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Freibeuter der Meere

Teil 5

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Vorwort

Noch ein Vorwort

Nachdem zum letzten Kapitel ein Anhang mit Personen und Begriffserklärungen erschienen ist, wurde ich prompt gefragt, ob ich das Ganze auch für die Geografie meiner Welt machen könne.

Dazu habe ich auf eine Karte Europas zurückgegriffen und die Grenzen anhand der eigenen Historie neu gezogen. Die in der Erklärung angegebenen heutigen/hiesigen Staaten haben keinerlei politische oder ethnische Bezüge zu meiner Geschichte, auch wenn sich einige Staaten möglicherweise leicht wiederfinden lassen.

 

Niccolo Partozzi stand am Hafen und betrachtete misstrauisch den Kutter. Schiffe waren ihm nicht ganz geheuer und solche Kleinen schon gar nicht. Dabei hatte der Tag doch ziemlich vielversprechend begonnen.

Kurz nach Mitternacht hatte er sich bedauernd von Miles verabschiedet. Er war etwas bekümmert vom Ausgang des ansonsten doch so vielversprechenden Abends mit dem niedlichen Schankburschen. Leider wusste er nicht, ob er noch einmal vom Lord-Lieutenant benötigt würde und er wollte für diesen Fall in der Burg sein.

Auf dem Rückweg zur Burg waren seine Gedanken bei Miles, der es ihm angetan hatte, seit er ihn das erste Mal gesehen hatte. Die Garde machte monatlich einen routinemäßigen Durchgang durch die einzelnen Kneipen, Tavernen und Gasthäuser von Tarray und Niccolo begleitete Hauptmann Havisham zur Einweisung in die Aufgaben eines Offiziers. Niccolo war vorher Unteroffizier bei der Garde du Corps gewesen und hatte seine Beförderung der Fürsprache seines eigenen Hauptmanns zu verdanken.

Die Taverne ‚Zum gerupften Gockel‘ war an Nachmittagen von einer etwas anderen Klientel bevölkert als in den Abend- und Nachtstunden. Mrs. Raynard hatte, seit sie Witwe geworden war, einen Teenachmittag eingeführt. Die kleinen Tische waren zu diesem Anlass mit Tischtüchern bedeckt und mit Blumen versehen. Hierher führten die Damen der Gesellschaft ihre Töchter, um sich umzusehen und den neuesten Klatsch auszutauschen. Und natürlich auch, um gesehen zu werden. Die nicht gerade zahlreichen, aber immerhin doch vorhandenen jungen Herren von Tarray, die sich mehr für die jungen Damen interessierten, kamen hierher, um einen oder gar mehrere Blicke auf dieselben zu werfen.

So konnten sich die beiden Offiziere in Ruhe umsehen. Dabei fiel der Blick von Niccolo auf einen der beiden Schankburschen, obwohl die Bezeichnung ‚Bursche‘ bei den meisten dieses Gewerbes wohl nicht mehr so ganz zutraf. Es durften keine Personen unter vierzehn Jahren in den Tavernen angestellt sein, im Gegensatz zu einigen anderen Grafschaften, in denen dies nicht geregelt war und dort Kinder ab zehn oder gar acht Jahren arbeiteten.

Die beiden Bediensteten im ‚gerupften Gockel‘ waren wohl etwa sechzehn oder siebzehn, der eine groß, etwas dürr und mit borstigen roten Haaren. Der andere war etwas kleiner und wohlgenährter als sein Kollege. Große blaue Augen starrten unter einem goldblonden Lockenkopf zu Niccolo herüber. Der war völlig fasziniert von den Augen, bis ihn sein Hauptmann grinsend anstieß.

„Das ist Miles. Er kann dich sicherlich ein wenig herumführen, während ich mich bei Mrs. Raynard nach ihren Logiergästen erkundige.“

Niccolo nickte und trat etwas geistesabwesend auf Miles zu, der ihn immer noch anstarrte.

Ja, so war das gewesen, das erste Mal. Sie hatten sich dann öfter außerhalb der Taverne getroffen, bis Miles den Mut aufbrachte, Niccolo zu sich einzuladen. Sie wussten beide, worauf es hinauslaufen würde, doch Miles hatte ihm versichert, dass es genau das war, was er wollte. Nun ja, es war auch das, was Niccolo wollte. Doch noch bevor sie beide bei der Erfüllung ihrer letzten Wünsche waren, kam Mrs. Raynard hereingestürmt und das Schicksal nahm einen anderen Verlauf.

Kaum dass der frühe Morgen angebrochen war, wurde Niccolo auch schon zum Lord-Lieutenant befohlen. Sir Brian sah übernächtigt aus, seine Haare waren durcheinander und er hatte dunkle Ringe unter den Augen.

„Leutnant Partozzi, ich möchte gerne, dass sie sich sofort an Bord des neuen Kutters begeben und den Beauftragten des Earls überall hinbegleiten, wohin er sich auch begibt. Ich habe hier einen offiziellen Haftbefehl des High Sheriffs der Grafschaft Scythe, betreffend die Person, oder die Personen, die den Seekadetten Diethard Wegener entführt hat.“

„Auf… auf ein Schiff, Sir Brian?“

„Ja, natürlich. Ein Kutter ist ein Schiff, oder nicht?“

Der Lord-Lieutenant musterte den vor ihm stehenden Leutnant stirnrunzelnd.

„Sie haben doch wohl keine Probleme mit einem Schiff?“

„Wie? Oh, nein. Natürlich nicht. Keine Probleme, Sir Brian.“

Sir Brian sah den Leutnant noch einmal misstrauisch an, verfolgte das Thema aber nicht weiter.

„Sehr gut. Der Haftbefehl berechtigt zur Festnahme dieser besagten Person in jedem Herzogtum und in jeder Grafschaft von ganz Britannica. Wie gesagt, Festnahme. Wir hätten da noch ein paar Fragen, deshalb sollte die Person noch in der Lage sein, diese auch zu beantworten.“

„Verstehe, Sir Brian.“

Schweigend reichte der Lord-Lieutenant einen dicken, versiegelten Umschlag über seinen Schreibtisch und Niccolo trat vor um ihn entgegenzunehmen.

„Noch etwas. Der besagte Beauftragte des Earls ist Leutnant Cameron von den Scythe-Scouts. An Land hat er das Kommando. Er kennt sich dort ziemlich gut aus und hat auch seine eigenen Methoden, den vermissten Seekadetten zu finden.“

Niccolo runzelte die Stirn. Er hatte kein Problem damit, dass jemand anderer das Kommando hatte, besonders wenn er sich besser in der Gegend auskannte. Doch was für Methoden…?

Seine Gedanken wurden von Sir Brian unterbrochen, der etwas mit sich gerungen hatte, ob er noch weitere Informationen preisgeben sollte. Aber wenn sie schon so eng zusammenarbeiten sollten, war die Wahrheit schon wichtig.

„Sie wissen, was hier in Britannica als Sidhe bezeichnet wird?“

Niccolo zuckte zusammen und seine Gedanken überschlugen sich. Was hatten die alten Elfen der britannischen Sagen mit seinem Auftrag zu tun? Dann weiteten sich seine braunen Augen in plötzlicher Erkenntnis.

„Elfeo! Entschuldigung. Aber ist das der Mann, von dem schon so viele Gerüchte durch die Stadt laufen? Der vorgestern auf dem Schießplatz diese, ähhh… Vorführungen gemacht hat?“

Sir Brian grinste schwach.

„Wie alt bist du, Niccolo, neunzehn?“

Niccolo wunderte sich, nickte aber, erstaunt darüber, was der Lord-Lieutenant alles wusste.

„Nun, der ‚Mann‘ von dem die Rede ist, Leutnant Clyde Cameron, ist siebzehn Jahre alt und der Sohn des Herzogs von Lonlothian. Außerdem ist er ein sogenannter Halbelf. Seine Mutter ist eine Sidhe.“

Niccolo erbleichte. Seine ganze Erziehung war schon seit frühester Kindheit geprägt durch den Kerngedanken der Vorrangstellung des Adels über die niedere Gesellschaft. In Rota gab es sieben große Fürstenhäuser, in denen die ‚Principes‘ mit absoluter Macht herrschten. Dem einfachen Volk wurde schon früh der Unterschied zwischen Hoch und Niedrig beigebracht.

Brian Sandlake wusste um die politischen und gesellschaftlichen Zustände in Rota und ahnte, was dem jungen Leutnant gerade durch den Kopf schoss.

„Ungeachtet dessen ist Leutnant Cameron während dieses Einsatzes lediglich Leutnant Cameron und sonst nichts weiter. Es liegt in seiner Entscheidung, mehr bekannt zu machen, sollte es die Situation erfordern. Haben sie das verstanden, Leutnant Partozzi?“

Niccolo fuhr zusammen.

„Jawohl, Sir Brian.“

„Na gut, dann ab zum Hafen. Die werden unten schon warten.“

So kam es, dass Leutnant Niccolo Partozzi unten am Hafen stand und immer noch misstrauisch auf das, in seinen Augen, sehr kleine Schiff starrte.

Er wurde aus seinen Betrachtungen gerissen, als eine Gestalt über das als Gangway dienende Brett direkt auf ihn zukam. Der junge Mann trug die dunkelgrüne Uniform der Seesoldaten, doch mit einem violetten Halstuch und, wie Niccolo erstaunt bemerkte, einer violetten Schärpe unter dem Gürtel. Ein Offizier also. Neugierige grüne Augen musterten den Leutnant der Garde.

„Hallo, ich bin Clyde Cameron. Du musst der versprochene Soldat mit dem Haftbefehl sein, stimmt’s?“

Trotz der mahnenden Worte des Lord-Lieutenant ging Niccolo in die klassische Grundstellung und grüßte zackig.

„Niccolo Partozzi, Leutnant der 2. Kompanie Scythe-Guards, Sir.“

Clyde musterte den jungen Leutnant vor ihm erstaunt und überlegte, was diesen zu dem doch sehr distanzierten Gebaren veranlasste. Dazu bestand kein Grund, besonders weil sie den gleichen Dienstgrad hatten. Clyde fuhr etwas zusammen, als hinter ihm eine laute Stimme ertönte.

„Nu‘ bleib mal ganz locker.“

Mario war erschienen und beäugte den Leutnant der Garde halb amüsiert, halb mitleidig. Dann folgte ein wahrer Wortschwall in rotanisch, den Clyde erstaunt verfolgte. Waren das jetzt mehrere Sätze, oder nur ein einziges meilenlanges Wort?

Niccolo Partozzi sah verblüfft zu dem augenscheinlich rotanischen Seesoldaten, der ihm auf eine mehr als unnachahmliche Weise klar machte, dass er erstens, den Stock aus seinem Hintern nehmen und zweitens den letztgenannten schon mal auf das Schiff schieben sollte. Und drittens wurde mit Clyde so nicht umgegangen. Der Junge war das Oberhaupt ihrer kleinen Familie von Scouts und kein beliebiger Offizier, dem man dumm kommen konnte.

Niccolo musste sich erst einmal sammeln, aber noch bevor er etwas sagen konnte, kam eine kleine Gruppe weiterer Seesoldaten auf die Pier. Nein, halt, das waren keine normalen Seesoldaten, das waren die Scouts. Daher auch die violetten Abzeichen. Leutnant Cameron zeigte auf jeden einzelnen seiner Männer.

„Die Scythe-Scouts, Mario Ginarotti, Eldar Gunnarson, Finn O’Brian, Arje deFries und Frank Beutler.“

Niccolo holte tief Luft, dann erinnerte er sich an den ersten Ratschlag dieses kleinen grinsenden Rotaners.

„Ich bin Niccolo Partozzi von den Scythe-Guards. Ich soll den Haftbefehl vollstrecken.“

Clyde lächelte nun und deutete auf die Gangway.

„Nun dann, auf geht’s.“

„NEIN!“

Der Schrei kam von Thorben Dagursson und war eigentlich nicht für die Scouts bestimmt, doch sie blieben alle wie angewurzelt stehen.

Clyde sah hinüber zu Thorben und folgte dann dessen Blick nach oben in die Takelage. Einige Seeleute waren schon seit der frühen Dämmerung bei der Arbeit und hatten fast die gesamte Bemalung der Tarnung wieder rückgängig gemacht. Das Schanzkleid und die Reling waren nun ockergelb. An anderen Stellen war die Farbe nur entfernt worden und das Holz schimmerte in seiner natürlichen Beschaffenheit.

Weitere Seeleute waren dabei, die beiden Rahen für die Toppsegel wieder anzuschlagen, als von oben ein lauter Ruf ertönte, den der Kommandant des Kutters mit eben diesem ‚Nein‘ beantwortet hatte.

Eldar Gunnarson lauschte nun mit großer Sachkenntnis sämtlichen Flüchen, die Thorben in Fjördur vom Stapel ließ.

„Was ist passiert?“

Eldar zuckte die Schultern.

„So, wie ich es verstanden habe, ist ein Riss in der oberen Rah. Sie müssen sie wohl komplett austauschen.“

Clyde wandte sich von der Pier aus an Thorben.

„Was ist passiert? Dauer das länger?“

Thorben zögerte etwas mit der Antwort, dann sah er zweifelnd hinüber zur Werft.

„Wir müssen eine neue Bramrah aus der Werft besorgen. Mit Anschlagen wird das wohl mindestens noch zwei Stunden dauern.“

Clyde fluchte innerlich. Sie hatten ohnehin schon viel Zeit verloren und jetzt auch noch das. Vielleicht würden sie sogar das Hochwasser verpassen. Etwas ratlos sah er sich um.

„Was machen wir jetzt?“

Frank schielte hinüber auf den Kutter und sah die Matrosen etwas aufgescheucht über das Deck wuseln.

„Ich würde die da jetzt nicht stören. Wir könnten noch schnell über den Markt und ein paar eigene Vorräte kaufen. Das Essen an Bord ist manchmal etwas eintönig.“

Clyde zuckte die Schultern. Warum nicht? So zogen sie in Richtung der Altstadt, wo sich auf dem Marktplatz der Obst- und Gemüsemarkt etabliert hatte. Auf Grund der inzwischen hohen Nachfrage in der Stadt war dieser Markt für jeden zweiten Wochentag genehmigt worden.

Neugierig gingen die Jungen durch die Reihen der Stände. In vielen Fällen waren es auch nur ein paar Körbe und Säcke auf einer ausgebreiteten Decke oder auf einem Stück Segeltuch. Plötzlich stieß Finn Clyde leicht an.

„Da drüben, das ist die Frau, die mir die Erdbeeren verkauft hat.“

Clyde sah hinüber zu einer Verkaufsstelle, bei der eine ganze Anzahl von Waren auf dem Boden ausgebreitet war. Die meisten waren Kräuter und andere Pflanzenteile, aber Clyde sah auch Obst und einige Sorten Beeren, darunter auch die Erdbeeren.

Inmitten dieser Ansammlung saß eine alte Frau auf einem kleinen Hocker und gab leise Anweisungen an einen jungen Mann, der eifrig Körbe aufstellte.

Als Clyde und Finn näherkamen, sah die alte Frau auf. Sie erkannte Finn, dann leuchteten ihre Augen, als sie Clyde sah.

„Fáilte, hoher Herr. Was führt euch zu mir?“

„Fáilte. Doch ich bin kein hoher Herr. Mein Name ist Clyde Cameron und ich bin in den Diensten des Earl of Scythe.“

„Oh, ich weiß. Der junge Krieger neben euch hat mir davon erzählt.“

Clyde grinste mit einem Seitenblick auf Finn. Junger Krieger?

„Warum wolltet ihr meinen Namen wissen und den meines Clans?“

„Ah, ja.“ Die alte Frau streckte sich etwas mühselig.

„Bei uns werden noch die alten Traditionen hochgehalten. Es werden die Geschichten erzählt, als in grauer Vorzeit die Bewohner von Erin herkamen und hier gesiedelt haben. Sie haben ihre Götter mitgebracht und die Túatha sind ihnen gefolgt. Etliche der Clans lassen sich bis in diese Zeit zurückverfolgen.“

Der junge Mann, der die Körbe sortiert hatte, sah etwas erschreckt zu der alten Frau.

„Sheanmhair! Sei leise. Was ist, wenn sie uns hören?“

Clyde musste sich ein Lachen verbeißen. Den Sagen nach waren die Túatha Dé Danann, das Volk der Göttin Danu, diejenigen, die einst Erin erobert hatten. Dann waren sie besiegt und unter die Erde verbannt worden. Als Sidhe bewohnten sie nun die Anderwelt.

Viele Leute fürchteten sich vor den Sidhe und ihrer Magie und sie wollten kein Risiko eingehen. Denn es hieß, wenn die Sidhe ihren Namen hörten, kamen sie herbei um zu sehen, wer gerufen hatte.

„Ich habe es dir schon so oft gesagt, Dian. An den Sidhe ist nichts Böses. Es sind die Leute, die aus ihrer Magie, die sie nicht verstehen, etwas Böses machen.“

Ihr Blick wanderte wieder zu Clyde.

„Nicht wahr, Herr?“

Clyde war einen Moment lang etwas abgelenkt. Sheanmhair – Großmutter. Der Junge war also ihr Enkel. Clyde schätzte ihn auf Fünfzehn oder Sechzehn und er hatte eine recht kräftige Figur. Was Clyde am meisten an ihm faszinierte, waren die halblangen dunkelroten Haare. Nicht das Rot von Kupfer wie bei Clyde, sondern eher das einer Kastanie.

Die alte Frau bemerkte Clydes Blick und lächelte.

„Das ist Dian McRuadh, einer meiner Enkel. Er hilft mir manchmal auf dem Markt. Außerdem ist er auch neugierig, welche anderen hübschen Männer hier herumlaufen.“

McRuadh - der Sohn des Roten. Höchst wahrscheinlich hatte sein Vater ebenso rote Haare wie Dian. Der starrte seine Großmutter entgeistert an, dann sah er sich plötzlich gehetzt um. Es folgten mehrere schnelle Sätze in Gälisch. Clyde und Finn sahen sich grinsend an.

„Äh, Dian. Nur weil ich vom Festland komme, heißt das nicht, dass dort nicht auch gälisch gesprochen wird. Du musst nicht deine Großmutter dafür zurechtweisen, was sie gesagt hat. Du weißt doch ganz genau, dass dies hier der Ort ist, um einen passenden Partner zu finden. Egal, wen man liebt. Und deine Großmutter scheint mit diesem Gedanken besser klar zu kommen als du.“

Dian sah betreten zu Boden. Seine Großmutter schüttelte den Kopf.

„Nehmt es ihm nicht übel, Herr. Seine Brüder ziehen ihn öfter damit auf. Aber es ist nichts Ernsthaftes. Sie sind eben nur neugierig darauf, wen er eines Tages nach Hause bringen wird.“

Sie sah nachdenklich von Clyde zu ihrem Enkel.

„Ich denke, es wird Zeit, dass er uns verlässt, um seiner Bestimmung nachzugehen.“

Sowohl Clyde und Finn als auch Dian sahen die alte Frau äußerst erstaunt an.

„Sieh mich nicht so an, Dian. Ich weiß, dass du zu Hause, zwischen deinen Brüdern, unglücklich bist. Und ich weiß genauso, dass es dir bestimmt ist, einem besonderen Weg in deinem Leben zu folgen. Du hast deinen Namen nicht umsonst bekommen.“

Clyde kramte in seinen Erinnerungen. Dian… Dian? War das nicht jemand aus einem der Sagenkreise aus Erin? Dian! So, wie Dian Cecht, der oberste Heiler der Túatha Dé Danann?

„Du bist ein Heiler?“

Dian errötete leicht und seine Großmutter lachte.

„Nun, nicht ganz so wie in den Sagen, aber ja. Er ist mir schon als Fünfjähriger in den Wald gefolgt und wollte alles über Kräuter wissen. Was es ist, was es bewirkt und was man daraus machen kann. Er weiß nun fast mehr darüber als ich.“

Nun sah die alte Frau Clyde direkt an.

„Ich glaube an die lenkende Hand der Götter. Es ist kein Zufall, dass ihr heute hier seid, Herr. Es ist fast wie in den alten Sagen, als die Helden durch das Land zogen und ihre Kämpfe austrugen. Werdet ihr Dian erlauben, euch zu begleiten?“

Dian sah seine Großmutter mit offenem Mund an und auch Clyde sah irritiert zu Finn, der aber nur die Schultern zuckte und Dian neugierig betrachtete.

„Es ist wohl nicht an uns, den Willen der Götter in Frage zu stellen.“

Den Willen der Götter? Finn, du bist nicht wirklich eine große Hilfe, wenn es um Götter und Sagen geht. Wir sind doch nur hier, weil die Rah plötzlich… oh! Aber einfach so? Ich kann doch nicht einfach jemanden grundlos mitnehmen.

Dann sah Clyde in Dians Augen. Sie waren braun, fast im gleichen Farbton wie seine Haare. Und sie blickten unendlich traurig. War es, weil seine Großmutter ihn gewissermaßen vor die Tür gesetzt hatte? Nein. Clyde erkannte plötzlich, dass es die Erkenntnis war, dass er hier nicht das Leben führen konnte, das er sich wünschte. Und dass Clyde für ihn wahrscheinlich die erste und auch einzige Möglichkeit war, seinem jetzigen Leben zu entkommen.

„Dian. Würdest du mir denn überhaupt folgen wollen? Einen Dienst als Soldat leisten, der mit Mühen, Gefahr und vielleicht auch dem Tod verbunden ist.“

Dian zögerte. Er schien hin und hergerissen zu sein. Dann seufzte er laut.

„Ja, Herr. Ich würde ganz gerne… aber…“

Seine Großmutter schüttelte energisch den Kopf, doch Dian straffte sich. Dann sah er Clyde entschlossen an.

„Es geht nicht. Ihr würdet es nicht erlauben.“

„Was würde ich nicht erlauben?“

Dian sah hinter zwei große Körbe und bückte sich etwas.

„Na los, komm her.“

Mit großen Augen sahen Clyde und Finn nun, wie sich hinter den Körben ein stattlicher schwarzer Hund erhob und langsam hervorkam. Clyde kannte sich mit Hunden nicht so gut aus, aber er wusste, dass es kein Jagdhund war. Die kannte er von den Jagden in Banbhaidh. Überhaupt sah er so aus, als ob er eine Mischung aus mehreren Rassen war.

Dian kraulte den Hund hinter den Ohren und sah hoch zu Clyde.

