der Königin werden würden? Der Einzige, von dem Daniel Hansom annahm, er würde sofort akzeptieren, war Mario.

Als die Geschichte endete, sahen sich die Jungen eine Weile schweigend an. Finn schüttelte immer noch etwas ungläubig seinen Kopf

„Dann seid ihr ein Geheimagent der Königin, Euer Lordschaft?“

„Ja, das kann man so sagen. Aber noch einmal: Hier an Bord bin ich der Captain, sonst niemand. Verstanden?“

Darauf gab es ein sofortiges vierstimmiges:

„Jawohl, Sir.“

„Dann ist das ja geklärt. Was die andere Sache anbelangt, erwarte ich von jedem hier, dass er seine Befehle befolgt und Stillschweigen bewahrt. Sollte jemand meinen, das nicht zu können, soll er es hier und jetzt sagen.“

Schweigen breitete sich aus und niemand wagte, auch nur einen Ton von sich zu geben.

„Sehr gut. Damit sind die Scythe Scouts nun auch im Dienste der Königin unterwegs. Vielleicht sollten wir etwas machen…“

Ein fragender Blick traf Clyde, der ahnte, was der Captain im Sinn hatte. Es gab eine Möglichkeit, doch die würde seine vier jungen Herren noch einmal der Magie aussetzen und Clyde wusste nicht, wie sie diesmal darauf reagieren würden.

„Steht bitte einmal auf. Dann stellt ihr euch hier nebeneinander hin.“

Wortlos kamen sie Clydes Anordnung nach. Automatisch hatten sie sich der Größe nach sortiert und sahen Clyde erwartungsvoll an.

Wie bereits zuvor entfernte Clyde den Tarnzauber von seinen Ohren und drehte sich zu Captain Hansom.

„Wenn sie bitte herüberkommen würden, Captain. Stellen sie sich bitte gegenüber der Gruppe hin.“

Der Captain nahm in drei Schritten Entfernung Aufstellung vor der Gruppe und sah nun ebenfalls neugierig zu Clyde. Der betrachtete nun jeden einzelnen seiner Leute und nach einigen Sekunden umgab jeden von ihnen ein sanftes, helles Leuchten.

Clyde drehte sich und auch der Captain bekam ein solches Leuchten verpasst. Clyde sah nun wieder zu seinen Leuten.

„Schwört ihr bei eurem Herzen und eurem Denken, bei eurem diesseitigen Leben und bei einem jenseitigen, bei den Göttern eures Glaubens und bei eurem Gewissen, dass ihr den für die Shadows of Scythe gegebenen Befehlen gehorchen werdet und ihre Geheimnisse bis in den Tod bewahren werdet? Antwortet, wenn ihr das freiwillig, ohne Zwang und im vollen Bewusstsein tun wollt, mit: Ja.“

Beim letzten Satz deutete Clyde mit ausgestrecktem Arm auf Finn. Der schluckte einmal schwer, sagte aber laut und deutlich

„Ja.“

Ein Blitz zuckte von ihm herüber zu Daniel Hansom und berührte ihn, um sofort in einem kleinen Regen von hellen Funken zu zerfallen.

Clyde deutete auf Frank der ebenfalls mit

„Ja.“ antwortete

Auch hier gab es den Blitz der sich in kleine Funken auflöste.

Genauso erging es den Blitzen bei den anderen beiden jungen Herren. Als die letzten Funken verblasst waren, löste sich auch das Leuchten um alle Teilnehmer auf. Mario hatte wie immer eine Bemerkung auf Lager.

„Wie, das war schon alles?“

„Ihr habt wahrheitsgetreu geantwortet. Wärt ihr nicht ehrlich gewesen, hätte das unangenehme Konsequenzen gehabt.“

Daniel Hansom nickte nachdenklich und sah zu Clyde.

„Warum eigentlich Shadows of Scythe?“

„Oh, das ist mir gerade so eingefallen. Ich weiß nicht woher es kam, aber ich fand es passend.“

Ohne eine Antwort zu geben drehte der Captain sich um und verließ das Deck.

Mario drehte sich neugierig zu Clyde um.

„Was wären denn die unangenehmen Konsequenzen gewesen?“

Clyde lächelte dünn und warf Mario einen undefinierbaren Blick zu.

„Der Zimmermann hätte kommen müssen, um ein paar verkohlte Bodenbretter auszutauschen.“


Clyde sah den Jungs noch zu, wie sich in ihrem Deck häuslich einrichteten. Doch es schwirrten zahllose Gedanken durch seinen Kopf und so ging er von Bord um etwas Ruhe zu bekommen. Er wollte mit seinen Gedanken allein sein und das war schwer im Deck oder in der Messe. Ziellos schlenderte er durch das Hafenviertel von Tarray.

Was konnten sie unternehmen, um an die Aufzeichnungen des fremden Mannes zu gelangen? Würde sie das tatsächlich auf die Spur von Verrätern und Verschwörern bringen? Hatte man wirklich versucht, ihn an die Inquisition zu verkaufen? Wer war in Britannica einflussreich und vermögend genug, einen Spionagering aufzubauen? Würde das am Ende tatsächlich in einen weiteren Krieg gegen Letrion münden?

Nicht weniger schwierig war der Umgang mit seinen Soldaten. War es wirklich richtig gewesen, sie gleich von Anfang an einzuweihen? Hatte sein Zauber wirklich Recht? Konnte er einer solch zusammengewürfelten Mannschaft trauen? Zusammengewürfelt, ja das waren sie wohl. Er wusste bis jetzt immer noch nicht, warum er ausgerechnet Arje ausgesucht hatte. Er hatte nur auf die Liste gesehen und intuitiv gewusst, den musst du fragen. Hatte ihm seine Magie wieder einen Streich gespielt? Auf so etwas hatte ihn weder seine militärische, noch seine höfische Ausbildung vorbereitet. Vom vielen Nachdenken bekam man Kopfschmerzen – und Hunger.

Ohne weiter auf seine Umgebung zu achten, betrat Clyde eine der kleinen Tavernen. Als er bei dem Schankjungen bestellt hatte, kreisten Clydes Gedanken weiter um die letzten Einfälle, die seine Leute gehabt hatten. Einige der Vorschläge waren mehr als abenteuerlich gewesen, doch keiner von ihnen ließ sich praktisch durchführen. Sie mussten im Verborgenen agieren, genauso wie ihre Gegner.

„Verzeiht, Herr. Euer Essen.“

Verwirrt sah Clyde auf den Teller, der vor ihm abgestellt wurde, dann auf den jungen Mann, der ihn gebracht hatte. Das war definitiv nicht der Schankjunge von vorhin. Und sein Essen? Das hatte er bestellt? Er konnte sich lediglich daran erinnern, dass er auf die Frage nach dem Essen geantwortet hatte

„Bring irgendetwas.“

Und genau das hatte er jetzt auf dem Teller. Neben dem Brot konnte er Fisch erkennen und zwei weitere Fleischsorten.

„Mein Bruder hat gesagt, ihr würdet hungrig aussehen. Deshalb haben wir einen Teller zusammengestellt, von dem wir hoffen, dass es euch schmeckt. Der Fisch ist Lachs, das helle Fleisch ist Ente, das dunklere Lammbraten.“

Clyde sah freudig auf den Teller, dann noch einmal hoch. Der junge Mann schien ein oder zwei Jahre älter zu sein als er selber und er erinnerte Clyde ein wenig an Ragnar. Helle Haut, hellblonde, halblange Haare, und ein langer schlanker, Körperbau.

„Du stammst aus Isafjord?“

Der junge Mann sah Clyde erstaunt an, dann lachte er laut auf.

„Das sollte ich ja wohl. Ihr habt nicht einmal mitbekommen, in welche Taverne ihr gegangen seid?“

Clyde schüttelte entsetzt den Kopf und merkte, wie er rot wurde.

„Die Taverne heißt Langskip und gehört meinem Vater. Wir bieten hier hauptsächlich Fisch und Fleisch an. Oder auch Gerichte aus unserer Heimat, für ein paar Isafjorder, die hier leben.“

„Oh, das ist mir wohl irgendwie entgangen.“

„Das macht nichts, aber ihr solltet jetzt essen, bevor alles kalt wird.“

„Ich glaube nicht, dass es ihm sonderlich schmecken wird. Er ist der Sohn eines Herzogs!“

Der Kommentar, zwar geflüstert, aber dennoch so laut, dass Clyde ihn hören konnte, ließ ihn die Augenbrauen zusammenziehen. Was sollte das denn jetzt?

Hinter dem Mann, der das Essen gebracht hatte, trat ein Junge hervor, der diesem fast bis aufs Haar glich. Er war zwar etliche Zentimeter kleiner und noch etwas schlanker, doch er kam Clyde vage bekannt vor.

Als der Jüngere Clydes Reaktion auf die Äußerung bemerkte, wurde er schlagartig ernst.

„Verzeihung, Herr Leutnant. So war das nicht gemeint. Ich wollte doch nur…“

„Arni, du trittst gerade von einem Fettnäpfchen ins andere. Du solltest mal öfter den Mund halten.“

Der Junge schien nicht besonders beeindruckt, sondern fuhr fort.

„Leutnant Cameron, dies ist Eldar, mein ältester Bruder. Ich darf während der Werftliegezeit hier bei meinen Eltern wohnen.“

Jetzt fiel Clyde auch wieder ein, wo er den Jungen gesehen hatte. Es war einer der Schiffsjungen der FAIRYTALE, die im Junior-Deck immer um sie herumgewieselt waren.

„Hm, Arni Gunnarson, nicht wahr?“

„Jawohl, Sir. Eldar, der Leutnant ist der Halbelf von dem ich dir erzählt habe.“

Der junge Mann sah sich erschrocken um.

„Bist du verrückt? Wenn dich jemand hört.“

„Aber das ist doch hier nicht verboten.“

Clyde sah sich kurz um, dann bedeutete er den beiden, sich zu ihm zu setzen. Er brauchte nun wirklich nicht noch mehr Aufmerksamkeit. Außerdem hatte er Hunger.

Zögernd setzten sich die beiden Brüder. Eldar zischte seinen Bruder an.

„Bist du blöd? Da braucht nur jemand zwischen den Gästen zu sein, der von Außerhalb kommt. Ein falsches Wort und er findet ein paar Idioten, denen 1000 Sovereigns mehr wert sind, als ihr Leben.“

Sie schienen also zu wissen, dass die Kirche der Reuigen Sünder ein Kopfgeld für magisch begabte Personen ausgesetzt hatte. 1000 Sovereigns für jeden, egal ob Elf, Halbelf oder nur einfacher Magier oder Druide. Sie wollten sie nur lebend haben um ihnen den Prozess zu machen.

Arni sah etwas geknickt auf die Tischplatte, während sich Clyde über das Entenfleisch hermachte. Eldar beobachtete ihn interessiert, wie er mit Messer und Gabel umging. Er hatte die Gabel nach einigem Überlegen dazugelegt, denn der kleine Rothaarige sah so aus, als ob er damit umgehen konnte. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Gäste, die nicht einmal wussten, dass es so etwas gab.

Clyde bemerkte zwar, dass er von Eldar beim Essen beobachtet wurde, ließ sich aber nicht davon stören. Als er nach einer ganzen Weile den Teller von sich schob, gab Eldar seinem Bruder einen kleinen Schubs. Der verzog zwar etwas das Gesicht, verstand aber den Wink. Mit dem leeren Teller zog er ab in die Küche.

