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Freibeuter der Meere

Teil 3

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Informationen

 

Nach einer kleinen Wanderung durch den Palast endete der Weg der drei Offiziere vor einer unscheinbaren, massiven Holztür. Percy Seymore klopfte und kurz darauf sah ein Mann mittleren Alters in der Uniform der königlichen Leibwache heraus.

„Der Earl of Scythe für Sir David Owen.“

„Oh, ja. Ihr seid bereits angekündigt. Wenn ihr mir bitte folgen wollt.“

Weiter ging der Weg durch einen Vorraum, auf einen Gang und dann wieder ein Schreibzimmer. Hinter dem Schreibtisch erhob sich ein älterer Mann. Seine pechschwarzen Haare zeigten keine Spuren von grau und er trug ebenso wie alle Soldaten seiner Einheit die schmucklose rot-schwarze Uniform der Leibwache. Lediglich der goldglänzende Brustpanzer gab seinen Rang zu erkennen.

„Sir David? Ich bin David Hansom, Earl of Scythe. Ihre Majestät hat mich geschickt, mich um den jungen Finn O’Brian zu kümmern.“

Der Hauptmann kam um seinen Tisch herum und begrüßte Daniel Hansom erfreut.

„Euer Lordschaft. Ich bin froh zu hören, dass sich endlich eine Lösung für den jungen Mann gefunden hat. Es ist nicht so, dass er hier stören würde oder Ärger macht. Er passt lediglich noch nicht so ganz in diese Umgebung.“

„Inwiefern, Sir David?“

„Nun, am meisten stört das Protokoll. Oder besser, diejenigen, die diesem den nötigen Nachdruck verleihen wollen. Finn ist schon mehr als einmal angeeckt, als er falsche Anreden oder falsche Titel gebraucht hat. Außerdem hat er mich an seinem zweiten Tag hier gefragt, ob er nicht statt im Speisesaal in der Küche essen dürfte.“

Captain Hansom warf seinem Ersten Offizier einen vielsagenden Blick zu.

„Dann wollen wir mal sehen, wo der junge Mann ist.“

Der junge Mann befand sich im Übungsraum der Leibwache und sah zwei Soldaten zu, die eine Runde Schwertkampf mit Übungsschwertern austrugen.

Sir David trat, gefolgt von seinen Besuchern, auf Finn zu.

„Finn, dies ist seine Lordschaft, der Earl of Scythe. Er wird sich ab jetzt deiner annehmen.“

Finn drehte sich um und Clyde zog überrascht seinen Atem ein. Der Junge war groß, wohl über sechs Fuß und er war goldblond. Nein, fast. Es schien eher ein leichtes rotblond zu sein. Das dichte, etwas zerzauste Haar war kurz, nur an der rechten Schläfe hing ein dünner Zopf bis fast auf die Schulter.

Die ganze Erscheinung war beeindruckend. Breite Schultern mit ausgeprägten Muskeln an Brust und Armen. Seine Muskulatur war gut zu erkennen, denn er trug außer ein paar grünen Hosen und dunklen Stiefeln nur ein Stück grünen Tartan, der über die linke Schulter und um die Hüfte geschlungen war. Festgehalten wurde das ganze durch einen breiten Ledergürtel mit einer runden Schließe. Seine Haut hatte einen hellen bronzeton und auf der nackten Brust und Schulter war eine blaue Bemalung in den Umrissen eines wilden Tieres erkennbar. Um den Hals trug er einen goldenen Halsring in Form einer Schlange mit einem Kopf an jedem der beiden freien Enden.

Das einzige, was den harten, wilden Eindruck milderte, war das Gesicht. Die Königin hatte zwar gesagt, er sei bereits achtzehn, doch der jugendliche Gesichtsausdruck war noch erhalten und ein Paar strahlend blaue Augen sah die drei Männer vor ihm eher fragend, als drohend an. Doch dann murmelte er etwas, was nur Clyde verstand.

Wurde ja auch verdammt Zeit, dass sich jemand um mich kümmert.“

Clyde zuckte zusammen und fuhr ihn an.

Nur weil du glaubst, dass hier keiner gälisch spricht, kannst du dir deine Kommentare trotzdem verkneifen. Der Earl ist auf den ausdrücklichen Wunsch der Königin hier um dich kennenzulernen. Er weiß, warum dein Großvater dich hier hergeschickt hat und er kann dir einen Platz außerhalb des Palastes bieten. Aber nur, wenn du das willst.“

Der Wechsel im Gesichtsausdruck von Finn war erstaunlich. Von grimmig veränderte er sich in kürzester Zeit über erstaunt zu entsetzt und dann zu peinlich berührt. Clyde verfolgte überrascht, wie Finns Gesicht rot anlief und er wie ein geprügelter Hund zu Boden sah.

„In Ordnung. Ich glaube, ich will gar nicht wissen, was das gerade war, aber ich habe mit dir zu reden Finn. Sir David, könnte ich kurz euer Büro nutzen?“

„Selbstverständlich, Euer Lordschaft.“

Sir David ging schon voran, als Finn in eine Ecke eilte und dort seine Waffen aufhob. Clyde machte wieder große Augen, als er sah, was Finn alles aufsammelte. Das erste war eine schwere Streitaxt, die er sich mit schnellen Handgriffen auf den Rücken schnallte. Dann folgte ein Schwert und zum Schluß ein fast mannshoher Langbogen.

Daniel Hansom und Percy Seymore wechselten einen schnellen Blick, sagten aber nichts. Sie folgten alle Sir David zu seinem Büro. Die nächste halbe Stunde sprach Captain Hansom alleine mit Finn und sie schienen zu einer Einigung gekommen zu sein.

„Finn wird uns an Bord begleiten. Er ist dort auf jeden Fall besser aufgehoben, als hier im Palast. Sir David, ich danke euch für eure Unterstützung.“

„Sehr gerne, Euer Lordschaft. Ich bin froh, dass es zu einer Lösung gekommen ist. Auch im Interesse von Finn.“

Nach der Verabschiedung ging es zurück an Bord. Clyde lief eine ganze Zeit hinter Finn und beobachtete ihn. Irgendetwas nagte bei seinem Anblick an Clydes Gedächtnis, doch er konnte den Gedanken nicht zu fassen bekommen. Na, vielleicht an Bord.


Zurück an Bord legte Clyde zunächst seine geliehene Uniform ab und zog sich seine alten Sachen wieder an. Er würde mit Diethard ein ruhiges Plätzchen suchen, um sich zu bedanken. An Oberdeck fand er auf einer Rolle aufgeschossener Tampen endlich die nötige Ruhe, um über die letzten Ereignisse nachdenken zu können.

Er sollte also tatsächlich dabei mithelfen, feindliche Spione zu fangen, obwohl er so gut wie keine Erfahrungen hatte? Dann wurde ihm klar, dass es wichtig war, neue Leute, neue Gesichter mit ins Spiel zu bringen. Wer allzu bekannt war, bekam keine Informationen mehr und wurde eher ein Ziel feindlicher Angriffe.

Dann hatte er die Britannische Königin getroffen, die so anders war, als er es von ihr erwartet hätte. Sicherlich, am Hofe des Duke of Lonlothian war es auch eher familiär zugegangen, doch hier, in Caerdon? Clyde grinste. Die Königin war bestimmt froh, auch mal dem ganzen Protokoll zu entkommen.

Und natürlich seine Einstellung gegenüber den anderen Jungen und Männern. Am Morgen, nach der Nacht mit Frank, hatte er etwas verspürt, was er so noch nicht erlebt hatte. Ein Gefühl von Vertrautheit und Zuneigung. Für Liebe war es wohl nicht stark genug, das gestand er sich ein. Aber es war etwas, das ihn verbunden hatte. Als er sich vorstellte, diese Verbundenheit sei ein kleiner Faden, musste er leise lachen, denn wie würde es aussehen, wenn er mehrere dieser Fäden mit sich herumtrug? Mehrere? Wie kam er jetzt auf diese Idee? Obwohl er alleine war, lief er rot an, als er sich bewusst wurde, was es bedeutete, wenn er mehrere dieser Fäden trug. Es hieß dann ja wohl, dass er mit mehreren anderen Jungen…

Vor ihm wanderte einer der Seesoldaten über das Oberdeck und kontrollierte die Handwaffen in den Waffenregalen bei den Masten. Kritisch betrachtete Clyde die grüne Uniform. Der Schnitt war ja nicht schlecht, aber die Farbe gefiel ihm nicht. Sie sollten als Scouts vielleicht noch unauffälliger sein. Er musste später unbedingt mit Feliciano sprechen. Vielleicht hatte der ja eine Idee. Bei dem Gedanken an Einsätze in der Nacht stellte Clyde sich vor, wie eine komplett schwarze Uniform aussehen würde.

Finn hatte der Erste Offizier kurzentschlossen in der Junior-Messe untergebracht. Im Moment wanderte Finn jedoch etwas ziellos über das Oberdeck und sah sich staunend um, wobei er versuchte, den Leuten möglichst nicht im Weg zu stehen. Von seinen Waffen trug er nur seinen Langbogen bei sich, die anderen hatte er vorsichtshalber in der Messe gelassen.

In diesem Moment machte es bei Clyde - schnapp - und all die kleinen Ideen, die er gehabt hatte, fielen an die richtige Stelle. Genau das war es, was ihm für den Einsatz der Scouts noch gefehlt hatte. Eine tödliche, lautlose Waffe. Wie hatte der Captain gesagt? Sie müssen unauffällig sein, schnell, lautlos, also für die unterschiedlichsten Einsätze verwendbar.

Na gut, unauffällig war Finn nun gerade nicht, aber schnell und lautlos schien da schon eher zuzutreffen.

Clyde eilte zur Kapitänskajüte und klopfte.

„Was gibt es?“

Clyde trat ein und schloss die Tür.

„Geht das schnell? Ich muss gleich nach oben, wir wollen noch mit der Tide auslaufen.“

Clyde schaffte es, innerhalb von fünf Minuten seine Gedanken über die Konzeption von Einsatz, Bewaffnung und Ausrüstung der Scythe-Scouts abzuspulen.

Daniel Hansom sah ihn eine kurze Zeit nachdenklich an, dann nickte er.