„Was meint ihr, Herr? Besteht eine Möglichkeit, auch Dubh mitzunehmen?“

Clyde hob die Augenbrauen. Nicht sehr einfallsreich, einen schwarzen Hund einfach Dubh – schwarz - zu nennen. Clyde war sich nicht sicher, was sie mit dem Hund anfangen sollten. Außerdem hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, wie der Captain reagierte, wenn er mit ihm ankam.

„Sag mal, Dian, was kann der Hund denn? Ich meine, er sieht nicht aus wie ein Jagdhund oder so etwas.“

Dian nickte. Er sah hinunter auf Dubh und dann wieder zu Clyde.

„Er ist auch kein Hund für die Treibjagd. Er wurde als Apportierhund ausgebildet. Sie werden dazu verwendet, bei der Vogeljagd die abgeschossenen Tiere zu finden und zurückzubringen. Deshalb ist er sehr gut im Finden von Spuren. Wenn ich ihn jetzt an euch schnuppern lasse, geht er den ganzen Weg zurück, den ihr gekommen seid.“

Clyde brauchte nicht lange zu überlegen.

„Dann gilt es für euch beide. Aber überlege gut. Ihr werdet vielleicht lange nicht hierher zurückkehren.“

Dian brauchte nicht zu überlegen. Ein kurzer Blick auf Dubh und beide sahen Clyde mit ihren großen braunen Augen an.

„Wir werden euch dienen, Herr. So wie es dem alten Volk gebührt.“

Clyde seufzte laut und schüttelte den Kopf. Das würde noch eine Weile dauern, bis Dian sich etwas von seinen Sagen und dem Glauben an die alte Magie frei gemacht hatte.

Während sich Dian von seiner Großmutter verabschiedete, erzählte Clyde seiner in der Nähe wartenden Truppe von dem unerwarteten Zuwachs. Da die meisten mit den Anspielungen auf die alten Sagen nichts anfangen konnten, war es für Clyde etwas schwierig, die Situation zu erklären.

„Das machen wir, wenn wir ein wenig mehr Zeit haben. Thorben müsste inzwischen ja wohl fertig sein. Wir können dann…“

„Nicht ganz.“

Clyde sah erstaunt zu Frank, der auf Dian und Dubh deutete.

„Wir müssen sie erst noch registrieren lassen. Da wir nicht mehr auf die FAIRYTALE gehen, machen wir das am besten bei Harold.“

So machte sich die ganze Truppe auf zum Kontor des Heuerbaas‘. Harold staunte nicht schlecht, als Clyde zusammen mit Dian und Dubh eintrat.

„Oh, Leutnant Cameron. So früh schon unterwegs heute?“

„Guten Morgen, Harold. Ja, und ich habe auch gleich Arbeit mitgebracht. Ich möchte diese beiden hier für die Scouts anheuern. Wir kommen einige Zeit nicht mehr zurück auf die FAIRYTALE, deswegen wollte ich sie hier registrieren lassen.“

Harold betrachtete Dian nickend. Auf Dubh blieb sein Blick etwas länger liegen.

„Bist du sicher? Als was denn?“

Clyde nickte grinsend.

„Dian hier nehmen wir als Arzthelfer und Dubh stellen wir einfach als Spurenleser ein. Im Dienstgrad Scout, würde ich sagen.“

Harold schüttelte den Kopf, dann grinste auch er.

„Ich bin ja nun schon etliche Jahre hier als Heuerbaas, einen Hund habe ich allerdings bis jetzt noch nicht angemustert. Aber geht klar. Ich benachrichtige die FAIRYTALE. Miles wird sich wundern. Braucht ihr sonst noch irgendjemanden? Percy Seymore war nämlich gestern auch schon hier und hat sich eine ganze Reihe von Kandidaten ausgesucht. Es scheint doch ein paar größere Veränderungen zu geben.“

„Nein, danke Harold. Bei uns ist erst mal alles geregelt. Schönen Tag noch.“

Harold winkte immer noch grinsend zum Abschied und Clyde dachte über die Bemerkung mit den größeren Veränderungen nach. Nun ja, wenn der Kutter tatsächlich komplett bemannt werden sollte, wären das fast fünfzig Mann, die nachbesetzt werden mussten. Zusammen mit den neuen Seesoldaten waren das über siebzig Personen. Doch dann erinnerte sich Clyde an das große Buch von Harold, in dem über 400 Bewerber verzeichnet gewesen waren.

Clyde trat wieder vor die Tür und beobachtete, wie der Rest seiner Gruppe sich um Dubh scharte. Der Hund bekam eine ganze Menge Aufmerksamkeit und auch einige Streicheleinheiten. Etwas irritiert sah Clyde auf, als Mario ihn anstieß.

„Was ist?“

„Wir brauchen gar nicht mehr so weit zu laufen.“

Clyde folgte dem Finger, mit dem Mario zur Pier wies. Dort sah er den Kutter direkt neben dem Büro des Heuerbaas‘ liegen. Also hatte Thorben es geschafft und sie waren einsatzklar.

„Na, dann mal alle an Bord.“


Der Kutter war schon unter vollen Segeln unterwegs nach Linderney, als Clyde endlich dazu kam, sich gründlich umzusehen. Der Mast trug nun wieder die beiden Rahen für die Toppsegel. Die sechs Kanonen auf jeder Seite waren nicht mehr abgedeckt und am Heck hatte Clyde von der Pier aus ein neues Namensschild gesehen. Der Kutter hieß jetzt ESTRAY. Wer auch immer auf diese Idee gekommen war, Clyde gefiel sie.

Thorben hatte mit großen Augen an der Stelling gestanden, als sie an Bord gekommen waren.

„Sag mir, dass das nicht wahr ist.“

„Sorry, aber wir haben ein paar neue Soldaten in meiner Gruppe und einer davon hat vier Pfoten.“

„Ich könnte ja jetzt eine Menge dazu sagen, aber um ehrlich zu sein, mir gefällt die Idee. Auf den meisten Handelsschiffen aus Isafjord ist ein Hund an Bord. Na ja, viele dieser Schiffe werden auch von ganzen Familien betrieben und da ist ein Schiff schon eher so etwas wie ein Zuhause. Da ist die ganze Familie an Bord und alles was dazu gehört. Ich nehme an, er gehört dem Herrn in Zivil.“

„Ja, das ist Dian McRuadh. Ich habe ihn für die Scouts als Arzthelfer angeheuert. Um die Uniform kümmern wir uns noch. Viel wichtiger ist unsere Unterkunft. Kriegen wir alle irgendwo zusammen unter?“

„Hm, Das wird allmählich etwas schwierig, aber du kannst dich mit dem Bootsmann beraten. Moment. Hey, Sven, alles fertig zum Ablegen?“

Als Sven klar zeigte, nickte Thorben Clyde kurz zu.

„Wir sprechen nachher weiter, wenn wir draußen sind.“

Nach dem Ablegemanöver suchte Clyde nach dem Bootsmann. Peter Jaden beaufsichtigte gerade einige Seeleute beim Aufschießen der Festmacheleinen.

„Guten Morgen, Peter.“

Der erst frisch ernannte Bootsmann blickte Clyde lächelnd entgegen. Er hatte damals – damals? Das war doch erst ein paar Wochen her – noch als Bootsmannsmaat in dem Boot gesessen, das Clyde von San Christofero zur FAIRYTALE gebracht hatte.

„Hallo, Clyde. Morgen ist gut. Wir sind schon seit der ersten Dämmerung bei der Arbeit. Was gibt’s?“

„Wir werden wahrscheinlich öfter hier auf der ESTRAY mitfahren. Hast du irgendwo an Bord einen Raum der groß genug ist, uns alle unterzubringen?“

Peter blies nachdenklich seine Backen auf.

„Oh, das wird schwierig. Wir haben 48 Mann Besatzung und das ist schon etwas eng. Ich werde mal mit Ragnar sprechen und dann sehen wir, ob irgendwo noch Platz ist.“

„Sehr schön. Vielen Dank.“

Peter wandte sich wieder seiner Arbeit zu und Clyde setzte seinen kleinen Rundgang fort.

Vor dem Mast hatte sich Sven auf einer Kiste niedergelassen und vor ihm waren die sieben Schiffsjungen der ESTRAY versammelt. Mitten zwischen ihnen hatte sich Dubh niedergelassen und schien, völlig ungerührt von zahlreichen Streicheleinheiten, ebenfalls Sven zuzuhören.

Zunächst hatten die Schiffsjungen sich nicht getraut, sich dem Hund zu nähern. Doch als Dian ihnen gesagt hatte, dass Dubh nicht beißt und auch mal gerne gestreichelt wird, konnte sich der arme Hund vor Streicheleinheiten kaum retten.

„So, die jungen Herren. Ein paar kurze Erklärungen zum Unterricht hier an Bord. Für eine Unterrichtsstunde ist die Überfahrt nach Linderney zu kurz, aber ich werde euch schon mal erklären, wie wir das hier an Bord handhaben werden. Im Moment haben wir nur Lehrer für Mathematik, Wetterkunde und Naturkunde. Deshalb werden das die Themen für die erste Zeit. Aber keine Angst, wir sind dabei, noch ein paar Lehrer für den weiteren Unterricht zu finden. Der Schwerpunkt liegt also zunächst auf der praktischen Ausbildung. Die machen der Bootsmann in Seemannschaft und der Stückmeister in Artillerie. Ihr seht also, da kommt keine Langeweile auf.“

Clyde drehte sich amüsiert zu Sven, der die nun scheinbar erleichterten Schiffsjungen vor sich versammelt hatte. Denn auf der FAIRYTALE bekamen sie Unterricht in weit mehr Themen. Ein großer Teil davon war, selbst für die Britannier unter ihnen, Lesen, Schreiben und auch korrektes Sprechen von Britannisch. Dann folgten Mathematik, Naturkunde, Wetterkunde und Geschichte.

„Außerdem gibt es eine Besonderheit hier an Bord. Wie ihr sicher bemerkt habt, gibt es sieben Schiffsjungen an Bord. Wir haben aber nur sechs Geschütze für jede Seite. Der siebte, und es steht noch nicht fest, wer das sein wird, wird Lieutenant Thorsson beim Signaldienst unterstützen. Dazu muss er sehr gut Lesen und schreiben können. Die Auswahl wird noch nicht sofort erfolgen. Wir wollen erst einmal sehen, wie jeder sich anstellt.“

Die Schiffsjungen sahen sich erstaunt und fragend an. So etwas war neu. Signaldienst! Mit den Flaggen arbeiten und immer wissen, was es Neues gab. Wer sich da nicht ganz blöd anstellte, wurde mit vierzehn bestimmt als Seekadett übernommen.

Sven hatte die Schiffsjungen nach seiner kleinen Ansprache bis zur Ankunft in Linderney erst einmal entlassen. Stöhnend kam er zu Clyde herüber.

„Du hast ja keine Ahnung, wie schwierig das ist. Mathematik und Naturkunde sind kein Problem. Das machen Thorben und ich. Ragnar macht Signaldienst und Wetterkunde. Aber Lesen und Schreiben ist da eine ganz andere Sache. Und von britannischer Geschichte hab‘ ich auch keine Ahnung, genauso wenig wie Thorben.“

„Da kenn‘ ich jemanden, der hält ganze Vorträge darüber.“

Clyde fuhr herum und sah in das grinsende Gesicht von Finn. Der zeigte nun auf Clyde.

„Er hat in Caerdon die halbe britannische Geschichte hergebetet und kennt auch noch den Stammbaum der Herrscher auswendig.“

Sven rieb sich freudig die Hände.

„Sieht so aus, als ob wir jemanden für Geschichte gefunden hätten. Würdest du das denn machen, wenn ihr hier an Bord seid? Dann würde nur noch jemand für Britannisch fehlen.“

Clyde nickte seufzend, sah sich dann suchend um. Er lächelte etwas schelmisch, als er zu Sven aufblickte.

„Ich habe da jemanden, der Fjördur, Arlemandi und Britannisch sprechen, lesen und schreiben kann. Denkst du, der wäre als Lehrer ausreichend?“

Sven folgte Clydes Blick zur Seite und er brummte erstaunt.

„Du meinst Eldar?“

„Du kennst ihn?“

Sven lachte.

„So, wie fast jeder Isafjorder in Tarray. Wer von uns war denn noch nicht im Langskip?“

Als Sven sich auf den Weg zu Eldar machte, fuhr Clyde herum zu Finn.

„Vielen Dank auch. Wegen dir muss ich mich jetzt damit plagen, die jungen Herrn mit der Geschichte eines Landes zu traktieren, das die wenigsten kennen.“

Finn grinste nur.

„Was heißt hier, die Wenigsten? Wie ich vorhin mitbekommen habe, ist nicht ein einziger von ihnen aus Britannica.“


Die Überfahrt nach Linderney dauerte nicht sehr lange. Nach einem klärenden Gespräch mit Eldar ging Sven auch wieder zu seiner Seekarte und die Einfahrt in den Hafen begann.

„Wie wollen wir das am einfachsten machen?“

Clyde hatte sich an Niccolo Partozzi gewandt, der mit einem leicht grünlichen Gesicht an Oberdeck stand, sich an die Wanten klammerte und sehnsüchtig dem Land entgegenblickte.

„Wir müssen uns bei der Wache in Linderney melden. Die muss den Lord-Lieutenant der Grafschaft benachrichtigen und dann können wir unsere Ermittlungen aufnehmen.“

Clyde verdrehte die Augen.

„Geht’s auch etwas schneller?“

„Was? Wie denn?“

„Na, indem wir zum Beispiel den Earl of Argyll persönlich besuchen.“

„Was!?“

„Nicht immer ‚was‘. Wir besuchen den Earl of Argyll. Ist übrigens ein Bruder meiner Stiefmutter, also der Herzogin von Lonlothian. Es sind keine zwanzig Meilen bis Inveraray. Das sollte gut zu schaffen sein.“

„Zwanzig Meilen? Wir haben noch nicht mal Pferde. Wie willst du da so schnell hinkommen?“

Clyde lächelte ein wenig als er bemerkte, dass Niccolo ihn unbewusst geduzt hatte.

„Das lass mal meine Sorge sein. Da drüben, das sieht schon aus wie die Hafeneinfahrt.“

Der Kutter fuhr in den Hafen, der von einer künstlichen Mole mit einem kleinen Leuchtturm darauf, nach Westen hin abgeschirmt war. Mit einem eleganten Bogen fuhr das kleine Schiff direkt auf die Pier zu und legte dort an. Obwohl Clyde nicht viel Ahnung von Seemannschaft hatte, bewunderte er doch das schwierige Manöver.

Auf der Pier hatten sich einige Neugierige versammelt. Unter ihnen auch ein wichtig aussehender älterer Mann in einer dunkelblauen Uniform. Als Clyde und Niccolo auf die Pier traten, kam er näher.

„Was soll das? Dies ist ein Hafen des Earls of Argyll. Hier kann nicht einfach jeder so anlegen, wie er will.“

Clyde betrachtete den Mann mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen. Was hatte der denn für einen Auftrag? Dann sah er hinüber zur ESTRAY, ob etwas nicht stimmte. Nein, alles in Ordnung. Am Heck wehte ordnungsgemäß die blaue Flagge der britannischen Freibeuter. Und oben im Topp wehte die Flagge der Grafschaft Scythe.

„Warum? Wir sind ein Schiff der Grafschaft Scythe, unterwegs in einem offiziellen Auftrag des Earls.“

„Ha, da könnte ja jeder kommen. Die Schiffe von Scythe kenne ich. Und dieses hier gehört nicht dazu.“

Niccolo starrte erstaunt auf den Mann und Clyde verdrehte die Augen. Dann bemerkte er einen weiteren, deutlich jüngeren Mann, ebenfalls in der gleichen dunkelblauen Uniform wie Mister Wichtig.

Der Jüngere versuchte, dem Älteren Zeichen zu machen, in dem er heftig mit den Armen wedelte.

„Was ist? Was soll das, Michael? Willst du fliegen wie ein Vogel?“

Michael schüttelte den Kopf und zeigte auf Clyde.

„Ich kenne ihn, Sir. Sie sollten…“

„Erzähl mir nicht, was ich sollte. Ich bin hier der Hafenmeister und ich bestimme, wer oder was hier anlegt. Und ich sage, die verschwinden. Es sind Freibeuter und keine Händler. Wer keine Geschäfte machen will, hat hier nichts verloren.“

„Aber es ist…“

„Halt die Klappe, Rotznase. Nur weil der Earl Mitleid hatte und dir diesen Posten hier gegeben hat, hast du immer noch keine Ahnung von unserem schwierigen Geschäft.“

Mit offenem Mund starrte Michael verblüfft seinen Vorgesetzten an und Clyde wollte gerade eingreifen, als eine weitere Stimme ertönte.

„Und ihr wohl auch nicht Master Williams. Dies hier ist ein offener Hafen. Jeder, der die Gebühren bezahlt, darf die Liegeplätze nutzen. Oder habt ihr ein Problem mit dem Earl of Scythe? Seit die Insel ihren neuen Besitzer hat, hat sich der Umschlag hier in Linderney mehr als verdoppelt. Das sollen keine Geschäfte sein? Oder gefällt euch die Besatzung nicht?“

Der Hafenmeister fuhr herum und erstarrte fast.

„Euer Lordschaft. Ich wusste nicht, dass ihr heute im Hafen seid.“

„Ja, das habe ich mitbekommen. Und ihr habt wahrscheinlich auch keine Ahnung, wer der junge Mann in dieser, zugegeben hässlichen, grünen Uniform ist.“

Irritiert sah der Hafenmeister hinüber zu Clyde. Sein junger Gehilfe grinste nun breit hinter seinem Rücken.

Clyde sah hinüber zu dem neu hinzugekommenen Gentleman, der neben den Hafenmeister getreten war. Der war etwa Mitte Zwanzig und in einen dunkelblauen Gehrock mit silbernen Applikationen gekleidet. Von seinen hellroten Haaren konnte man nur einen langen Pferdeschwanz erkennen, der Rest war unter einem sehr altmodischen Dreispitz verborgen. Clyde lächelte und hob eine Hand.

„Hallo Andrew. Lange nicht gesehen.“

Der Hafenmeister schnappte nach Luft, während Andrew ebenfalls lächelte und eine Hand hob.

„Hallo Clyde. Jedes Mal, wenn wir uns treffen, muss ich anscheinend deinen süßen kleinen Hintern retten.“

„Als ob du dich für meinen Hintern interessieren würdest. Du jagst doch eher allem hinterher, was einen Rock trägt. Aber warum bist du hier? Hast du Langeweile in Inveraray?“

„Beileibe nicht. Aber erstens sollte ich wohl besser eine Zeitlang von dort verschwinden um dem etwas aufgebrachten Vater meiner jüngsten Eroberung zu entgehen. Zweitens hat mein Vater gemeint, es wäre eine Aufsicht in Linderney nötig.“

Mit zusammengekniffenen Augenbrauen musterte er dabei den Hafenmeister. Der war der Unterhaltung mit offenem Mund gefolgt. Jetzt fühlte er sich anscheinend angesprochen.

„Aber euer Lordschaft. Es läuft doch alles…“

„Ich sehe, was hier alles läuft. Ihr kennt nicht einmal die wichtigsten Leute der Grafschaft, geschweige denn, die von ganz Lonlothian. Ihr wisst immer noch nicht, wer das ist? Michael, sag es ihm.“

Michael kam hinter seinem Vorgesetzten hervor und verbeugte sich kurz vor Clyde.

„Seine Lordschaft Clyde Cameron, vierter Sohn des Duke of Lonlothian.“

Das Gesicht des Hafenmeisters zeigte nun schieres Entsetzen. Er knickte an der Hüfte fast waagerecht ein.

„Euer… euer Lordschaft, ich hatte ja keine Ahnung…“

„Ja tatsächlich. Ihr habt absolut keine Ahnung.“ kam die Stimme von Andrew aus dem Hintergrund.

„Aber das werden wir gleich ändern. Ich erwarte euch im Hafenbüro, sobald ich mit unseren Gästen hier fertig bin. Ihr dürft euch schon mal dorthin begeben. Michael, du nicht. Geh an Bord und mach bitte die Abfertigung. Ich fürchte, der Hafenmeister ist noch etwas länger verhindert.“

Michael verbeugte sich leicht und ging mit freudig strahlendem Gesicht auf die ESTRAY.

Clyde kam nun endlich dazu, sich um Niccolo zu kümmern. Der hatte, ebenso wie der Hafenmeister, fast ungläubig dem Wortwechsel gelauscht, aber seine eigenen Schlüsse gezogen.

„Ein Sohn des Earls?“

flüsterte er Clyde zu. Der nickte.

„Ich möchte dich kurz vorstellen. Andrew, das ist Leutnant Niccolo Partozzi von den Scythe-Guards. Und dies ist Lord Andrew Argyll. Dritter Sohn des Earls of Argyll.“

Lord Andrew grinste breit, trat auf den verblüfften Niccolo zu und schüttelte ihm die Hand.

„Sehr erfreut. Aber sagt mal, was führt euch hier her? Und dann noch unter der Flagge der Freibeuter.“

Andrew deutete auf die blaue Flagge, während Clyde unbewusst nickte.

„Ein offizieller Auftrag.“

Mit kurzen Worten schilderte Clyde die Entführung und ihren Auftrag mit dem Haftbefehl.

„Dann ist keine Zeit zu verlieren. Schade, dass ich hier nicht weg kann. Aber ihr könnt die Pferde aus der Poststation nehmen. Wieviel Mann seid ihr?“

Clyde musste tatsächlich einen Moment überlegen.

„Äh, acht. Warum?“

„Weil ihr dann so ziemlich alle Pferde der Poststation geplündert habt. Aber die Strecke bis Inveraray ist ja nicht so lang. Es dürfte reichen, wenn sie einfach Ersatz schicken.“

Clyde bedankte sich bei Andrew und der zog in Richtung Hafenbüro, um ein eindringliches Gespräch mit dem Hafenmeister zu führen.

Inzwischen hatte auch Michael seine Arbeit an Bord beendet und Thorben schickte den Rest der Scythe-Scouts auf die Pier. Dort ließ Frank sie einmal antreten. Dian hatten sie tatsächlich mit einer Uniform versehen, obwohl die noch nicht so ganz passte. Auch schien er sich in der Reihe der Soldaten etwas unwohl zu fühlen.

Clyde sah an der Reihe entlang und schüttelte den Kopf.