„Ich hoffe, es hat euch geschmeckt.“

„Ja, sehr gut sogar. Für mich eine etwas eigenwillige Zusammenstellung, aber trotzdem sehr gut.“

„Es symbolisiert ein wenig Erde, Luft und Wasser. Eine kleine Erinnerung an unsere Heimat.“

„Ihr seid noch nicht sehr lange hier?“

Eldar schüttelte den Kopf.

„Eigentlich schon. Mein Vater hat beschlossen, mit der ganzen Familie hier herzuziehen, nachdem meine Schwester und ich ihm gesagt haben, dass wir keine traditionellen Familien gründen und uns unsere eigenen Partner suchen würden. Das ist jetzt fünf Jahre her und Arni war kaum hier, als er es ebenfalls unserem Vater sagte.“

Eldar lachte.

„Da war er gerade mal acht. Mit zwölf hat ihn der Captain dann tatsächlich auf die FAIRYTALE genommen.“

„Und euer Vater hat das einfach so hingenommen?“

„Wir sind mit mir zwölf Geschwister. Die Älteste ist vierundzwanzig, der jüngste ist vier. Thore wurde hier geboren. Meine Eltern haben uns damals in Thorshavn angehört, dann hat Vater nur genickt und gesagt: Wenn das so ist, haben uns die Götter bestimmt ein Zeichen gegeben. Unsere Familie ist zahlreich, wir werden euch nicht daran hindern, euer Leben zu leben, wie ihr es wollt.“

Clyde war beeindruckt von der Entscheidung, gleichzeitig spitzte er auch die Ohren, denn hier erfuhr er vielleicht das erste Mal etwas über die alten Götter der Isafjorder.

„Wir Kinder wussten es damals noch nicht, aber meine Eltern hatten merkwürdige Geschichten gehört über ein Schiff aus Britannica, besetzt mit Männern, die Männer liebten. In den Tavernen liefen alle möglichen Gerüchte um. Einige der Krieger machten abfällige Bemerkungen, doch die meisten priesen den Mut und die Kampfkraft.“

Clyde zuckte etwas zusammen, als der Schankjunge, augenscheinlich ebenfalls ein Gunnarson, zwei Becher auf dem Tisch abstellte. Eldar schob ihm einen der Becher zu und Clyde schnupperte neugierig daran.

„Traubensaft, mit etwas Wasser verdünnt.“

Clyde nahm einen Schluck und war angenehm überrascht.

„Als meiner Schwester Agnetha die Zulassung für die Lotsengilde in Thorshavn verweigert wurde, haben meine Eltern kurz entschlossen ihren Laden verkauft und sind hier her gekommen.“

„Deine Schwester ist Steuermann? Oder heißt das Steuerfrau?“

Eldar lachte.

„Lass sie das nicht hören. Sie ist Steuermann. Und das ist sehr selten in Isafjord. Es gibt, soviel ich weiß, nur drei oder vier Frauen, die als Steuermann oder Lotse arbeiten. Aber die stammen alle aus Häuptlingsfamilien.“

„Was macht denn deine Schwester jetzt?“

Wieder lachte Eldar.

„Sie ist Lotse hier in Tarray. Der Lord-Lieutenant hat sie eingestellt, kaum dass sie sich vorgestellt hatte. Aber davon abgesehen, sie ist auch richtig gut. Sie versteht ihr Handwerk und ihre Aufzeichnungen sind exzellent verschlüsselt. Ich habe ihr damals bei ihrer Ausbildung geholfen und da waren einige ihrer Mitschüler dabei, die nur Mist geschrieben haben.“

Clyde runzelte die Stirn.

„Du bist auch Steuermann?“

„Nein. Die Götter mögen mich bewahren. Ich kann der Seefahrt nichts abgewinnen. Ich bin Schreiber. Ich kann Fjördur, Arlemandi und Britannisch sprechen, lesen und schreiben. Deshalb hat mich Agnetha damals gebeten, ihr bei einer eigenen Schrift für ihre Bücher zu helfen. Wir haben fast zwei Jahre gebraucht, bis sie fertig war, aber nicht einmal der Siegelbewahrer der Steuermannsgilde in Thorshavn konnte damit etwas anfangen.“

„Ist so etwas schwer zu entwerfen?“

„Wenn man will, dass es sicher ist, ja. Es soll ja niemand etwas damit anfangen können. Ein Mitschüler von Agnetha hatte zu Anfang etwas entworfen, von dem er glaubte, es sei nicht zu entziffern. Es hat mich zwei Stunden gekostet um es zu übertragen.“

Clyde lauschte gespannt, während seine Gedanken schon wieder weit vorauseilten. Briefe mit verschlüsselten Nachrichten, die durch einfache Boten überbracht werden konnten. Abgefangene Botschaften, deren geheime Codes entschlüsselt werden. Entzifferte Codes, die benutzt werden um feindliche Agenten falsche Nachrichten zu schicken.

Erschreckt über sich selber, fuhr Clyde aus seinem Gedanken auf. Hatte er sich zu viel mit diesen Geschichten von Spionen und geheimen Aktionen befasst? Verfolgte ihn das jetzt schon bis hin zu Tagträumen?

Eldar hatte gemerkt, dass Clyde tief in Gedanken versunken war und wollte schon aufstehen, als ihn Clyde zurückhielt.

„Sag mal, was machst du denn eigentlich? Hast du eine Stelle als Schreiber?“

„Hm, nein. Im Schloss waren schon alle Stellen besetzt und an Bord erst recht. Ich arbeite hier in der Taverne als Schreiber für die einfachen Leute. Meistens sind es Briefe in die alte Heimat.“

„Was würdest du von einer Stelle an Bord halten?“

„Aber da ist doch keine…“

„Nicht bei den Seeleuten, sondern bei den Scythe-Scouts.“

Eldar sah Clyde vollkommen erstaunt an.

„Bei den Scouts? Arni hat mir davon erzählt. Was wollen denn Soldaten mit einem Schreiber?“

„Nun, es kommt darauf an, was der Schreiber macht. Zuerst wären da die Berichte über die durchgeführten Unternehmungen. Natürlich so verfasst, dass sie außer dem rechtmäßigen Empfänger niemand lesen kann.“

Eldar wusste sofort, um was es ging.

„Sicherer Schriftverkehr. Ist das denn tatsächlich so geheim, dass…“

Eldar unterbrach sich selber und starrte Clyde in plötzlicher Erkenntnis an. Der starrte nur schweigend zurück, bis Eldar auf die Tischplatte sah.

„Ich glaube, ich verstehe.“

Clyde konnte sehen, wie es in dem jungen Mann arbeitete und er hoffte inständig, dass er nicht etwas preisgegeben hatte, was die Scouts kompromittieren könnte. Doch Eldar hob nun den Kopf und lächelte ihn an.

„Wann soll ich anfangen?“

„Komm morgen früh an Bord. Dort können wir alles Nötige erledigen. Halt, nein. Du kennst die Schneiderei der Damen de Luca?“

Eldar nickte verunsichert.

„Dort gehst du morgen früh als erstes hin und sagst ihnen, du gehörst ebenfalls zu den Scouts. Danach kommst du dann an Bord.“

Clyde erhob sich und Eldar folgte ihm. Clyde war sofort wieder an Ragnar erinnert, doch Eldar war nicht ganz so groß. Eldar streckte ihm zum Abschied die Hand entgegen, doch Clyde trat näher und umarmte den großen blonden Isafjorder kurz. Eldar brummelte etwas.

„Da ist noch so ein Gerücht, von dem Arni erzählt hat. Es soll angeblich etwas mit Magie und den persönlichen Beziehungen der Scouts zu tun haben.“

Clyde seufzte. Die Schiffsjungen waren anscheinend die größten Klatschbasen des ganzen Schiffes. Doch dann sah er hoch in Eldars blaue Augen.

„Wenn das so ist, dann hast du ja die Möglichkeit, es herauszufinden.“


Der nächste Morgen begann für einige Mitglieder der Scouts etwas überraschend. Pünktlich um vier Glasen waren sie geweckt worden und schwangen sich mehr oder weniger müde aus ihren Hängematten. Seit vier Glasen war auch das typische Geräusch der Pumpen wieder zu hören. Clyde schnappte sich ein Handtuch aus seiner Seekiste und drehte sich um.

„So, Leute. Ab sofort beginnen wir den Tag mit etwas Lustigem. Jeder schnappt sich ein Handtuch und die Seeseife und dann geht’s hoch zur Pumpe.“

„Was? So?“

Finns Stimme klang etwas schrill und alle drehten sich zu ihm. Mario brachte die Meinung auf den Punkt.

„Na, wie denn sonst? Willst du in Klamotten unter die Pumpe? Und ich kann dir versichern, das Ding wird unter dem kalten Wasser nicht sehr lange in der Gegend herumzeigen.“

Finn schnappte entrüstet nach Luft, während die anderen kicherten, aber er nahm sein Handtuch und legte es wie alle über die Schulter.

Oben tummelten sich eine Handvoll Schiffsjungen und ein paar Matrosen unter dem kalten Wasserstrahl. Es dauerte eine ganze Weile, bis Finn sich entspannt hatte und unter dem kalten Wasser umständlich mit der Seife hantierte.

Um sechs Glasen holten die Jungen ihre Rationen aus der Kombüse, während Clyde in die Messe ging. Dort war etwas mehr Betrieb als beim letzten Mal. Am Kopfende des Tisches saß Percy Seymore und rechts neben ihm Michael Kerner. Beide waren in ein Gespräch vertieft. Etwas weiter zum anderen Ende hin saß Lieutenant Dagursson bei einem Frühstück aus Fisch und einer Art Haferbrei.

„Ah, Clyde. Kannst dich ruhig zu mir setzen. Die älteren Herren haben wohl etwas zu besprechen.“

Clyde nahm gegenüber von Thorben Dagursson Platz und als Moritz erschien, war die Bestellung schnell erledigt.

„Einen Kakao bitte, dann bitte Rührei mit Speck und ein wenig Toast.“

Der Lieutenant sah von seinem Teller auf und grinste.

„Ich weiß, ist nicht jedermanns Geschmack, der Fisch am Morgen. Aber ich habe gehört, du hast gestern Abend im Langskip einen Heimatteller verputzt.“

Clyde stöhnte innerlich auf. Blieb auf diesem Schiff denn wirklich nichts irgendwie geheim?

„Ja, ich war noch ein wenig unterwegs und hatte Hunger. Ich bin dort mehr zufällig gelandet, aber das Essen ist sehr gut.“

Thorben nickt zustimmend, während er weiter aß.

Nach dem Frühstück machte sich Clyde auf zur Kapitänskajüte. Er überlegte fieberhaft, wie er dem Captain beibringen sollte, dass er gestern Abend einen weiteren Freiwilligen für die Scouts gefunden hatte. Und dann erst recht, wie und wofür er ihn einsetzen wollte.

Captain Hansom war in seiner großen Kajüte beim Frühstück, als Clyde gemeldet wurde.