„Ja, so machen wir es. Eigentlich wollte ich noch bis Tarray warten, bis ich die Umgliederung der Seesoldaten und die Indienststellung der Scouts bekanntgebe, aber das machen wir am besten schon heute. Und du bist dir sicher, was das erste Personal anbelangt?“

„Vollkommen. Ich werde die Betreffenden gleich nach der Bekanntgabe fragen. Ich hoffe nur, Feliciano hat nichts dagegen, wenn ich ihm jemanden klaue.“

Der Captain lachte.

„Wohl kaum. Der wird genug Arbeit mit seiner Erweiterung haben. Ob da einer mehr oder weniger fehlt, fällt nicht ins Gewicht. Dann los. Ich muss auf das Achterdeck und du zu deinen Scouts.“

Clyde grinste und grüßte zackig.

„Jawohl, Sir.“


Während das Schiff langsam auf westlichen Kursen den Hafen verließ, suchte Clyde nach seinem ersten ‚Opfer‘. Er fand Frank Beutler an der Steuerbordreling.

Der hellblonde Seesoldat hatte seinen Karabiner an die Reling gelehnt und sah hinaus. Clyde stellte sich neben ihn.

„Hallo, Frank. Heute so nachdenklich?“

„Clyde! Schön dich zu sehen. Ich muss zugeben, ich habe schon ein paarmal an dich gedacht.“

Frank errötete etwas bei seinem Geständnis und auch Clyde wurde es etwas wärmer.

„Das ist nett. Du bist der erste, der mir gesagt hat, dass er an mich denkt. Aber ich bin leider wegen etwas anderem gekommen.“

Frank drehte sich neugierig zu ihm.

Clyde zögerte etwas, denn noch war ja nichts offiziell bekanntgegeben worden. Doch dann erzählte er Frank von einer Idee, die er angeblich hatte und beschrieb die Aufgaben der Scouts.

„Aber so etwas machen die Seesoldaten doch schon.“

„Nein, nicht direkt. Bei meiner Idee liegt die Hauptaufgabe im Anschleichen, Beobachten, und Sammeln von Informationen. Und dann natürlich im lautlosen Beseitigen von Vorposten und anderen neugierigen Zeitgenossen.“

„Wie willst du denn jemanden lautlos beseitigen?“

„Dafür gibt es einen Dolch.“

„Und wenn du nicht nah genug herankommst?“

„Schon mal was von Pfeil und Bogen gehört?“

Frank sah ihn halb entsetzt, halb belustigt an.

„Ja, ist klar. Wo willst du jemanden herkriegen, der damit umgehen kann? Das dauert Jahre, bis man damit vernünftig treffen kann.“

„Und wenn ich schon jemanden hätte?“

„Das ist ja schön und gut, aber ich kann nicht mit dem Bogen schießen.“

„Sollst du ja auch gar nicht. Der Karabinerschütze ist derjenige, der die Beobachtungen macht, während er von dem Bogenschützen Deckung bekommt. Der Feuerstock ist nur für den Notfall.“

Frank Beutler brauchte nicht lange nachzudenken.

„Dann bin ich der erste, der sich dafür freiwillig meldet.“

„Ich nehme dich beim Wort.“

Clyde verabschiedete sich und überraschte Frank damit, dass er ihm zum Abschied einen schnellen Kuss gab.

Der nächste Fall dürfte etwas schwieriger werden. Clyde ging hinunter in die Junior-Messe. Finn saß in einer Ecke und starrte unglücklich vor sich hin.

„Hallo, so sieht man sich wieder.“

Finn sah auf und erkannte Clyde, der sich zu ihm setzte.

„Es geht mich ja nichts an, aber du siehst trotzdem nicht so ganz glücklich aus, obwohl du jetzt dem Palast entkommen bist.“

„Richtig“, schnappte Finn „es geht dich nichts an.“

Dann besann er sich nach einem Moment.

„Entschuldige bitte. Ich sollte es nicht an dir auslassen. Aber in letzter Zeit scheint einfach alles schief zu laufen. Ich bin der jüngste von drei Brüdern. Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben und seitdem ist unser Vater ziemlich grüblerisch und grantig geworden. Eigentlich sollte er noch zu Großvaters Lebzeiten die Herrschaft über Loch Garman übernehmen. Aber er weigert sich und hat deswegen schon öfter mit Großvater gestritten.“

Clyde erwiderte nichts, sah Finn nur erwartungsvoll an.

„Na, wir drei durften tagein, tagaus irgendwelche schwachsinnigen Waffenübungen machen, als ob der Feind direkt vor den Toren stehen würde. Manchmal kam es mir so vor, als ob Großvater unserem Vater nicht trauen würde und er einen von uns zu seinem Nachfolger machen wollte.“

Finn seufzte tief und sank noch mehr in sich zusammen.

„Dann kam bei mir allerdings das Desaster mit Lared. Er war einer der Soldaten, mit denen wir die Waffenausbildung machten. Lared und ich sind uns dabei etwas näher gekommen, als wir eigentlich vorhatten.“

Trotz der schlechten Beleuchtung und des dunklen Teints seines Gegenübers erkannte Clyde, wie Finn rot anlief.

„Und dabei seid ihr aufgeflogen.“

Finn nickte und schluckte schwer.

„Es ging eine ganze Weile und wir hatten geglaubt, niemand hätte etwas bemerkt. Bis wir von einem unserer lieben Mitschüler im Heuschober aufgestöbert wurden. Und stell dir vor, der hatte sogar einen dieser blöden Druiden dabei, als Zeugen. Er muss uns wohl schon eine ganze Zeit beobachtet haben. Plötzlich war das Geschrei groß.“

Clyde runzelte die Stirn.

„Wieso eigentlich. Ich meine, das ist doch nichts seltenes, zumindest bei den jüngeren.“

„Eigentlich nicht, aber sie haben uns erwischt als ich, also als…, verdammt, als ich meinen Arsch hingehalten habe. Ich hätte mit Lared alles Mögliche machen können, aber nicht das. Damit war ich für die Schar der Krieger nicht mehr zugelassen. Alle haben über mich gelacht und einer hat sogar gefragt, ob ich nicht lieber ins Frauenhaus ziehen will.“

Finn knirschte mit den Zähnen und ballte seine Fäuste. Clyde schüttelte nur den Kopf. Finn entspannte sich etwas und sein Blick schien in eine weite Ferne zu gehen.

„Als potentieller Nachfolger für meinen Großvater war ich nun natürlich untragbar. Die anderen Anführer der Krieger haben meinen Großvater unter Druck gesetzt. Entweder ich verschwinde, oder sie setzen sich mit dem Fürsten von Ceatharlach in Verbindung.“

Bei Clydes fragendem Blick musste Finn nun doch unwillkürlich lächeln.

„Die ganzen kleinen Fürstentümer haben sehr unterschiedliche Beziehungen zueinander. Viele sind durch Verträge oder auch Heirat miteinander verbunden. Der Fürst von Ceatharlach ist der Vetter meiner Großmutter und macht sich schon seit geraumer Zeit Hoffnungen über eine Herrschaft von Loch Garman. Meine beiden Brüder waren zwar der Meinung, ich sollte bleiben, doch Großvater hat gar nicht lange überlegt.“

Clyde sah Finn etwas verwundert an. Der schien ja wirklich völlig fertig zu sein, wenn er einem Fremden gleich seine ganze Lebensgeschichte erzählte. Auch Finn schien das zu merken, denn er suchte nun verzweifelt nach einem Themenwechsel.

„Der Earl… ich meine, der Captain hat gesagt, ich soll mich an dich halten, was die Einweisung an Bord betrifft.“

Clyde stöhnte und verfluchte sein Pech. Wieso sollte ausgerechnet er Finn einweisen? Er war doch auch erst neu. Schnell kramte er in seinem Gedächtnis.

„Wenn das so ist, dann fangen wir gleich hier an. Dies ist die sogenannte Junior-Messe, weil hier…“

Clyde verbrachte den ganzen Abend mit Erklärungen, Vorstellungen und Demonstrationen. Zu seinem Erstaunen stellte sich Finn mit seiner Hängematte gar nicht mal so ungeschickt an. Auch zuckte der mit keiner Wimper, als sich alle auszogen. Nach wenigen Sekunden schwang er sich ebenfalls splitternackt in seine Hängematte und Clyde hatte wieder etwas zu träumen.

Als Liam und Ragnar kurz vor Mitternacht für ihre Wache geweckt wurden, stand Clyde ebenfalls auf. Die beiden Seekadetten sahen ihn erstaunt an, beeilten sich aber dann, an Deck zu gehen. Wenig später kamen Jean-Luc und Diethard herunter in ihr Deck. Wortlos nahm Clyde Diethard an die Hand und zog ihn mit sich, weiter nach vorne zur Segellast.

Eine gute Stunde später kuschelte sich Diethard eng an Clyde, während dieser ihm einen langen, abschließenden Kuss gab. Langsam ließ Clyde seinen Blick an der nackten Gestalt neben ihm herunterwandern. Im schwachen Schein der Handlaterne konnte er nun die kleinen Unterschiede zwischen ihnen beiden ausmachen. Diethard war zwar genau so groß wie er und er hatte ebenfalls hellrote Haare und grüne Augen, doch sein Körper war noch etwas ausgeprägter, muskulöser. Dann hatte er zwei Narben, eine knapp unter der rechten Brustwarze, die aussah wie ein Messerstich, die andere war eine Einschussnarbe, oben in der linken Schulter.

Diethard hob den Kopf und sah Clyde an.

„Du, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich mag dich.“

Clyde zögerte merklich mit seiner Antwort.

„Ich finde dich auch sehr nett. Ich weiß, es klingt vielleicht etwas blöd, aber ich mag dich auch, sonst wäre ich bestimmt nicht hier. Aber ich habe bei dir, wie bei einem anderen Jungen, allerdings ein etwas merkwürdiges Gefühl.“

Diethard runzelte die Stirn.

„Na ja, es ist so, als ob ich ein Bisschen von dem, was ich bei meinem… ähhh, Gefühl beim… ähhh…“

„Höhepunkt?“

„Ja. Also dieses absolute Hochgefühl, als ob ich dabei einen winzigen Teil von mir bei euch hinterlassen hätte. Es ist wie ein kleiner, dünner Faden, der uns verbindet.“

Clyde seufzte und sah Diethard neben ihm an.