„Es ist jetzt vielleicht nicht gerade der richtige Zeitpunkt, aber ich habe eine ganz bestimmte Vorstellung von unserer Einheit. Man nennt es nicht umsonst Einheit. Wir alle gehören dazu und müssen zusammenarbeiten. Zunächst einmal möchte ich an unsere Aufgabe als Scouts erinnern. Wir sollen Aufklären und Informationen beschaffen. Während einer militärischen Operation ist das zunächst Aufgabe unserer Karabinerschützen. Das werden Frank und Mario sein. Sie werden jeweils von einem weiteren Mann begleitet, der ihre Sicherung sein wird. Hier liegt der Sinn darin, zunächst eine lautlose Waffe zu benutzen, um keine große Aufmerksamkeit zu erregen. Finn hat einen Bogen und Arje eine Armbrust.“

Die Blicke der Scouts wandten sich erstaunt zu Arje, der etwas peinlich berührt zu Boden sah. Bis jetzt hatten ihn alle nur beim Karabinerschiessen erlebt.

„Von Eldar und Dian erwarte ich ebenfalls, dass sie sich direkt an einem Einsatz beteiligen. Eldar benötige ich, falls Informationen hereinkommen, die wir nicht sofort entziffern können. Ebenso wird er den Kontakt mit unserem Schiff oder unseren anderen Vorgesetzten aufrechterhalten.“

Eldar sah etwas überrascht aus, nickte aber sofort.

„Von Dian erwarte ich, dass er bei einem Einsatz jederzeit bereit ist, unseren Leuten zu helfen, egal wo sie sind und in welchem Zustand sie sich befinden. Genauso erwarte ich von den anderen, dass sie Dian und seine Arbeit respektieren. Das zahlt sich spätestens dann aus, wenn sie seine Hilfe benötigen.“

Alle nickten einmütig und Clyde holte einmal tief Luft für seine nächste Ankündigung.

„Da wir uns bereits mitten in einem Einsatz befinden, ist es leider notwendig, die einzelnen Paarungen so schnell wie möglich festzulegen. Die Aufklärer haben jetzt die Gelegenheit, sich einen Partner für den Einsatz zu suchen, sonst teile ich einen ab. Wie gesagt, für den Einsatz. Was ihr privat macht, ist etwas anderes.“

Es dauerte nur einen kurzen Moment, da hatten sich drei Paare gebildet. Entgegen Clydes Vermutungen hatte sich Finn mit Mario und Frank mit Arje zusammengetan. Dian lächelte etwas schüchtern zu Eldar hoch, der ihm die dunkelroten Haare verwuschelte.

„Ihr beide habt zwar andere Aufgaben. Das heißt aber nicht, dass ihr nicht auch bewaffnet sein könnt oder dürft.“

Eldar nickte stumm, während Dian nachdenklich zu Boden blickte. Clyde sah die beiden noch einmal nachdrücklich an.

„Überlegt euch, welche Waffe oder Waffen für euren Einsatz praktisch oder notwendig wären. Stört euch nicht daran, wenn ihr damit nicht umgehen könnt. Finn wird euch das Nötige beibringen.“

Finn sah mit erhobenen Augenbrauen zu Clyde und vermutete, dass dies die heimliche Rache für den Geschichtsunterricht war. Doch die Wahl war wohl auch auf ihn gefallen, weil er als Einziger eine umfangreiche Waffenausbildung hatte.

„Dann los. Auf geht’s. Wir marschieren hinüber zur Poststation, wo wir unsere Pferde bekommen.“

Arje bekam plötzlich einen etwas hektischen Gesichtsausdruck.

„Pferde? Etwa zum Reiten?“

„Wozu denn sonst? Willst du sie essen?“

„Nein, nein. Aber ich habe in einer Stadt gewohnt. Bei uns war es nicht notwendig zu reiten.“

Clyde überlegte einen Moment. Dann erinnerte er sich, wie er reiten gelernt hatte.

„Das werden wir gleich sehen, wie wir das am besten machen. Aber ich fürchte, es gibt keine andere Lösung, als dich einfach auf ein Pferd zu setzen und aufzupassen, dass du nicht runterfällst.“

Tatsächlich war Arje nichts anderes übriggeblieben, als sich auf ein Pferd helfen zu lassen und zu hoffen, dass er auch oben bleiben würde. Frank half ihm, so gut es ging. Nach einigen Meilen hatte sich Arje an die ungewohnten Bewegungen angepasst, lediglich einige Muskeln fingen wegen der ungewohnten Beanspruchung an zu schmerzen.

Für die fast zwanzig Meilen bis nach Inveraray brauchten sie knapp fünf Stunden. Einschließlich dreier längerer Pausen, besonders für Arje.

An der Poststation in Inveraray wurden sie bereits erwartet. Zu ihrer Überraschung stand Michael, der Gehilfe des Hafenmeisters aus Linderney dort.

„Michael? Was machst du denn hier? Und wie bist du hergekommen?“

Der Junge grinste leicht.

„Lord Andrew hat mich mit einer Nachricht zum Schloss geschickt. Ich bin gleich los, noch bevor ihr in Linderney an der Poststation wart. Der Earl hat angeordnet, dass ihr in der Schlossküche etwas zu essen bekommt. Danach stehen euch die Bäder zur Verfügung. Er möchte euch, Lord Clyde, und euren Begleiter von den Guards allerdings sofort nach dem Essen sehen.“

Clyde sah nicht besonders glücklich aus.

„Wir müssen sehen, dass wir weiterkommen.“

„Keine Sorge. Der Earl ist bereits dabei, Erkundigungen einzuziehen. Soviel ich mitbekommen habe, hat er bereits Boten an die Poststationen an der königlichen Fernstraße ausgesandt, um zu erfahren, wohin sich die Gesuchten gewandt haben.“

Niccolo sah Clyde erstaunt an.

„Das ist sehr großzügig. Wir sparen eine Menge Zeit damit.“

Clyde nickte.

„Ja, er war schon immer mein Lieblingsonkel. Dann lasst uns gleich los. Michael, ich nehme an, du sollst bei uns bleiben?“

„Jawohl, Lord Clyde. Ich werde euch, wenn nötig, bis an die Grenze unserer Grafschaft begleiten.“

„Wenn das so ist, dann gewöhn dir den Lord gleich mal ab. Das kannst du machen, wenn der Earl anwesend ist, aber nicht hier unter uns. Wobei – warum hat Andrew ausgerechnet dich ausgesucht? Solltest du nicht am Hafen sein?“

Michael lächelte verschmitzt.

„Der Hafenmeister muss eine Weile ohne Gehilfen auskommen. Lord Andrew hat ihn dazu verdonnert, die Abfertigungen in den nächsten Tagen alleine durchzuführen.“

Clyde schüttelte lediglich den Kopf. Michael sah hinüber zum Schloss, dass etwas abseits des Ortes auf einem kleinen Hügel thronte.

„Wir sollten los, Lord… äh, ich meine, Clyde. Die Küche hat schon alles vorbereitet.“

Sie wurden zweifellos erwartet, denn einer der Speiseräume neben der Küche war für acht Personen eingedeckt worden. Dort wartete auch eine kleine Überraschung auf Clyde. Die korpulente ältere Frau mit der weißen Schürze strahlte ihn an.

„Lord Clyde. Schön, euch einmal Wiederzusehen.“

„Martha! Immer noch hier! Ich freue mich genauso, dich wiederzusehen.“

„Leute, das ist Martha, die Chefköchin von Argyll House. Sie ist hier, seit ich mich erinnern kann. Doch jedes Mal erzählt sie mir, dass sie zurück will in ihre Heimat, nach Arlemande.“

„Oh, Lord Clyde. Das will ich auch. Doch es ist immer noch schrecklich dort. Das Land hat sich immer noch nicht von diesem abscheulichen Krieg erholt und so warte ich noch ein wenig, während ich den Unwissenden hier die Geheimnisse der Küche von Arlemande nahebringe.“

Frank drehte sich mit einem leichten Grinsen zu Clyde.

„Mit den Köchinnen hast du es aber. Kennst du in jeder Burg in Lonlothian die Küche?“

Clyde warf Frank einen finsteren Blick zu, lächelte aber dabei.

„Zumindest bin ich noch nirgends verhungert.“

Dann drehte er sich wieder zurück.

„So, Martha, was dürfen wir denn erwarten?“

„Eine kleine Seltenheit. Ich konnte den Earl davon überzeugen, dass hier Pataten angebaut werden. In Arlemande sind sie schon seit Jahren beliebt, denn sie brauchen keinen besonderen Boden und sie wachsen gut auf den verwüsteten Feldern.“

Franks Augen begannen plötzlich zu strahlen, ebenso wie die von Arje. Der Rest schielte etwas misstrauisch zum Tisch.

„Gebratene Hammelkeule, Schweineschinken oder Chicken-Pie. Gekochte Pataten, Erbsenbrei und Buchweizengrütze. Und zum Abschluss nachher eine kleine Überraschung.“

Die jungen Herren ließen sich nicht zweimal bitten. Kurze Zeit später war ein geschäftiges Schweigen über den großen Tisch gefallen, nur unterbrochen von Kaugeräuschen und gelegentlichem leisen Schmatzen. Die Pataten fanden guten Zuspruch, lediglich Mario schien ihnen nicht viel abgewinnen zu können.

Zum Abschluss gab es dann die angekündigte Überraschung. Alle starrten verblüfft auf die kleinen Schalen, die vor ihnen abgestellt wurden. Doch jetzt stieß Mario einen begeisterten Schrei aus.

„Eis!“

Alle Köpfe drehten sich zu ihm. Es gab etliche hochgezogenen Augenbrauen und Martha lachte.

„Da kennt sich jemand aus. Ja, das ist Eis. Eigentlich Gefrorenes aus Milch und Sahne. Hier bei euch habe ich ein wenig Erdbeermus hinzugefügt. Probiert einfach.“

Von Probieren war bei Mario nicht die Rede. Er löffelte bereits wie ein Wilder. Auch die anderen schienen nach erstem Zögern Gefallen daran zu finden.

Michael sah bedauernd auf das leere Schälchen herab, das Martha ihm noch vor wenigen Augenblicken bis zum Rand gefüllt in die Hand gedrückt hatte. So etwas Gutes hatte er noch nie gegessen. Doch jetzt war es Zeit für die nächsten Schritte.

„Ah, Clyde. Der Earl wartet. Wenn ihr, mpf, wenn du mir mit… ah, Niccolo bitte folgen willst. Der Rest deiner Truppe wird zu den Bädern begleitet.“

Clyde nickte und bedeutete Niccolo, ihm zu folgen. Sie wurden von Michael durch einige Gänge und über ein paar Treppen geführt, bis sie vor einem kleinen Salon ankamen. Clyde erkannte den Teil des Schlosses als Privaträume des Earls. Michael klopfte kurz und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Leutnant Cameron und Leutnant Partozzi, Euer Lordschaft.“

„Danke, Michael. Du kannst schon einmal runtergehen. Ich denke, Clyde kennt sich genug aus, um euch wiederzufinden.“

Michael drehte sich um und ging mit einem kurzen Winken an Clyde und Niccolo vorbei. Dann wandten sich die beiden zum Earl of Argyll.


Das Gespräch mit Niccolo dauerte nicht lange. Der Earl war bereits über den Haftbefehl informiert und hatte, so wie Michael bereits berichtet hatte, etliche Boten losgeschickt um Informationen zu sammeln. Sie mussten nun eben warten, bis die Boten zurückkamen und sehen, was sie erfahren hatten.

Niccolo wurde ebenfalls entlassen und Clyde verbrachte noch einige Zeit mit dem Earl, um über ihre Familien zu sprechen. Besonders war der Earl natürlich an Clydes letzten Abenteuern interessiert, denn auch bis hier waren schon die wildesten Gerüchte gedrungen.

„Wie dem auch sei. So lange wir keine Nachrichten erhalten, könnt ihr erst einmal bleiben. Ich würde vorschlagen, du gehst jetzt auch erst einmal hinunter. Ich hoffe, ich werde nicht allzu persönlich, aber ich kenne natürlich den Hintergrund, den viele der Bürger von Scythe haben. Ich habe mit Michael darüber gesprochen und er hat den Vorschlag gemacht, euch alle zusammen in der großen Scheune unterzubringen.“

Clyde stimmte sofort zu, dann fiel ihm noch etwas ein.

„Ich hätte da noch eine Frage. Sie betrifft Michael und seine, sagen wir, anscheinend etwas besondere Beziehung zum Haus. Er wird ziemlich familiär behandelt, wenn ich das so sagen darf.“

„Du hast eine gute Beobachtungsgabe und ich kann mir vorstellen, was du fragen willst. Es ist nicht offiziell bekannt und ich möchte auch nicht, dass du es herumerzählst, verstanden?“

Clyde nickte.

„Gut. Michael ist der Sohn von meiner nichtsnutzigen Schwester Amelia. Ich nehme an, deine Stiefmutter hat ihren Namen nie erwähnt.“

Clyde schüttelte erstaunt den Kopf.

„Kein Wunder. Sie war auch etwas schwierig. Aufsässig, vorlaut, unhöflich. Unser Vater hat das alles zunächst etwas großzügig übersehen, aber dann kam die Sache mit dem Kind. Sie hat uns nie verraten, wer der Vater ist und dann ist sie bei der Geburt gestorben. Unsere Mutter hat sich geweigert, das Kind ins Schloss zu nehmen und meine Frau Helen ebenso.“

Clyde konnte sich dunkel an die Gräfin, die Mutter des jetzigen Grafen, erinnern. Eine herrische, ernsthafte und sehr tugendhafte Frau. Böse Gerüchte behaupteten, sie hätte sich selbst mit ihrer spitzen Zunge erstochen.

„Oh, könnte es sein, dass…“

Clyde fuhr mit einer Hand unbewusst hoch zu seinem Ohr.

„Wir wissen es nicht. Wie gesagt, sie hat nie etwas verlauten lassen und der Druide, der bei der Geburt dabei war, hat ebenfalls geschwiegen. Michael hat sich genauso wenig etwas anmerken lassen. Sollte sein Erbe erwacht sein, so denn da eines ist, hat er es bis jetzt verschwiegen.“

Clyde nickte nachdenklich.

„Aber ich habe dich jetzt schon über Gebühr aufgehalten. Sieh zu, dass du nach unten kommst, sonst wird das Wasser kalt.“

Clyde lachte und schritt dann beschwingt hinunter zu den Baderäumen. Die Bäder des Schlosses waren sprichwörtlich in der Gegend. Es gab ein Aquädukt aus den Bergen, das ausreichend Wasser mit genügend Druck lieferte, um das ganze Schloss mit etlichen innen liegenden Wandbrunnen zu versorgen und auch noch Wasser für die Bäder vorhielt. Das Wasser dafür floss in einen großen Tank, von dem aus mehrere Behälter gefüllt wurden, in denen das Wasser beheizt wurde.

So gab es unterhalb der Tanks große Badebecken mit Wasser in verschiedenen Temperaturen und daneben sogar ein Brausebad mit warmem Wasser von oben.

Clyde ging in einen der Umkleideräume, in dem sich schon etliche grüne Uniformen befanden. Dann reinigte er sich unter einer der Duschen und ging hinüber zu den Badebecken. Mitten im Schritt erstarrte er.

Das zentrale Becken mit dem warmen Wasser war fast gänzlich von seiner kleinen Truppe besetzt. Wer ihm als erster auffiel, war jedoch Michael. Der junge Mann saß auf dem Rand des Beckens. Sein Oberkörper war leicht zurückgelehnt und er stützte sich auf seine Ellenbogen ab. Was Clyde noch von seiner Anatomie erahnen konnte, verschwand gerade rhythmisch im Mund von Mario. Niccolo saß dicht daneben und konnte kaum seinen Blick von den beiden wenden.

Clyde sah verblüfft nach links. Frank und Arje hatten sich zu einem sehr ausgiebigen Kuss gefunden. Sie schienen alles um sich vergessen zu haben.

Mit einem Blick nach rechts bemerkte Clyde Finn, der flankiert von Eldar und Dian im Wasser saß. Sein völlig entrückter Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, was die beiden im Wasser mit ihm machten. Clyde sah ihnen einen Moment lang fasziniert zu. Seine eigene Erregung äußerte sich ziemlich plötzlich und fast schon schmerzhaft. Er zuckte leicht zusammen, als er eine Berührung an seiner linken Hand spürte.

Frank zog ihn langsam ins Wasser und dirigierte ihn auf die Sitzbank, die sich dicht unterhalb der Wasseroberfläche um das ganze Becken zog. Dort positionierte er ihn zwischen sich und Arje. Clyde schloss die Augen und ließ sich von den Händen auf seinem Körper entführen.

Seinen ersten Orgasmus erlebte Clyde fast wie in einem Traum. Er ließ sich einfach von dem Gefühl überrollen und genoss die Hände, die ihn weiterhin streichelten. Er wehrte sich auch nicht, als ihn jemand sanft mit dem Bauch zum Beckenrand drehte. Er spürte mehrere Hände auf seinem Rücken, die langsam tiefer glitten. Dann fühlte er, wie jemand in ihn eindrang. Ihm wurde mit einem Mal bewusst, dass es jeder der Anwesenden sein konnte. Genauso spürte er aber, dass es Frank war. Er hatte ihn weder gesehen, noch deutete sonst etwas darauf hin, er wusste es einfach. Kurz darauf verrieten die leisen Worte an seinem Ohr, dass es tatsächlich Frank war. Die Vereinigung war nicht geprägt von schnellen Sinnesreizen. Sie kam Clyde unendlich langsam und sinnlich vor. Der Höhepunkt war nicht ein Abschluss, sondern irgendwie ein Wunsch nach mehr. Danach wieder ein sanftes, entspanntes Dahindriften seines Geistes, das Clyde sich nicht erklären konnte. Doch er gab sich weiter mit geschlossenen Augen ganz diesem Gefühl hin.

Als er langsam seine Umgebung wieder wahrnahm, drehte er sich, um sich wieder auf die Bank zu setzen. Kurze Zeit später spürte er, wie sich jemand auf seine Oberschenkel setzte. Derjenige rutschte von dort aus höher und Clyde ahnte, was passieren sollte. Er öffnete die Augen und sah in das etwas angespannt lächelnde Gesicht von Arje.

„Du musst das nicht tun.“

flüsterte Clyde ihm zu, doch Arje schüttelte leicht den Kopf.

„Ich möchte es aber gerne.“

Dann ließ er sich auf Clyde sinken und beide stöhnten fast simultan auf.

Was geschieht hier gerade? Was ist das, dass mich, nein, dass uns zu solchen Taten führt? Ein Junge, den ich kaum kenne, lässt sich einfach von mir… oh, ihr Götter- wie sagt man das, ohne gleich zu klingen wie ein Gassenjunge. Lieben? Ist das Liebe? Oder ist das nur hemmungslose Begierde um sich… ja warum eigentlich? Fortpflanzen werden wir uns ja garantiert nicht. Ich spüre ihn, ich mag ihn. Da ist es wieder, dieses Band. Im Moment nur ein zarter Faden, aber deutlich erkennbar…

Clyde spürte unbewusst, dass er in jeden dieser Jungen, mit denen er so intim zusammen war, seine Gefühle investierte. Sein inneres Selbst. Es schien, als ob sich ihre Seelen verbinden würden. Mit diesem unsichtbaren Band, das sie vereinigte und dennoch nicht nur einen, sondern alle mit ihm zusammenbrachte. Er schloss wieder die Augen und in seinem Geist erschien dieser Kreis den er schon einmal gesehen hatte. Diesmal erkannte er, dass es kein richtiger Kreis, sondern ein Achteck war. Von dessen acht Eckpunkten waren nun sechs besetzt. Eine zarte Linie von der Mitte bis zu einem der Eckpunkte pulsierte im Rhythmus seines Herzschlages. Das musste Arje sein!

Clyde riss überrascht die Augen auf, als er die Berührungen von Zungen an beiden Brustwarzen spürte. Ein kurzer Blick nach links und rechts zeigte ihm die Gesichter von Finn und Dian. Clyde erschauerte von den neuen Gefühlen die ihn durchzuckten und bemerkte nach einem kurzen Rundblick überrascht, dass er von allen seinen Leuten umgeben war. Jeder von ihnen berührte Clyde irgendwo an seinem Körper. Sogar Niccolo und Michael standen neben ihm und jeder strich sanft mit einer Hand über seine Schultern.

Clyde verkrampfte sich und wusste, es würde nur noch einem Moment dauern, da überrollte ihn ein vollkommen anderes Gefühl. Seine Magie entfaltete sich in seinem Geist wie eine riesige Blüte. Ein Windhauch ließ die Blüte erzittern und Blütenstaub regnete nach allen Seiten. Parallel dazu sah Clyde durch seine geöffneten Augen, wie plötzlich eine helle Explosion von funkelnden Sternchen niederregnete. Gleichzeitig durchströmte ihn das Hochgefühl seines langsam aufgebauten Höhepunktes.

Die Wirkung beider Ereignisse war spektakulär. Jeden der Anwesenden, einschließlich Michael und Niccolo, der von dem funkelndem Staub getroffen wurde, durchzuckte das gleiche Gefühl wie Clyde. Sie erlebten einfach seinen Höhepunkt in ihrem Geist und wurden dadurch ebenfalls mitgerissen. Ein neunfacher Orgasmus war das Ergebnis, der Clyde erbeben ließ und dessen Rückkopplung er von jedem einzelnen spürte.

Elfenstaub! Glamour in seiner reinsten Form. Und ich habe ihm mit meinem Höhepunkt die Wirkung vorgegeben. Oh, nein! Das habe ich nicht gewollt. Was war das? Woher kommt auf einmal der Elfenstaub? Ist das nicht eigentlich Magie, die den Hohen Sidhe vorbehalten ist? Eigentlich hätte ich dazu gar nicht in der Lage sein dürfen!

Clyde hatte das merkwürdige Gefühl, er hätte während des kurzen Schauers von Elfenstaub in seinem Kopf leises Gelächter gehört.

Noch etwas anderes nahm Clyde schemenhaft wahr, das aber von dem immer noch andauernden Lustgefühl seines Höhepunktes überdeckt wurde, das erst ganz langsam nachließ.

Ringsherum gab es stöhnende Geräusche und auch erstaunte Ausrufe. Clyde sah in Arjes völlig entspanntes, lächelndes Gesicht und strich ihm sanft durch die goldblonden Locken. Der junge Mann ließ sich nach vorne fallen und legte seinen Kopf erschöpft auf Clydes Schulter.

Mario hingegen brachte die allgemeine Stimmung mal wieder auf den Punkt.