„Komm ruhig rein. Hattest du schon Frühstück?“

„Jawohl, Sir. Vielen Dank, Sir. Ich komme gerade aus der Messe.“

Clyde stand vor dem Captain in Grundstellung und so steif wie ein Ladestock. Misstrauisch musterte Daniel Hansom den jungen Halbelfen.

„In Ordnung. Was ist es diesmal? Der Erste Offizier hat noch nichts gemeldet und der Master-at-Arms auch nicht. Also kann es nur etwas mit den Scouts sein.“

Captain Hansom kniff seine Augen etwas weiter zusammen sah Clyde nachdenklich an.

„Wie viele?“

Clyde stieß zischend seinen angehaltenen Atem aus.

„Einer, Sir.“

Die Augenbrauen des Captains hoben sich.

„Nur einer? Und dann machst du so einen Wirbel?“

In kurzen Sätzen schilderte Clyde sein gestriges Zusammentreffen mit Eldar Gunnarson und dann erklärte er, wie er sich dessen Einsatz vorgestellt hatte. Der Captain schüttelte fast ungläubig den Kopf.

„Wie schaffst du das eigentlich? Du gehst in eine Taverne, bestellst ein Essen und bekommst am Ende einen neuen Mitarbeiter serviert.“

„Er ist also angeheuert?“

„Ja, natürlich. Ich hatte dir zugesagt, du könntest jeden anheuern, den du als geeignet erachtest. Aber wenn es geht, nicht mehr als zehn. Es sei denn, ihr könnt noch welche da unten unterbringen. Mehr Platz bekommt ihr nämlich nicht.“


Eldar Gunnarson traf dann auch am frühen Vormittag ein. Er wurde kurz dem Captain vorgestellt, dann beim Zahlmeister registriert. Gleich darauf schleppte ihn Clyde hinunter in ihr Deck.

„So, dies ist unser Wohndeck. Hier wohnen, schlafen und essen wir, mit Ausnahme von mir, ich esse in der Offiziersmesse. Und dies sind deine neuen Kameraden. Leute, das ist Eldar Gunnarson. Er wird unser Schreiber. Mario, du kannst ihn in den Bordbetrieb einweisen und ihm alles zeigen. Vorstellen dürft ihr euch selber, ich bin noch einmal bei Feliciano.“

Die Jungen blickten Clyde erstaunt hinterher, als er eilig das Deck verließ. Ihm waren gerade ein paar Gedanken durch den Kopf geschossen, die er gerne mit Feliciano besprochen hätte.

Der Hauptmann der Seesoldaten saß auf seiner Kammer und sortierte ein paar Papiere. Er hatte seine Truppe zwar vollzählig, doch jetzt fing die Arbeit erst richtig an. Er musste die Leute auf die beiden Gruppen verteilen, jemanden für die Beförderungen zum Sergeanten und zwei Mann für die Beförderung zum Corporal vorschlagen. Leise grummelte Feliciano vor sich hin, bis es klopfte.

„Clyde. Was führt dich so früh hierher?“

„Ich möchte deine Meinung zu einer Sache haben, die mir keine Ruhe lässt. Es geht um einen Einsatz, den wir als Scouts durchführen müssen. Mario würde wohl ganz gerne irgendwo einsteigen, aber ich habe Angst, dass etwas schiefgeht. Ich möchte nicht, dass jemandem etwas passiert.“

Feliciano sah, dass Clyde hin und hergerissen war zwischen seinen Wünschen und seinen Befürchtungen.

„Ich kann dir nichts raten, das ist einzig und allein deine Entscheidung. Aber du kannst nicht jedes Mal eine Glasglocke über deine Truppe stülpen. Sie sind Teil unserer Armee und wissen, dass etwas passieren kann. Wir als Führung können nur dafür sorgen, dass sie so gut wie möglich vorbereitet sind. Hast du mit Mario darüber gesprochen?“

„Nein, noch nicht.

„Dann würde ich vorschlagen, du schickst ihn zu mir und ich rede mit ihm. Mario ist zwar ein kleiner Draufgänger, aber er ist weder unvorsichtig, noch verantwortungslos. “


Mario erschien erst zum Mittagessen wieder und flüsterte eine ganze Zeit mit Frank. Dann meldeten die beiden sich wieder ab ohne zu sagen, wohin sie wollten.

Als sie zwei Stunden später wieder erschienen, begannen sie in ihren Seekisten zu kramen. Mario brachte als erster seinen Fund zum Vorschein. Schwarze Jacke und schwarze Hose, beides recht eng geschnitten. Finn musterte kritisch die Sachen.

„Für die Arbeit bei Nacht, vermute ich mal. Was machst du, wenn es regnet?“

Mario tauchte wieder ab in die unendlichen Tiefen seiner Seekiste. Diesmal erschien er mit einem fast bodenlangen schwarzen Umhang und einem schwarzen Schlapphut.

Die Jungs fingen an zu kichern.

„Oh, Mann. Das ist ja so was von unauffällig. Jetzt weiß ich, was Clyde mit den Shadows of Scythe meinte.“

Mario nahm schwunghaft den Hut ab und legte dann den Umhang wieder ab.

„Natürlich sieht das hier drin dämlich aus, aber bei Nacht sind solche Klamotten unschlagbar.“

Frank drehte den Hut neugierig zwischen seinen Händen.

„Der sieht fast so aus wie bei uns zu Hause die Hüte der leichten Artillerie. Aber da waren die Krempen kleiner und eine Seite war hochgeklappt.“

Frank bog die Krempe auf einer Seite nach oben. Finn kam näher und sah sich das Gebilde an.

„So ähnlich sehen bei uns die Kopfbedeckungen der War Chiefs aus. An der flachen Seite haben sie noch eine oder mehrere Adlerfedern angesteckt.“

Clyde musterte nun auch den malträtierten Hut und versuchte sich vorzustellen, was Finn meinte. Dann grinste er plötzlich Mario an.

„Brauchst du das Ding heute noch?“

„Was? Nein. Der ist wohl nicht notwendig.“

„Sehr schön. Wenn mich jemand sucht, ich bin bei den Damen de Luca. Finn wird mich begleiten.“

Finn seufzte ergeben und fragte sich, was er verbrochen hatte, dass er noch einmal zu den Schneiderinnen musste. Romano war ja ganz nett gewesen, aber er hatte für Finns Geschmack deutlich zu neugierige Finger.

Der Aufenthalt dort dauerte jedoch nicht lange, denn sie wurden sofort zum örtlichen Hutmacher weitergeleitet. Dort erklärte Clyde, was ihm vorschwebte und Finn erläuterte ein paar Einzelheiten. Meister Gerardieu war zunächst etwas skeptisch, aber als er dann ein Modell provisorisch zusammengesteckt hatte, war er begeistert.

Zurück an Bord erfuhren sie, dass Frank und Mario wieder unterwegs waren, um mit Pascal die letzten Einzelheiten zu besprechen. Wie Clyde einigen Bemerkungen entnahm, hatte nicht nur Mario eine etwas abenteuerliche Vergangenheit. Der große schlanke Herblonder war anscheinend in jungen Jahren ein erfolgreicher Taschendieb in Lutèce gewesen, bevor die einsetzende Pubertät seiner Karriere mit einem Größenschub ein Ende setzte.

Clyde machte sich nun mit gemischten Gefühlen auf den Weg zum Captain. Was auch immer sie ausheckten, er war derjenige, der im Endeffekt alles genehmigen musste. Nichts war so schlimm, wenn ein hoher Vorgesetzter mit Aktionen seiner Truppe konfrontiert wurde, von denen er keine Ahnung hatte.


Zu der frühen abendlichen Stunde war der ‚Lachende Seehund“ ziemlich gut besucht. Alle Tische waren besetzt und der junge Mann in Reisekleidung, der die Taverne betrat, sah sich suchend um. Schnell eilte einer der beiden Schankburschen herbei und musterte ihn von oben bis unten. Noch ehe der Junge etwas sagen konnte, drückte ihm der Reisende einen Penny in die Hand.

„Ich bin neu hier. Ich suche eine Unterkunft. Und auch etwas zu essen und zu trinken.“

Mit großen Augen und skeptischem Blick sah der Schankbursche zunächst auf den Reisenden, dann auf den Penny. Doch schließlich deutete er mit einer großartigen Geste auf die Tische.

„Kein Problem, Sir. Unterkunft haben wir zwar keine mehr, doch etwas zu essen und zu trinken werde ich wohl noch auftreiben. Da drüben ist noch ein Platz, direkt neben dem Eingang, oder dort, kurz vor der Treppe.“

Der junge Mann nahm seinen Reiseumhang ab und ging langsam hinüber zu dem Tisch neben der Treppe, die nach oben zu den Gästezimmern führte.

„Wenn es gestattet ist?“

„Ja, ja. Nehmt ruhig Platz.“

Neugierig musterten die Männer am Tisch den Neuankömmling mit dem starken arlemandischen Akzent.

„Na, neu hier in Tarray?“

Der junge Mann nickte.

„Ich komme aus Arlemande. Ich habe gehört, hier gäbe es gutes Geld zu verdienen.“

Die drei Männer am Tisch lachten meckernd.

„Kommt darauf an, was ihr machen wollt. Und was ihr gelernt habt. Die Werft sucht noch Arbeiter. Auch einige der Kaufleute hier. Oder aber, ihr bietet etwas mehr persönliches, wenn ihr wisst, was ich meine.“

Der junge Mann sah hinunter auf den Tisch. Anscheinend wusste er, auf was die Männer anspielten.

„Ich hatte gehört, ein solches Verhalten sei hier verboten.“

„Nun ja, das ist es tatsächlich. Es gibt kein zugelassenes Bordell in der Stadt, aber dennoch hört man hier und da Gerüchte.“

Einer der drei Männer, anscheinend der jüngste, grinste den Neuankömmling jetzt an.

„Man muss nur wissen, wo…“

Plötzlich verstummte er und das lag offensichtlich an dem Tritt, den ihm sein Nebenmann unter dem Tisch verpasst hatte.

„Was Ray hier sagen wollte: Man sollte sich ein wenig auskennen in der Stadt. Wir könnten euch gerne etwas herumführen.“

In diesem Moment erschien der Schankbursche mit einem Krug Bier und einer Holzplatte mit Brot und aufgeschnittenem Braten.

Der Reisende bedankte sich überschwänglich und begann zu essen. Die Männer am Tisch nahmen ihre Unterhaltung wieder auf, während der junge Mann sich beim Essen aufmerksam im Gastraum umsah.

Die leere Platte war schon abgeräumt und unser Reisender hatte einen zweiten Krug Bier erhalten. Mit schwunghaften Gesten erzählte er am Tisch von der Überfahrt von Arlemande nach Britannica. Unterdessen war am Tresen ein stämmiger Mann mit dunkler Kleidung aufgestanden und bewegte sich leicht unsicher in Richtung der Treppe. Kurz vor seinem Ziel traf ihn etwas Unerwartetes.