„Es ist wohl nicht gerade das, was du dir erhofft hattest?“

„Nein, ist es nicht. Aber du erstaunst mich. Ich habe bisher nur ein einziges Mal von jemandem gehört, der seine, hmmm… Beziehungen so ähnlich beschrieben hat. Es war damals, als ich noch in Arlemande war und dort in dem Bordell gearbeitet habe.“

Clyde fuhr herum.

„In einem Bordell? Aber du bist doch erst… wie alt?“

„Siebzehn. Seit der Frühjahrssonnwende. Ich habe dort ja auch nicht als Hure gearbeitet, sondern als Hausjunge. Da war ich zwölf. Einer der älteren Jungs hat einmal bei einer Pause davon erzählt. Er hatte schon zahlreiche Freier, die ihm nichts außer Geld bedeuteten, aber er kannte einige wenige Jungen und auch Männer, zu denen er eine besondere Beziehung hatte.“

Clyde lauschte gespannt der Geschichte, während eine Hand völlig unbewusst an Diethards nacktem Körper herunterwanderte.

„Er beschrieb es wie ein Spinnennetz. Zarte Fäden, die ihre Gefühle miteinander verband und doch nicht so stark, dass sie nur einem gehörten. Auch gab es Querverbindungen der anderen Jungen zueinander, die alle in dem Netz miteinander eingewoben waren.“

Clyde versuchte, sich diese Verbindungen vorzustellen, doch er wurde etwas von Diethards Händen abgelenkt, die nun ebenfalls auf Wanderschaft gegangen waren.

Diesmal war es Clyde, der sich eng an Diethard kuschelte und ernsthaft überlegte, ob er sich dem Jungen nicht gänzlich hingeben sollte. Sein erstes und bisher einziges Mal, war die mehr als brutale und schmerzhafte ‚Einweisung‘ auf dem Sklavenmarkt gewesen, die Clyde bis jetzt noch davon abhielt, auch den letzten Aspekt der körperlichen Liebe mit jemandem zu teilen.

Diethard regte sich, griff hinüber zu seinen Sachen und zog etwas hervor.

„Hier. Ich möchte dir etwas geben. Es klingt für dich möglicherweise etwas albern, weil du doch selber etwas mit Magie zu tun hast, aber diese Münze hier hat mir eine alte Frau auf einem Jahrmarkt gegeben.“

Clyde hob erstaunt die Augenbrauen, nahm aber kommentarlos die Münze entgegen. Es war eine große Silbermünze mit einer Prägung, die Clyde noch nie zuvor gesehen hatte. Die Vorderseite zeigte einen männlichen Kopf im Profil mit einer Umschrift, die Clyde nicht entziffern konnte. Die Rückseite zeigte in der Mitte ein Herz, und am Rand verteilt, vier unterschiedliche Symbole. Neben dem Herzen konnte Clyde bei dem schwachen Licht lediglich einen Anker, eine Raute und etwas, das wie ein Schwert aussah, erkennen.

„Ich sollte Besorgungen machen, doch bei uns in der Stadt war ein Jahrmarkt und dort war auch diese alte Frau, zusammen mit den anderen Gauklern. Sie machte ein paar lustige Vorführungen und begann dann, die Zukunft vorherzusagen. Ich hatte kein eigenes Geld, aber ihr Blick hielt mich gefangen und sie zog mich in ein Zelt. Dort sah sie mir nur tief in die Augen, nicht wie bei den anderen auf die Handfläche. Dann drückte sie mir die Münze in die Hand.

Hier, Rotschopf. Die wirst du brauchen. Du wirst jemandem begegnen und du wirst wissen, dass er derjenige ist, dem du die Münze geben musst.“

„Dann hat sie mich aus dem Zelt gedrängt und ist in der Menge verschwunden. Als ich meine Besorgungen beendet hatte, stellte ich fest, dass das Zelt abgebaut und die Frau verschwunden war.“

Clyde drehte die Münze unschlüssig zwischen seinen Fingern.

„Und du bist sicher, dass ich sie bekommen soll?“

„Ja. Ich weiß nicht, warum. Aber ich glaube bestimmt, dass du derjenige bist.“

Clyde bedachte Diethard mit einer Unzahl kleiner Küsse, die nicht unerwidert blieben.


Am nächsten Morgen hatte Clyde einen sehr müden, aber auch sehr glücklichen Gesichtsausdruck. In der Junior-Messe grinsten ihn einige wissend an, sagten aber nichts. Am Vormittag führte Clyde seinen Schützling an Deck herum. Als sie zu den Waffen am Großmast kamen, nahm Clyde die Gelegenheit wahr, Finn nach seinem Bogen zu fragen.

„Das ist eine der Waffen, die ich wirklich gerne benutze. Deutlich schneller als ein Karabiner und immer noch schneller als eine Armbrust. Dabei genauso durchschlagkräftig und zielgenau. Ich kann ein Ziel von der Größe eines Apfels auf fünfzig Meter treffen.“

Clyde sah Finn ungläubig an. Er hatte in Banbhaidh noch nie jemanden getroffen, der dermaßen zielgenau mit einem Bogen war. Seine eigene Fähigkeit durfte er dabei nicht betrachten. Er wollte ja Scouts haben, die auch ohne Magie gut schießen konnten.

„Fünfzig Meter? Einen Apfel?“

„Soll ich es dir beweisen?“

Clyde ging mit Finn im Schlepptau hinüber zu Frank Beutler.

„Hallo Frank, das ist Finn. Er hat gerade behauptet, er trifft mit seinem Bogen einen Apfel auf fünfzig Meter.“

Frank sah Finn aufmerksam und anscheinend auch sehr interessiert an.

„Also du bist das mit dem Bogen.“

Nun sah Finn verwirrt aus, aber Frank winkte ab.

„Schon gut. Ich merke schon, worauf das hinausläuft. Wir haben keine Zielscheiben an Bord, aber wir könnten ein einfaches Brett aufstellen. Am besten vorne, bei einem der Jagdgeschütze. Von der Vorderkante des Achterdecks sind das ziemlich genau vierzig Meter. Soll ich das Brett vorne anschlagen?“

Clyde nickte und schickte Finn los, seinen Bogen holen. Inzwischen waren ein paar Männer der Besatzung aufmerksam geworden und die Nachricht begann sich schnell zu verbreiten. Schon wurden die ersten Wetten abgeschlossen.

Das Brett wurde am Backbord-Jagdgeschütz befestigt und Finn ging zurück bis zum Achterdeck, als ihn der Captain hochwinkte.

„Du kannst von hier aus schießen.“

Finn nickte dankbar und prüfte den Wind. Da das Schiff fast genau vor dem Wind fuhr, war nicht sehr viel davon zu spüren. Dennoch prüfte Finn genau den einfallenden Wind und versuchte, sich auf die Bewegungen des Schiffs einzustellen.

Der erste Pfeil traf das etwa zwei Fuß breite Brett fast ganz am rechten Rand. Die beiden folgenden Pfeile trafen genau die Mitte und waren keine zwei Zoll voneinander entfernt.

Die meisten Besatzungsmitglieder starrten mit offenen Mündern nach vorne, während einige Wenige ihren Wettgewinn eintrieben.

Finn sammelte in aller Ruhe seine Pfeile ein und kam dann zu Clyde.

„Glaubst du mir jetzt?“

Clyde seufzte und nickte.

„Ja. Bitte entschuldige, dass ich an deinen Worten gezweifelt habe. Ich sollte es eigentlich besser wissen. Eigentlich wollte ich dich heute Morgen etwas fragen, doch jetzt traue ich mich nicht mehr so ganz.“

„Versuch es einfach.“

Clyde erklärte Finn nun das gleiche Konzept der Scythe-Scouts, das er gestern auch Frank erzählt hatte. Dabei stellte er die Rolle des Bogenschützen als lautlosen Aufklärer und Beschützer besonders heraus.

„Du glaubst ernsthaft, eine solche Truppe könnte tatsächlich eingesetzt werden? Und dann willst du ausgerechnet mich bei diesen Scouts haben? Ich habe zwar gelernt mit Waffen umzugehen, aber von den anderen Sachen habe ich keine Ahnung. Meinst du das wirklich ernst?“

„Finn, ich meine es todernst. Du bist ein hervorragender Bogenschütze und damit genau das, was ich gesucht habe. Ich werde noch heute meine Idee dem Captain vortragen Ich kann dir nichts versprechen, außer dass wir hart arbeiten werden. Bist du dabei?“

Finn sah Clyde zweifelnd an, als ob er nicht ganz glauben könnte, was er gehört hatte, doch dann strahlte er.

„Ja. Ich bin dabei.“

Frank Beutler, der in einigem Abstand gewartet hatte, sah das freudige und erleichterte Gesicht von Clyde. Langsam kam er näher.

„Ich vermute, du hast deinen Bogenschützen.“

Clyde nickte enthusiastisch. Frank fand ihn richtig niedlich, wenn er so strahlte.

„In Ordnung, dann werde ich mein Versprechen auch einlösen. Ich bin dabei.“

Clyde strahlte fast noch mehr. Dann trat er dicht an Frank heran und flüsterte mit ihm, bis dieser laut auflachte.

„Du brauchst mich nicht mehr zu bestechen. Aber ich nehme die Einladung sehr gerne an.“

Damit verabschiedete sich Frank Beutler und Clyde wandte sich an Finn.

„Ich muss jetzt erst noch etwas anderes erledigen. Ich bin in spätestens einer Stunde wieder da.“

„Sag mal, was hast du dem Seesoldaten denn versprochen?“

Clyde grinste, während er sich umdrehte.

„Mich.“

Damit ließ er Finn sprachlos und mit offenem Mund stehen.


Pünktlich zum Wachwechsel am Mittag ließ der Captain die Seesoldaten auf dem Mitteldeck vor dem Großmast antreten. Es sollte eine offizielle Musterung sein und nun sah Clyde zum ersten Mal die Paradeuniform der Seesoldaten.