„Oh, Mann. Wie geil! Was war das denn?“

Clyde sah irritiert zu ihm hinüber, während sich die anderen langsam, fast zögernd, von ihm lösten. Es schien als, ob sie sich ungerne von ihm entfernen wollten.

„Was das war? Elfenstaub! Und ich weiß nicht einmal, wo der herkommt. Das ist alles so…“

Aufseufzend richtete er Arje wieder auf und gab ihm einen sanften Kuss, bis Arje sich langsam und vorsichtig von ihm erhob. Mario schüttelte den Kopf.

„Das hab‘ ich mir schon gedacht. Ich meine, wozu war das? Das war ja deutlich schlimmer als beim letzten Mal. Diesmal hat es wirklich alle betroffen, auch Niccolo und sogar Michael.“

Mario sah sich suchend um.

„Wo ist der überhaupt?“

Clyde schloss etwas müde seine Augen und antwortete ohne nachzudenken.

„Mit Frank unter der Dusche.“

Mario erstarrte und sah Clyde einen Moment an. Dann sah er sich um.

„Wo sind Eldar und Niccolo?“

„Was? Eldar liegt links neben mir und Niccolo ist in der Umkleide. Warum?“

Clyde hatte geantwortet, ohne die Augen zu öffnen.

„Überleg‘ mal, was du gerade gesagt hast.“

Clyde dachte einen Moment nach, dann schreckte er hoch und riss seine Augen auf.

„Verdammt, was soll das? Woher…“

Mario nickte wissend.

„Du solltest vielleicht jemanden fragen, der Ahnung davon hat. Nicht, dass du uns alle in Kröten verwandelst, wenn du das nächste Mal abspritzt.“

Clyde starrte Mario mit offenem Mund an. Dann schloss er ihn kommentarlos und begnügte sich mit ein paar tödlichen Blicken wegen der Wortwahl. Dennoch hatte Mario Recht. Vielleicht sollte er wirklich jemanden aufsuchen, der imstande war, ihm mit seiner Magie zu helfen. Er vermochte sich zwar nicht vorstellen, dass etwas Tragisches passieren konnte - aber immerhin.


Die Dämmerung war gerade hereingebrochen und die ganze Gruppe hatte auf dem Heuboden des großen Pferdestalls Platz gefunden. Zwei der jungen Herren hatten sich zusammen ein kleines Nest in das frische Heu gegraben, der Rest schlief einzeln.

Clyde hatte zum Abschluss des Tages noch einmal den Earl of Argyll aufgesucht. Zunächst wollte er natürlich wissen, ob es neue Informationen über die Entführer gab, doch der Earl musste ihn enttäuschen. Dann hatte Clyde eine besondere Bitte.

Es ging um eine Nachricht an den Heiligen Hain von Inveraray mit der Bitte, dass sie noch einen Druiden schicken möchten. Den Hain selbst zu betreten war für jeden verboten, der keine magische Ausbildung als Druide erhalten hatte. Die Druiden verließen ihn aber auf Wunsch zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Außerdem konnten sie von jedermann jederzeit angesprochen werden, wenn sie in der Gegend herumwanderten.

Schon eine knappe Stunde später wurde Clyde benachrichtigt, dass in einem der Salons des Schlosses seine Besucher aus dem Heiligen Hain warteten.

Es waren zwei Personen. Beide gekleidet in die langen weißen Gewänder der Druiden des nördlichen Britannica. Der ältere der beiden trug einen weißen, wallenden Bart und ebensolches Haupthaar. Der jüngere war wohl knapp um die Zwanzig und hatte volles, dunkles Haar, war aber erstaunlicher Weise glattrasiert.

Clyde hatte für diese Begegnung den Tarnzauber seiner Ohren aufgehoben. Die beiden würden ohnehin wissen, wer oder was er war.

„Seid gegrüßt, Kind beider Welten. Mein Name ist Firbolg und ich bin der Älteste des Heiligen Hains hier in Inveraray. Mein Begleiter ist Escart. Er ist noch in der Ausbildung und ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass ich ihn mitgebracht habe.“

Clyde überlegte einen Moment. Das Thema war für ihn schon peinlich genug, und der junge Mann trug nicht unbedingt dazu bei, dass es ihm leichter fallen würde, davon zu reden. Doch ihm blieb wohl keine andere Wahl.

„Seid gegrüßt, Ältester Firbolg und auch du, Escart. Mein Name ist Clyde Cameron und ich habe um diese Unterredung gebeten, weil ich seit Kurzem ein Problem mit meiner Magie habe.“

Der Älteste hob seine buschigen weißen Augenbrauen und sah seinen Begleiter bezeichnend an.

„Dann berichte einfach, worin dein Problem besteht und wir werden versuchen, eine Erklärung dafür zu finden.“

Aufseufzend begann Clyde zu erzählen. Zunächst von dem magischen Zirkel an Bord, dann von dem Vorkommnis in den Bädern. Nachdem Clyde geendet hatte, schwiegen die beiden Druiden noch eine Weile. Clyde wusste genug über ihre Eigenarten um sie nicht zu stören.

„Ihr seid ein Cynfelin. Ein Herr über Leben und Tod. Damit haben euch die Bewohner der Anderwelt eine schwierige Aufgabe gegeben. Ihr habt wahrscheinlich bis jetzt nur die Zauber benötigt, die den Tod bringen. Diejenigen, die Leben bringen sind aber genauso wichtig und auch genauso mächtig. Leben bringen, bedeutet aber auch, dass dort einige Formen von Fruchtbarkeitszaubern vorhanden sind.“

Fruchtbarkeitszauber? Aber ich bin doch…

„Euer Gesicht verrät euch. Mit dem Weg, den euch die Götter vorgezeichnet haben, werdet ihr höchst wahrscheinlich keine Kinder haben. Dennoch kann sich die Fruchtbarkeit in vielfältiger Weise offenbaren und verschiedene Wege gehen. Der eine ist offensichtlich. Auch wenn es nicht zu neuem Leben führt, werden eure Gefühle und die eurer Begleiter doch sehr körperlich ausgedrückt.“

Clyde erinnerte sich an die Szene in den Bädern und ein leichtes Rot stieg bis hinauf in seine Ohrspitzen. Seine Gedanken wurden durch ein intensives Flüstern unterbrochen. Escart redete eindringlich mit seinem Ältesten und der alte Mann nickte zögernd.

„Da ist noch etwas. Escart hat aufgezeigt, dass es möglicherweise eine Stelle gibt, an der sich Leben und Tod überschneiden. Nicht tatsächlich, sondern in euren Handlungen und Absichten. Die Gemeinschaft die ihr habt, ist so etwas wie eine Familie, eure Brüder, eure Kinder, aber auch eure Liebhaber. Ihr habt euch mit eurer Magie in gewisser Weise aneinander gebunden. Der Aspekt des Lebens. Und ihr als Gemeinschaft bringt zusammen durch eure Arbeit und eure Begabungen den Tod. Eine solche Interpretation ist sehr vage und auch sehr schwierig, denn sie nähert sich gefährlich dem Aspekt des „Großen Ganzen“, den wir auch als Willen der Götter kennen.“

Clyde atmete zischend ein.

„Betrachtet es als Geschenk, das es ja eigentlich auch ist. Ein Kind beider Welten vereint Leben und Tod. Und zieht mit seinen Gefährten durch das Land wie einst die Túatha oder die Helden von Erin.“

Clyde schüttelte unwillig den Kopf wegen eines solchen Vergleiches, doch der alte Mann schien überzeugt von dem, was er sagte.

„Ihr selbst habt die Stränge beschrieben, die euch binden und die auch zwischen euren Partnern verlaufen. Eure Magie des Lebens hält eure Gefährten zusammen und eure Magie des Todes befähigt euch zu euren Taten. Ihr dürft beides nicht unterdrücken und auch nicht vernachlässigen. Die Götter haben anscheinend noch viel mit euch vor.“

Clyde schüttelte fast unwillig den Kopf, doch dann erinnerte er sich an den kurzen Moment in den Bädern, der in ihm eine Frage aufgeworfen hatte.

„Ich möchte noch etwas anderes fragen, Ältester. Es betrifft Michael, den Sohn der Amelia.“

Er hatte absichtlich diese Formulierung der Abstammung gewählt, um den Druiden zu zeigen, dass er wusste, wer Michael war.

Der Älteste nickte schweigend und gab seinem Begleiter ein kurzes Zeichen, woraufhin dieser sich erhob und den Raum verließ.

„Du kennst seine Abstammung. Also hat der Earl es dir gesagt. Was ist deine Frage?“

„Ich habe ihn unten bei den Bädern im Moment des Glamours gesehen. Und er hatte die Ohren eines Sidhe. Weiß er es, oder hat es sich noch nicht offenbart?“

Der alte Mann lächelte einen kurzen Moment.

„Technisch gesehen sind das zwei Fragen. Aber ich werde sie dir beantworten. Ein Jahr nachdem du geboren wurdest, wurde ich hierher ins Schloss gerufen, denn Amelia, die Tochter des damaligen Earls sollte ihr Kind bekommen. Kaum war der Knabe auf der Welt öffnete sich die Tür zu ihrem Gemach und ein uns unbekannter junger Mann, der eindeutig dem Alten Volk angehörte, trat ein. Ohne sich um Amelia oder sonst wen zu kümmern, beugte er sich über den Neugeborenen und hüllte ihn in Glamour. Du sollst Michael heißen. Und ich gewähre dir die Gabe von Wasser und Erde. Dann verschwand der junge Mann genauso lautlos, wie er erschienen war.“

Clyde sah nachdenklich zu Boden. Wasser und Erde. Die wohl umfangreichste Gabe.

„Und was sein Wissen darüber betrifft? Er hat danach gefragt, als er etwa zehn war. Ich habe keine Ahnung, wie oder warum er darauf gekommen ist. Ich habe ihm nur erklärt, dass er seine Magie entdecken wird, sobald er zum Mann wird. Du weißt, dass der Zauber, der die Ohren verdeckt, irgendwann in diesem Alter von selbst erlischt. Er wird bei der Verleihung der Gabe über das Neugeborene gewirkt und verliert sich normalerweise mit der Erweckung der Magie. Ich habe Michael diesen Einfachen Zauber beigebracht und nehme an, er hat ihn auch verwendet. Doch niemals hat er seitdem mehr nach der Magie gefragt oder darüber gesprochen.“

Clyde dachte zurück. Seine Magie hatte sich mit dreizehn gezeigt. Er war nachts hochgeschreckt. Mit etwas Feuchtem auf dem Bauch und spitzen Ohren. Zum Glück hatten ihn die Druiden darauf vorbereitet und er konnte seine Ohren tatsächlich mit seiner neu gewonnenen Magie selbst verstecken. Michael hätte es eigentlich genauso gehen müssen, denn dass er seine Sexualität entdeckt hatte, war in den Bädern unübersehbar gewesen.

„Vielen Dank, Ältester. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles verstanden habe, was meine Magie betrifft, doch ich werde darüber nachdenken.“

Clyde sah etwas verblüfft zu, als der alte Mann sich erhob und ohne jeden weiteren Gruß den Salon verließ. Sie waren manchmal schon etwas eigenartig, diese Druiden.

Tief in Gedanken versunken ging Clyde wieder hinüber zum Stall und kletterte auf den Heuboden. Im Licht des Mondes erkannte er Finn, der sich unruhig herumwälzte. Clyde fiel ein, was er Finn nach dem Schießwettbewerb versprochen hatte. Leicht schüttelte er ihn wach und flüsterte mit ihm. Dann verzogen sie sich nach unten in die Futterkammer.


Am nächsten Morgen saßen alle ziemlich früh um den großen Tisch in der Küche. Clyde hatte sich neben Finn gesetzt und lächelte ihm zu. Finn wurde tatsächlich etwas rot und senkte den Kopf. Eigentlich unverständlich, nach der letzten Nacht. Clyde hatte es ruhig angehen wollen, doch Finn hatte andere Absichten. Seine Küsse waren stürmisch und dann drehte er sich zu Clydes Überraschung auf den Bauch.

„Bist du sicher? Ich weiß nicht, ob…“

Finn nickte heftig.

„Ich bin mir sehr sicher. Du kannst dich erinnern, was ich erzählt habe, als wir erwischt worden sind? Auch da war ich mir schon sicher, dass es das ist, was mir mit einem anderen Mann die meiste Erfüllung bringt.“

Finn lachte leise bei Clydes fragendem Gesichtsausdruck.

„Sieh es einfach mal so. Ich mag die Männer einfach. Wenn ich sie nehmen wollte wie eine Frau, hätte ich mir auch gleich eine Frau suchen können. Deshalb mag ich es auch, wenn sie mir etwas geben können, was eine Frau nicht kann.“

Finn drehte sich wieder zu Clyde, umarmte ihn und ließ seine großen Hände auf dessen Rücken herunterwandern.

„Aber immerhin. Manchmal finde ich auch ein gewisses Interesse an einem süßen kleinen Hintern.“

Clyde drehte seinen Kopf nach hinten und versuchte erfolglos, sein Hinterteil zu betrachten. Süßer kleiner Hintern? So etwas hatte noch keiner zu ihm gesagt. Nein – doch… Andrew hatte es gesagt, aber bei ihm war es mehr ein Scherz. Finn hingegen – Clyde grinste erwartungsvoll.

„Aber jetzt bin ich erst einmal dran.“

Seine Aufmerksamkeit galt nun Finns süßem, wenn auch nicht so kleinem Hinterteil.

Etwas unsicher sah sich Clyde suchend um. Er wollte Finn keine unnötigen Schmerzen bereiten und hier gab es wohl nichts, was sich dafür eignete. Dann fiel ihm etwas anderes ein. Er konzentrierte sich kurz und ein diffuses Leuchten umgab Finn. Clyde spürte, wie sich der ganze Körper unter ihm entspannte. Wenn er es richtig gemacht hatte, würde auch das Schmerzempfinden deutlich geringer sein. Und das war es dann auch.

Finn kuschelte sich an Clyde und driftete in einen Halbschlaf hinüber, während Clyde darüber nachdachte, was da schon wieder passiert war. Sicherlich, ihre körperliche Beziehung war unheimlich schön gewesen, doch da war noch etwas anderes. Das Band zwischen ihnen, das er schon vorher wahrgenommen hatte, schien dicker, fester geworden zu sein.

Die Beziehungen zueinander ähnelten tatsächlich Bändern, die als erste zarte Bande begannen und sich dann mit zunehmendem – was? Sex? – nein, eher mit zunehmendem Vertrauen festigten. Clyde seufzte leise und fragte sich, wie stark diese Bande werden konnten und ob sie jemals zerreißen würden. Ein solches Band zu verlieren würde für ihn wahrscheinlich äußerst schmerzhaft werden, und das nicht nur seelisch.

Clyde ließ seine Hände an Finns Körper hinabwandern und bewunderte den muskulösen Oberkörper mit dem blauen Muster, das in die Haut eingeätzt worden war. Wieder hatte er den Eindruck, dass dieser Körper so gar nicht zu dem unschuldigen Gesicht mit den rotblonden Haaren und dem kleinen Zopf passte.

Lächelnd registrierte Clyde, dass seine Berührungen Finn schon wieder erregt hatten. Mario schien recht damit zu haben, was Finns Fähigkeiten betraf. Clydes Hände wanderten tiefer und wurden ein wenig fordernder, so dass Finn nun wieder vollends wach war. Mit seinen blauen Augen sah er Clyde fragend an. Clyde spürte, wie Finns Erregung in seinen Händen leicht pulsierte und seufzte tief. Bei dieser Größe würde er wohl bei sich selbst den Zauber für Schmerzunterdrückung brauchen. Sanft drückte er Finn auf den Rücken und schwang sich dann über ihn.

„So, wie ihr beide ausseht, muss es gestern Nacht ja noch sehr schön gewesen sein.“

Fast alle am Tisch sahen hinüber zu Mario, der Finn direkt anblickte. Zur Überraschung der meisten hob Finn seinen Kopf und sah Mario durchdringend an.

„War es auch. Es war so, wie ich es mir vorgestellt habe. Außerdem hattest du Recht. Es geht ziemlich oft hintereinander.“

Mario sah Finn mit offenem Mund an, während einige leise lachten. Doch bevor noch mehr Kommentare kommen konnten, kam Michael in die Küche gestürmt.

„Wir haben sie! Wir haben zumindest eine Spur.“

Clyde ruckte hoch.

„Was? Wo?“

„Sie haben sich nach der königlichen Fernstraße erkundigt. Der Wirt von einem der Gasthäuser hier in Inveraray hat sie nach der Beschreibung wiedererkannt. Es sind aber drei Mann mit einem leichten Wagen.“

„Drei? Sie haben einen Komplizen mit einem Wagen hier gehabt. Sie waren also gut vorbereitet. Wo sind sie jetzt?“

„Keine Ahnung. Sie haben aber in der Gaststätte übernachtet. Anscheinend haben sie es nicht eilig. Als ob sie nicht glauben würden, dass sie verfolgt werden.“

„Oder sie sind kurz vor ihrem Ziel.“

Clyde überlegte einen Moment und stellte sich im Geiste das südliche Lonlothian vor.

„Die Fernstraße führt sowohl in süd-östliche als auch in nord-westliche Richtung. Nach Süden führt sie dicht an Glaschu vorbei, bis sie dann auf das Herzogtum Rheged trifft, das zum alten Königreich Anglia gehört. Von dort führt sie fast gerade nach Süden bis nach Caerdon und dann weiter an die Südküste von Britannica. Nach Norden geht es hoch in die Highlands und in einem großen Bogen nach Osten. Von Inbhir Nis aus könnten sie übersetzen auf die Kaledonischen Inseln oder sogar nach Isafjord. Sie können überall hinwollen.“

Finn hatte seine Augen geschlossen und stellte sich ebenfalls die Karte vor.

„Wenn sie an die Südküste wollten, hätten sie doch besser gleich ein Schiff von Linderney aus genommen. Die Fernstraße führt sie fast in gesamter Länge einmal durch Britannica. Das ist Schwachsinn.“

„Also ich würde mir einen Hafen suchen, der groß genug ist, um nicht aufzufallen. Hätten sie in Linderney ein Schiff genommen, hätte jeder sofort gewusst, wohin sie wollen. Welches ist der nächste größere Hafen?“

Alle blickten erstaunt zu Arje, der überrascht war, dass er plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.

„Was ist? In meiner Heimat hat man als Kaufmann so manchen Trick versuchen müssen, wollte man nicht der Obrigkeit von Herblonde oder Letrion zum Opfer fallen. Oder sogar den Überfällen der Isafjorder.“

Beim letzten Satz winkte er lächelnd Eldar zu. Michael hatte die Antwort auf Arjes Frage parat.

„Glaschu. Der letzte große Hafen vor der Grenze zu Rheged. Und auch der größte Hafen von ganz Lonlothian.“

Clyde nickte und überlegte, wie es weitergehen sollte. Sie mussten sich entscheiden, welchen Weg sie weiterverfolgen wollten. Entschieden sie sich für die falsche Richtung, würden sie eine Menge Zeit verlieren. Clyde überlegte kurz, dann haderte er mit seinem Schicksal. Anscheinend wurde er in letzter Zeit immer öfter mit der Notwendigkeit konfrontiert, Magie anzuwenden.

„Macht mal bitte Platz auf dem Tisch, Leute. Ich brauche eine freie Fläche.“

Mario sah misstrauisch zu Clyde herüber.

„Sag nicht, du willst wieder was zaubern. Sollen wir da nicht besser alle rausgehen?“

Clyde warf Mario einen vernichtenden Blick zu.

„Das ist harmlos. Erzähl mir lieber, wo hier Süden ist.“

Mario stutzte, dann ging er zum Fenster. Einen Moment später war er zurück und deutete auf das große offene Feuer.

„In etwa da. Wenn du es genauer wissen willst, müssen wir einen Kompass besorgen.“

„Nein, das reicht.“

Clyde nahm ein angesengtes Stück Holz aus den Flammen und begann auf dem Tisch mit einer groben Skizze. Es war ein Quadrat, dessen Ecken in jede der vier Himmelsrichtungen zeigte. Dann nahm Clyde aus seiner Hosentasche eine Münze und legte sie in die Mitte des Vierecks.

„Was soll das denn?“

„Die Münze hat mir Diethard geschenkt. Er selbst hat sie unter etwas merkwürdigen Umständen bekommen. Mal sehen, ob sie sich für den Zweck verwenden lässt, an den ich gedacht habe.“

Clyde konzentrierte sich wieder auf die Münze und ein leicht goldgelbes Leuchten umgab sie nun. Clyde nahm die Münze auf, setzte sie hochkant auf den Tisch und versetzte sie in eine schnelle Drehung. Die Münze rotierte und begann auf dem Tisch zu wandern. Präzise bewegte sich die Münze auf die Ecke des Vierecks zu, die nach Süden zeigte.

An ihrem Zielpunkt angekommen wurde die Rotation langsamer und die Münze kam nach einiger Zeit zum Liegen. Da erlosch auch das Leuchten. Clyde nickte erfreut.

„Süden also. Michael, ich brauche ein Verzeichnis der Raststationen entlang der Fernstraße von hier bis Glaschu. Dann möchte ich dich bitten, nach Linderney zurückzureiten und dem Captain der ESTRAY die Anweisung zu überbringen, er soll uns in Glaschu treffen. Wenn diese Entführer es wirklich vor uns dorthin schaffen sollten, werden wir ein Schiff brauchen.“

Michael nickte und verschwand eilig. Clyde erhob sich.

„So, Leute. Fertig machen zum Abmarsch. Wir wollen sehen, dass wir den Entführern so schnell wie möglich folgen.“

Finn entrang sich ein leises Stöhnen. Mario grinste.

„Tja, mein Lieber. Dein Hintern wird im Moment ganz schön beansprucht.“

Doch auch Clyde verzog ein wenig sein Gesicht angesichts des langen Rittes.


Michael war innerhalb sehr kurzer Zeit wieder zurück und drückte Clyde einen kleinen Zettel in die Hand.

„Was? Nur zwei Rasthäuser? Na gut, es ist ja auch nicht so weit bis Glaschu.“

Michael entfaltete eine kleine Karte.

„Hier. Die erste Station ist bei Clachan Dubh. Das ist fast zur Hälfte am Loch Lomond runter. Hier direkt südlich des Sees zweigt eine Fernstraße nach Nordosten ab. Da ist die zweite Station, in der Nähe von Balloch.“

Schwungvoll drückte Michael Clyde die Karte in die Hand und nach einem kurzen Rundblick gab er Clyde einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und verschwand.