Der junge Reisende war aufgestanden und hatte beide Arme ausgebreitet, während er von einem Sturm erzählte, der in der Britannischen See getobt hatte. Mit wedelnden Armen stellte er die Bewegung der Wellen dar. Die tosende See wurde durch den Donner eines einschlagenden Blitzes übertönt, dann traf eine riesige Woge das Schiff. Es traf allerdings auch den völlig ahnungslosen stämmigen Mann. Der junge Reisende hatte bei seiner sehr lebhaften Erzählung ganz vergessen, dass er immer noch den gut gefüllten Bierkrug in seiner Rechten hielt. Vom Eifer der Erzählung getragen wurde nun besagter Bierkrug wild herumgeschwenkt und kollidierte mit dem Kopf des stämmigen Mannes auf seinem Weg zur Treppe. Eine wahre Sturzsee ergoss sich über den Mann, in diesem Fall nicht aus Salzwasser, sondern aus Bier.

Der schwunghafte Schlag mit dem Bierkrug holte den Mann von den Beinen und er fiel fluchend auf die unteren Treppenstufen. Noch mehr fluchte er, als sich ein Schwall von Bier über ihn ergoss. Der junge Reisende mit dem Krug war zutiefst bestürzt. Sofort wandte er sich dem Gestürzten zu und versuchte, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Der wehrte sich verzweifelt gegen die ihm nicht willkommene Hilfe.

„Ich bin untröstlich, Sir. Kann ich noch etwas für euch tun, Sir?“

„Nein, verdammt! Nimm deine Pfoten von mir. Du hast schon verdammt zu viel getan.“

Grummeln hievte sich der Mann die Treppe empor.


Mario kannte die Taverne ‚Zum lachenden Seehund‘ gut genug um zu wissen, wo die Gasträume waren. Erst am Nachmittag hatte er mit Sebastiano, einem der Schankgehilfen, bei einem kleinen Schwätzchen die Gäste durchgehechelt. Einer davon hatte seine besondere Aufmerksamkeit erregt.

„Also der Typ vom Südzimmer ist ein Idiot. Immer verschließt er seine Kammer, selbst wenn er nur auf den Hof geht. Spricht mit niemandem, selbst mit Old Henry nicht. Und von Trinkgeld hat der auch noch nie etwas gehört.“

„Hört sich tatsächlich nach einem Idioten an.“

„Jep. Jeden Abend hockt er am Tresen, zieht sich ein paar Bier rein und verschwindet dann nach oben.“

Mario verwuschelte Sebastianos dunkelbraune Locken und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann schnippte er eine Münze in die Luft, die Sebastiano geschickt auffing. Die Augen des Jungen wurden groß.

„Was? Ein Shilling? Bist du jetzt reich?“

„Nein. Aber ich möchte gerne, dass du die Klappe hältst. Egal, was heute Abend passiert, tu einfach so, als ob alles völlig normal wäre.“

Sebastiano sah Mario nur kurz an, dann nickte er. Er war zwar hier in Britannica aufgewachsen, aber die Traditionen seiner Heimat im südlichen Rota waren ihm geläufig. Wenn jemand aus der Familie einen Wunsch äußerte, wurde nicht widersprochen. Und ‚la Familia‘ waren hier in Tarray eben die Bürger rotanischer Abstammung, besonders solche im Dienst des Earls.

Mit Einbruch der Dämmerung hatten sich Frank und Mario auf den Weg gemacht. Frank betrat den ‚Lachenden Seehund‘ als arlemandischer Reisender durch den Vordereingang, während Mario sich geschickt auf das Dach des Stalls hangelte.

Der Stall war an die Rückseite der Taverne angebaut und hatte ein leicht schräges Flachdach. Dort bewegt Mario sich vorsichtig auf das Fenster zu, das den kleinen Flur im Obergeschoß des Hauptgebäudes beleuchtete. Ein Handgriff genügt und Mario stand auf dem schmalen Flur. Nach ein paar schnellen Schritten stand er vor der Tür des Südzimmers. Vorsichtig und leise betätigte er den Türöffner. Die Tür war verschlossen und Mario grinste. Es bestand zwar noch die geringe Wahrscheinlichkeit, dass sich die Zielperson in dem Raum eingeschlossen haben konnte, doch Mario glaubte nicht daran.

Schnell entnahm er seiner Hosentasche ein kleines Bündel und rollte es auf dem Boden aus. Der Inhalt bestand aus einer ganzen Anzahl von kleinen Drähten, Stiften, Haken und Schlüsselrohlingen. Mit einem leisen Klicken wurde die Tür entriegelt und Mario nahm sein Bündel wieder auf. Schnell schlüpfte er in das Zimmer.

Ein kurzer Rundblick und es war klar, dass niemand anwesend war. Der Raum war nicht übermäßig möbliert. Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen. Vor dem Bett stand eine Truhe mit einem Vorhängeschloss. Dies erschien Mario das lohnendste Ziel.

Wieder wurde das kleine Bündel ausgerollt und nach wenigen Sekunden gab das Schloss nach. Mario klappte den Deckel hoch und sah hinein. Der größte Teil des Inhalts waren Kleidungsstücke, dann noch ein paar kleinere Gegenstände, wie Tintenfass, Schreibkassette und ein Buch.

Mario runzelte die Stirn. Das konnte doch nicht alles sein. Sollten sie sich dermaßen getäuscht haben?

Als er die Sachen zurücklegte, fiel ihm auf, dass die Truhe nicht so tief war, wie sie von außen erschien. Grinsend packte er wieder aus und besah sich den Innenboden. Nach einigem Probieren ließ sich die Bodenplatte herausheben und gab ein kleines Fach darunter frei. Hier lagen mehrere Schriftstücke.

Mario nahm das erste auf und erkannte, dass der Text darin codiert war. Enttäuscht legte er es beiseite und nahm das nächste auf. Als er es las, pfiff er leise durch die Zähne. Insgesamt fand er fünf Schreiben, von denen er jedoch nur drei lesen konnte. Er musste sich die drei Schriftstücke nun so gut es ging einprägen, denn er konnte sie nicht mitnehmen ohne einen Verdacht zu erregen. Und für eine Abschrift fehlte ihm schlicht die Zeit.

Vorsichtig packte Mario alles wieder zurück in die Truhe und war gerade mit dem Vorhängeschloss beschäftigt, als er von unten ungewöhnlichen Lärm hörte. Rasch raffte er seine Sachen zusammen, schlüpfte durch die Tür auf den Flur und verriegelte sie hinter sich, als er jemanden lautstark die Treppe hochkommen hörte. So leise er konnte, huschte er hinüber zur Fensternische. Um durch das Fenster nach draußen zu steigen, war es schon zu spät und so presste Mario sich so dicht wie möglich in die Fensternische.

Der Mann, der fluchend die Treppe hochgestolpert kam, war mit sich selbst mehr als genug beschäftigt. Er stank nach Bier und fluchte unablässig. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sein Türschloss überwunden hatte und die Tür lautstark hinter sich zuschlug.

Mario stieß zischend seinen angehaltenen Atem aus und machte sich dann wieder durch das Fenster auf den Rückweg.


Nach dem Vorfall mit dem Bierkrug machte sich auch der junge Reisende wieder auf den Weg, um eine Unterkunft für die Nacht zu ergattern.

Vor dem einzigen Mietstall der Insel blieb er stehen und sah sich um, als ob er sich nicht entschließen könnte, hier um Quartier zu fragen. Der Stall vermietete oft Schlafplätze auf dem Heuboden.

Im Stall winkte er dem Stallburschen zu, der ihn zu kennen schien. Dann ging er zielstrebig zur Futterkammer. Nur wenige Minuten später kam ein junger Mann in der Uniform der Scythe-Scouts aus der Futterkammer und ging hinüber zum Stallburschen.

„Hier, wie versprochen. Bis bald, Rainer.“

„Danke. Bis bald, Frank.“

Vom Stall aus machte sich Frank Beutler auf den Weg zum Schiff. Er traf gerade in ihrem Wohndeck ein, als Mario sich aus seinen schwarzen Klamotten schälte. Der kleine Rotaner hatte einfach alle Sachen abgelegt und stand nun splitternackt vor seiner Seekiste.

„Hey, ist das deine neue Arbeitskleidung?“

„Warum? Wolltest du mich engagieren?“

Frank wollte etwas Lustiges erwidern, doch dann fiel ihm etwas anderes ein.

„Nein. Aber ich bin vorhin in der Taverne von drei Typen angequatscht worden. Die wollten wissen, ob ich neu bin und ob ich Interesse hätte, anschaffen zu gehen.“

„Was?“

Clyde hatte, genau wie die anderen, mit einigem Interesse Mario zugesehen, als er jetzt zu Frank herumfuhr.

„Ich dachte, Prostitution ist auf der Insel verboten.“

„Ist es auch. Aber anscheinend gibt es da eine Lücke.“

„So, so. Das werden wir gleich erörtern. Ich will erst mal hören, was Mario zu berichten hat.“

Mario hatte sich zum Bedauern einiger wieder angezogen und nun saßen sie um den Tisch und lauschten dem Bericht.

„In das Zimmer zu kommen war nicht schwer. Das einzig Wichtige war in einer Truhe mit einem doppelten Boden. Eigentlich nicht besonders schwierig zu entdecken. Dort waren insgesamt fünf Briefe, von denen zwei mit einem Zahlencode verschlüsselt waren. Die anderen drei waren nicht besonders aufschlussreich. Das eine war ein Steckbrief. Ausgestellt auf einen gewissen Clyde Donald Lugh Cameron. Die Summe beträgt 2.000 Sovereigns, lebend. Wenn tot, nur die Hälfte.“

Clyde lief tiefrot an. 2.000 Sovereigns! Das war, was? Ein Landgut? Ein Stadthaus? Ein kleines Handelsschiff?

„Wer hat den Steckbrief ausgestellt?“

„Ja, das ist interessant. Kardinal Ernesto de Cabral, Großinquisitor der Kirche der Reuigen Sünder von Letrion.“

„Die Inquisition bietet 2.000 Sovereigns für meinen Kopf?“

Mario schüttelte den Kopf und grinste Clyde an.

„Nein. Für deinen Körper. Unbeschädigt. Der Kopf alleine bringt nur die Hälfte.“

Eldar Gunnarson lehnte sich nach hinten und sah Mario an.

„Was ist mit dem zweiten Brief?“

„Ach ja, der. Es war leider kein Datum drauf. Wir sint auf dem Weg. Du solltest liber sicher sein, sonst zieht die Olle dir das Fell ab. Sieh zu, das du was zu trinken auftreipst. Unterschrift R.“

„Sieht so aus, als ob er Verstärkung kriegt. Aber woher will er denn wissen, dass Clyde wirklich sein Zielobjekt ist?“

„War da keine Beschreibung auf dem Steckbrief?“

„Doch. In etwa so: Cameron ist 17 Jahre alt, zwischen 1,70 und 1,80 groß, kräftig gebaut. Hellrote, lange Haare. Helle Haut. Spricht Britannisch mit dem Akzent von Lonlothian.“

Clyde fuhr sich mit der Hand unbewusst durch seine inzwischen kurzen, stoppeligen Haare.

Eldar schüttelte den Kopf.

„Unglaublich. Mit der Beschreibung leben die Hälfte aller Rothaarigen ganz schön gefährlich.“

Mario hob die Hand.

„Kommt noch besser. Unten auf den Steckbrief hat jemand einen handschriftlichen Vermerk gemacht. Gehört zur Besatzung der FEERIETALE.“

„Woher…? Wer hat denn diesen Schwachsinn zusammengestoppelt? Ich bin doch…“

Mario sah abschätzend an Clyde herab.