Sie war noch etwas dunkler als die Arbeitsuniform und offensichtlich von eleganterem Schnitt. Wenn er hätte raten sollen, er hätte vermutet, die Dinger wären maßgeschneidert. Die kurzen Jacken mit ihren kleinen Stehkragen wurden zu Clydes Überraschung am Hals offen getragen. Dort trug jeder der Soldaten ein gelbes Halstuch.

Felicianos Jacke war an den schwarzen Ärmelaufschlägen und an der Front ebenfalls gelb abgesetzt. Dazu trug er als Offizier noch eine gelbe Schärpe unter seinem Gürtel, an dem sein Säbel hing.

Was Clyde zuerst nicht realisierte, bemerkte er dann doch, als Feliciano sich etwas nervös durch die Haare fuhr. Sie trugen keine Kopfbedeckung. Niemand an Bord schien eine zu tragen und Clyde fragte sich, ob überhaupt eine für diese Uniformen vorgesehen war. Eigentlich unverständlich, denn die Mode schrieb ja Kopfbedeckungen in allen Formen und Farben vor. Das galt auch und besonders für die Armee und die Marine. Nur eben nicht hier.

Der Captain erschien auf dem Achterdeck und kam die Treppe herunter auf das Hauptdeck. Feliciano drehte sich noch einmal kurz zu seiner kleinen Truppe um und nahm dann Haltung an.

„Seesoldaten stillgestanden. Zur Meldung, Augen rechts!“

Feliciano grüßte mit gezogenem Säbel und der Captain schritt die kurze Reihe der Seesoldaten ab. Am Ende nickte er Feliciano zu, der wieder das Kommando übernahm.

„Augen gerade-aus. Seesoldaten rührt euch.“

Captain Daniel Hansom sah an der Reihe der Seesoldaten entlang und seufzte unwillkürlich. Er hatte versucht, wenigstens bei ihnen die jüngeren Aspiranten auszusortieren. Soviel er wusste, war dort niemand jünger als siebzehn, was er auch schon für bedenklich hielt. Doch bevor seine Gedanken abschweiften, räusperte er sich laut.

„Meine Herren! Ich habe sie heute hier antreten lassen, weil ich einige Veränderungen zu verkünden habe, die sie betreffen.“

Der Captain konnte aus den Augenwinkeln heraus erkennen, dass Feliciano blass wurde.

„Die Seesoldaten in ihrer jetzigen Stärke und Zusammensetzung entsprechen nicht mehr den Anforderungen und Ideen, die ich in Zukunft an sie haben werde.“

Eine leichte Nervosität schien sich unter den Seesoldaten breit zu machen.

„Aus diesem Grund werden die Seesoldaten umgegliedert und ihre Anzahl wird erweitert. Sie werden bei Ankunft in Tarray in zwei verschiedene Gruppen aufgeteilt, die dann dort personell ergänzt werden. Es gibt in diesem Zusammenhang auch noch Veränderungen in der Führung der Seesoldaten.“

Jetzt lief Feliciano rot an und Clyde wunderte sich, wie er die ganze Zeit den Säbel so ruhig halten konnte.

„Um es kurz zu machen, die beiden Gruppen werden jeweils fünfzehn Mann umfassen. Jede Gruppe bekommt eine eigene Führung. Die erste Gruppe einen Offizier, die zweite Gruppe bekommt einen Sergeanten. Dazu gibt es in jeder Gruppe einen Corporal. Der jetzige Leutnant Feliciano de Luca wird ab sofort Hauptmann und Kommandeur aller Seesoldaten.“

Jetzt wieder blass. Clyde bewunderte den Farbwechsel von Feliciano.

„Der Offizier der ersten Gruppe wird, ebenfalls ab sofort, Leutnant Pascal Lambert.“

„Alles weitere, wie die genaue personelle Besetzung und sonstigen Ernennungen der Unteroffiziere, wird in Kürze bekannt gegeben.“

Alle erwarteten jetzt, dass der Captain seine Rede beendete, doch er räusperte sich nur kurz.

„Des Weiteren habe ich eine Ankündigung zu machen. Wir haben ebenfalls festgestellt, dass wir sowohl in den Häfen, als auch zur Unterstützung der Seesoldaten eine deutlich bessere Aufklärung und Informationsbeschaffung benötigen. Aus diesem Grund wird den Truppen der Grafschaft Scythe eine neue Einheit hinzugefügt. Mit sofortiger Wirkung werden die Scythe-Scouts aufgestellt. Der Umfang dieser Truppe wird absichtlich klein gehalten und die Aufnahme dort geschieht nur auf Einladung. Kommandeur der Einheit ist der mit sofortiger Wirkung beförderte Leutnant Clyde Cameron.“

Frank Beutler suchte Clyde in der Menge der Zuschauer und bemerkte dessen unschuldig zum Himmel blickende Augen. Von wegen, eine vage Idee. Na warte.

Feliciano bekam gerade noch mit, wie der Captain grüßte und hob seinen Säbel.

„Augen rechts!“

„Augen gerade-aus. Seesoldaten rührt euch.“

„Auseinandertreten!“

Die Seesoldaten begannen sich zu verteilen und Feliciano fuhr herum. Sein hektischer Blick suchte Clyde. Der versuchte sich unauffällig zu verkrümeln, doch Feliciano hatte ihn erspäht.

„DU! Komm sofort her!“

Mit immer noch gezogenem Säbel stürmte Feliciano auf Clyde zu. Eine große Gestalt versperrte ihm plötzlich den Weg.

„Suchst du jemanden?“

Feliciano sah zu Sven auf und schluckte unwillkürlich. Etwas umständlich steckte er endlich seinen Säbel weg.

„Ja. Diesen neuen Leutnant mit dem breiten Grinsen im Gesicht.“

Sven lachte und nickte wissend.

„Wir schicken ihn zu dir, sobald du dich beruhigt hast - Hauptmann.“

Feliciano sah an dem blonden Riesen empor und bestätigte dann zustimmend.


Sie saßen zu dritt auf Felicianos Kammer und redeten schon fast eine Stunde. Clyde hatte Feliciano und Pascal in die Vorgeschichte eingeweiht und das Konzept vorgestellt, dass er sich für seine Scouts ausgedacht hatte. Hierbei ging es zunächst nur um den Einsatz als Aufklärer. Mehr brauchten die Seesoldaten erst einmal nicht zu wissen.

Feliciano de Luca war hin und hergerissen. Zum einen war er fasziniert von der Idee, die hinter den Scouts stand, zum anderen beneidete er Clyde um seine Stelle. Das wäre auch was für ihn gewesen, aber er war ja jetzt Kommandeur aller Seesoldaten.

„Der Captain hat gesagt, ihr dürft euch eure Leute selbst aussuchen. Du wirst doch nicht meine besten Leute plündern, oder?“

„Keine Angst. Ich habe bisher ja erst zwei. Und nur einer davon ist von den Seesoldaten. Aber hast du auch schon eine Idee, wie das bei euch werden soll?“

„Das wird wohl kein Problem werden. Beide Gruppen bekommen die gleiche Ausbildung. Wir müssen nur das alte Personal vernünftig verteilen.“

Jetzt meldete sich Pascal das erste Mal zu Wort. Der großgewachsene, schlanke Herblonder war für seine Schweigsamkeit bekannt und Clyde und Feliciano sahen ihn erwartungsvoll an.

„Der Captain hat davon gesprochen, dass wir für jede Gruppe noch einen Corporal ernennen dürfen. Ich würde vorschlagen, der Corporal bekommt, sagen wir, fünf Mann, die speziell als Scharfschützen ausgebildet werden. Vielleicht sogar mit einer besonderen Bewaffnung.“

Feliciano sah Pascal mit offenem Mund an.

„Jetzt weiß ich, warum dich der Captain befördert hat. Über die Idee müssen wir unbedingt noch reden. Wir haben ja nur noch, hm… zehn, nein neun Mann.“

Feliciano sah Pascal an, dann nahm er seine Finger zur Hilfe.

„Wir waren zwölf und ein Offizier. Von den zwölf gehen ein neuer Offizier und ein Sergeant ab, macht zehn. Dann will Clyde noch einen haben, macht neun.“

Feliciano grinste Clyde breit an.

„Ich nehme an, es ist Frank Beutler, den du dir ausgesucht hast.“

Clyde hob seine Augenbrauen, doch dann lachte er.

„Ist es so offensichtlich? Ja, ich mag ihn, aber das hat nichts mit der Auswahl zu tun. Ich benötige nur einen guten Karabinerschützen. Und Finn O‘Brian mit seinem Bogen. Ah ja, wo wir gerade dabei sind, hast du noch jemanden, der noch als Aufklärer geeignet wäre?“

„Hey, wir waren doch gerade nur bei einem. Aber davon abgesehen, ich habe jemanden, der zu deiner Truppe passen würde. Bei uns sind seine Talente verschwendet.“

„Erzähl mir nichts. Ich möchte ihn demnächst selber kennenlernen und so wenig über ihn wissen wie möglich. Da gibt’s dann keine Vorurteile. Und wunder dich nicht, wenn ich meine Truppe nicht gleich auf die volle Anzahl bringe. Ich brauche Leute mit besonderen Begabungen. Das braucht Zeit.“

„Meinetwegen. Aber wo sollen wir die ganzen Leute denn unterbringen. Hier ist ja nun wirklich kein Platz für alle. Wir waren bis jetzt nur zwölf Mann und nun haben meine beiden Gruppen alleine ja schon 30 Mann.“

Clyde machte ein ratloses Gesicht.

„Ah, gute Frage. Glaubst du, die Gruppen können einzeln untergebracht werden? Bei uns ist das noch nicht so tragisch, aber wenn ihr erst mal vollzählig seid…“

„Meinetwegen, aber ich wüsste immer noch nicht, wo.“

Clyde schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Ich fürchte, ich muss noch einmal mit dem Captain sprechen.“

Clyde ging hoch auf das Achterdeck, doch dort war der Captain nicht. Als er sich auf den Weg zur Kapitänskajüte machen wollte, sah der den Captain zusammen mit dem Ersten Offizier und dem Schiffszimmermann den Niedergang zum Batteriedeck hochkommen.