Clyde sah ihm nachdenklich hinterher. Er würde später mit ihm sprechen. Draußen hatten sich inzwischen alle auf ihren Pferden eingefunden. Clyde bemerkte amüsiert, dass nicht nur Finn etwas unbequem im Sattel saß.

„So, Leute, wir können los. Die Strecken sind nicht so lang. Bis zur ersten Station können wir es bis zum Mittag schaffen.“

Sie schafften es tatsächlich und es gab ein reichhaltiges Mittagessen dort. Auch wenn der Wirt etwas merkwürdig auf ihre grünen Uniformen sah.

„Anscheinend sind wir etwas auffällig. Vielleicht sollten wir etwas anderes besorgen.“

Clyde sah mit zusammengezogenen Augenbrauen zu Mario.

„Warum?“

„Ich weiß nicht, wie das hier läuft, aber bei uns zuhause wäre die Anwesenheit von einer größeren Anzahl Soldaten schneller rum, als du reiten kannst.“

„Das könnte sein, aber wir haben nichts zum Wechseln. Und hier werden wir kaum so viele Sachen bekommen.“

„Ich könnte mich im Dorf umsehen. Dauert auch nicht lange.“

Clyde überlegte einen Moment.

„Wir machen es anders. Ich werde mich umziehen und dann die nächste Raststation alleine aufsuchen. Ihr wartet weit genug weg, so dass ihr nicht gleich wahrgenommen werdet.“

Bevor die ersten Proteste aufkamen, hob Clyde eine Hand.

„Keine Diskussionen. Ich habe genügend Möglichkeiten mich zu wehren, sollte es zu einem Kampf kommen. Ich will hauptsächlich herausfinden wo Diethard ist und was sie mit ihm gemacht haben. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass die Entführer ihn beim kleinsten Alarm umbringen.“

Alle nickten zustimmend und Mario erhob sich, wobei er Dian mit hochzog.

„Los, komm mit. Du kannst besser mit den Leuten reden. Ich verstehe das Einheimische hier nicht.“

Dian sah Mario verblüfft an.

„Wieso? Die sprechen alle Britannisch hier. Es sei denn… oh, du meinst die Alte Sprache. Na gut, dann mal los.“

Fast eine ganze Stunde später trafen Mario und Dian hoch bepackt wieder ein.

„Was ist das denn?“

„Ein Packsattel. Ihr werdet als Fernreisende mit nur einem Reitpferd nicht glaubhaft sein. Wir nehmen eines unserer Reitpferde und machen ein Packpferd draus. Da könnt ihr auch gleich eure sonstigen Sachen unterbringen.“

„Unsere Sachen? Habe ich was verpasst? Ich habe gesagt, ich gehe allein dort rein.“

„Hast du. Richtig. Ist aber eine denkbar schlechte Tarnung. Wie viele Alleinreisende sind auf der königlichen Fernstraße unterwegs? Fast gar keine. Wir hatten ein paar interessante Unterhaltungen im Dorf. Die Fernstraße ist auch heutzutage, trotz der Patrouillen, nicht besonders sicher.“

Clyde zog seine Augenbrauen zusammen.

„Aha. Und wer wird mein geschätzter Begleiter sein?“

Mario hatte das unwillige Gesicht bemerkt und drehte sich dramatisch im Kreis.

„Du kommst von Norden aus dem Hochland. Wie wahrscheinlich ist ein Begleiter aus Erin, geschweige denn vom Festland.“

Alle Köpfe drehten sich automatisch zu Dian. Clyde seufzte ergeben.

„Und dann haben wir auch noch das hier.“

Mario zog aus dem Wust von Kleidung einen länglichen Gegenstand hervor.

„Ein Säbel? Was soll ich denn damit?“

„Gehört auch zur Tarnung. Oder willst du mir erzählen, dass jemand auf der Fernstraße ohne Waffen unterwegs ist?“

Clyde verdrehte die Augen, dann fiel ihm etwas anderes ein.

„Die ganzen Sachen waren doch teuer. Woher hattet ihr das Geld?“

Mario machte ein beleidigtes Gesicht.

„Hast du vergessen, dass wir das Prisengeld bekommen haben? Ich hatte im Moment sowieso keine andere Verwendung dafür. Das Geld für die Klamotten und den Sattel hätte ich gerne wieder. Der Säbel ist ein Geschenk.“

Clyde sah Mario erstaunt an. Doch der hatte einen sehr entschlossenen Gesichtsausdruck. Ohne weitere Worte trat Clyde auf den kleinen Rotaner zu, umarmte und küsste ihn. Ein leichtes Schimmern erschien auf Marios Haut, seine Augen wurden plötzlich größer und er begann sich zu winden, um der Umarmung zu entkommen. Clyde entließ ihn und Mario schnappte nach Luft.

„War das ein Versprechen?“

„Mehr als das.“


Der Himmel hatte sich zugezogen und es sah nach einem Gewitter aus. Clyde blickte skeptisch nach oben. In dem jetzt spärlichen Licht war das Rasthaus von Balloch in einiger Entfernung zwischen den Bäumen gerade noch zu erkennen.

„Wir warten bis zum Beginn der Dämmerung. Dann gehen wir rüber und versuchen zu erkunden, ob die Entführer tatsächlich dort drin sind. Sollten sie dort sein, kommen wir sofort zurück und wir müssen einen Plan zur Befreiung von Diethard machen. Sollten sie noch nicht dort sein, nehmen wir ein Zimmer und warten. Sollten sie schon wieder weg sein, kommen wir ebenfalls so schnell wie möglich zurück. Wenn wir dableiben, achtet auf mögliche Lichtsignale. Hm, noch was vergessen?“

„Was machen wir, wenn sie euch schon erwarten?“

Clyde hob seine Augenbrauen und sah Eldar zweifelnd an.

„Dann ist eh alles zu spät. Wenn ihr Kampflärm hört, müsst ihr euch beeilen.“

„Gefällt mir immer noch nicht, aber du hast das Kommando.“

Clyde wollte noch etwas erwidern, wurde aber durch erste Regentropfen abgelenkt. So viel zu dem Plan, noch bis zur Dämmerung zu warten. Die anderen sahen ebenfalls hoch. Frank wechselte nur einen kurzen Blick mit Finn und beide nickten einmütig.

„Wir schlagen ein kleines Lager auf. Aus den Decken lässt sich ein Regenschutz machen. Für ein paar Stunden muss das reichen.“

Sie hatten kaum angefangen, als das Unwetter auch schon losbrach. Clyde gab Dian ein Zeichen und sie machten sich auf den Weg zum Gasthaus, bevor sie endgültig durchnässt waren. Clyde bedauerte die anderen, konnte aber leider nichts am Wetter ändern.

Clyde und Dian hatten sichtlich mit dem inzwischen schweren Sturm zu kämpfen, denn sie brauchten zwei Anläufe, um gemeinsam die Tür des Rasthauses wieder zu verschließen. Draußen war es fast schlagartig dunkel geworden. Windböen rüttelten an dem einsam stehenden Gebäude und der schwere Regen verwandelte sich langsam in Hagel. In dem kleinen Gastraum war nicht viel zu erkennen, denn die Fensterläden waren bereits geschlossen und ein Schankbursche schlurfte ohne viel Begeisterung zu einem der wenigen Leuchter, die von der Decke hingen. Bis auf den Burschen und einen älteren Mann hinter dem Tresen war der Raum leer.

Das ganze Rasthaus schien schon reichlich alt zu sein, denn es war deutlich kleiner und die Einrichtung erheblich abgenutzter als bei ihrer letzten Station in Clachan Dubh. Clyde hatte schon deutlich bessere Gasthäuser an der königlichen Fernstraße gesehen.

Dann spürte Clyde etwas, was ihn irritierte. Suchend blickte er umher.

Zu seiner linken befand sich ein offener Kamin in dem ein kleines, ja geradezu sehr kleines Feuer, den Windstößen trotzte, die den Abzug herabfuhren. Und dort, über dem Kamin war es, was er suchte. Ein selbstgemachtes Amulett aus einem Hufeisen, zwei gekreuzten Dolchen und einem schon fast vertrockneten Büschel Eisenkraut. Solche Amulette sollten gegen die Zauber der Sidhe schützen und waren zumeist vollkommen nutzlos. Dieses hier jedoch schien einen Teil zu enthalten, der wirklich verzaubert war, denn er konnte das leichte Ziehen spüren, das auf sein Glamour wirkte. Clyde vermutete, dass es einer der Dolche war, die beide schon ziemlich alt aussahen.

Clyde drehte sich zu Dian um, der sich unsicher umsah und dessen Blick nun ebenfalls auf dem Amulett hängenblieb. Clyde stutzte. Konnte Dian etwa die Magie spüren? Der Angelegenheit würde er später nachgehen müssen.

Clyde seufzte und sah sich weiter um. Gegenüber dem Eingang stand ein improvisierter Tresen aus drei Fässern und zwei Holzbohlen. Dahinter eine Tür und neben dieser ein Treppenaufgang. Scheinbar wahllos im Raum verteilt standen ein halbes Dutzend grobe Holztische, teilweise mit einfachen Stühlen, teilweise mit harten Bänken.

Der Wirt hinter dem Tresen taxierte die beiden Reisenden mit geübtem Auge. Zwei junge Männer mit einem Umhang mit Kapuze, den sie als Regenschutz benutzt hatten und nun vorsichtig ablegten. Darunter kam solide Reisekleidung zu Tage, etwas abgenutzt, aber nicht schäbig. Dazu feste Lederstiefel und bei einem deutlich sichtbar ein Säbel.

„Willkommen im ‚Schwert des Königs‘, edle Herren. Ich hoffe, ihr seid nicht allzu sehr vom Wetter mitgenommen worden.“

„Ja, ja. Schon gut. Eigentlich wollten wir noch weiter, doch bei diesem Wetter bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Gastfreundschaft der königlichen Fernstraße.“

Der Wirt rieb sich die Hände. Wenn es nach ihm ginge, könnte öfter solch schlechtes Wetter hereinbrechen.

„Ihr habt Satteltaschen bei euch, dann darf ich annehmen, ihr habt eure Pferde rechtzeitig im Stall unterbringen können.“

„Ja. Es sind drei Pferde. Wieviel wird eine Übernachtung für uns und die Tiere kosten?“

„Drei Pferde. Da muss ich für jedes einen Shilling berechnen. So ist das heutzutage, die Preise sind gestiegen, obwohl wir sonst vom Krieg ja kaum etwas mitbekommen, den Göttern sei Dank. Hier unten ist ein großer Schlafraum, kostet nur zwei Shilling pro Person. Doch wenn ihr ruhiger schlafen wollt, habe ich auch oben noch Zimmer. Die kosten dann aber fünf Shilling die Nacht. Haben dafür ein großes Bett, das reicht auch für zwei.“

Clyde schüttelte unwillkürlich den Kopf, so dass aus seinen nassen Stirnhaaren kleine Tropfen herumspritzten.

„Fünf Shilling für eine Nacht? Das sind ja Preise wie in der Hauptstadt!“

Der Wirt machte eine unbestimmte Geste und faltete dann die Hände vor seinem runden Bäuchlein mit der nicht mehr so ganz weißen Schürze.

„Aber edler Herr. Hier an der königlichen Fernstraße kehren fast nur Durchreisende ein. Die Gäste sind nicht so zahlreich wie in den Tavernen der Dörfer oder gar der Städte. Ich muss auch sehen, wie ich meine Familie ernähre.“

Seinem Umfang nach zu urteilen, ernährte er sich ganz gut.

„Schon gut. Es ist ja noch nicht so spät. Ob wir hier über Nacht bleiben, hängt davon ab, ob die Leute noch erscheinen, die ich hier treffen will. Sie sollten eigentlich bereits hier sein. Drei Männer, mit einem leichten Wagen.“

„Oh, diese drei. Nun ja. Sahen nicht gerade sehr vertrauenerweckend aus. Ja, die waren hier. Haben für den großen Schlafraum gezahlt, sind dann aber noch einmal los. Sagten, sie wollten noch etwas erledigen und kämen sehr spät wieder.“

Clyde überlegte. Sehr spät konnte alles Mögliche heißen. Doch dann zuckte er mit den Schultern. Er musste einfach bei seiner Geschichte bleiben und so handeln, wie es von ihm erwartet wurde. Ein kurzer Blick zu Dian und der deutete nach oben.

„Wenn das so ist, nehmen wir das Zimmer oben.“

Der Wirt nickte erfreut.

„Sehr schön. Wir möchten das Zimmer sehen und dann etwas zu essen haben. Was habt Ihr heute zu bieten?“

„Oh, gar kein Problem. Es gibt einen Eintopf mit frischem Brot oder kalten Braten. Die Suppe kostet fünf Pennies, das Fleisch sechs. Ein Humpen Bier zum Essen ist frei, jeder weitere kostet zwei Pennies.“

„Na, wir werden uns wohl nachher entscheiden. Erst einmal möchte ich das Zimmer sehen.“

Ohne zu zögern griff Clyde zu seiner Geldbörse und zählte dem Wirt acht Silbermünzen auf den Tresen. Erfreut griff der Wirt danach und ließ sie geschwind in seinem Geldbeutel verschwinden.

„Sehr gerne, mein Herr. Lucian! Zeig den Herren oben die Zimmer. Sie können sich eines aussuchen.“

Der Schankbursche, der es tatsächlich geschafft hatte, alle vier kleinen Leuchter anzuzünden, schlurfte nun ebenso desinteressiert heran und machte sich auf den Weg zur Treppe.

„Folgt ihm einfach, Herr. Er ist ein wenig schweigsam, aber er tut, was man ihm sagt.“

Ohne große Hast nahmen die beiden Besucher ihre Sachen auf und hatten den Jungen auf halber Höhe der Treppe wieder eingeholt. Die Treppe führte auf einen kleinen Korridor mit drei Türen. Jeweils eine links und rechts, die dritte geradeaus am Ende.

Immer noch schweigend öffnete der Junge alle drei Türen und blieb dann einfach auf dem Korridor stehen. Clyde und Dian sahen kurz in die Räume hinein und entschieden sich einmütig für das Zimmer am Ende des Korridors. Es war etwas größer als die beiden anderen und hatte ein Fenster, das auf das Dach des angrenzenden Stalls führte. Es gab zwar keinen Grund zur Beunruhigung, doch man sollte auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Ohne ein Wort drückte Clyde dem Schankjungen einen Halfpennie in die Hand, was den Jungen zu einer ersten Reaktion veranlasste. Verblüfft starrte er auf die Münze, dann auf Clyde.

„Danke, Herr.“

Dann verschloss sich das Gesicht des Jungen wieder und er schlurfte langsam die Treppe hinunter.

Clyde sah sich in seinem neuen Domizil um. Hoffentlich war das Unwetter morgen früh wieder vorbei. Er bedauerte noch einmal den Rest seiner Truppe, der bei diesem Wetter draußen campieren musste.

Wie als Antwort auf seine Gedanken erhellte ein Blitz den kleinen Raum und kurz danach folgte auch der Donner. Clyde seufzte ergeben und legte die Satteltaschen auf dem kleinen Tisch ab.

Ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und eine große Truhe waren das einzige Mobiliar. Neben der Truhe stand noch ein Eisengestell mit einer Waschschüssel und einem Krug mit Wasser.

Die feuchten Umhänge breiteten sie zunächst einmal auf den Stühlen aus. Dann suchten sie aus den Satteltaschen die wenige Kleidung hervor, die sie zum Wechseln mitgenommen hatten.

Clyde sah sich um, nahm die kleine Laterne vom Tisch und stellte sie auf das Fensterbrett. Dort entzündete er sie und deckte dann das Licht zum Fenster hin ein paar Mal ab. Mal sehen, ob sie es bemerkt hatten.

Nur wenige Minuten später klopfte es leicht am Fenster. Als Clyde öffnete, sah er das feuchte Gesicht von Mario.

„Was gibt’s?“

Clyde grinste. Keine großen Fragen, keine Erklärungen. Clyde erklärte die Lage und auch den Zeitplan. Sollte jemand erscheinen, würde die Truppe erst einmal verborgen bleiben, bis sie ein weiteres Zeichen bekamen oder Kampflärm hörten.

Mario nickte nur und verschwand so lautlos wie er erschienen war. Clyde schloss das Fenster und überlegte, was als nächstes dran war. Er musste auf jeden Fall aus der nassen Jacke und dem Hemd raus. Ohne darüber nachzudenken streifte Clyde alle seine Sachen ab und ging hinüber zur Waschschüssel. Als er sich Wasser eingoss bemerkte er Dian, der ihn mit großen Augen beobachtete.

„Dauert nicht lange. Ich will mich nur kurz Waschen und dann umziehen. Ich mag es gerne trocken und warm.“

Dian beobachtete, wie Clyde mit dem Wasser und dem Lappen hantierte, bis er durch dessen Stimme etwas aufgeschreckt wurde.

„Gibst du mir bitte die Seife?“

Dian reichte Clyde die Seife und räusperte sich dann.

„Soll ich dir beim Waschen helfen.“

Clyde sah Dian überrascht an, dann wurde ihm klar, dass er es genauso gemeint hatte, wie er es gesagt hatte.

„Oh. Ja, gerne. Das ist ganz angenehm. An den Rücken komme ich nicht von alleine.“

Dian machte sich an die Arbeit und begann an Clydes Schultern. Systematisch arbeitete er sich den Rücken hinunter, bis er an Clydes Hinterteil angekommen war. Hier wurden seine Bewegungen langsamer und auch nicht mehr so entschlossen.

Plötzlich beendete Dian seine Arbeit und griff nach dem Handtuch. Intensiv rubbelte er Clydes Rücken trocken und arbeitete sich auch hier bis ganz nach unten vor. Langsam drehte Clyde sich um und sah nach unten. Dort starrte Dian fast entsetzt auf das, was ihn in Augenhöhe fast ansprang. Laut schnappte er nach Luft.

Clyde schüttelte seinen Kopf und zog Dian nach oben. Der war noch immer ganz in Gedanken. Irgendwie hatte er den Erzählungen von Arje nicht so ganz glauben wollen.

„So, jetzt bist du dran.“

Clyde griff nach Dian und begann dessen Hemd zu öffnen. Kommentarlos ließ dieser es geschehen und sagte auch nichts, als Clyde das Hemd abstreifte. Als Clyde zu dem Gürtel seiner Hose griff, legte Dian eine Hand auf seine. Clyde stellte seine Bemühungen sofort ein.

„Was ist? Möchtest du das nicht?“

Dian schüttelte den Kopf, doch dann seufzte er.

„Doch, schon. Aber… aber ich habe nicht.... Also meiner ist nicht grade sehr groß und da…“

Clyde fasste Dian nun an den Schultern und zog ihn an sich.

„Hat das irgendjemand verlangt? Gibt es einen Wettbewerb?“

Stumm schüttelte Dian seinen Kopf.

„Es kommt nicht auf die Länge an. Das ist manchmal sogar etwas unangenehm. Es ist die Schönheit. Und zwar deine. Dein gesamtes Bild, dein Körper und dein Geist bestimmen, wer du bist und wie dich jemand sieht. Und ich finde dich sehr hübsch.“

Clyde schob Dian wieder etwas von sich und sah ihm in die Augen. Dann näherten sich die beiden zu einem scheuen Kuss. Dian lächelte unsicher und Clyde fuhr ihm spielerisch über die Nase.

„Wir sind hier noch nicht fertig.“

Dian war erstaunt, doch diesmal hinderte er Clyde nicht, als dieser seinen Gürtel öffnete und die Hose abstreifte. Dann griff Clyde zu Lappen und Seife und Dian wurde genauso gesäubert wie er zuvor Clyde gereinigt hatte.

Clyde musste nur feststellen, dass Dian sehr empfindlich war. Sobald er mit dem Waschlappen auch nur in die Nähe seines Hinterteils kam, oder auf der Vorderseite südlich des Bauchnabels, fing Dian bereits an zu zittern. Clyde lächelte und bemühte sich, vorsichtig zu sein. Nach dem er Dian abgetrocknet hatte, gab es einen kurzen Klaps auf sein Hinterteil.

„So, fertig. Lass uns erst Mal runtergehen und was essen.“

Clyde musste unwillkürlich lachen, als Dian einen Gesichtsausdruck zeigte, der sowohl Erleichterung als auch Enttäuschung beinhaltete.


Schweigend brachte ihnen der Schankbursche das Essen. Clyde und auch Dian hatten sich für den Eintopf und das Brot entschieden und es war keine schlechte Wahl. Das Brot war tatsächlich frisch und der Eintopf mit einigen heimischen Kräutern gewürzt worden. Selbst Dian nickte nach einem misstrauischen Blick in den Topf. Nur der Wirt hatte missbilligend gegrunzt, als die beiden jungen Männer statt eines Kruges mit Bier lediglich einen Becher mit frischem Wasser bestellt hatten.

Clyde und Dian aßen schweigend. Es gab auch nicht viel zu sagen, denn der Gastraum war noch immer leer. Nachdem sie gegessen hatten, legte Clyde einen Shilling und einen Penny auf den Tisch und stand auf. Wenn der Junge schlau war, würde er nur den Shilling abliefern.

Das Zimmer war zwar spärlich möbliert, doch das Bett war einigermaßen weich und die Laken waren nicht kratzig, wie so oft. Selbst Ungeziefer konnte Dian auf Anhieb nicht entdecken.

Clyde hatte das Fenster geöffnet und starrte hinaus in die Dunkelheit. Der schwere Regen hatte nachgelassen und es nieselte nur noch leicht. Die Temperaturen waren nicht sonderlich gefallen und so hatte Clyde sich entschlossen das Hemd wieder abzulegen, so dass eine feuchtwarme Brise über seinen Oberkörper strich.

Ein leises Geräusch hinter ihm veranlasste ihn, sich umzudrehen. Dian hatte sich ebenfalls seines Hemds entledigt und stand mit nacktem Oberkörper im diffusen Licht des langsam wieder zu erkennenden Mondes.

Langsam trat Dian auf Clyde zu und hob einen Arm, als ob er ihn an sich ziehen wollte, doch dann ließ er den Arm wieder sinken.

„Irgendwie trau ich mich einfach nicht.“

„Was? Warum nicht?“

Dian seufzte und lehnte sich an Clyde.