„Wann hattest du denn lange Haare? Die Statur kann ich nicht beurteilen.“

Frank grinste breit.

„Das mit kräftig gebaut stimmt schon, allerdings…“

Mario grinste nun ebenfalls über das ganze Gesicht.

„Stimmt. Wenn ich mich recht erinnere…

Clyde verpasste den neben ihm sitzenden Mario einen Hieb auf den Oberarm und funkelte ihn an.

„Bleib bei der Sache. Was ist mit dem dritten Brief?“

„Der hatte eine erheblich bessere Handschrift: Die Zielperson wurde in Caerdon gesehen. Der Plan in Übersee ist augenscheinlich fehlgeschlagen. Er trägt eine Uniform und gehört wohl zur Besatzung irgendeines Schiffes. Erkundigt euch und bringt ihn zum Treffpunkt.“

Clyde knallte mit der Hand auf den Tisch.

„Also doch! Es gibt tatsächlich einen Plan, mich an die Inquisition auszuliefern.“

Eldar nickte nachdenklich.

„Vermutlich. Aber was ich bei der ganzen Sache nicht verstehe, warum haben die Letrioner dich nicht sofort an die Inquisition überstellt, als sie dieses Handelsschiff aufgebracht haben? Sie haben dich den Rotanern ja fast aufgedrängt. Es sieht fast so aus, als ob sie zu der Zeit nichts damit zu tun haben wollten. Aber das macht überhaupt gar keinen Sinn.“

Clyde schüttelte den Kopf.

„Nein, macht es auch nicht. Aber das ist tausende von Meilen entfernt. Und wir sitzen hier plötzlich vor einem weiteren Versuch, mich an die Inquisition auszuliefern. Warum eigentlich ich? Es gibt doch noch mehr Halbelfen. Oder die Druiden. Sie betreiben zwar nur Naturmagie, aber das ist in den Augen der Kirche genauso schlimm.“

Finn sah erst Clyde, dann Eldar an.

„Das ist, glaube ich, mit dem Bericht an die Königin während der Generalaudienz klar geworden. Es geht um den Sohn eines Herzogs, der gleichzeitig Halbelf ist. Wenn Clyde etwas passiert, oder besser, wenn die Inquisition ihn tatsächlich hinrichtet…“

„Hey, noch bin ich nicht tot!“

„… ist die Königin im Zugzwang. Sowohl der Hochadel, als auch die Sidhe werden sie unter Druck setzen und die einzige Antwort wäre eine Kriegserklärung an Letrion. Hey, das ist ja fast schlimmer als die Intrigen bei uns zu Hause. Da hast du manchmal fünf bis sechs Nachbarn, die alle gleichzeitig versuchen, dir die verschiedensten Sachen unterzujubeln.“

Clyde schüttelte entsetzt den Kopf.

„Wir können uns keinen Krieg mit Letrion leisten. Der mit Herblonde ist schon schlimm genug. Die gesamten Küstenabschnitte im Süden müssen kontrolliert werden und die Navy patrouilliert rings um die britannische See. Selbst aus Lonlothian befinden sich schon Truppen im Süden. Wenn Letrion dazu kommt, steigt schlagartig die Möglichkeit einer Invasion, und das nicht nur im Süden, sondern auch an der Westküste. Selbst wir hier oben wären gefährdet.“

Eldar nickte langsam.

„Also sitzt irgendjemand in Britannica, nein, dem Brief nach, den Mario gefunden hat, in Caerdon und spinnt ein feines Netz, um die Königin zu Fall zu bringen. Zum einen soll sie in einen Krieg mit Letrion getrieben werden, zum anderen gibt es anscheinend einen Spion im Palast, der geheime Nachricht aus dem Land schmuggelt. Beides zusammen gibt wieder Sinn. Jemand treibt das Land in einen Krieg und verrät seine Geheimnisse, möglicherweise an einen der Gegner. Falls dieser Gegner den Krieg gewinnt, ist das Land erobert, die Königin entmachtet, genau wie alle Adligen. Die Kirche der Reuigen Sünder wird zugelassen und die Magie verschwindet aus Britannica. Ausländische Truppen überziehen das Land und plündern und brandschatzen, während vielleicht ein letzter Rest aufrechter Leute versucht, sich verzweifelt zu wehren.“

Mit erstaunten Gesichtern lauschten die anderen Jungen Eldars Zusammenfassung.

„Stellt sich nun die Frage, wer tut so etwas?“

„Das kann doch niemand wollen. Kein Britannier würde das gesamte Land in ein derartiges Chaos stürzen.“

Finn sah Clyde an.

„Kommt darauf an. Er braucht nur den richtigen Zeitpunkt abwarten. Nach einer Kriegserklärung an Letrion weiß das ganze Land, was auf uns zukommt. Dann kann der strahlende Held erscheinen, mit den Kriegsgegnern verhandeln und bei einem Erfolg die Königin zur Abdankung zwingen. Sie ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Wer ist denn der nächste in der Thronfolge?“

Jetzt sahen alle Clyde an.

„Äh, das ist – oh!“


Mrs. Elizabeth Raynard, ihres Zeichens Witwe und Besitzerin des Gasthauses ‚Zum gerupften Gockel‘ saß an einem lauen Spätsommerabend an dem geöffneten Fenster im oberen Stockwerk ihres Gasthauses und genoss den Duft der feuchten Erde, die ein kurzer Regenschauer hervorgerufen hatte. Ebenso genoss sie natürlich auch den Ausblick auf die Straße neben dem Gasthaus und beobachtete neugierig, wer sich wohl in eine der dunklen Nischen dort verziehen würde.

Die Sonne war bereits untergegangen und sie überlegte, ob sie sich nicht vielleicht in ihr Bett zurückziehen sollte, als sie einen einsamen Fußgänger bemerkte, der mit eiligen Schritten in Richtung Hauptstraße strebte. Der junge Mann trug die Uniform der Marine von Scythe und sie konnte trotz der fortgeschrittenen Dämmerung noch deutlich seine hellroten Haare erkennen. Plötzlich traten zwei Männer aus einer der dunklen Häusernischen hervor und innerhalb von Sekunden war der junge Mann geknebelt, gefesselt und in einem großen Sack verstaut.

Sichernd sahen sich die Männer um, verabsäumten aber, nach oben zu sehen. So bemerkten sie auch nicht Mrs. Raynard, die gerade noch einen Aufschrei unterdrückt hatte. Als die Männer sich mit ihrem Opfer in Richtung Hafen aufmachten, stand Elizabeth Raynard auf. Kurz entschlossen raffte sie ihr bodenlanges Kleid und eilte hinüber zur Kammer ihres Schankburschen Miles. Dieser hatte heute die Frühschicht gehabt, doch Mrs. Raynard war sich sicher, dass er noch nicht schlafen würde.

Entgegen ihrer Gewohnheit und auch entgegen besseren Wissens, riss sie ohne zu klopfen die Tür zu der kleinen Kammer auf und sah hinein. Wie sie befürchtet hatte, war Miles nicht alleine und so sah sie sich mit der unverhüllten Nacktheit zweier Jungen konfrontiert, über deren Grund es keinen Zweifel geben konnte.

Mein Gott‘, dachte sie unwillkürlich ‚wenn doch mein verblichener James nur einmal so enthusiastisch gewesen wäre‘.

Miles war beim Eintreten seiner Arbeitgeberin erschreckt herumgefahren und versuchte nun verzweifelt, mit einer Decke das Offensichtliche etwas zu bedecken. Doch Mrs. Raynard ließ sich nicht beirren.

„Miles, anziehen! Ich habe eine äußerst dringliche Nachricht für den Lord-Lieutenant! Sieh zu, dass du so schnell wie möglich dorthin kommst. Und lass dich nicht abweisen!“

„Dü… dürfte ich fragen, worum es dabei geht, Madam?“

Erst jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit von Mrs. Raynard auf den zweiten jungen Mann in dem Bett. Er war wohl ein paar Jahre älter als Miles, aber dennoch wohl kaum zwanzig. Er hatte schwarze, lockige Haare und einen dunklen Teint. Dann sah Mrs. Raynard den etwas verteilten Haufen von Kleidungsstücken auf dem Boden und identifizierte die hellrote und blaue Uniform der Garde.

„Eine Entführung! Ein junger Mann in Marineuniform wurde direkt unter meinem Fenster entführt.“

Elizabeth Raynard wurde daraufhin mit dem unverhüllten Anblick des jungen Mannes belohnt, der völlig ungerührt seine Sachen zusammenraffte und innerhalb der nächsten Minute komplett angezogen war. Erst jetzt bemerkte sie die kleine schmucklose Epaulette auf der linken Schulter der Uniformjacke.

„Miles, ab zur Burg. Das Passwort für den Posten ist ‚Dentist‘. Das sollte dich direkt zum Lord-Lieutenant bringen.“

Dann wandte sich der junge Mann zu Mrs. Raynard und bedachte sie mit dem gleichen Lächeln, dem auch Miles zum Opfer gefallen war.

„Mrs. Raynard, mein Name ist Leutnant Niccolo Partozzi von der 2. Kompanie Scythe Guards. Könnten sie mir bitte zeigen, wo die Entführung stattgefunden hat und was sie beobachtet haben?“

Sehr gerne berichtete Elizabeth Raynard wortreich dem netten jungen Offizier von ihren Beobachtungen. Unten in der kleinen Gasse angekommen, versuchte Niccolo irgendwelche Spuren zu erkennen, doch überall standen noch kleine Wasserpfützen und es war inzwischen auch stockdunkel. Die kleine Handlaterne des Gasthauses war nicht wirklich hilfreich.

Niccolo befragte die Witwe Raynard noch nach dem Fluchtweg der Entführer, als er Hufschlag hörte, der sich rasch näherte. Als er zur Einmündung der Hauptstraße sah, bemerkte er zwei Männer zu Pferde, die sich rasch näherten. Einen erkannte er sofort, den anderen erst im Schein der Laterne.

„Euer Lordschaft. Leutnant Partozzi, 2. Kompanie Scythe Guards. Ich war zufällig in der Nähe…“

Kurz berichtete der junge Offizier von den Beobachtungen der Gasthausbesitzerin. Der Earl of Scythe nickte wortlos, während er vergeblich versuchte, irgendetwas zu erkennen.

„So ein - Mist. Wohin sind sie?“

„Höchstwahrscheinlich Richtung Hafen. Aber nach Sonnenuntergang geht kein Boot mehr rüber.“

Sir Brian Sandlake hatte der Meldung ebenfalls gelauscht und seine eigenen Schlüsse gezogen.

„Die Boote für den Fährverkehr vielleicht nicht, aber Fischerboote gehen abends und nachts noch raus. Wir müssen zum Hafen.“

Ohne weiteren Kommentar schwangen die beiden Männer ihre Pferde herum und galoppierten, gefolgt von vier Soldaten der Wache, hinunter zum Hafen.

Inzwischen war auch Miles wieder eingetroffen, atemlos von dem langen Lauf. Zögernd ging er auf Niccolo zu, der ihn in seine Arme zog. Mrs. Raynard wandte sich dezent ab um die beiden alleine zu lassen, als sie auf ihrem Weg zum Haus noch ein paar Worte der Unterhaltung vernahm.