„Clyde, du kommst wie gerufen. Ich habe gerade mit Percy und Mister Vocke die unteren Lasten besichtigt. Es gibt unterhalb des Batteriedecks einen offenen Raum, der als Stauraum für sperrige Güter vorgesehen war. Mister Vocke könnte dort einen Raum abtrennen, in dem etwa zehn bis zwölf Mann untergebracht werden könnten. Für dich habe ich leider noch keine Lösung finden können, es sei denn, du würdest dir mit Feliciano die kleine Kammer teilen.“

Clyde schüttelte energisch den Kopf, während er strahlte.

„Nein, ich werde ihn nicht belästigen. Pascal braucht ja auch noch eine neue Unterkunft. Ich werde bei meinen Leuten wohnen. Aber die Seesoldaten benötigen auch noch eine weitere Unterkunft. Feliciano meinte, notfalls könnten die beiden Gruppen getrennt untergebracht werden. Da würden sie dann Platz für zwei Mal fünfzehn Mann benötigen und nicht ein großes Deck für 30.“

Daniel hob die Augenbrauen.

„Du willst bei deinen Leuten wohnen? Das ist etwas ungewöhnlich, aber gut, was ist hier an Bord nicht ungewöhnlich? Du kannst mit Mister Vocke selber absprechen, was du in eurem Raum haben willst. Um die beiden Räume der Seesoldaten kann sich Pascal kümmern.“

Bevor sich Clyde jedoch an den Zimmermann wenden konnte, wurde der Captain von Seekadett Olsson angesprochen.

„Eine Empfehlung vom Master, Sir. Wir werden in einer halben Stunde unsere Position vor der Küste erreicht haben.“

„Danke, Mister Olsson. Bestellen sie dem Master, ich werde rechtzeitig auf dem Achterdeck sein. Und bestellen sie Hauptmann de Luca, er möchte seine Seesoldaten für eine Landungsoperation bereithalten.“

Elvar Olsson verschwand grüßend und Daniel Hansom nickte dem Ersten Offizier zu, der laut nach dem Bootsmann rief. Dann wandte sich der Captain an Clyde.

„So, Leutnant Cameron. Bei der Landeoperation werden alle Seesoldaten eingesetzt, ebenso die Scythe-Scouts. Ich erwarte, dass ihre Truppe in einer halben Stunde einsatzbereit ist.“

Clyde zuckten alle möglichen Gedanken durch den Kopf, doch es blieb ihm nichts übrig.

„Jawohl, Sir.“

Hektisch entschwand er, um den Hauptmann der Seesoldaten zu suchen.


Feliciano war noch auf seiner Kammer und sah die Sachen durch, die er während des Landungsunternehmens mitnehmen wollte.

Die Unterkünfte der Offiziere waren nicht sehr komfortabel, aber der Vorteil war, man war alleine. Die kleine Kammer war gerade mal so groß, dass man eine Hängematte aufspannen konnte. Clyde war froh, dass er sich spontan für den großen Raum, zusammen mit den anderen, entschlossen hatte.

„Ahem, Feliciano, kannst du mir helfen? Wir sollen ebenfalls mit an Land gehen. Das kam jetzt etwas überraschend. Ich hab doch nur zwei Mann.“

Feliciano grinste und sah an Clyde herunter.

„Da du ja jetzt offiziell ein Soldat der Grafschaft Scythe bist, solltest du auch eine richtige Uniform tragen. Meine Sachen werden wohl etwas zu lang sein. Mal sehen…“

Der Hauptmann streckte seinen Kopf durch die Tür.

„Miguel!“

„Si, Patron?“

„Versuch mal eine Uniform für unseren obersten Scout zu organisieren. Am besten schon mit den Veränderungen, die wir Frank und Finn verpasst haben.“

Der kleine Letrioner sauste davon und Clyde sah ihm verblüfft hinterher.

„Was habt ihr denn mit Frank und Finn gemacht?“

„Na, gleich nachdem du mir erzählt hast, dass sie zu den Scouts gehören, haben wir Finn erst mal eine von unseren Uniformen verpasst. War ein Bisschen schwierig, aber wir haben was gefunden. Dann haben wir sie etwas abgeändert, damit sie sich voneinander unterscheiden. Du wirst es ja gleich sehen.“

Es dauerte einen Moment, doch dann kam Miguel mit einem Arm voller Kleidungsstücke in die kleine Kammer.

„Hier. Fehlen nur noch die Stiefel, aber die kommen auch gleich.“

Damit war er auch schon wieder verschwunden, während Feliciano Clyde das ganze Bündel in die Hand drückte.

„Was ist das denn?“

„Deine Uniform. Wie gesagt, erst mal eine von einem einfachen Seesoldaten. Ich trag ja auch noch den Leutnant. Lorenzo hat etwa deine Größe und Figur. Wird vielleicht ein Bisschen eng sein, aber das sollte erst einmal reichen. Wenn du was geändert haben willst, geh einfach zu den Segelmachern.“

Clyde betrachtete nachdenklich die grüne Jacke mit den schwarzen Aufschlägen.

„Du kannst dich ruhig hier umziehen. Ich hab dich schon ohne Klamotten gesehen.“

„Was? Wann denn?“

„Das erste Mal, als dich die ganze Besatzung so gesehen hat. Als du an Bord gekommen bist. Und dann unter der Pumpe. Was glaubst du denn?“

Clyde wurde wieder einmal rot, aber er antwortete nicht, sondern legte sein Arbeitszeug ab. Schnell schlüpfte er in die langen grünen Hosen. Dann nahm er von Feliciano ein weißes Hemd entgegen.

„Das ist ja ein Rüschenhemd.“

Feliciano grinste ihn an.

„Ja. Aber nur für die Offiziere. Im Sommer dürfen wir alle die Jacken offen tragen. Sie sind kurz genug um nicht zu stören. Die Mannschaften haben weiße Leinenhemden, die Offiziere eben die Rüschenhemden.“

Jetzt zog Clyde auch die grüne Jacke an. Sie war an den Schultern tatsächlich etwas eng, aber wenn er sie zur Hälfte offen ließ, passte sie gut.

Erst als er in den Spiegel sah, erkannte er, welche Veränderungen vorgenommen worden waren. Die Seesoldaten trugen zu den Jacken mit ihren kleinen Stehkragen ein gelbes Halstuch, ebenso trug Feliciano eine gelbe Schärpe als Zeichen der Offizierswürde unter seinem Lederkoppel. Bei Clyde waren das Halstuch und die Schärpe im gleichen violett wie die Uniformen der Schiffsoffiziere.

„Nicht sehr originell, aber das sollte es erst einmal tun.“

meinte Feliciano etwas entschuldigend. Clyde schüttelte den Kopf.

„Ich finde es gut. Ich glaube, ich werde das violett übernehmen.“

„Wir müssen los. Brauchst du einen Säbel für den Einsatz?“

Clyde schüttelte den Kopf.

„Der behindert nur. Ich muss für alle Fälle die Hände frei haben.“


Captain Hansom stand an der Backbordreling und betrachtete die Küste.

„Und wir sind hier tatsächlich richtig? Dieser Küstenstreifen unterscheidet sich in nichts von dutzenden anderen hier in der Gegend.“

„Ja, ich bin mir sicher. Dort drüben, diese aufragende Steilklippe gehört nicht zur Küstenlinie, sondern ist ihr vorgelagert. Das kann man erst erkennen, wenn man fast ganz dran ist. Dahinter führt ein Fahrwasser von etwa einer viertel Kabellänge Breite fast eine Meile weit in einer Art Schlucht bis zu der natürlichen Höhle. Die Einfahrt ist für uns zu niedrig, wir müssten alle Bramstengen niederholen wenn wir dort wirklich reinfahren wollten.“

Der Master stand direkt neben dem Captain und sah genau wie er zur Küste hinüber. Er wusste genau, was die Antwort sein würde und Daniel Hansom ließ auch nicht lange auf sich warten.

„Kommt gar nicht in Frage. Es bleibt dabei, wir werden ein Landekommando absetzen. Die sollen die Gegend rundherum erkunden. Irgendwo muss ja auch ein Ausgang zur Landseite sein, sonst macht das Ganze ja wenig Sinn.“

„Wer soll die Landungsabteilung anführen?“

Prüfend fuhr der Blick des Captain über seine Offiziere, die sich ebenfalls neugierig auf dem Achterdeck versammelt hatten und hinüberstarrten, doch er hatte seine Entscheidung ja schon längst getroffen.

„Percy hat das Kommando. Es gehen die Seesoldaten unter ihrem neuen Hauptmann, die Scouts und ein Seekadett mit einer Abteilung von zehn Matrosen.“

Die Befehle wurden ausgegeben und Lieutenant Seymore bestimmte Ragnar zum Führer der Matrosenabteilung.

Kurze Zeit später pullte die Landungsabteilung hinüber zu dem schmalen, flachen Kiesstrand und zog die Boote hoch. Jeweils zwei Matrosen blieben als Wache bei den Booten.

Die Steilklippe mit der verborgenen Einfahrt war gute zwei Meilen weiter nördlich und sie mussten sich vom Strand aus die steilen Felsen hocharbeiten. Zum Glück war die Steigung nicht all zu groß, doch sie kamen bei den spätsommerlichen Temperaturen allmählich ins Schwitzen.

Nach gut hundert Metern Höhenunterschied öffnete sich der Abhang zu einem Plateau ins Landesinnere. Von hier aus konnte man auch die Schlucht im Norden erkennen, in der das Fahrwasser in die Höhle führte.

Lieutenant Seymore ließ seine Truppe hinter einigen kleineren Felsen Deckung suchen und sich ausruhen. Mit einem kurzen Handzeichen winkte er Feliciano, Clyde und Ragnar heran.

„Du hast noch keinen ausgebildeten Aufklärer, richtig?“

Clyde nickte und so wandte sich der Erste Offizier an Feliciano.

„Wer ist der beste Späher?“

Der Hauptmann brauchte nicht lange zu überlegen.

„Mario. Mario Ginarotti. Ich vermute, der war früher bei einer Jahrmarkttruppe, so wie der sich bewegt. Als Schütze eher mittelmäßig.“

„Ich will nur erst einmal einen kleinen Trupp losschicken. Hm, am besten Clyde mit seiner Truppe und - wie heißt er? Mario? Sie sollen sich nach einem Zugang zur Höhle umsehen. Vielleicht können wir ja unerkannt reinkommen.“

Feliciano de Luca dachte kurz nach.