„Das Ganze ist ein Bisschen unwirklich für mich. Du bist ein Lord, während ich nur ein kleiner Landarbeiter bin. Du bist ein Krieger, ein Magier sogar, wo ich nichts weiter kenne als unsere Felder und Wälder. Und – du bist ein Sidhe. Das ist für mich, als kämst du aus den alten Sagen direkt hierher in unser Leben.“

Clyde musste eine Weile überlegen was er antworten sollte. Währenddessen schlang er sanft seine Arme um Dian und zog ihn fest an sich.

„Ein Lord zu sein ist nichts Besonderes. Es ist lediglich ein Zeichen dafür, in welchem Haus du geboren wurdest und wer deine Eltern waren. Du selbst hast erst einmal nichts dazu beigetragen.“

Dian lachte leise und schüttelte leicht seinen Kopf.

„Magie ist eine Gabe, die angeboren wurde, so wie meine Sommersprossen oder die Farbe deiner Haare. Da kommt es darauf an, was der einzelne daraus macht. Es bedarf großer Verantwortung, um Magie zu benutzen und für viele ist es eher eine Bürde, als ein Segen. Du hingegen hast ganz andere Sachen gelernt. Pflanzen, Kräuter und auch Gifte sind Dinge, von denen ich keine Ahnung habe und die ebenso wichtig für unsere kleine Gemeinschaft sind.“

„Und was das Alte Volk betrifft – daran bin ich genauso unschuldig wie an meinem Titel. Denkst du, es ist einfach, mit diesen Ohren durch das Land zu wandern und dich den Blicken auszusetzen, die dir die Leute zuwerfen? Unverständnis, Angst, ja sogar Hass. Was glaubst du, warum die Dinger die meiste Zeit verborgen sind? Je mehr das wahre Wissen um das Alte Volk in den Sagen und Geschichten verschwindet, desto schlechter wird ihr Ansehen bei den einfachen Leuten. Sie sehen nur noch Zauberer, die durch das Land streifen und für sie unverständliche mächtige Magie wirken.“

Jetzt schüttelte Dian energisch seinen Kopf.

„Aber das stimmt doch nicht. Meine Großmutter hat uns immer wieder erzählt, dass die Sidhe nicht bösartig oder unheilvoll sind. Sie sind nur anders.“

„Das erzähl mal den Leuten. Denk daran, die Túatha Dé Danann sind eigentlich ein besiegtes Volk und es wird immer noch darüber gestritten, ob sie sich wirklich freiwillig in das Síd, also die Anderwelt, zurückgezogen haben. Und wenn jetzt die Sidhe die Welt der Menschen betreten, sieht das immer etwas so aus, als ob sie sich einmischen wollten oder gar Rache suchten.“

„So hab‘ ich das noch gar nicht gesehen.“

Dian seufzte. Dann löste er sich ein wenig aus der Umarmung und fuhr mit einer Hand an Clydes Oberkörper herab. Clyde spürte die Hand, die sich immer weiter herunter bewegte.

„Möchtest du wirklich?“

Dian antwortete nicht, sondern öffnete einfach Clydes Hose und ließ sie heruntergleiten. Der Anblick ließ ihn schlucken. Er wusste ja schon, was ihn erwarten würde, aber dennoch… Entschlossen ging Dian hinüber zu seinen Sachen und holte einen kleinen Tiegel mit einer Salbe. Clyde sah ihm interessiert zu.

„Was ist das?“

„Das? Oh. Ähhh… das ist hauptsächlich Fett mit ein paar Kräutern.“

„Du hast das extra für solche Zwecke dabei?“

Zum Glück konnte Clyde nicht erkennen, wie Dian jetzt rot wurde.

„Ja, also… Sheanmhair hat gesagt, ich sollte auf alles vorbereitet sein.“

Clyde starrte Dian nun vollkommen verblüfft an.

„Deine Großmutter? Sie hat es dir gegeben? Das glaub ich nicht.“

Dian wand sich etwas und blickte zu Boden.

„Na ja. Nach meinem ersten Mal war es wohl ziemlich schlimm und sie musste mich ein paar Tage mit einer Wundsalbe versorgen. Danach hat sie mir die hier gegeben.“

Clyde wollte noch etwas antworten, schwieg dann aber besser. Dian näherte sich ihm langsam. Immer noch schweigend nahm Clyde ihn in den Arm und führte ihn zum Bett.

„Ich werde nur noch eines sagen. Ich möchte nicht, dass du das Gefühl hast, du würdest einfach nur von mir gebraucht. Wenn du etwas nicht tun möchtest, sag es einfach. Alles, was hier passiert beruht auf Gegenseitigkeit. Und ich meine wirklich alles.“

Dian dachte einen Moment über die Worte nach und dann weiteten sich erstaunt seine Augen. Noch bevor er antworten konnte, legte ihm Clyde einen Finger auf die Lippen.

In den folgenden Stunden bereute es Dian nicht ein einziges Mal, dass er den Mut aufgebracht und sich Clyde genähert hatte. Er war zwar nicht ganz so unbedarft, was die Aktionen mit einem Mann betrafen, doch das hier war etwas ganz anderes. Dian fühlte eine Sicherheit und Geborgenheit bei allem was sie taten und genau wie Clyde versprochen hatte, tat er nichts, was Dian nicht wollte. Und es gab auch nichts, was Clyde nicht ebenfalls mit sich machen ließ.

Kurz nach Mitternacht lagen die beiden jungen Männer in einem leichten Halbschlaf, als Clyde plötzlich hochschreckte. Seine Sinne hatten ihm die Ankunft von vier Reitern vermittelt. Kurz darauf konnte er auch leise Stimmen draußen hören und das polternde Geräusch der Eingangstür. Vorsichtig schob er Dians Kopf von seiner Brust und erhob sich geräuschlos. Am Fenster blieb er im Schatten stehen und sah hinunter, konnte aber außer zwei Pferden, die an der Außenwand des Stalls angebunden waren, nichts erkennen. Aus dem Gastraum kamen zunächst Stimmen, die immer lauter wurden, dann ein paar abgehackte Laute, zum Schluss ein unterdrückter Schrei. Lautes Krachen folgte und Clyde spürte auf einmal, wie der Schutzzauber unten erlosch.

Clyde fluchte innerlich, dann ging er rasch zum Bett und weckte Dian.

„Sie sind da. Unten ist irgendetwas passiert. Außerdem sind vier Personen eingetroffen. Zieh deine Sachen an und halte dich hinter mir, falls sie hochkommen sollten.“

Dian sah ihn etwas verwirrt aus verschlafenen Augen an. Doch als ein leises Poltern auf der Treppe zu vernehmen war, eilte er zu seinen Sachen. Clyde zog sich lediglich seine Hose und die Stiefel an, um dann den Säbel aus der Scheide zu befreien.

Dian kam es vor, als ob die Klinge im Dunkeln leuchtete, doch er wurde von polternden Geräuschen abgelenkt, als die beiden Nachbarzimmer durchsucht wurden. Hastig schlüpfte er in seine Sachen und sah sich suchend um.

„Na los, zum Fenster. Das ist unser einziger Fluchtweg, wenn es eng werden sollte.“

Dian hatte gerade das Fenster erreicht, als die Tür aufsprang und sich eine Gruppe von drei Männern und einer Frau in den Raum drängte. Die Männer hatten Säbel in ihren Händen und versuchten, sich im Raum zu verteilen.

„Da, das ist der Richtige, ihr Idioten!“

rief die Frau, die in einen langen schwarzen Umhang gekleidet war. Ihre Hände webten ein komplexes Muster in die Luft und Clyde spürte auf einmal einen nahenden dunklen Schatten. Dunkelmagie!

Clyde dankte allen Göttern die ihm einfielen, dass er seinen Ahnungen nachgegeben und im Unterricht aufgepasst hatte. Der Umgang mit dunkler Magie war zwar Teil seines Unterrichts gewesen, doch es war nicht besonders ausführlich gewesen. Denn alle seine Magielehrer, einschließlich der Druiden, hatten ihm versichert, dunkle Magie wäre so gut wie beseitigt. So viel dazu!

„Ergib dich in dein Schicksal. Du kannst uns nicht entkommen.“

Trotz der ernsten Situation musste Clyde kurz lachen.

„Niemals.“

Ergib dich. Ergib dich. Ergib dich.

Wie ein Echo wiederholten sich die Worte in seinem Kopf und er verspürte ein Verlangen dem Befehl nachzukommen. Grimmig blockte Clyde die fremden Gedanken ab und ballte unauffällig seine linke Hand zur Faust, während er mit seinem Säbel eine kleine Bewegung machte. Wie vermutet, richtete sich die Aufmerksamkeit der drei Angreifer auf seine erhobene Waffe und die Dunkelhexe projizierte immer noch ihre Gedanken.

Clyde hoffte inständig, dass seine Magie trotz der Beeinflussung durch die Dunkelhexe funktionieren würde. Mit einem Ruck riss er seinen linken Arm nach oben, öffnete die Faust und warf eine kleine Menge silbrig glänzenden Staubes in Richtung der Hexe. Der Erfolg war verblüffend. Mit einem heiseren Schrei schlug die Hexe nach dem feinen Staub, der sich auf sie herabsenkte und überall dort, wo er ihre entblößte Haut traf, einen kleinen Funken erzeugte. Schreiend versuchte die Hexe die kleinen brennenden Funken auszuschlagen, während sie ihre Begleiter anstachelte.

„Los! Bringt mir den Kopf dieser kleinen Ratte! Macht ihn kalt!“

Nur kurz von der um sich schlagenden Hexe irritiert, drangen die drei Angreifer auf Clyde ein. Durch das Zimmer beengt konnten nicht alle drei nebeneinander stehen und so schlugen die beiden ersten wahllos auf ihren halbnackten, nur mit einem leichten Säbel bewaffneten Gegner ein.

Clyde duckte sich unter dem ersten Angriff weg und schlug auf die Beine seines rechten Gegners ein, der schreiend zu Boden ging. Auch der zweite Gegner hatte keine Chance, als Clyde aus seiner hockenden Stellung nach oben kam und bei ihm seinen Säbel zwischen den Beinen ansetzte und dann hart nach oben zog.

Der dritte Mann hatte eine klassische Abwehrposition eingenommen, die Clyde mit ein paar schnellen Schlägen öffnete und dann zustieß.

In diesem Moment hörte er den triumphierenden Schrei der Dunkelhexe.

„Hab ich dich!“

Zwischen ihren Händen leuchtete ein rotglühender Feuerball. Langsam drehte sie ihre ausgestreckten Arme in die Richtung von Clyde. Doch dann stieß sie einen gellenden Schrei aus und kippte schlagartig nach hinten. Aus ihrer Brust ragte ein Dolch und als Clyde herumfuhr, sah er Dian immer noch am Fenster stehen, auf die Hexe starrend, den rechten Arm vom Wurf erhoben.

Der Feuerball hatte inzwischen die Hände der Hexe verlassen und war der Richtung gefolgt, in die sie gezielt hatte. Da sie jedoch nach hinten gefallen war, stieg der Feuerball schräg nach oben empor und zerplatzte an der Decke des Raumes, die sofort in Flammen aufging.

„Schnell, wir müssen hier raus!“

Clyde raffte hastig seine restlichen Sachen zusammen und folgte Dian durch das Fenster auf das Dach des Stalls. Der sah zögernd zurück in das Dachzimmer.

„Was ist mit dem Feuer? Sollten wir es nicht löschen?“

„Das geht nicht. Zumindest jetzt noch nicht. Du hast doch gesehen, wie es entstanden ist.“

Dian sah Clyde aus großen Augen an.

„Ich habe etwas gesehen, aber ich glaube es nicht. Wer war das da drin?“

Clyde schüttelte den Kopf und drängelte Dian die Leiter an der Seite des Stalls herunter. Der Rest seiner Truppe würde das Feuer ebenfalls wahrnehmen und so, wie er sie kannte, waren sie bereits auf dem Weg.

„Wir müssen die Pferde aus dem Stall befreien.“

Dian schüttelte den Kopf.

„Was ist mit dem Wirt und dem Schankjungen? Wir müssen ihnen helfen.“

Clyde sah Dian prüfend an. Stimmt, er war der Heiler. Er hatte eine Verantwortung gegenüber den Verletzten und Verwundeten und er würde die Tatsachen über ihren Zustand wahrscheinlich nur akzeptieren, wenn er sie selber sah.

„Dann komm, aber mach schnell.“

Hastig umrundeten sie das Gebäude und traten durch die offenstehende Tür in den Gastraum.

Einer der kleinen Tische war umgeworfen worden, auf einem weiteren lag Lucian. Der Körper lag zur Hälfte auf dem Tisch, die Beine hingen herunter. Quer über den Hals klaffte eine breite Wunde.

Dian sah ihn zunächst entsetzt an, aber dann nickte er entschlossen. Suchend sah er sich weiter um.

Clyde hatte den Wirt inzwischen gefunden. Der lag hinter seinem improvisierten Tresen, ebenfalls auf dem Rücken, doch ohne erkennbare Wunde. Sein Gesicht war zu einer Fratze totalen Entsetzens verzerrt. Clyde kam hinter dem Tresen hervor und packte Dian an der Schulter.

„Wir können nichts mehr tun. Wir müssen hier raus und uns um die Pferde kümmern.“

Dian hatte seinen Kopf nach hinten gewandt, während Clyde ihn durch die Tür schob.

„Aber warum? Sie haben doch niemandem…“

Ein lautes Krachen ließ die beiden jungen Männer nach oben sehen. Ein Teil des Dachstuhls war eingestürzt und die Flammen loderten jetzt weithin sichtbar.

„Zum Stall!“

Rasch machten sie sich ans Werk, führten ihre Pferde nach draußen auf die andere Seite der Straße und banden sie dort an Bäumen fest. Clyde und Dian stürmten noch einmal in den Stall um ihre Sättel, Zaumzeug und ein wenig Futter zu retten.

Drei Pferde waren draußen am Stall angebunden worden und wieherten schon voller Panik. Clyde untersuchte kurz die Packtaschen und Bündel auf den Pferden und band sie dann los. Erleichtert galoppierten sie auf der Fernstraße davon. Etwas weiter entfernt stand ein Wagen, dessen zwei Pferde an einem Baum festgebunden waren. Auch sie zerrten schon furchtsam an ihren Stricken.

Dian hatte inzwischen Mühe, ihre eigenen Pferde zu beruhigen und führte sie langsam weiter weg von dem brennenden Gebäude. Nach etlichen hundert Yards band er sie jeweils wieder an einen Baum.

Als Clyde mit etlichen Gepäckstücken auf seinen Armen zu ihren Pferden kam, sah er Dian, der schweigend, mit versteinertem Gesicht auf den brennenden Gasthof starrte.

„Was war das? Was ist da passiert? Was hast du gemacht?“

„Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe mich lediglich gewehrt. Du hast gesehen, wer den Feuerball geworfen hat.“

„Ja, aber ich kann es immer noch nicht glauben. Wer war das? Sind denn wirklich alle Geschichten über Zauberer und Hexen und Elfen wahr? Sind es nicht nur Sagen aus alter Zeit?“

Dian schüttelte noch immer voller Unglauben den Kopf.

„Das war ein Feuerball, nicht wahr? Aber die Frau war kein Feuermagier. Es hat sich irgendwie anders angefühlt.“

Clyde sah Dian prüfend an. Das war schon das zweite Mal, dass Dian auf Magie reagiert hatte, doch offensichtlich war ihm das gar nicht bewusst geworden. Er starrte immer noch mit abwesendem Blick in die Flammen. Clyde musste ihn irgendwie ablenken.

„So etwas ähnliches, ja. Aber ich habe dir noch nicht gedankt, dass du mein Leben gerettet hast. Ohne dein Messer wären wir jetzt beide tot.“

Dian sah Clyde verwirrt an.

„Ich habe das Messer geworfen ohne nachzudenken. Bisher habe ich immer nur an Bäumen geübt, aber du hast ja selbst gesagt, wir sollen uns eine Waffe aussuchen. Und das ist etwas, was ich schon seit langer Zeit mache. Schade eigentlich, um das schöne Messer.“

Clyde lachte kurz auf. Dian schien gar nicht zu ahnen, in welcher Gefahr er geschwebt hatte, hätte die Hexe ihn lebend bekommen.

„Du solltest dich mal unbedingt mit Mario unterhalten.“

Dian wollte noch etwas antworten, wurde aber von einer kleinen Gruppe von Personen unterbrochen, die sich von beiden Seiten auf der Straße näherten. Zwei von ihnen kletterten gerade in den Wagen, der immer noch am Straßenrand stand.

„Na endlich. Finn, Mario, seht nach, ob sich im Stall noch was retten lässt. Frank und Arje, seht bitte nach, ob die freigelassenen Pferde noch irgendwo in der Nähe sind.“

Die Angesprochenen nickten und Clyde drehte sich wieder zu Dian.

„Kommst du bitte mit mir? Ich möchte dir gerne zeigen, warum wir hier sind und warum so viele Menschen sterben mussten.“

Dian folgte Clyde neugierig zum Wagen, wo Eldar und Niccolo inzwischen einen Körper von etlichen Stricken, Binden und Kapuzen befreit hatten. Dian sah im Feuerschein des immer noch brennenden Hauses auf die Gestalt herab und fuhr zurück.

„Das bist ja du!“

Dann musterte er Clyde noch einmal. Der sah hinunter auf Diethard und räusperte sich.

„Nein, natürlich nicht. Du hast doch gehört, was Mario und Frank über die Entführung erzählt haben. Dass diese Verbrecher mich mit jemandem verwechselt haben, der mir sehr ähnlich sieht. Und wie du jetzt feststellen kannst, sind wir uns tatsächlich sehr ähnlich.“

Dian schüttelte sprachlos seinen Kopf. Dann sah er langsam von einem zum anderen. Vorsichtig beugte er sich über Diethard und untersuchte ihn so gut es bei der mangelnden Beleuchtung möglich war. Clyde bemerkte erstaunt, wie Dian intensiv an seinem Patienten schnupperte.

„Er lebt. Sie haben ihm anscheinend irgendwelche Tränke gegeben. Dem Geruch nach würde ich sagen, einer der Schlaftränke aus Trakar.“

Clyde sah einmal die Straße hinauf und dann hinunter.

„Alles Weitere können wir später besprechen. Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen. Mit der Dunkelhexe hatte ich nicht gerechnet. Wir können nur hoffen, dass nicht noch mehr von ihnen hier in der Gegend sind. Los, du und Eldar nehmt den Wagen und folgt dem Hauptkontingent. Mario und Finn machen die Vorhut, Frank und Arje als Nachhut.“

Dian und Niccolo waren vom Wagen geklettert und Niccolo machte sich auf zu seinem Pferd, während Dian sich suchend umsah.

„Wo ist Dubh?“

Niccolo drehte sich noch einmal um.

„Der müsste bei Finn sein. Seit ihr losgeritten seid, ist er ihm nicht mehr von der Seite gewichen.“

Finn? Warum denn ausgerechnet der? Aber Dian zuckte nur mit den Schultern und kletterte wieder auf den Wagen.

Frank und Arje hatten noch zwei Pferde einfangen können, so dass sich jetzt eine ansehnliche Truppe formierte.


Am frühen Vormittag erreichten sie Glaschu. Sie mussten noch eine Weile am Fluss entlang, bevor sie den Hafen erreichten. Clyde kam es ein wenig merkwürdig vor, dass der Fluss den gleichen Namen trug wie er. Na, wohl eher trug er den gleichen Namen wie der Fluss. Der war ja schließlich deutlich älter.

Im Hafen dann sahen sie auch sofort die ESTRAY, die etwas abseits an einer alten Holzpier festgemacht hatte. Kaum waren sie abgesessen, als auch schon Ragnar vom Schiff gelaufen kam und Clyde stürmisch umarmte.

„Ihr habt es tatsächlich geschafft. Thorben war schon ganz nervös, was er dem Captain erzählen sollte, wenn euch etwas geschehen wäre.“

Clyde grinste nur etwas unsicher, während hinter Ragnar auch Thorben und Michael vom Schiff kamen. Bevor er aber etwas sagen konnte, wurde er von Thorben abgefangen.

„Egal, was passiert ist, wir müssen so schnell wie möglich von hier weg.“

Clyde riss erstaunt die Augen auf, doch Thorben winkte ab.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Kurz bevor wir in Linderney abgelegt haben, kam ein Eilkurier des Herzogs von Lonlothian. Du wirst angewiesen, sofort – und zwar wirklich sofort – nach Caerdon zu reisen um dich dort mit dem Herzog zu treffen. Es handelt sich um eine Anordnung der Königin, die auch unseren Captain betrifft. Die FAIRYTALE ist bereits auf dem Weg nach Caerdon, mit dem Herzog an Bord.“

Clyde war mehr als verblüfft. Was war denn jetzt passiert?

Frank und Arje hatten in der Nähe gestanden, als Thorben die Nachricht an Clyde weitergab. Noch während Clyde überlegte, was zu tun war, hatte Frank schon Anweisungen gegeben. Alle persönlichen Sachen wurden von den Pferden genommen und an Bord geschafft. Ebenso wurde Diethard vorsichtig an Bord getragen. Dann redete Frank eine Zeitlang mit Michael.

Als Clyde sich umdrehte, um zu sehen, was da hinter ihm passierte, kamen Frank und Michael näher.

„Ich habe Anweisungen gegeben, alle unsere Sachen an Bord zu bringen. Michael wird die Pferde wieder zurück nach Inveraray bringen. Wir sind in etwa zehn Minuten hier fertig.“

Clyde sah Frank erstaunt an, dann wandte er sich an Michael.

„Tut mir leid, dass wir dich wieder belästigen müssen…“

„Red‘ keinen Unsinn. Ihr habt genug zu tun. Ich suche mir ein paar Leute und dann schaffen wir die Pferde wieder zurück. Hm, das sind ein paar mehr, als ihr vorher hattet. Sollen die verkauft werden?“

„Nein. Bestell dem Earl einen Gruß von mir und das ist ein Geschenk für seine Gastfreundschaft. Und dafür, dass er dich mitgeschickt hat.“

Clyde verabschiedete sich mit einem schnellen Kuss auf die Wange und lief dann zurück an Bord, wo schon die ersten Befehle für das Ablegemanöver gegeben wurden.

Clyde sah noch auf die einsame Gestalt auf der Pier, als sich Dian mit einem anderen jungen Mann näherte, den Clyde noch nie vorher gesehen hatte. Dian wurde förmlich.