„…bin nicht verärgert. Ich verspreche dir, wir werden das schon bald…“

Mrs. Raynard nahm sich vor, beim nächsten Mal anzuklopfen, egal wie dringend es auch sein mochte.


Die Gruppe von sechs Reitern kam lautstark vor dem Gebäude des Hafenmeisters zu stehen. Daniel Hansom und Sir Brian sprangen von den Pferden. Noch bevor sie anklopfen konnten, wurde die Tür geöffnet und Siegfried Lennartz, einer der beiden Gehilfen des Hafenmeisters kam heraus. Sein Blick fiel zunächst auf den Lord-Lieutenant.

„Sir Brian! Welche unerwartet…“

„Keine Zeit. Sind innerhalb der letzten Stunde irgendwelche Boote ausgelaufen?“

Siegfried fuhr herum und sah nun in das Gesicht seines Landesherrn.

„Zwei Stück, Euer Lordschaft. Zwei Fischerboote.“

„Wo sind sie hin? Sind sie tatsächlich zum Fischen?“

„Einen Moment, ich werde den wachhabenden Lotsen fragen.“

Der große blonde Hafenmeistergehilfe drehte sich um und rief durch die geöffnete Tür nach drinnen.

„Agni, die beiden letzten Boote heute Abend, wo sind die jetzt?“

In der Tür erschien eine weißblonde junge Frau, ebenfalls in der dunkelblauen Uniform des Hafenpersonals. Neugierig musterte sie kurz die Besucher, dann wandte sie sich an den Earl.

„Das erste Boot ist, soweit wir es beobachten konnten, auf dem Weg nach Norden zu einem der Fischgründe. Das zweite Boot ist auf dem Weg nach Linderney. Der Schiffer hat einen eiligen Auftrag bekommen. Waren wohl ein paar Besucher, die wegen eines Notfalls nicht auf die Fähre morgen früh warten wollten.“

„Das sind sie! Sie versuchen, auf dem Landweg zu entkommen. Wir müssen sie verfolgen.“

„Verzeihung, Euer Lordschaft, aber die Fischer sind alle draußen. Wir selbst haben kein Boot.“

Daniel Hansom verdrehte die Augen, dann fuhr er zu Sir Brian herum.

„Der Kutter! Der ist noch seeklar. Wir müssen nur die Vollzähligkeitsmusterung abwarten.“


Auf der FAIRYTALE saß Clyde zusammen mit seinen Scouts um den großen Tisch in ihrem Deck und versuchte sich an das zu erinnern, was er vor Jahren einmal gelernt hatte.

„Also, da gibt es mehrere Anwärter, die sich alle als rechtmäßige Erben betrachten. Da ist der Baronet of Verwick, Sohn von Königin Katherine mit ihrem vorherigen Ehemann. Er argumentiert, er sei ebenfalls ein Prinz, weil König Harold VIII., Maeves Vater, ja seine Mutter geheiratet habe.“

Finn schüttelte den Kopf.

„Na, der hat wohl wenig Aussicht.“

„Ja, dann haben wir einen Richard Langley. Unehelicher Sohn des jüngsten Bruders von König Harold VIII. Nicht anerkannt.“

„Wohl auch nicht viel Erfolg.“

Clyde nickte Mario zustimmend zu.

„Und dann war da noch irgendwo eine weibliche Verwandte, ich weiß aber nicht mehr genau, wo…“

„Was ist denn mit der Hauptlinie? Gibt es keine direkten Verwandten, wenn man nur weit genug zurückgeht?“

Clyde sah Eldar säuerlich an.

„Doch, schon. Es sind die Nachkommen des jüngsten Bruders von Königin Maeves Urgroßvater.“

„Aha. Und leben da noch welche?“

Clyde wand sich ein wenig.

„Ja, schon. Das Familienoberhaupt ist der jetzige Duke of Lonlothian.“

„WAS? Das heißt, dein Vater würde der nächste König…“

„Ja. Aber das würde wahrscheinlich einen Bürgerkrieg auslösen. Die Herzöge von Britannica haben entschieden etwas dagegen, wenn ausgerechnet der mächtigste unter ihnen auch noch König wird und somit das Herzogtum Glovia als Privatbesitz erbt.“

Frank Beutler betrachtete Clyde nachdenklich.

„Wenn dein Vater der nächste Anwärter auf den Thron ist, dann stehst du also auf Platz fünf in der Reihe. Es gab schon Thronerben, die erheblicher weiter hinten gestanden hatten und dann…“

Clyde sah Frank entsetzt an.

„Bete darum, dass die Götter dich nicht gehört haben. Das wäre der schlimmste Fall überhaupt. Ein Halbelf auf dem Thron würde das Gefüge aller sieben Staaten durcheinanderbringen und…“

Trotz der fortgeschrittenen Stunde schrillten plötzlich überall auf dem Schiff Bootsmannsmaatenpfeifen und lautes Rufen ertönte.

„Was ist denn jetzt los?“

Frank und Mario sprangen auf.

„Vollzähligkeitsmusterung! Aber wir sind doch im Hafen. So etwas gibt es doch nur auf See, wenn jemand vermisst wird.“

Schnell begaben sich die Scouts zu ihrer neuen Musterungsstation vor dem Großmast. Percy Seymore ging hektisch mit dem Master-at-arms und dem Zahlmeister die Musterungslisten durch. Dann wandte er sich an die Besatzung, die im Licht einiger Laternen geduldig an Oberdeck stand.

„Meine Herren, es hat in der Stadt heute Abend einen Zwischenfall gegeben, der diese Musterung ausgelöst hat. Bevor wir nichts Genaues wissen, werde ich auch keine weiteren Kommentare dazu abgeben, aber sie werden informiert, sobald es etwas Neues gibt. Nach der Musterung bitte Lieutenant Dagursson und Leutnant Cameron in die Kapitänskajüte. Der Rest kann wegtreten.“

Intensiv miteinander diskutierend, löste sich die Versammlung langsam auf, während Clyde Thorben von weitem ansah und dieser ihm zunickte. Sie vermuteten also beide, dass der Kutter bald wieder rausgehen würde.

In der Kapitänskajüte saß Percy Seymore am Schreibtisch und sah weiter seine Listen durch. Als die beiden Offiziere eintraten, legte er die Papiere beiseite.

„Ah, sehr gut. Setzt euch. Was ich jetzt sage, ist noch nicht für die Öffentlichkeit, aber wir werden es wohl nicht lange verheimlichen können. Es hat eine Entführung gegeben. Einer unserer Leute ist überfallen und verschleppt worden. Die Entführer sind mit ihm auf der Flucht. Sie dürften bereits das Festland erreicht haben.“

„Was? Wer ist es? Wer wurde entführt?“

Percy seufzte und sah nun direkt Clyde an.

„Es ist Diethard Wegener.“

Clyde erstarrte, während seine Gedanken rasten. Diethard! Ausgerechnet derjenige, der ihm fast zum Verwechseln ähnlich sah. Clyde fielen wieder die Papiere ein, die Mario gefunden hatte. Der Steckbrief mit der Beschreibung und dem Kommentar: Er trägt eine Uniform und gehört wohl zur Besatzung irgendeines Schiffes. Erkundigt euch und bringt ihn zum Treffpunkt.“ Sie hatten den Falschen erwischt! Was würde passieren, wenn sie es herausfinden?

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich der Erste Offizier an Lieutenant Dagursson wandte.

„Thorben, wir brauchen den Kutter so schnell wie möglich einsatzbereit. Die FAIRYTALE wird frühestens morgen Mittag aus dem Dock herauskönnen. Wir müssen vorher aber noch ein paar Veränderungen mit den Besatzungen vornehmen. Ich brauche ein paar Leute zurück für unsere volle Gefechtsbereitschaft. Clyde, die Scouts gehen mit auf den Kutter. Eure Aufgabe ist die Jagd nach den Entführern, besonders, wenn sie an Land sind. Der Lord-Lieutenant schickt einen seiner Leute mit einem offiziellen Haftbefehl der Grafschaft, für den Fall, dass es irgendwo Schwierigkeiten geben sollte. Noch Fragen?“

Thorben sah kurz Clyde an, dann Lieutenant Seymore.

„Der Kutter liegt an der Pier des Prisengerichts. Ich dachte, der wird verkauft, genauso wie der Logger.“

Lieutenant Seymore grinste schwach und wedelte dann mit einer Hand.

„Das Prisengericht hat ihn tatsächlich zur rechtmäßigen Prise erklärt und uns das zustehende Geld ausbezahlt, ebenso wie bei dem Logger. Daniel hat dann den Kutter aus seiner Privatschatulle gekauft. Er gehört jetzt offiziell zur Kaperflotte von Scythe, inklusive Kaperbrief.“

„Oh, wann sollen wir seeklar sein? Wenn ich die Leute jetzt rüberschicke, könnten wir innerhalb der nächsten zwei Stunden auslaufen.“

Percy Seymore schien überrascht, doch dann schüttelte er mit dem Kopf.

„Wie gesagt, wir müssen noch ein paar Leute umsetzen. Dann möchte ich gerne, dass die Takelung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt wird. Wir brauchen uns nicht mehr zu tarnen. Ach ja, einen neuen Namen braucht er ja auch noch. Lasst euch etwas einfallen, was zu unserer kleinen Gemeinschaft passt. Ich würde vorschlagen, ihr nehmt zum Auslaufen das Morgenhochwasser, falls ihr bis dann fertig seid und geht zunächst rüber nach Linderney. Da liegt es dann an Clyde, wie ihr weiter vorgeht.“

Die beiden jungen Offiziere erhoben sich und verließen nachdenklich die Kapitänskajüte.

„Sag mal, Thorben, was ist denn aus den Leuten geworden, die auf diesem Logger waren?“

„Oh, die. Die Überlebenden werden vor dem Obersten Gericht der Grafschaft angeklagt. Soweit ich gehört habe, soll die Anklage auf Hochverrat lauten, da sie als Britannier ein britannisches Schiff angegriffen haben.“

Clyde nickte. Das war zu erwarten gewesen. Dann fiel ihm etwas anderes ein.

„Und der Junge, der dort war?“

„Du meinst Luca? Der Lord-Lieutenant hat eine Vernehmung durchgeführt und ihn dann freigelassen. Keine Ahnung, wo er steckt. Warum?“

„Nur so eine Idee. Vielleicht brauchen wir noch jemanden, der Herblondaise spricht. Ich kann mich nicht erinnern, ob jemand auf dem Kutter das kann.“

„Stimmt. Im Moment liegt der Schwerpunkt ja noch auf Fjördur. Bin mal gespannt, was Percy bei uns verändern will.“

„Ich geh‘ runter und scheuch die Scouts auf. Sollen wir schon mal rüber auf den Kutter?“

„Ja, wir müssen sehen, wie wir alle unterbringen. Wird wohl ein Bisschen eng.“

„Keine Angst, wir finden schon einen Platz. Bis gleich.“

Als Clyde das Deck der Scouts betrat, waren diese bereits beim Packen.

„Was treibt ihr denn hier?“

Mario brachte es auf den Punkt.