„Wir können mit dem Rest ja etappenweise nachrücken. Da wären sie dann nicht ungeschützt auf dem Rückzug, wenn etwas schief geht.“

„In Ordnung, schick bitte die Scouts und Ragnar zu mir.“

Wortlos betrachtete Percy Seymore die Scouts und den Aufklärer der Seesoldaten, als sie sich bei ihm meldeten. Der Trupp hätte nicht unterschiedlicher sein können.

Finn O‘Brian war bei weitem der größte mit fast 1,90 m. Seinen Langbogen hatte er neben sich stehen und der war nicht viel kleiner als er selber.

Clyde Cameron mit seinen roten Haaren und der hellen Haut war, obwohl deutlich kleiner, unübersehbar. Es wunderte den Ersten Offizier, dass sich Clyde bei dem Sonnenschein noch nicht die Haut verbrannt hatte.

Frank Beutler war genauso groß wie sein Leutnant, aber trotz der hellblonden Haare und den blauen Augen sah er fast unscheinbar neben ihm aus.

Der letzte in der Reihe war Mario Ginarotti. Er war auch der kleinste der vier, fast einen ganzen Kopf kleiner als Finn. Mit schwarzen, lockigen Haaren und braunen Augen sah er tatsächlich aus, als sei er einer Gauklertruppe entsprungen.

„Ich hoffe, der Auftrag ist klar. Nur erkunden, keine eigenmächtigen Vorstöße. Ich will nur wissen, wo der Eingang ist, falls sich hier auf dem Plateau überhaupt ein Zugang befindet. Sollten sich irgendwo Wachen befinden, nicht ausschalten, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Wir könnten vorzeitig entdeckt werden. Alles klar?“

Alle vier nickten gleichzeitig. Percy hob nur eine Hand zum Abschied und die drei Scouts zogen mit ihrem Leihsoldaten los.

Der Weg über das Plateau in Richtung der Höhle war übersät von kleinen Felsbrocken die unregelmäßig verteilt waren. Schnell huschten die Jungen von Deckung zu Deckung bis sie dicht an der Schlucht standen, die das Fahrwasser zu Höhle bildete. Von hier oben konnte man eine leichte Kurve erkennen und den oberen Rand der Einfahrt. Frank sah hinab und deutete mit der Hand in Richtung Norden.

„Wenn die Höhle in der Richtung weiter verläuft, in der man auch hineinfährt geht sie ziemlich genau nach Norden. Ich würde vorschlagen, dort weiterzusuchen.“

Die eintönige Landschaft des Plateaus zog sich scheinbar endlos hin, bis nach einer guten Meile das Gelände anfing wieder abzufallen. Langsam rückten die vier vor, doch es gab nichts Auffälliges zu entdecken. Plötzlich gab Mario ein Zeichen und alle verharrten auf der Stelle. Clyde kroch zu ihm herüber.

„Was ist?“

„Da unten, fast am Fuß des Abhangs, ich weiß nicht, was es ist, aber es passt nicht in die Umgebung.“

Clyde spähte an Mario vorbei den Hang hinunter, konnte aber nichts Auffälliges erkennen.

„Äh, Clyde?“

„Ja?“

„Kannst du mit mir das Gleiche machen, wie mit Frank? Also ich meine, das mit dem Sehen?“

Mario war nach seinem ersten Satz rot geworden, als er merkte, dass man ihn auch falsch verstehen könnte, doch Clyde nickte.

„Du hast doch keine Waffe.“

„Ja, aber ich würde doch auch ohne Karabiner mein Ziel näher sehen können, oder nicht?“

Clyde zuckte ratlos die Schultern.

„Wir können es ja ausprobieren.“

Mario sah jetzt den Hang hinunter, während Clyde einfach seine Hand hielt. Genau wie Frank es beschrieben hatte, verschob sich sein Gesichtsfeld und er sah die Landschaft unten am Hang jetzt erheblich näher als vorher. Das Ziel, das er nur vage wahrgenommen hatte, war nun deutlich zu erkennen, während alles darum herum verschwommen aussah.

„Es ist eine Hütte oder eine Art Blockhaus, direkt an den Abhang heran gebaut.“

„Oder sogar hinein. Ich glaube, wir haben den Eingang gefunden.“

Schnell winkten sie die beiden anderen heran, die sie aus einiger Entfernung beobachtet hatten. Schnell erklärte Clyde ihre Beobachtungen, als er unterbrochen wurde.

„Ich glaube, da unten hat sich was bewegt.“

Clyde zögerte etwas, doch dann erklärte er Finn, wie der Zauber mit der Trefferlupe funktionierte. Finn sah ihn erst mit großen Augen an, doch dann seufzte er.

„Man hat mir schon gesagt, dass du ein Magier bist. Der Captain hat nur gemeint, ich soll mich über nichts wundern und mich vom Leben an Bord überraschen lassen. Also werde ich dir vertrauen, egal was du vorhast. Was willst du tun?“

„Ich werde gar nichts tun. Du nimmst deinen Bogen und zielst damit nach unten. Irgendwann wirst du dein Ziel sehen. Versuch einfach auszuprobieren, wie sich die Lupe verhält, wenn du den Anstellwinkel des Bogens veränderst. Ich muss nur eine freie Fläche haben, an der ich dich berühren kann.“

Finn dachte kurz nach, dann grinste er Clyde an.

„Dann mal los. Ich brauche Hände und Arme frei, Kopf geht auch nicht. Also müssen wir was anderes suchen.“

Damit legte er seine Jacke ab, zog sich das Hemd aus der Hose und ließ es frei herunterfallen. Clyde griff etwas zögerlich unter das Hemd und fasste Finn von beiden Seiten an der Taille. Sofort verschob sich auch Finns Sichtfeld. Unten sah er nun einen Mann vor der Hütte stehen und nach irgendetwas Ausschau halten. Finn hob seinen Bogen und sein Sichtfeld konzentrierte sich auf den Mann, sein Ziel. Unter normalen Umständen hätte Finn erst gar nicht versucht, auf diese Entfernung jemanden zu treffen, doch nun empfand er den eingelegten Pfeil als eine scheinbar endlos lange Linie die dann doch irgendwo im Geröll aufhörte. Langsam hob er den Bogen und die Linie verlängerte sich. Als er den Bogen schon fast 45 Grad erhoben hatte, sah er plötzlich die Linie am Körper des Mannes enden. Jede noch so winzige Bewegung seinerseits ließ den Endpunkt hektisch hin- und herwandern.

Aufseufzend ließ Finn den Bogen sinken und dreht sich zu Clyde. Langsam beugte er sich vor und gab dem überraschten Halbelfen einen Kuss.

„Hmmm?“

Lachend löste sich Finn und fuhr Clyde durch die roten Haare.

„Der war dafür, dass ich so etwas einmal erleben durfte.“

Frank und Mario lachten unterdrückt.

„Warte mal ab, bis wir zusammen wirklich den Bogen abschießen.“

Finns Augen leuchteten.

„Jetzt weiß ich endlich, was für ein mysteriöses Gerücht über dich und diesen Seesoldaten in Umlauf ist. War das nicht der, der diesen Typ an einer - was? einer Drehbasse erschossen hat?“

„Was denn für ein Gerücht? Du bist gerade mal einen Tag an Bord und kennst schon den ganzen Klatsch über mich?“

„Nun ja. Also jeder, der so etwas wie gerade eben mit dir erlebt hat, würde eine Menge dafür geben. Auch mal eine ganze Nacht.“

Clyde stand da mit offenem Mund und Mario lachte leise.

„Ich mach das doch nicht, um mit jemandem… Also um ihn rumzukriegen, oder so was. Das gehört zu meiner Gabe und wird für den Kampf verwendet. Es ist im Prinzip wie eine Waffe. Außerdem, der Seesoldat, der den Typ an der Drehbasse erschossen hat, steht genau hinter dir.“

Finn fuhr herum und wurde knallrot. Frank grinste ihn an.

„Ja. Und ob du es glaubst oder nicht, die Nacht war es mehr als wert.“

Nun war es an Clyde rot anzulaufen und Finn wusste fast nicht mehr, wo er hinsehen sollte.

Aus der Ferne klangen leise Geräusche herüber. Sofort wandten alle vier sich der Hütte zu und lauschten.

„Das hört sich an wie Pferde.“

Vorsichtig schlichen sie etwas näher heran, immer noch in Deckung vereinzelter kleiner Felsbrocken.

Selbst aus der großen Entfernung ließ sich jetzt etwas erkennen.

„Das sind Wagen. Zwei Wagen mit jeweils vier Pferden bespannt. Was wollen die denn hier?“

Finn sah Mario etwas entrüstet an.

„Was glaubst du denn? Wenn das wirklich der Eingang zu einer Höhle ist, in der ein ganzes Schiff Platz hat, werden sie ja wohl etwas bringen oder holen.“

Mario verzog das Gesicht.

„Ja, nee. Ist klar. Ich meine, mich würde interessieren, was die da bringen oder holen.“

Clyde sah kurz nach unten zu den Fuhrwerken, dann den Hang hinauf.

„Mario, du gehst zurück und meldest Lieutenant Seymore alles, was wir beobachtet haben. Hier ist nicht genug Deckung für die ganze Landungsabteilung. Ich schlage vor, er geht so weit vor, wie er in Deckung bleiben kann und wir beobachten hier vorne weiter.“

Mario nickte und verschwand so flink und gelenkig wie ein Wiesel den Hang hinauf.

„So, wir können es uns jetzt gemütlich machen und weiter beobachten.“

Finn setzte sich auf den Boden und legte seinen Bogen neben sich.

„Das vorhin, mit dem Angebot für die Nacht, das war ernst gemeint.“

Er sah schüchtern zu Boden.

„Ich bin erst einen Tag hier und du musst schon sonst was von mir denken. Aber vorhin, da hatte ich ein Gefühl, das sich schlecht beschreiben lässt. Als ob wir plötzlich eins wären, verbunden durch den Blick über die Waffe.“

Frank nickte zustimmend.

„Genau. Als ob wir zusammen verschmelzen, so wie beim…“

Bei den letzten Worten versank er in eine angenehme Erinnerung einer schönen Nacht.