„Leutnant Cameron, ich möchte euch den neuen Schiffsarzt der ESTRAY vorstellen. Dies ist Hendrik Simonsen.“

Clyde sah den neuen Schiffsarzt erstaunt an. Wobei Schiffsarzt mehr ein Ehrentitel war, denn er wurde in der Heuerliste als Arztgehilfe geführt, ebenso wie Dian. Sein Name schien auf Isafjord zu schließen, doch seine äußere Erscheinung ließ keine Rückschlüsse darauf zu.

Nur ein wenig größer als Clyde hatte er dunkelblonde Haare, die im Nacken mit einer Schleife zusammengebunden worden waren. Dazu trug er die violette Uniform der Unteroffiziere, doch Clyde bemerkte auf seiner linken Brustseite eine Art silberner Brosche in Form einer Schlange, die einen Stab umwindet.

„Herr Leutnant. Ich freue mich, euch endlich kennen zu lernen. Mein Name ist Hendrik Simonsen und ich komme aus Arlemande.“

Clyde runzelte die Stirn. Wie jetzt? Der neue Schiffsarzt schien Clydes Verwirrung zu bemerken und lachte leise.

„Ich habe schon öfter Verwirrung gestiftet. Ich wurde in Isafjord geboren. Ganz im Süden, an der Grenze zu Arlemande. Dort habe ich auch mein Handwerk gelernt, denn ich bin eigentlich Feldscher. Ich war in den Diensten des Fürsten zu Sønderborg. Dort habe ich einen Feldzug gegen Pomeranien mitgemacht. Der Arzt, dem ich zugeteilt war, hat mir nicht nur das Handwerk des Feldschers, sondern auch einen großen Teil seines medizinischen Wissens beigebracht.“

Clyde war überrascht von der Geschichte und sah sich den jungen Mann genauer an. Er wohl doch etwas älter, als er aussah.

„Was jetzt den jungen Mann betrifft, der an Bord gebracht wurde. Er befindet sich in unserem improvisierten Lazarett unten in der Segellast. Soviel ich feststellen konnte, bin ich einer Meinung mit Dian, dass er mit Drogen betäubt wurde und lediglich etwas Zeit braucht, sich davon zu erholen. Ob wirklich alles in Ordnung ist, können wir sehen, wenn er wieder zu sich gekommen ist.“

So, so. Mit Dian war er also schon per Du. Der muss ihn wohl irgendwie beeindruckt haben.

Die ESTRAY glitt schon unter vollen Segeln den River Clyde hinunter, als Thorben auf dessen Namensvetter zukam.

„Sven hat jetzt alles im Griff. Können wir nun kurz zu dem kommen, was inzwischen passiert ist?

Clyde nickte und sah sich um.

„Ja, wenn wir bitte die Kommandantenkammer benutzen könnten? Nur Ragnar, Niccolo, du und ich.“

Thorben nickte zustimmend und rief Ragnar, während sich Clyde auf die Suche nach Niccolo machte.

Für vier Mann war die Kammer schon etwas eng, aber sie klemmten sich ein wenig in die Ecken. Nur Niccolo setzte sich so, dass er schnell nach draußen konnte, sollte es notwendig sein.

Clyde erzählte vom Beginn der Reise an. Er ließ keinen Punkt aus, lediglich seine persönlichen Treffen mit Finn und Dian überging er mit wenigen Worten. Am Ende des Berichts schwiegen alle erst einmal, bis Niccolo aufsah.

„Dann ist mein Auftrag wohl hiermit erledigt. Eigentlich wollte der Lord-Lieutenant noch ein paar Informationen von den Entführern, aber das geht ja nun nicht mehr. Was bedeutet das aber weiterhin? Die Sache mit dieser Dunkelhexe habe ich irgendwie nicht ganz verstanden.“

Clyde räusperte sich kurz.

„Ist auch etwas schwierig zu erklären. Also, Magie ist, für sich genommen, wertfrei. Sie ist weder gut noch böse, noch kann sie von sich aus etwas tun. Sie ist schlicht und ergreifend einfach nur … da. Leute, die begabt sind, stehen ohne ihr Zutun mit der Magie in Verbindung. Sie können sich die Magie zu Nutze machen, wenn sie darin ausgebildet werden.“

Clyde warf Ragnar einen bezeichnenden Blick zu, den dieser auch richtig deutete.

„Das besprechen wir gleich unter uns.“

„Gut, also weiter. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse trifft die jeweilige Gesellschaft, in der der Magier lebt. Wir haben ganz bestimmte Vorstellungen von dem, was erlaubt ist und was nicht. Es ist im Prinzip so, wie mit einer Waffe. Nicht die Waffe ist gut oder böse, sondern derjenige, der sie benutzt.“

„Schon klar, aber was hat das jetzt mit der Dunkelhexe auf sich?“

„Dunkelmagier benutzen ganz bestimmte Formen von Magie, die schon bei der Erstellung von Zaubern eine Grenze überschreitet. Viele der Zauber werden verstärkt durch die Energie von lebenden Wesen.“

Ragnar wurde plötzlich nervös.

„Ist das nicht auch etwas, was die Druiden machen?“

„Nein! Die Druiden nutzen die Energie der sie umgebenden Natur. Sie nutzen sie als Ganzes. Sie würden niemals einem Baum seine Lebenskraft entziehen, bis er abstirbt.“

Niccolo erbleichte.

„Ist es das, was die Dunkelmagier machen?“

„Ja. Sie entziehen einem lebenden Wesen die Energie. Das kann auf unterschiedliche Weise passieren, aber das Ergebnis ist das Gleiche. Das Medium ist tot.“

„Aber… warum tun sie so etwas?“

„Weil die gesamte Energie eines Lebewesens den Zauberspruch um etliches stärker macht, als er ohnehin schon ist.“

Wieder schwiegen alle, bis Clyde sie der Reihe nach ansah.

„Ich möchte nicht, dass hierüber in irgendeiner Weise gesprochen wird. Ich muss auf jeden Fall den Erzdruiden aufsuchen, sobald wir in Caerdon sind. Danach sehen wir dann weiter.“

Alle drei nickten zustimmend.


Als Clyde und Ragnar alleine waren, sahen sie sich eine ganze Zeit langschweigend an. Schließlich schüttelte Ragnar seinen Kopf.

„Ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen, aber ich fürchte, du wirst das Thema nicht ruhen lassen.“

Clyde schwieg weiterhin und Ragnar seufzte tief.

„Also gut. Ich weiß, dass ich magisch begabt bin. Und ich weiß auch, dass ein nicht ausgebildeter Magier gefährlich ist. Doch in Isafjord ist das so eine Sache mit der Magie.“

Clyde hob nur fragend seinen Kopf und sah Ragnar an.

„In Isafjord gibt es sogenannte Schamanen. Jeder Clan hat seine Schamanen, die dem Totem des jeweiligen Clans folgen. Es gibt acht große Clans und folglich auch acht Tiertotems.“

Ragnar sah nachdenklich zur Decke um seine nächsten Worte zu formulieren.

„Die Schamanen stehen in einer besonderen Verbindung zu den Göttern. Unsere Götter sind nicht so distanziert, oder, wie soll ich es sagen, so spirituell. Unser Glaube ist es, dass die Götter sogar manchmal durch das Land wandern und die Sterblichen besuchen. Sie sind es, die den Neugeborenen die Magie bringen. Jeder der Schamanen ist also, den Sagen nach, von einem Gott berührt worden.“

Clyde sah Ragnar nachdenklich an.

„Du bist begabt, also wurdest auch du von einem Gott berührt.“

Ragnar erschauerte.

„Ja. Egal was du darüber denkst, aber ich glaube daran. Was ich aber nicht glaube ist, dass der Weg, den die Schamanen eingeschlagen haben, der richtige ist. Sie nutzen ihre Magie um die verschiedensten Zauber zu erstellen und sie halten diese Zauber schriftlich fest. Du hast den Spruch gesehen. Jeder magisch Begabte kann ihn freilassen und anwenden. Sie erstellen auf diese Weise jeden beliebigen Zauber, sogar Kampfzauber für den Krieg. Aber das Schlimmste daran ist, sie verkaufen diese Zauber.“

„Was!?“

„Ja. Einmal erstellt, ist der Zauber ja in der Schrift gefangen. Er kann von jedem gekauft und transportiert werden. Lediglich ein Begabter kann ihn anwenden. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer ist die Erstellung der schriftlichen Zauber. Denn für sie bedarf es einer sehr großen Menge an Magie, um sie an die Schrift zu binden.“

Clydes Gedanken arbeiteten auf Hochtouren.

„Zauber… binden… Magie…Macht… - Moment! Willst du etwa sagen, sie benutzen Blutmagie für die Bindung?“

Ragnar nickte stumm.

„Aber…“

„Das ist einer der Gründe, warum ich aus Isafjord geflohen bin. Ein weiterer ist die uralte Tradition, dass Schamanen keine Krieger sein können. In grauer Vorzeit waren viele der Schamanen, nun ja… also… sie wurden wie Frauen behandelt. Und sie traten auch selber so auf. Bis hin zu…“

Clyde seufzte.

„Du meinst also, sie bekamen eine Rolle als Frau und mussten den Kriegern zu Willen sein, auch im Bett.“

Ragnar errötete etwas, nickte aber.

„Ja. Und diejenigen, die an dieser Tradition festhalten, geben sie auch an ihre Schüler weiter. Die werden nicht nur in Magie ausgebildet, sondern auch in der Kunst eines Liebesdieners. Es hätte mir auch schon damals, zu Beginn meiner Ausbildung, nichts ausgemacht, denn ich wusste, dass ich lieber bei einem Mann lag. Aber in diesem Fall… Nun ja, ich hatte jedenfalls das Pech, zu einem solchen… Bastard zu kommen. Gleich die erste Nacht musste ich sein Lager teilen. Weil ich es nicht freiwillig tat, hat er mich gezwungen.“

Clyde sah Ragnar an, der jetzt mit geschlossenen Augen dasaß.

„Drei Monate, drei lange Monate, habe ich es ausgehalten. Sinnlose Übungen, Meditationen und das endlose auswendiglernen von Sprüchen. War ich nicht gut genug, nicht schnell genug, nicht gründlich genug, wurde ich des Nachts auf sein Lager gezerrt und er ließ seinen Unmut an mir aus. Ich bin geflohen. Im wahrsten Sinne des Wortes, ohne Vorräte, ohne vernünftige Bekleidung, einfach weg. Sechs Wochen habe ich gebraucht, von der Grenze der ewigen Nacht bis nach Thorshavn.“

„Von wo?“

„Oh. Es gibt ganz im Norden eine Gegend, wo im Winter die Sonne nie aufgeht.“

Clyde erinnerte sich vage, so etwas einmal gehört zu haben, doch seine Gedanken kreisten um etwas anderes.

„Diese Blutmagie. Wird die oft angewendet?“

Ragnar schnaubte entrüstet.

„Jedes Mal, wenn ein Zauber schriftlich gebunden werden soll. Es ist sonst nicht genug Magie vorhanden, um ihn zu fixieren. Dazu wird… Ach so, nein. Dazu werden keine Menschenopfer gebracht. Es sind immer nur Tieropfer und zwar immer nur ein Tier des jeweiligen Totems. Das ist bei einigen Totems sogar ziemlich schwierig.“

Ragnar lächelte leicht, als er Clydes fragenden Blick sah.

„Wie gesagt, es gibt acht Totems. Rabe, Wildgans, Schneeeule, Polarfuchs, Polarwolf, Schneehase, Rentier und Eisbär. Glaubst du, ein Eisbär gibt sein Blut freiwillig?“

Clyde hob erstaunt seine Augenbrauen.

„Wohl kaum. Aber ist ein Rabe denn ein typisches Tier aus Isafjord?“

Und wieder seufzte Ragnar.

„Ja und nein. Eigentlich gehört er mehr in den südlichen Teil des Landes. Er ist ein heiliges Tier des Gottes Odin. Ihn begleiten immer zwei Raben. So geht die Sage zumindest. Der Gott Odin ist schon lange nicht mehr bei den Sterblichen gesehen worden. Bis auf eine einzige Ausnahme.“

Der letzte Satz war mehr gemurmelt und Clyde runzelte die Stirn. Dann überkam ihn plötzlich die Erleuchtung.

„Und diese Ausnahme warst du.“

Ragnar sah Clyde mit seinen eisblauen Augen funkelnd an.

„JA! Das war ich. Zufrieden? Ich bin ein Kind Odins. Der einzige innerhalb der letzten zehn Generationen. Gesegnet durch den Herrn der Götter und geflohen vor der Verantwortung, als Schamane zu dienen!“

Ragnar schrie es fast, doch Clyde ließ sich nicht beirren.

„Was ist so besonderes an den Schamanen Odins?“

Ragnar sah zu Boden.

„Sie sind die Mächtigsten. Ihre Magie ist stärker als die aller anderen. Sie könnten zum Beispiel einen Zauberspruch ohne Blutmagie binden.“

„Bist du davor geflohen? Aus Angst vor der Macht?“

Ragnar stöhnte gequält auf. Clyde erhob sich leise und ging zur Tür. Er wusste nicht, was ihn dazu veranlasste, aber bevor er ging, drehte er sich noch einmal zu Ragnar.

„Vergiss das Erbe deiner Väter nicht.“


Die beiden Offiziere und Sven hatten alles aus der ESTRAY herausgeholt, als sie am Nachmittag des nächsten Tages in Caerdon einliefen.

Clyde war ebenfalls an Deck und versuchte, den Seeleuten so gut es ging, aus dem Weg zu gehen.

„Da! Da drüben liegt die FAIRYTALE.“

Alle sahen automatisch hinüber, als dort Lichtblitze aufleuchteten. Ragnar sah etwas ratlos hinüber.

„Das ist Liam. Was will er denn?“

Clyde fuhr herum, als hinter ihm eine etwas kratzige Stimme ertönte.

„Wir sollen längsseits kommen. Nicht irgendwo anders festmachen.“

„Diethard!“

Der schnappte nach Luft als Clyde ihn stürmisch umarmte, lachte aber dann.

„Ist gut. Oder willst du mich am Ende umbringen? Da hättet ihr euch die ganzen Mühen sparen können.“

Erschrocken setze Clyde Diethard wieder ab. Eine weitere Unterhaltung wurde aber von Thorben unterbrochen.

„Los Leute, alle unter Deck. Gerade ihr beiden solltet euch ab jetzt so wenig wie möglich sehen lassen. Wenn wir längsseits sind, gehe ich an Bord der FAIRYTALE und hole unsere Befehle ab. Bis dahin bleiben alle unten.“

„Jawohl, Sir.“

Es dauerte gar nicht lange, bis Thorben zurück an Bord kam. In seiner Begleitung waren Captain Hansom und ein unbekannter älterer Mann. Die darauffolgende Unterredung fand nur zwischen dem Captain, dem Fremden und Clyde statt.

„Dies ist Mr. Josway. Er ist Schreiber beim dritten Sekretär des Lordkanzlers.“

Clyde nickte verstehend.

„Thorben hat uns über eure Begegnung ins Bild gesetzt. Da müssen noch einige Kleinigkeiten geklärt werden, aber du hast vollkommen Recht, wir müssen den Erzdruiden informieren. Was deine, oder besser, unsere Anwesenheit hier in Caerdon betrifft, hat sie einen ganz anderen Hintergrund. Mr. Josway, bitte.“

Der Mann räusperte sich umständlich.

„Wie mir gesagt wurde kann ich auf Förmlichkeiten verzichten. Deshalb gleich zu den Tatsachen. Vor wenigen Tagen konnten wir eine Nachricht abfangen, die an eine bekannte Mittelsperson hier in Caerdon gerichtet war. Wir konnten die Nachricht kopieren und weiterleiten, ohne dass der Empfänger etwas bemerkt hat. Über mehrere weitere Personen ist die Nachricht dem Gesandten von Arlemande in die Hände gespielt worden. So viel bekannt ist, wird er den Inhalt morgen Vormittag zur Generalaudienz der Königin vortragen.“

Clyde blies seine Backen auf. Was konnte da denn schon Wichtiges drin stehen.

„Der Inhalt ist, zusammengefasst, ein Bericht über die Versteigerung von Lord Clyde – hier namentlich genannt – und dem Erwerber, einem gewissen Captain Daniel Hansom. Und zwar mit Betonung auf der Tatsache, dass es sich um die Versteigerung eines Lustsklaven gehandelt hat.“

Clyde lief zornesrot an und sah dann zum Captain.

„Sie gehen also davon aus, dass der Freibeutercaptain Hansom sich den Sohn eines Herzogs als Lustsklaven zugelegt hat. Wenn die Entführung geklappt hätte, könnte er nicht beweisen wo ich bin. Genauso wenig wie ich beweisen könnte, dass er mich freigelassen hat.“

„Völlig richtig. Wir gehen davon aus, dass es Absicht ist, den Herzog mit dieser Nachricht gegen den, ähhh…, gegen Captain Hansom aufzubringen und gleichzeitig die Königin in Zugzwang zu bringen, Partei für den Herzog oder den Captain zu ergreifen. Was bei der momentanen politischen Situation nicht so ganz einfach wäre. Ganz davon abgesehen, was die Sidhe über eine solche Situation denken oder tun würden.“

„Verzeihung, Mister Josway, aber warum wäre das nicht so eindeutig? Ich denke doch, dass die Königin mehr zum Herzog von Lonlothian tendieren würde. Er ist der mächtigste der Herzöge und Lonlothian besitzt die meisten Soldaten, die bei einem eventuellen Krieg dringend notwendig wären.“

„Völlig richtig, Lord Clyde. Allerdings ist Captain Hansom in den Kreisen der Freibeuter trotz seiner … hmmm … Individualität, ein sehr angesehenes Mitglied. Es stünde zu befürchten, dass einige, wenn nicht sogar viele der Freibeuter ihren Kaperbrief zurückgeben würden, wenn sie merkten, dass die Königin sie zugunsten des hohen Adels fallen lassen würde. Und das kann sich die Königin in gar keinem Fall leisten. Die Navy ist in keinster Weise in der Lage, die Gewässer rund um Britannica lückenlos zu beobachten, so wie es jetzt geschieht.“

Clydes nickte gedankenverloren und er dachte über die verzwickte Situation nach. Was sollte jetzt geschehen?

„Und was passiert jetzt? Ich meine, wir können doch nicht abwarten, bis dieser Gesandte halb Britannica darüber aufgeklärt hat, was mir passiert ist.“

Daniel Hansom warf einen unsicheren Blick zu Clyde und machte ein etwas belämmertes Gesicht. Doch dann nickte er entschlossen.

„Doch, genau das machen wir. Wir werden versuchen, die Stimmung zu wenden und aus dir ein unschuldiges Opfer machen. Da soll der Gesandte von Rota mal erklären, was auf San Christofero vor sich gegangen ist.“

Clydes Wangen glühten jetzt, aber weniger vor Zorn. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr musste er zugeben, dass der Plan nicht schlecht war.


Die Generalaudienz war bereits bis zu dem Punkt fortgeschritten, bei dem Petitionen der einfachen Bürger des Landes eingebracht werden konnten.

Doch bevor sich der Zug der Bittsteller formieren konnte, drängte sich noch einmal der Gesandte von Arlemande vor die Reihe und verbeugte sich tief vor der Königin.

„Euer Majestät! Verzeiht mein ungebührliches Verhalten, doch ich habe gerade soeben eine äußerst wichtige Depesche erhalten, deren Inhalt ich euch nicht vorenthalten wollte.“

Tiefes Schweigen erfüllte den Thronsaal ob dieses Affronts gegen die Etikette, doch die Königin lächelte dem Gesandten süßlich zu.

„Dann lass er hören, was er Uns so Wichtiges mitzuteilen hat.“

Der Gesandte verbeugte sich ein zweites Mal und entrollte ein kleines Schriftstück.

„Wie bereits bei der letzten Generalaudienz berichtet, wurde ein Familienmitglied aus den Kreisen des britannischen Hochadels auf einem rotanischen Sklavenmarkt angeboten. Nach den neuesten Informationen soll es sich um den jüngsten Sohn des Duke of Lonlothian handeln. Und nun, Majestät, der wirklich erschütternde Teil meiner Nachricht. Er ist von einem eurer Freibeuter, einem Captain Hansom, als sein Lustsklave gekauft worden!“

Das Gesicht der Königin blieb völlig unbewegt, als der Gesandte geendet hatte. Sie blickte lediglich über die anwesenden Adligen Britannicas hinweg. Als sie antwortete, lächelte die Königin immer noch süßlich, doch ihre Stimme klang hart.

„Mein lieber Graf von Winterstein. Ich bewundere wirklich euren Mut, Uns mit einer Nachricht wie dieser entgegenzutreten. Allerdings befürchten Wir, ihr seid das Opfer einer Intrige geworden, wie sie nicht größer sein kann. Ebenso nehmen Wir an, dass ihr Uns nicht an dem Wissen teilhaben lassen wollt, von wem diese ebenso verleumderische wie falsche Nachricht stammt.“

Graf von Winterstein lächelte selbstsicher.

„Nun, eure Majestät. Es ist eine sehr vertrauliche Nachricht, die durch mehrere Hände gegangen ist, bevor einer meiner Leute sie für uns sichern konnte. Doch ich bin vollkommen von der Richtigkeit des Inhaltes überzeugt.“

Königin Maeve hob nun tatsächlich eine Augenbraue, was bei den umstehenden Diplomaten nicht unbemerkt blieb.

„Nun denn. Dann werden wir einmal sehen, was es mit der Richtigkeit eurer Nachricht auf sich hat.“

Ihr Blick schweifte noch einmal wie zufällig über die anwesenden britannischen Adligen, doch sie wusste ganz genau, wen sie zu sich zitieren würde.

„Der Earl of Scythe möge vortreten.“

Daniel Hansom trat nach vorne vor seine Königin und verbeugte sich elegant.

„Ihr habt nach mir verlangt, Euer Majestät?“

„Natürlich. Ihr habt gehört, was der Gesandte von Arlemande gesagt hat. Ist dem so?“

Graf von Winterstein sah Daniel Hansom überrascht von der Seite her an. Hatte er hier nicht mit ihm gerechnet, oder wusste er nicht einmal, wer der besagte Captain Hansom war? Das war wenig wahrscheinlich. Und die FAIRYTALE lag schon seit gestern ganz offen im Hafen von Caerdon. War der Botschafter vollkommen ahnungslos oder nur dumm? Er hätte auf jeden Fall damit rechnen können, dass der Captain der FAIRYTALE in Person des Earls of Scythe an der heutigen Generalaudienz teilnahm.