„Ganz einfach. Wir packen unsere Klamotten und ziehen auf den Kutter. Was anderes konnte die Aufforderung von Number One ja nicht bedeuten. Außerdem wissen wir inzwischen, wer fehlt und auch warum. Wir werden alle unser Bestes geben, um unseren Fehler wieder auszubügeln.“

Clyde war verblüfft. Nicht etwa, weil die Scouts inzwischen wussten, was passiert war. Es hätte ihn sehr gewundert, hätten sie es nicht innerhalb der ersten fünf Minuten gewusst. Nein, es war die Aussage, dass sie alle einen Fehler gemacht hatten.

Mario sah Clyde seine Gedanken an.

„Du warst nicht der Einzige, der es nicht gemerkt hat. Wir alle haben die Informationen gehabt und nicht drauf reagiert. Sie waren nur eben schneller, als wir angenommen hatten. Jetzt müssen wir eben schneller sein. Wann legen wir ab?“

Clyde musste trotz der ernsten Situation lachen.

„Mit dem Morgenhochwasser. Es wird wohl noch ein paar Veränderungen in der Besatzung des Kutters geben, da die FAIRYTALE morgen ebenfalls raus soll. Anscheinend hat der Heuerbaas noch Leute geschickt. Ach so, der Lord-Lieutenant schickt eine seiner Wachen mit einem Haftbefehl der Grafschaft. Den müssen wir vielleicht bei uns unterbringen.“

„Den Haftbefehl?“

„Nein, du Knalltüte, den Wachsoldaten.“


FAIRYTALE

Kaperschiff FAIRYTALE - Offiziere

Hansom, Daniel, Britannier, Kapitän, 28 Jahre, 1,81m, schwarze Haare, graue Augen, Earl of Scythe, Baronet of Clanbury, Partner von Percival Seymore

Seymore, Percival, Britannier, Lieutenant und Erster Offizier, 27 Jahre, 1,79m, dunkelblonde Haare, graue Augen, Partner von Daniel Hansom

Lawrence, Jason, Britannier, Segelmeister, 31 Jahre, 1,82m, weiße Haare, blaue Augen

Dagursson, Thorben, Isafjorder, Lieutenant, 22 Jahre, 1,94m, weißblonde Haare, blaue Augen

Holland, Lionel, Britannier, Lieutenant, 19 Jahre, 1,77m, dunkelblonde Haare, graue Augen, Partner von Diego Escundo

Hochbauer, Sigurd, Arlemander, Lieutenant, 21 Jahre, 1,83m, dunkelblonde Haare mit Zopf, blaue Augen, Partner von Jean-Luc Montfére

Lutteur, Pierre, Herblonder, Lieutenant, 19 Jahre, 1,81m, dunkelblonde Haare, blaue Augen, Partner von Sir Brian Sandlake

Kerner, Michael, Arlemander, Schiffsarzt, 30 Jahre, 1,72m, dunkelblonde Haare, blaue Augen

Redcliff, Miles, Britannier, Zahlmeister, 26 Jahre, 1,72m, schwarze Haare, braune Augen

Kaperschiff FAIRYTALE – Junior-Messe

Jarmund, Robert, Arlemander, Steuermannsmaat, 16 Jahre, 1,79m, dunkelblonde Haare, braune Augen, Partner von Sven Storebjörn

Escundo, Diego, Letrioner, Steuermannsmaat, 22 Jahre, 1,76m, schwarze Haare, grüne Augen, Partner von Lionel Holland

Storebjörn, Sven, Isafjorder, Steuermannsmaat, 21 Jahre, 1,96m, goldblonde Haare, blaue Augen, Partner von Robert Jarmund

Young, Liam, Britannier, Seekadett, 17 Jahre, 1,76m, dunkelblonde Locken, blaue Augen

Olsson, Elvar, Isafjorder, Seekadett, 15 Jahre, 1,79m, hellblonde Haare, blaue Augen

Montfére, Jean-Luc, Herblonder, Seekadett, 16 Jahre, 1,68m, schwarze Haare, blaue Augen

Partner von Sigurd Hochbauer

Thorsson, Ragnar, Isafjorder, Seekadett, 18 Jahre, 1,88m, strohblonde Haare, eisblaue Augen

Meinhardt, Thomas, Arlemander, Seekadett, 16 Jahre, 1,75m, dunkelblonde Haare, graue Augen

Wegner, Diethard, Arlemander, Seekadett, 17 Jahre, 1,75m, kupferrote Haare, grüne Augen

Rossi, Luca, Rotaner, Schreiber, 19 Jahre, 1,69m, dunkelblonde Haare, blaue Augen

Sedgewick, James, Britannier, Schreiber, 31 Jahre, 1,77m, dunkelblonde Haare, graue Augen, Kapitänssteward

Lengfield, Cedric, Britannier, Arztgehilfe, 21 Jahre, 1,76m, dunkelblonde Haare, blaue Augen, Partner von Manuel de Servela y Cortana

De Servela y Cortana, Manuel, Letrioner, Arztgehilfe, 22 Jahre, 1,74m, schwarze Haare, braune Augen, Partner von Cedric Lengfield

Kaperschiff FAIRYTALE – Unteroffiziere

Vocke, Reinhard, Arlemander, Schiffszimmermann, 28 Jahre, 1,91m, dunkelblonde Haare, blaue Augen

Grafschaft Scythe

Tarray

Sandlake, Sir Brian, Britannier, Lord-Lieutenant, 42 Jahre, 1,81, dunkelblonde Haare, graue Augen, Partner von Pierre Lutteur

Partozzi, Niccolo, Rotaner, Leutnant, 19 Jahre, 1,83, schwarze Haare, braune Augen, Partner von Miles Thornton

Seesoldaten

Luca, Feliciano de, Rotaner, Hauptmann, 19 Jahre, 1,81m, hellblonde Haare, braune Augen

Lambert, Pascal, Herblonder, Leutnant, 22 Jahre, 1,86m, dunkelblonde Haare, braune Augen

Scythe-Scouts

Cameron, Clyde, Britannier, Leutnant, 17 Jahre, 1,75m, kupferrote Haare, grüne Augen, Halbelf und Feuermagier

O’Brian, Finn, Erinny, Bogenschütze, 18 Jahre, 1,89m, rotblonde Haare, blaue Augen

Ginarotti, Mario, Rotaner, Karabinerschütze, 18 Jahre, 1,67m, schwarze Haare, braune Augen

Beutler, Frank, Arlemander, Karabinerschütze, 18 Jahre, 1,75m, hellblonde Haare, blaue Augen

deFries, Arje, Nassouwer, Karabinerschütze, 17 Jahre, 1,73m, goldblonde kurze Locken, blaue Augen

Gunnarson, Eldar, Isafjorder, Schreiber, 19 Jahre, 1,85m, hellblonde Haare, blaue Augen


Nautische Begriffserklärungen 1

abfallen

Vom Wind wegdrehen, so dass der Wind nicht mehr von achtern einfällt.

achtern, achterlich, achteraus

Hinten, von hinten, nach hinten. ‚Achter‘ (engl. After) deutet in verschiedenen Zusammensetzungen auf Schiffsteile hinter dem Großmast, z. B. Achterschiff.

am Wind segeln

Der Wind kommt mehr von vorn als von der Seite. Das Schiff segelt in spitzem Winkel zum Wind.

Ankerspill

siehe »Gangspill«

anluven

Gegenteil von abfallen. Zum Wind hindrehen, so dass er mehr von vorne einfällt.

aufgeien

Aufholen eines Rahsegels an die Rah mit Hilfe der Geitaue

auslegen

Vom Mast auf die Fußpferde der Rahen steigen, um Segel zu bergen oder zu heißen.

ausrennen

Schiffsgeschütze mit Hilfe der Taljen nach vorn rollen, so dass die Mündung aus der Stückpforte herausragt.

ausschießen

siehe Wind

Back

Erhöhter Decksaufbau über dem Vorschiff. 2. Hölzerne Schüssel für das Mannschaftsessen. 3. Meist hängender Tisch zum Essen für die Backschaft (Gruppe, die zu diesem Tisch gehörte). Der Backschafter (Tischdienst) tischte auf (aufbacken) oder räumte ab (abbacken). Mit »Backen und Banken« wurde zum Essen gerufen.

Backbord

Die linke Schiffsseite, von achtern (hinten) gesehen

backbrassen

Die Rahen mit den Brassen so drehen, dass der Wind (von vorn) so einfällt, dass er die Segel gegen den Mast drückt. Dadurch wird das Schiff gebremst.

Bark

Segelschiff mit mindestens drei Masten, von denen die vorderen Rahsegel tragen, während am (hinteren) Besanmast nur ein Gaffelsegel gefahren wird.

belegen

Leine festmachen, 2. Befehl widerrufen

Belegnagel

Großer Holz-(oder Eisen-)stab mit Handgriff, der zum Festmachen der Leinen diente. Er wurde in der Nagelbank an der Reling aufbewahrt und diente auch als Waffe im Nahkampf.

Besan

Der hintere, nicht vollgetakelte Mast eines Schiffes mit mindestens drei Masten. 2. Das Gaffelsegel an diesem Mast

Besteck nehmen

Ermittlung des geographischen Ortes eines Schiffes

Bilge

Der tiefste Raum im Schiff zwischen Kiel und Bodenplanken, in dem sich Wasser sammelt.

Block

Rolle in Holzgehäuse, über die Tauwerk läuft

Bootsgast

Mitglied der Besatzung eines Beibootes

Brassen

1. Hauptwort: Taue zum waagerechten Schwenken der Rahen. 2. Tätigkeitswort: Die Rahen um die Mastachse drehen. Vollbrassen = ein Segel so stellen, dass der Wind es ganz füllt; lebend brassen = das Segel so stellen, dass es dem Wind keinen Widerstand bietet, also längs zum Wind steht; backbrassen = siehe dort

Brigantine

Zweimaster, dessen vorderer Mast vollgetakelt ist, während der hintere Gaffelsegel trägt.

Brigg

Schiff mit zwei vollgetakelten Masten

Bug

Vorderer Teil des Schiffes

Bugspriet

Über den Bug nach vorn hinausragendes Rundholz, an dem Stagen und vordere Schratsegel befestigt sind.

Cockpit

(hier) Teil des Orlop- oder Zwischendecks am achteren Ende, das in Linienschiffen den Midshipmen als Wohnraum, während des Gefechts als Lazarett diente.

Davit

Kranartige Vorrichtung zum Aus- und Einsetzen von Booten

Dingi

Kleinstes Beiboot

Dollbord

Obere, verstärkte Planke von Beibooten, in die die Dollen (Holzpflöcke oder Metallgabeln) für die Riemen eingesetzt werden.