Zu Clydes Erleichterung wurde die leise Unterhaltung durch die Rückkehr von Mario unterbrochen. Er hatte sich so geschickt angeschlichen, dass sie ihn erst bemerkten, als er fast neben ihnen saß. Mario ließ sich neben Clyde nieder.

„Lieutenant Seymore ist mit dem Vorschlag einverstanden. Wir sollen abwarten und beobachten. Wenn die Gespanne wieder weg sind, wird neu entschieden.“

Clyde verwuschelte Marios Locken zum Dank und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach und Clyde sah mehr als einmal besorgt auf den Stand der Sonne.

Geräusche von unten lenkten sofort die Aufmerksamkeit wieder auf ihre eigentliche Aufgabe. Die Gespanne waren gewendet worden und fuhren jetzt langsam den schmalen Weg zurück, den sie gekommen waren. Clyde durchzuckte kurz ein Gedanke und er winkte Mario, obwohl er es eigentlich auch alleine hätte tun können. In gewisser Weise wollte er dem kleinen Rotaner nicht den Spaß verderben. Er packte Mario hinten an seiner Hose und zog ihn zu sich heran. Schnell zog er ihm das Hemd heraus und umarmte ihn von hinten, so dass er seine Hände vor Marios Bauch falten konnte.

„Sag mir, was du siehst. Sind die Wagen beladen?“

Mario beobachtete die abfahrenden Wagen bis Clyde den Zauber unterbrach. Schnurrend wie eine Katze ließ Mario sich nach hinten fallen.

„Schade, noch einen Moment länger und ich hätte es nicht mehr ausgehalten.“

Völlig erstaunt sah Clyde Mario an, bis sein Blick an ihm herunterlief und an der nicht unerheblichen Beule in dessen Hose hängen blieb.

Hektisch zog Clyde seine Hände zurück, während Mario leise kicherte. Clyde überlegte jetzt ernsthaft, ob der Zauber nicht vielleicht eine Nebenwirkung hatte, die so eigentlich gar nicht gedacht war. Oder vielleicht doch? Hingen die Gaben über Leben und Tod doch enger zusammen, als er zunächst geglaubt hatte?

„Die Wagen waren leer. Auf dem Bock saßen jeweils der Kutscher und ein Begleiter. Ich weiß noch, als sie ankamen war nur ein Kutscher drauf.“

„Also zwei Mann weniger“,

murmelte Clyde und schickte Mario wieder los nach oben. Diesmal erschien Lieutenant Seymore persönlich.

„Gute Arbeit, Leute. Irgendetwas Auffälliges bisher?“

„Nein, Sir. Seit die Wagen abgefahren sind ist Ruhe unten.“

„Na, gut. Ihr vier geht vorsichtig runter und erkundet das Äußere der Hütte. Falls nichts auf eine Falle deutet, versucht reinzukommen. Dort dann sichern und warten. Ihr wartet, habt Ihr verstanden?“

„Jawohl, Sir.“

Ohne weitere Antwort verschwand Percy Seymore wieder nach oben.

Nach einer kurzen Beratung teilten sich die Scouts in zwei Gruppen. Mario verschwand mit Finn weiter in Richtung Osten, damit sie auf der anderen Seite der Hütte waren, wenn sie den Hang herunterkamen. Clyde machte sich mit Frank langsam an den Abstieg.

Alles rings um die Hütte lag in vollkommener Stille. Erst als sie näher kamen, erkannte Clyde, was ihn beim Anblick des Gebäudes schon von weitem irritiert hatte. Die aus groben Stämmen gezimmerte Hütte hatte zwar eine massive Tür, jedoch keinerlei Fenster.

Ohne irgendwelche Zwischenfälle gelangten die Scouts bis vor die Tür der Hütte. Von drinnen waren keinerlei Geräusche zu vernehmen und Clyde versuchte vorsichtig die Tür zu öffnen, doch sie ließ sich nicht bewegen. Mario kam nach vorne und besah sich die Tür.

„Hm, ein einfaches Schloss, die haben sich nicht besonders viel Mühe gegeben mit dem Ding.“

Dann nahm er ein verschnürtes Bündel aus seiner Hosentasche und rollte es auf dem Boden aus. Der Inhalt bestand aus einer ganzen Anzahl von kleinen Drähten, Stiften, Haken und Schlüsselrohlingen.

So, so, dachte Clyde. Von wegen fahrendes Volk. Wohl eher einsteigendes Volk.

Finn und Frank sahen sich nur gegenseitig an und grinsten. Mario zückte eines von seinen Werkzeugen und hantierte am Schloss herum. Brummend nahm er ein anderes Teil und nach einem kurzen Augenblick ertönte ein schnappendes Geräusch und die Tür schwang nach innen.

Rasch räumte Mario sein Werkzeug zusammen und sah auffordernd zur Tür. Clyde stellte sich an die Vorderwand der Hütte und drückte mit einem Arm die Tür ganz auf. Nichts geschah. Kurz entschlossen huschte Mario hinein und nur Sekunden später waren ein lautes Scheppern und ein Fluch in Rotani zu hören. Als daraufhin immer noch nichts passierte, trat Clyde durch die Tür und sah sich um. Seine Abstammung machte es ihm leicht, denn wie alle Sidhe und ihre weltlichen Kinder konnte er in der Dämmerung erheblich besser sehen als jeder Mensch.

Ein kurzer Rundumblick ließ Clyde den größten Teil des Raumes erfassen. Zur rechten standen zwei große Holztische ganz an die Wand geschoben. Vor dem ersten stand Mario und starrte auf einen umgestürzten Schwertständer den er anscheinend umgerissen hatte. Die Tische waren vollgestellt mit unterschiedlichsten Dingen, von Eimern über Teller, Schüsseln und Bechern bis hin zu einer Sturmlaterne. Vor Clyde, direkt gegenüber des Einganges war eine zweite Tür, diese aber größer und zweiflügelig. An der ansonsten freien linken Wand lag auf dem Boden ein lebloser Körper.


Lieutenant Seymore erhob sich etwas mühsam aus seiner hockenden Stellung und schüttelte den Kopf.

„Mausetot. Ich würde sagen, sie liegt hier schon seit ein oder zwei Tagen.“

Clyde schüttelte ebenfalls den Kopf. Er deutete auf den Kopf der Toten in dem eine Wunde klaffte, die den halben Hals umrundete. Sie war eindeutig ermordet worden.

„Wer war sie und was hatte sie hier zu suchen?“

Lieutenant Seymore warf Clyde einen Blick zu, der ihm bedeutete zu schweigen. Er selbst durchsuchte flüchtig die Sachen der Toten, ohne jedoch etwas zu finden.

Clyde starrte weiterhin auf die Tote.

„Warum trägt sie mitten im Sommer diesen dicken Mantel?“

murmelte er zu sich selber.

„Weil es nachts trotzdem kalt ist? Besonders auf See.“

Clyde warf Mario einen fragenden Blick zu. Doch dann fing er an, zögernd und mit spitzen Fingern den Mantel zu untersuchen.

Erschreckt hielt er inne, als Marios Stimme direkt neben ihm ertönte.

„Die Säume. Überall, wo etwas doppelt genäht ist, kann man was verstecken.“

Clyde nickte schweigend und suchte weiter. Am Kragen hatte er endlich Erfolg. Er ertastete an einer Stelle etwas Dickeres als den gewöhnlichen Stoff. Suchend sah er sich nach einem Werkzeug um, als ihm Mario ein schlankes, kurzes Messer mit einer äußerst scharfen Klinge reichte.

Clyde erkannte es als ein Rotanisches Stileto, wie er selber eines besessen hatte.

Vorsichtig trennte Clyde den Kragen auf und zog ein mehrfach gefaltetes Papier hervor. Neugierig faltete er das Papier auseinander und begann zu lesen, dann reichte er es Percy.

Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war der Erste Offizier nicht fürchterlich erfreut über den Inhalt.

Ich habe eure Nachricht erhalten. Ein paar beiläufige Äußerungen über ein unheimliches Schiff vor unserer Küste sind ein sehr vager Anhaltspunkt für eine Ermittlung. Ich muss euch nicht sagen, trotzdem äußerst vorsichtig zu sein. Auch ist von dem Versuch, sich dem Steuermann im ‚Restless Inn‘ zu nähern, dringend abzuraten‘.

Darunter war mit einer etwas krakeligen Schrift etwas hinzugefügt worden.

Soll ihn heute Abend begleiten auf das Schiff. Hat mir nicht gesagt, wo es ist. War auch sonst merkwürdig schweigsam‘.

Lieutenant Seymore ließ einen Fluch vom Stapel, der an Länge und Ausdruckskraft nichts zu wünschen übrig ließ. Clyde sah noch einmal nachdenklich auf das Papier.

„Mich wundert nur, dass diese Nachricht hier eingenäht war. Warum hat sie die aufbewahrt? Wollte sie etwa, dass sie gefunden wird?“

Percy zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat sie geahnt, dass sie aufgeflogen ist und wollte noch schnell ein paar Informationen hinterlassen.“

„Wer war sie? Ihr habt sie gekannt?“

„Gekannt nicht direkt. Aber ich habe sie im Umkreis von…“

Percy sah sich hektisch um. Der einzige, der in der Nähe stand war Mario. Er hatte sich etwas zurückgezogen, nachdem er Clyde sein Stileto gegeben hatte. Nun sortierte er scheinbar völlig unbeteiligt seine Ausrüstung. Seine Ohren hingegen lauschten angestrengt.

Clyde sah immer noch auf den leblosen Körper herab.

„Was machen wir jetzt?“

„Ganz einfach. Wir gehen rein.“


Die Doppeltür, die weiter in die Höhle hineinführte, war nicht verriegelt. Lieutenant Seymore hatte die Landungsabteilung draußen um die Hütte versammelt, während die vier Männer des Aufklärungstrupps erst einmal weiter vorgehen sollten.

Mario öffnete langsam und vorsichtig einen Türflügel und spähte dahinter.