„Es ist wohl die halbe Wahrheit, Euer Majestät. Clyde Cameron, jüngster Sohn des Duke of Lonlothian wurde tatsächlich auf der rotanischen Insel San Christofero auf dem Sklavenmarkt als Lustsklave angeboten und dort von mir ersteigert.“

Lautes Gemurmel erhob sich im Thronsaal und es war nicht erkennbar, auf welchen Teil der Nachricht sich der Unmut der Zuhörer bezog.

„Da seht ihr es, euer Majestät. Er hat es…“

Die Königin schnitt dem Gesandten mit einer unwirschen Handbewegung die Rede ab.

„Was ist danach geschehen?“

„An Bord meines Schiffes wurde er sofort, entsprechend den Gesetzen Britannicas, freigelassen und ist als freier Mann hierher zurück in seine Heimat gekommen.“

Der Gesandte starrte den Earl of Scythe nun wutentbrannt an, während die Königin leise lächelte. Graf von Winterstein wandte sich wiederum an die Königin.

„Das ist unmöglich, Majestät. Nach meinen Informationen ist Clyde Cameron nie in seiner Heimat angekommen.“

„Graf von Winterstein. Ihr strapaziert Unsere Geduld. Wie lange wollt ihr noch bei diesen unsinnigen Behauptungen bleiben?“

„Aber Eure Majestät…“

„Hat sich was mit Majestät. Unsere Geduld ist erschöpft. Der Duke of Lonlothian möge vortreten.“

Der Herzog kam nach vorne und verbeugte sich vor der Königin. Im Gegensatz zum letzten Mal, als Daniel Hansom ihn gesehen hatte, trug er nun einen Kilt und eine kurze, offene dunkelblaue Jacke zu einem weißen Rüschenhemd.

„Donald Cameron, Duke of Lonlothian, sagt mir, wie viele Söhne habt ihr?“

„Vier, Euer Majestät. Drei von meiner Ehefrau und einen, den ich als Sohn anerkannt habe.“

„Wir erinnern Uns. Und sagt, wisst ihr, wo sich alle eure Söhne befinden?“

„Selbstverständlich, Euer Majestät. Einer ist auf dem Weg in die Neue Welt, nach Kingstown. Die anderen drei sind hier in Caerdon.“

Graf von Winterstein sah den Herzog bestürzt an. Würde der Herzog seine Königin anlügen? Doch Königin Maeve wollte anscheinend ebenfalls keine Zweifel aufkommen lassen.

„Dann möchte ich sie alle drei sehen.“

Der Herzog verbeugte sich nochmals.

„Selbstverständlich, Euer Majestät.“

Ein kurzes Zeichen zur Königlichen Leibwache und eine kleine Tür an der Seite des Thronraumes öffnete sich. Drei junge Männer traten hervor. Alle drei ebenso gekleidet wie der Herzog, in Kilt und Jacke. Die drei folgten einem Zeichen des Herzogs und stellten sich nebeneinander vor dem Thron auf.

„Seamus Cameron, mein ältester Sohn.“

Seamus verbeugte sich und die Königin nickte huldvoll. Die gleiche Prozedur erfolgte, als der Herzog den nächsten vorstellte.

„Angus Cameron, mein zweiter Sohn.“

„Mein dritter Sohn, Robert, befindet sich auf dem Weg nach Kingstown.“

„Und dies ist Clyde, mein vierter Sohn.“

Clyde verbeugte sich ebenfalls und bemerkte die vielen neugierigen Blicke die ihn trafen.

„Das ist völlig unmöglich.“

brach es aus Graf von Winterstein hervor und Clyde fuhr herum. Doch sein Vater gab ihm ein Zeichen, ruhig zu sein.

„Jetzt ist endgültig Schluss! Graf von Winterstein, Wir müssen euch auffordern, Caerdon und Britannica umgehend zu verlassen! Berichtet eurem Kaiser, dass die Königin von Britannica sich nicht beleidigen lässt und dies auch nicht bei Ihren Untertanen duldet. Doch ihr dürft einen letzten Beweis mit auf den Weg nehmen. Wir sind Uns sicher, dass ihr wisst, welche besondere Bewandtnis es mit Lord Clyde auf sich hat.“

Erheblich freundlicher drehte sich etwas und lächelte Clyde an.

„Lord Clyde, wenn ihr die Güte haben würdet.“

Clyde verbeugte sich wortlos und berührte dann seine Ohren. Nach einem leichten Funkeln wurden die Spitzen deutlich sichtbar.

Graf von Winterstein und viele der ausländischen Gesandten schnappten entsetzt nach Luft. Selbst durch die Ansammlung der britannischen Zuschauer ging eine Welle von Gemurmel.

Clyde verbarg seine Ohrspitzen wieder und verbeugte sich abermals vor der Königin.

„Vielen Dank, Lord Clyde. Ihr dürft dann eure Plätze einnehmen.“

Der Herzog führte seine Söhne zu den Stammplätzen von Lonlothian, während die königliche Leibwache den Grafen von Winterstein flankierte und aus dem Saal führte. Die Königin sah ihm nachdenklich hinterher.

„Wo ist der Gesandte von Rota? Wir wünschen ihn unverzüglich zu sehen.“

Der Lordkanzler verbeugte sich knapp.

„Euer Majestät, der Gesandte von Rota hat sich für heute entschuldigen lassen. Er sei unpässlich.“

„Unpässlich? Wir haben es zur Kenntnis genommen. Schickt ihm Unseren Leibarzt. Der Gesandte soll sich der Gastfreundschaft Britannicas ewiglich erinnern.“

Der Lordkanzler machte ein betroffenes Gesicht. Das hatte eher geklungen wie eine Drohung. Schnell gab er dem Zeremonienmeister einen Wink. Ein Herold trat vor und verkündete nun zum zweiten Mal den Beginn der Petitionsstunde.

Daniel Hansom hatte sich zwischen den anderen adligen Zuschauern etwas zurückgezogen und bewegte sich nun auf eine kleine Tür in einer Nische des Thronsaales zu. Die Wache vor der Tür trat ohne weitere Fragen zur Seite. Der Weg führte den Captain durch ein paar verwinkelte Gänge und etliche Stufen hinauf in eines der Turmzimmer der Königin.

Kurz nach ihm trafen auch Clyde, gefolgt von Ragnar ein, dicht gefolgt von Sir Sean.

Daniel konnte es sich nicht verkneifen und sah an Clyde herab.

„Und du trägst wirklich nichts drunter?“

Clyde verdrehte die Augen und Sir Sean schüttelte missbilligend seinen Kopf.

„Nein. Das ist ein Kilt. Wenn ich etwas drunter tragen würde, wäre es ein Rock.“

„Meine Herren, bitte. Es gibt einiges zu besprechen.“

„Da habt ihr Recht. Was hat denn den Gesandten von Arlemande zu solch einem unwürdigen Verhalten veranlasst? Das war ja fast wie in einer Schmierenkomödie. Er schien absolut davon überzeugt zu sein, dass ich keine Möglichkeit hätte, den Verbleib von Clyde zu erklären.“ Sir Sean nickte.

„Das hat uns ebenfalls zu denken gegeben. Aber dafür gibt es zwei Erklärungen. Entweder, er wusste, dass Lord Clyde nicht in Banbaidh von Bord gegangen ist und ging davon aus, dass er auf dem Schiff festgehalten wird. Oder er wusste von der Entführung und war überzeugt, dass der Aufenthaltsort von Lord Clyde nicht ermittelt werden kann.“

Clyde sah von einem zum anderen, als über ihn gesprochen wurde, als sei er gar nicht da.

„Dann wüsste ich aber gerne, woher er die Nachricht hatte. Wie Mr. Josway erwähnte, sei die Nachricht abgefangen, kopiert und dann weitergeleitet worden. Wer hat sie denn alles gehabt?“

Sir Sean überlegte einen Moment, wie viel er sagen konnte, ohne weitere Geheimnisse preiszugeben, aber auch ohne seine Besucher zu verärgern.

„Das ist etwas kompliziert. Wir haben nach den Informationen über die Tätigkeiten in der Neuen Welt die Überwachung in den Häfen verstärkt. Wir hatten ein wenig Glück. Tatsächlich war ein Besatzungsmitglied eines rotanischen Schiffes aufgefallen, der Kontakt zu einem uns bereits bekannten Informanten aufnahm. Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, kann ich so viel sagen, dass die Nachricht durch insgesamt fünf Hände ging, bevor sie bei Baron von Lychter gelandet ist. Dieser Herr ist einer der Sekretäre des arlemandischen Gesandten. Man hätte auch deutlich ‚Geheimdienst‘ auf seinen dicken Bauch pinseln können, so auffällig, wie er sich schon die ganze Zeit über benimmt.“

Ragnar sah nun aufmerksam von Clyde zu Sir Sean.

„Etwa so auffällig, dass alle denken, er ist vom Geheimdienst, während jemand anderes die Fäden zieht?“

Sir Sean sah prüfend zu Ragnar, dann nickt er.

„Junger Mann, sie möchten nicht etwa in meiner Abteilung anfangen? Ja, das war etwas, was wir auch in Erwägung gezogen hatten, aber es gibt nicht den kleinsten Hinweis auf jemanden, für den der Baron als Tarnung dienen könnte.“

Clyde warf Ragnar einen merkwürdigen Blick zu. Wehe, du lässt dich abwerben.

„Aha. Das erklärt aber nicht, warum der Gesandte so penetrant bei seiner Meinung geblieben ist, während sich die Schlinge immer enger zog. Ich meine, wer ist denn so blind und merkt nicht, was da vor sich geht. Ich dachte immer, die Gesandten sind speziell dafür ausgebildet, sich solchen höfischen Intrigen entziehen zu können.“

Sir Sean seufzte.

„Ja, das wäre mal interessant. Doch die meisten sind Adlige, die in ihrem Land anscheinend in Ungnade gefallen sind, sonst würde sie ihr Herrscher nicht nach Britannica schicken. Aber im Ernst. Die Gesandten selbst sind selten das Problem. Es ist ihr Gefolge, das im Auge behalten werden muss.“

Ragnar schien nicht zugehört zu haben, denn plötzlich sah er hoch.

„Dieses Schiff, das die Nachricht gebracht haben soll. Das war wirklich aus Rota?“

„Ja. Warum nicht?“

„Warum sollen die Rotaner sich mit einer solchen Nachricht selbst ans Messer liefern? Die Nachricht war auffällig, der Empfänger auch. Jemand kennt genau die Vorgehensweise unseres Geheimdienstes. Ich behaupte mal, dass die Nachricht so platziert war, dass es zu einem Eklat kommen sollte. Und zwar nicht mit Arlemande, sondern mit Rota. Das Verhalten des arlemandischen Gesandten ist mir allerdings auch ein Rätsel.“

Sir Sean saß wie erstarrt auf seinem Stuhl. Seine Gedanken rasten von einem Punkt zum nächsten, Fakten wurden beurteilt, Schlüsse gezogen und Konsequenzen bedacht.

„Wir sind nicht mehr sicher. Irgendjemand kennt unsere Arbeitsweise und kann unsere Schritte bis zu einem bestimmten Punkt vorhersehen. Wir müssen unseren Betrieb bis auf weiteres einstellen und ich muss sofort ihre Majestät darüber benachrichtigen.“

„Bevor sie uns verlassen, Sir Sean, nur noch eine kurze Frage. Wie hieß dieses angeblich rotanische Schiff, das die Nachricht gebracht hatte?“

„Oh, einen Moment. Ah, ja. Hier. Ein schnelles Handelsschiff mit Namen DISONESTA. Ich kann mich erinnern, es selbst im Hafen gesehen zu haben. Sehr elegante Form, aber eine absolut hässliche Galionsfigur. Ein Schlangenkopf mit einer heraushängenden gespaltenen Zunge.“

Clyde erstarrte förmlich und dann brach es aus ihm hervor.

„Das ist es! Das sind die verdammten Piraten gewesen!“

„Clyde, bitte…“

„Nein, nein. Nicht unterbrechen. Sie haben wieder abgelegt nach dem Überfall und sind neben uns hergefahren. Ich konnte deutlich die Galionsfigur erkennen. Und dann das Heck, als sie an uns vorbeizog. Jetzt weiß ich, was mich daran irritiert hat. Der Name war irgendetwas letrionisches, aber man konnte ihn kaum lesen. Wir hatten nämlich einen leichten Nieselregen und die Farbe des Namenszuges war verlaufen.“

Daniel Hansom lehnte sich ausatmend zurück.

„Also haben wir es mal wieder mit einem Fall von Umtarnung zu tun. Es war gar kein letrionisches Schiff. Und ich wette, es ist auch kein rotanisches.“

„Was ist es dann?“

„Ich habe noch keine Ahnung, aber ich gedenke, es herauszufinden. Wir haben noch ein Treffen auf See offen. Ich würde vorschlagen, Sir Sean, die Sitzung des geheimen Kronrates findet ganz normal statt. Wir werden den Spion nicht belästigen und warten ab, wer sich in der Kneipe einfindet und wer sich dann auf dem Treffpunkt draußen auf See einfindet.“

Sir Sean nickte etwas widerstrebend, aber er erklärte sich mit den Vorschlägen einverstanden.

„Und wir drei kehren zurück an Bord. Ich möchte euch zunächst auf der FAIRYTALE sehen. Es gibt eine Menge zu besprechen.“

 

Die Geografie der Länder an den nördlichen Meeren

Die sieben großen Staaten

Britannica

Das heutige Großbritannien in den Grenzen der britischen Insel, also ohne Nordirland. Vom englischen Kanal bis hoch zu den Shetland Inseln. Königreich. Momentaner Herrscher Königin Maeve I. Daneben gibt es ein Parlament. Dieses hat zwei Kammern, eine bestehend aus Mitgliedern des Adels und eine andere mit gewählten Mitgliedern aus den verschiedenen Grafschaften. Die Königin wird durch einen Kronrat beraten, der aber keine Entscheidungsbefugnis hat. Der Adel verteilt sich auf mehrere Herzogtümer und einige unabhängige Grafschaften. Hauptstadt ist Caerdon im Südwesten am River Tyrdale (Severn) gelegen.

Letrion

Die gesamte Iberische Halbinsel, von der Grenze zu Herblonde (Frankreich) bis hinunter nach Gibraltar (einschließlich). Die Regierung besteht aus einem alleinregierenden König mit einem persönlichen Thronrat, ähnlich wie in Britannica. König ist momentan Alfonso III. Letrion selbst ist aufgeteilt in zwölf Grafschaften. Die Grafen bilden den ‚Rat der Erde‘, das einzige politische Gremium neben dem Thronrat. Hauptstadt ist Lusitania (Lissabon).

Daneben gibt es in Letrion noch den Theokraten, das Oberhaupt der Kirche der Reuigen Sünder. Allerdings hat er ein Vetorecht in allen Gesetzgebungen, die den Glauben und die Kirche betreffen. Diesen Anspruch als Kirchenoberhaupt hat er einseitig auf alle sieben großen Staaten ausgedehnt. Der Theokrat hat alleinige Herrschaft über die Kirche, wird aber von zwölf von ihm selbst bestimmten Patriarchen beraten, die den ‚Rat des Himmels‘ bilden.

Herblonde

Frankreich, in etwa in den heutigen Grenzen. Von der Atlantikküste und der Grenze zu Nassouwe (BeNeLux) über die Grenze im Osten zu Arlemande (Deutschland) nach Süden. Dort schließt es die heutige Schweiz mit ein und geht dann hinunter an die Grenze zu Rota (Italien). Im Süden grenzt es an Letrion (Spanien). Absolutistische Monarchie. Herrscher ist im Moment König Aristide XVI. Hauptstadt Lutéce (Paris).

Isafjord

Ganz Skandinavien mit der Grenze zu Arlemande (Deutschland) etwa in Höhe Rendsburg. Es gibt großflächige Siedlungsgebiete, die von jeweils einem der acht großen Clans bewohnt werden. Die Clans werden autoritär von einem Clanhäuptling regiert, der aber in einem Thing (Versammlung) gewählt wird, sollte der alte versterben. Im Fall eines Krieges, der nicht nur einen Clan betrifft, wird ein Kriegshäuptling für die Zeit der Feindseligkeiten gewählt. Danach muss dieser wieder abdanken und die Clanhäuptlinge regieren weiter wie vorher. In Isafjord gibt es eine schamanistische Religion, entsprechend der Tiertotems der einzelnen Clans. Keine Hauptstadt, nur die Haupt-Siedlungen der Clanhäuptlinge. Es existiert ein zu keinem Clan gehörender freier Handelshafen, Thorshavn (Bergen).

Arlemande

Deutschland, begrenzt im Norden durch Isafjord, im Osten durch Pomeranien (Polen). Das Gebiet schließt dann Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Österreich mit ein. Ganz im Osten gibt es eine kurze gemeinsame Grenze mit Ruslana (Russland) und im Süden eine mit Rota (Italien). Nördlich von Rota grenzt Arlemande an Herblonde (Frankreich) bis zur Grenze mit Nassouwe (BeNeLux). In Arlemande gibt es eine große Anzahl unabhängiger Fürstentümer in allen möglichen Größen, mit allen möglichen Bezeichnungen. Die zehn mächtigsten Fürsten wählen einen Kaiser, der ohne Rechte und eigene Armee eine Art Repräsentant für die Fürsten ist, die ihn gewählt haben. Hauptstadt Aken (Aachen).

Rota

Italien mit den östlich angrenzenden Adriastaaten Slowenien, Kroatien, Bosnien & Herzegowina, Serbien, Montenegro und den Kosovo. Begrenzt wird Rota im Norden durch Arlemande (Deutschland) und im Westen durch Herblonde (Frankreich). Im Osten hat es gleich drei Grenzen zu Ruslana (Russland), Trakar (Türkei) und Graikos (Griechenland). Im Süden ragt es in das große Binnenmeer (Mittelmeer). In Rota gab es sieben große Fürstenhäuser, in denen die ‚Principes‘ mit absoluter Macht herrschten. Die sieben Fürsten versammeln sich unregelmäßig zu Besprechungen, die aber informell sind und er werden dabei keine Gesetze verabschiedet. Lediglich die Aufgabengebiete Außenpolitik, Militär und Handel werden einem der Fürsten jeweils für ein Jahr eigenverantwortlich übertragen. Hauptstadt ist Tarquinia.

Ruslana

Eine große Landmasse im Osten. Im Norden hauptsächlich begrenzt durch Isafjord (Skandinavien), im Westen durch Livland (Baltikum), Pomeranien (Polen) und Arlemande (Deutschland). Im Südwesten durch Rota (Italien) und im Süden durch Trakar (Türkei) Dabei schließt es die heutigen Staaten Weißrussland, Ukraine, Moldawien und Rumänien mit ein. Die Grenze nach Osten ist unbekannt. Im Nordwesten hat es Zugang zum kleinen Binnenmeer (Ostsee) und im Süden zum Meer von Trakar (Schwarzes Meer). Regiert wird es von einem Kaiser, der die Zentralgewalt über eine ganze Anzahl von Fürstentümern ausübt. Hauptstadt ist Kiew.

Die kleineren Staaten

Erin

Eine Insel im Westen von Britannica. Bestehend aus 32 kleinen Königreichen ohne zentrale Regierung. In Zeiten eines größeren Krieges wird ein Hochkönig gewählt, der nach dem Ereignis wieder abtreten muss. Einige der Kleinkönigreiche sind mit Britannica verbündet. Auf Grund der politischen Struktur gibt es keine Hauptstadt.

Pomeranien

Zwischen Arlemande (Deutschland), Ruslana (Russland) und Livland (Baltikum) gelegen, hat es im Norden einen breiten Zugang zum kleinen Binnenmeer (Ostsee). Es umfasst in etwa Polen in seinen heutigen Grenzen. Königreich mit nur sehr wenigen hohen Adligen, aber dafür umso mehr niederer Landadel. Hauptstadt ist Krakow.

Nassouwe

Ein kleiner Staat nördlich von Herblonde (Frankreich) und westlich von Arlemande (Deutschland). Hat eine sehr ausgedehnte Küste zum kleinen Nordmeer (Nordsee) und umfasst in etwa die BeNeLux-Staaten. Ursprünglich Verbündeter und bevorzugter Handelspartner von Britannica. Wurde von Herblonde besetzt, um eine breitere Basis gegen Britannica zu haben. Wird durch ein Gremium regiert, das von einem Parlament gewählt wird. Die Abgeordneten des Parlamentes werden von den Einwohnern der Provinzen gewählt. Hauptstadt Leiden.

Livland

In etwa die heutigen baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen. Grenzt direkt an Ruslana (Russland) und Pomeranien (Polen). Die Küste verläuft fast bis in die Spitze des östlichsten Ausläufers des kleinen Binnenmeeres (Ostsee). Dort gibt es andauernde Grenzstreitigkeiten mit Ruslana und Isafjord über den genauen Grenzverlauf. Regierungsform ist eine Oligarchie. Ein Konsortium von 25 Handelsherren bestimmt die Politik. Neu aufgenommen werden kann nur, wer ein bestimmtes Vermögen vorweisen kann und dem mindestens fünfzehn Handelsherren zugestimmt haben. Hauptstadt Taljin.

Trakar

In etwa die heutige Türkei mit ausgedehnteren Grenzen nach Westen, die Bulgarien und einen kleinen Teil des heutigen nord-östlichen Griechenlands umfassen. Im Norden grenzt es an Ruslana (Russland), im Westen an Rota (Italien) und im Südwesten an Graikos (Griechenland). Im Süden umfasst es Zypern. Auf dem Festland verlieren sich die Grenzen nach Süden und Osten in unwirtlichen Gebieten von Stammeskriegern. Absoluter Herrscher ist der Kalif. Ihm unterstehen die Oberhäupter der einzelnen Stämme, die wiederum in unterschiedlich große Patriarchate aufgeteilt sind. Hauptstadt ist Bursa.

Graikos

Kleinerer Staat mit vielen vorgelagerten Inseln im großen Binnenmeer. Liegt zwischen Rota (Italien) und Trakar (Türkei). Umfasst hauptsächlich das heutige Griechenland mit den Staaten Mazedonien und Albanien. Die politische Struktur umfasst hier hauptsächlich Stadtstaaten mit mehr oder weniger großem Einzugsgebiet. Die Regierungsformen der einzelnen Städte sind sehr unterschiedlich, doch alle Städte senden einen Vertreter zur Hauptstadt, wo ein Gremium aus 28 Ältesten gewählt wird. Sie bestimmen die Außen- und Verteidigungspolitik des Städtebündnisses. Hauptstadt ist Thebai.

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