Draggen

Leichter, vierarmiger Bootsanker ohne Stock, der auch als Wurfanker benutzt wurde, um Leinen am feindlichen Schiff festzumachen

dwars

quer, rechtwinklig zur Kielrichtung

Ende

Kürzeres Taustück, dessen beide Enden Tampen heißen.

entern

Besteigen eines Mastes oder eines feindlichen Schiffes

Etmal

die während eines nautischen Tages von 12.00 mittags bis 12.00 mittags (24 Stunden) zurückgelegte Strecke

Faden

Längenmaß = 1,853 m in der britischen Kriegsmarine = 100. Teil einer Kabellänge (185,3 m) = 10. Teil einer nautischen Meile (1,853 km). Faden (span.) = 1,67 m (s. auch Seemeile)

Fall

Taue zum Heißen von Rahen oder Segeln

Fallreep

Treppe, früher Strickleiter, die an der Bordwand heruntergelassen wird

Fallreepspforte

Aufklappbare Pforte in einem unteren Deck zum Einstieg vom Fallreep

Fender

Puffer, früher aus geflochtenem Tauwerk

fieren

ein Tau lose geben (lockern), etwas absenken, herunterlassen

Finknetze

Kästen an der Reling zur Aufnahme der Hängematten, meist aus Eisengeflecht

Fockmast

vorderster Mast

Fußpferd

das unter einer Rah laufende Tau, auf dem die Matrosen stehen, wenn sie die Segel los- oder festmachen oder reffen

Gaffel

der obere Baum eines Gaffelsegels

Gaffelsegel

längsschiff stehendes viereckiges Segel, z. B. Besan

Gangspill

Winde, die um eine senkrechte Achse mit Spill-(= Winde) oder Handspaken (= kräftigen Steckhölzern) gedreht wird, um den Anker zu lichten oder Trossen einzuholen.

Gangway

1. Laufbrücke an beiden Schiffsseiten zwischen Back- und Achterdeck, 2. bewegliche Laufplanke zwischen Schiff und Pier

Geitau

Tau zum Aufgeien (Emporziehen) eines Segels

gieren

unbeabsichtigtes Abweichen vom Kurs durch Wind, Seegang oder ungenaues Steuern

Gig

Beiboot für Kommandanten

gissen

möglichst genaues Schätzen des Schiffsortes durch Koppeln

glasen

Anschlagen der Schiffsglocke, nachdem die Sanduhr (Glas) in 30 Minuten abgelaufen ist. 8 Glasen = 4 Stunden = 1 volle Wache

Gordings

Taue, mit denen ein Segel zur Rah aufgeholt wird

Gräting

hölzernes Gitterwerk, mit dem Luken bei gutem Wetter abgedeckt waren. Zum Auspeitschen wurden Grätings aufgestellt und die Verurteilten daran festgeschnallt.

halsen

mit dem Heck durch den Wind auf den anderen Bug gehen

Heck

hinterster Teil des Schiffes, in der damaligen Zeit bei Linienschiffen mit verzierten Galerien ausgestattet

heißen (Hissen)

Hochziehen eines Segels, einer Flagge

Heuer

Lohn der Matrosen

hieven

Hochziehen einer Last, meist mit Takel und Gien

Hulk

altes Schiff, abgetakelt, meist als Wohn- oder Gefangenenschiff benutzt

Hütte

Aufbau auf dem Achterschiff, auch Poop oder Kampanje

Jakobsleiter

leichte Tauwerksleiter mit runden Holzsprossen

Jurymast

Behelfsmast

Kabelgatt

Lagerraum für Tauwerk

Kabel

1. dickes Tau, 2. Längenmaß (185,3 m), s. a. Faden

kalfatern

Dichten der Ritzen zwischen den Planken mit Teer und Werg

kappen

ab-, durchschneiden, z. B. Anker kappen = Ankertau mit der Axt durchschlagen

kentern

1. »Umkippen« eines Schiffes, 2. Umschlagen des Windes, 3. Wechsel der Strömungsrichtung zwischen Ebbe und Flut

Kiel

In Längsrichtung des Schiffes verlaufender, starker Grundbalken, auf dem Vor- und Achtersteven und seitlich die Spanten aufgesetzt sind.

Kielschwein

auf den Kiel zur Verstärkung aufgesetzter Balken

kielholen

1. Ein Schiff am Sandufer so krängen (neigen), dass der Schiffsrumpf ausgebessert bzw. gesäubert werden kann 2. Einen Menschen mit einem Tau von einer Schiffsseite unter dem Kiel zur anderen durchziehen. Diese lebensgefährliche Strafe war in der englischen Kriegsmarine nicht üblich.

killen

Hinundherschlagen, Flattern der Segel, weil sie ungünstig zum Wind stehen

Klampen

(trad.) Profilhölzer zur Lagerung von Beibooten an Deck

Klarschiff

Gefechtsbereitschaft eines Schiffes (klar Schiff zum Gefecht)

Klüse

Öffnung in der Bordwand für Taue

Klüverbaum

Spiere zur Verlängerung des Bugspriets

Knoten

1. Zeitweilige Verknüpfung von Tauenden, 2. Geschwindigkeitsangabe für Seemeilen pro Stunde

koppeln

Ermittlung eines Schiffsortes durch Einzeichnen der Kurse und Distanzen in die Karte (= mitkoppeln)

Krängung

seitliche Neigung des Schiffsrumpfes

kreuzen

auf Zickzackkurs im spitzen Winkel zum Wind abwechselnd über Back- und Steuerbordbug segeln

krimpen

siehe Wind

Kutter

1. einmastiges Schiff mit Gaffelsegel und mehreren Vorsegeln, 2. Beiboot

Landfall

erste Sichtung von Land nach längerer Seefahrt

Längsseits holen, kommen, liegen

Seite an Seite mit einem Schiff, Kai, Steg u. a. zu liegen kommen

laschen

zusammenbinden, festbinden (-zurren)

Last

Vorrats- oder Stauraum

Lee

die dem Wind abgewandte Seite

Legerwall

Küste in Lee, auf die der Wind weht; das Schiff ist hier in Gefahr zu stranden, wenn es sich nicht freisegeln oder Anker werfen kann.

lenzen

leerpumpen

Log

Gerät zur Messung der Fahrt des Schiffes durchs Wasser (loggen)

Lot

Gerät zur Messung der Wassertiefe

Lugger

Küstensegler mit zwei oder drei Masten und viereckigen längsschiffs stehenden Segeln. Schnelle Lugger waren bei den Franzosen als Kaperschiffe häufig

Luv

die dem Wind zugewandte Seite

Manntaue

Bei schwerem Wetter an Deck zum Festhalten gespannte Taue

Mars

Plattform am Fuß der Marsstenge, an den Salings. Gefechtsplatz von Scharfschützen

Messe

Speiseraum der Offiziere, von dem meist auch die Schlafplätze abgingen

Niedergang

Treppe zu den unteren Decks

Nock

Ende eines Rundholzes

Oberlicht

Fenster im Oberdeck zur Beleuchtung darunterliegender Räume

Ölzeug

Schlechtwetterkleidung aus dichtem, mit Leinöl getränktem Stoff

ösen

Ausschöpfen des Wassers aus einem Boot

Orlop

niedriges Zwischendeck über dem Laderaum

peilen

1. Flüssigkeitsstand im Schiff messen. 2. Richtung zu einem anderen Objekt feststellen

Pinasse

1. größeres Beiboot, 2. kleiner Küstensegler mit Schratsegeln.

Plicht

Sitzraum im hinteren Teil eines Bootes

Poop

siehe Hütte

preien

anrufen

Pütz

Eimer

pullen

1. Ziehen an einem Tau, 2. Rudern (Riemen durch das Wasser ziehen)

Quartermeister

ein Vollmatrose, der vor allem zum Steuern des Schiffes eingesetzt wird.

Rah

Holzspiere, die horizontal und drehbar am Mast befestigt ist und an der Segel angeschlagen werden.

raumer Wind

Wind aus achterlichen Richtungen, für Rahsegler günstig

Reede

geschützter Ankerplatz außerhalb des Hafens

Reff, Reef

Teil des Segels, der bei starkem Wind durch Reffbändsel zusammengebunden wird, um die Segelfläche zu verkleinern (Segel reffen)

Riemen

Bootsruder

riggen

Auftakeln eines Schiffes

rollen

seitliches Schwingen des Schiffes um seine Längsachse (s. a. schlingern und stampfen)

Ruder

1. Ruderblatt im Wasser, 2. allgemeiner: Steueranlage

Saling

Gerüst am Topp der Masten und Stengen zum Spreizen der Wanten

schalken

Abdichten der Schiffsluken

Schaluppe

einmastiges Küstenfrachtschiff mit Gaffelsegel, 2. Großes Beiboot (s. aber Sloop)

Schebecke, Xebeke

dreimastiges Segelschiff mit Lateinersegeln (= Schratsegel), vor allem im Mittelmeer gebräuchlich

scheren

Taue durch Block oder Öse ziehen

schlingern

gleichzeitige Bewegung des Schiffes um Längs- und Querachse

Schoner

Zwei- oder mehrmastiges Schiff mit Schratsegeln

schralen

der Wind fällt vorlicher ein

Schratsegel

Sammelbegriff für alle Segel, deren Unterkante in Längsrichtung des Schiffes steht, z. B. Stag-, Gaffel-, Besansegel

schwoien, schwojen

das Schiff bewegt sich um den Anker

Seemeile (sm)

1852,01 m. Die britische nautische Meile ist 1853,18 m lang (s. a. Faden)

Seite pfeifen

Auf Pfeifsignal des Bootsmannes versammeln sich Offiziere und Seesoldaten an der Fallreepspforte, um von und an Bord gehenden Kommandanten und Flaggoffizieren eine Ehrenbezeigung zu erweisen

Sextant

Winkelmessgerät für terrestrische und astronomische Navigation. Vor allem zur Messung der Gestirnhöhen über der Kimm benutzt.

Sloop

Engl. Bezeichnung für vollgetakeltes kleineres Kriegsschiff mit im allgemeinen bis zu 20 Kanonen (vgl. Korvette). Die Übersetzungen Schaluppe oder Slup sind irreführend, da damit vor allem einmastige Segelschiffe bezeichnet werden, während die Sloop drei Masten hatte.

Speigatt

Öffnung in Fußreling oder Schanzkleid, durch das aufgenommenes Wasser abfließen kann

Stag

(trad.) Taue, die vom Mast nach vorn und achtern verlaufen und ihn sichern

Stern

trad. Bezeichnung für Heck

Stropp

Tau, das als Ring gespleißt ist. Dient meist zur Lastaufnahme

stütz!

Befehl an den Rudergänger, eine Schiffsdrehung durch Gegenruderlegen abzufangen

Takelage

Gesamtheit der Masten, Segel, des stehenden und laufenden Guts

Takelung

Art (Typ) der Takelage

Tamp

kurzes Ende eines Taus, auch Tampen

Topp

Mastspitze, 2. Mast mit Takelage

Toppgast

Matrose, der im Topp die Segel bedient

Trosse

sehr starkes Tau

verholen

Schiff über geringe Entfernung an einen anderen Liegeplatz bringen

Verklicker

Windrichtungszeiger, Wimpel oder Windsack an der Mastspitze

versetzen

durch Strömung oder Wind aus dem Kurs bringen

Vortopp

1. Die Spitze des Fockmastes (vorderster Mast), 2. der Fockmast mit seiner Takelage

warpen

ein Schiff bei Flaute bewegen, indem der Anker mit einem Beiboot in Fahrtrichtung ausgebracht und das Schiff mit dem Ankerspill an den Anker herangezogen wird

wenden

mit dem Bug durch den Wind auf einen anderen Kurs gehen

Wind

ausschießen = der Wind dreht auf den Kompass bezogen nach rechts; krimpen = der Wind dreht auf den Kompass bezogen nach links; raumen = der Wind dreht so, dass er mehr von achtern kommt; schralen = der Wind dreht so, dass er mehr von vorn kommt.

Literaturnachweis

1 Adam, Frank – Hornblower, Bolitho & Co. – Ullstein 1987, ISBN 3-548-20754-5

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