„Ein Gang. Durch Fackeln beleuchtet. Anscheinend noch von der Lieferung vorhin.“

„Wie weit?“

„Schlecht zu schätzen, hinten macht der Gang eine Biegung.“

Clyde sah jetzt ebenfalls in den Gang und lauschte. Wortlos winkte er den anderen, ihm zu folgen. Der Gang war gute drei Meter breit und ebenso hoch. Die Wände bestanden aus roh behauenem Fels. Wie Mario bemerkt hatte, machte der Gang nach einer längeren Strecke eine Biegung nach rechts. Clyde tastete sich, vorsichtig um die Ecke spähend, voran. Der zweite Gang war fast rechtwinklig zum ersten angelegt und etwa nur halb so lang. Sein Ende wurde von einer ähnlichen Doppeltür abgeschlossen wie am Anfang des Gangs.

Bei dieser Tür war jedoch ein Flügel geöffnet und man konnte vor einem hellen Hintergrund eine Gestalt erkennen, die mit dem Rücken zum Gang stand.

„Was machen wir jetzt?“

flüsterte Clyde etwas ratlos.

Mario zückte seinen Dolch und grinste ihn an.

„Ich gehe nach vorne.“

„Ja, klar. Wenn er dich hört und sich umdreht, bist du tot.“

Mario streifte die Stiefel seiner Uniform ab.

„Er wird mich nicht hören. Außerdem ist der Gang breit genug. Ihr könnt ja mit einem Bogen sichern.“

Finn nickte und machte seinen Bogen klar. Dann stellte er sich so, dass er ohne Behinderung zielen und schießen konnte. Clyde trat hinter ihn und fasste ihn wieder an der Taille.

Beide sahen jetzt das Ziel. Es war ein Mann mittleren Alters, bewaffnet mit einem Entermesser. Mario schlich leise an der Gangwand entlang und versuchte dabei möglichst flach zu Atmen. Als er bis auf etwa zwei Meter an den Mann herangekommen war, streckte dieser sich auf einmal und drehte sich gelangweilt um. Mario erstarrte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann warf er sich flach zu Boden. Der Mann registrierte zwar den Jungen auf dem Boden, doch das nützte ihm schon nichts mehr.

In dem Moment, als Mario sich zu Boden warf, reagierte Finn auch schon. Ein Britannischer Langbogen durchschlägt auf 100 Meter eine Plattenrüstung und so hatte der Mann keine Chance. Der Pfeil traf mitten auf die Stirn und ohne einen Laut sank das Opfer zu Boden.

Clyde bemerkte mit Entsetzen, dass der Pfeil, den Finn abgeschossen hatte, an seiner Spitze einen kleinen Feuerball trug. Seine Magie war wirklich mehr als unberechenbar.

„Was war das denn?“

Clyde zuckte nur mit den Schultern.

„Erklär ich dir später. Wir müssen uns auf unsere Aufgabe konzentrieren.“

Finn griff nach dem nächsten Pfeil und sie gingen vor bis zur Tür, bei der Mario schon in geduckter Haltung um die Ecke peilte.

„Und?“

„Eine Höhle. Mit Wasser und einem Schiff. Außerdem etwa zehn Männer, die Fässer verladen.“

Clyde zog Mario wieder in den Gang und sah jetzt selbst um die Ecke.

Es war tatsächlich eine riesige Höhle, anscheinend natürlich entstanden. Die Deckenhöhe schätzte Clyde auf etwa 30 bis 35 Meter. Der Gang, den sie gekommen waren, mündete in einer Höhe von etwa zehn Metern über dem Wasserspiegel in die Höhle. Von der Tür aus führte eine breite, hölzerne Treppe an der Höhlenwand entlang bis hinunter, um dort auf einen ebenso breiten Anlegesteg zu treffen. Treppe und Steg bildeten einen Winkel von etwa 90 Grad, so dass man von oben eine komplette Sicht über die ganze Anlage hatte.

Am Steg lag ein Segelschiff, erheblich kleiner als die FAIRYTALE und mit nur einem Mast. Gut ein Dutzend Männer verluden gerade eine Anzahl Fässer vom Steg auf das Schiff.

Clyde wich zurück in den Gang und erklärte dem Rest die Situation.

„Was machen wir?“

„Eigentlich ganz einfach. Wenn wir oben auf der Treppe stehen bleiben, sind wir so gut wie sicher, wenn sie keine Bögen oder Feuerwaffen haben. Einer sichert die Treppe, falls sie heraufstürmen, der andere schaltet die Gegner mit Fernschüssen aus.“

„Sollten wir nicht eigentlich auf Percy warten?“

„Womit solltet ihr warten?“

Die vier fuhren herum als die leise Stimme von Lieutenant Seymore hinter ihnen ertönte. Clyde sah hinter Percy auch Felicianos schwarzen und Ragnars blonden Haarschopf.

Den dreien wurde die Lage erklärt und Percy wiegte bedenklich mit dem Kopf.

„Was ist mit dem Schiff? Wo ist die Besatzung? Sind das wirklich alle Leute unten in der Höhle? Haben sie vielleicht abgelegte Waffen?“

„Eine Besatzung an Bord haben wir nicht feststellen können. Außer den Arbeitern ist keine Menschenseele auf der Pier. Möglicherweise ist das ja die Besatzung. Wir konnten nicht erkennen, ob vielleicht noch welche unter Deck sind. Waffen haben wir auch keine gesehen, was aber nicht heißt, dass sie keine haben könnten.“

„Na gut. Wie habt ihr euch das gedacht?“

„Frank geht mit Mario zwei Stufen runter. Da kann er die Treppe abdecken, falls jemand hoch will. Ich werde mit Finn auf Distanz schießen und versuchen, so viel wie möglich auszuschalten. Außerdem könnte ich es auch mit ein oder zwei Feuerbällen versuchen, wenn sie dicht nebeneinander stehen.“

Percy klatschte Clyde mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.

„Bist du lebensmüde? Sieh dir mal die Fässer genauer an. Sie sind kleiner und dickbäuchiger als normale Fässer. Das ist Schießpulver.“

„Oh.“

„Ja, genau - Oh. Ihr wartet noch einen Moment. Ich werde die Matrosen hinter euch im Gang in Bereitschaft halten für den Fall, dass sie doch die Treppe hoch kommen oder sich an Bord verschanzen. Feliciano, du gehst mit der Hälfte deiner Leute ebenfalls nach unten. Pascal sichert mit der anderen Hälfte die Hütte. Ich habe keine Lust, dass wir von hinten aufgerollt werden. Ragnar, du ziehst die Matrosen vor bis hier in den Gang.“

Clyde nickte und Feliciano und Ragnar eilten nach hinten um ihre Leute zu den angewiesenen Positionen zu bringen. Kurze Zeit später kam Ragnar an der Spitze seiner Leute zurück. Alle waren mit Entermessern und Pistolen bewaffnet. Frank gab Clyde und auch Finn im Vorbeigehen einen schnellen Kuss und ging vor die Tür, etwas die Treppe herunter. Mario wollte ihm hinterhereilen, doch Clyde zog ihn kurz an seiner Jacke zu sich und gab ihm ebenfalls einen kurzen Kuss. Marios Augen weiteten sich etwas, doch Clyde flüsterte ihm zu:

„Denk dran, das könnte dein letzter gewesen sein.“

Finn stellte sich oben auf den Treppenabsatz und Clyde umfasste ihn wie zuvor.

„Den weitesten zuerst.“

Finn nickte nur und ließ den ersten Pfeil von der Sehne. Er traf einen der Arbeiter der gerade ruhig an einer Kiste lehnte und eine Pause machte. Ohne weitere Geräusche sackte er zusammen. Auch der zweite Pfeil fand sein Ziel. Erst beim Dritten wurden die Arbeiter darauf aufmerksam, was um sie herum vor sich ging. Hektisch sahen sie sich um und zeigten dann nach oben. Einige nahmen aus einer offenen Kiste ihre abgelegten Entermesser und stürmten zur Treppe, ein paar Wenige schlichen über die Gangway an Bord.

Der erste Arbeiter, der die Treppe nach oben stürmte, hatte keine Chance. Frank erledigte ihn mit einem Schuss aus dem Karabiner.

Fast gleichzeitig hallte der laute und etwas dumpfere Abschuss einer Muskete wider und dicht neben Clyde platzten Splitter vom Felsen als ein Geschoss dort abprallte. Clyde duckte sich automatisch und zwang Finn mit nach unten.

„Macht Platz!“

Ragnar stürmte an der Spitze seiner Männer die Treppe herunter und drängte auch Frank und Mario an die Wand. Direkt hinter ihm folgte Feliciano mit seinen Seesoldaten.

Der Captain hatte Recht, durchfuhr es Clyde auf einmal. Sie hätten für diese Aktion ruhig ein paar mehr Seesoldaten gebrauchen können.

Clyde erhob sich halb und sah sich suchend um, bis ein weiterer Querschläger dicht neben ihm abprallte. Dann kam Finn aus seiner halb geduckten Position hoch, schoss einen Pfeil ab und ging wieder in Deckung.

Unten waren die restlichen Arbeiter keine wirklichen Gegner mehr und die Matrosen stürmten das Schiff. Clyde konnte nicht viel erkennen, was an Oberdeck geschah, doch nach zwei weiteren Abschüssen einer Muskete und starkem Kampflärm verstummten die Geräusche unten. Clyde und Finn sahen sich nur an, dann liefen auch sie die Treppe hinunter auf das Schiff.


Percy Seymore war äußerst zufrieden. Die Seesoldaten sicherten die Hütte und die gesamte Zufahrt auf dem Hochplateau. Die restlichen Mitglieder der Landungsabteilung hatten inzwischen systematisch das Schiff durchsucht.

In der kleinen Heckkajüte des Kapitäns saß Lieutenant Seymore am Schreibtisch und sah Clyde und Ragnar auffordernd an.

Als erster trat Ragnar vor.

„Rumpf und Oberdeck sind so gut wie neu. Das gesamte stehende und laufende Gut ist in bestem Zustand. Die Lasten sind ausreichend mit Material bestückt. Lediglich die Farblast ist für ein Schiff dieser Größe deutlich zu umfangreich. Das Schiff wäre in der Lage, sofort auszulaufen.“

Dann sah Ragnar auf einen Zettel, auf dem er sich Notizen gemacht hatte.

„Bewaffnung zwölf 4-Pfünder. Die Pulverlast wurde gerade aufgefüllt. Es gibt Handwaffen für etwa 60 Mann. Pulver und Munition für die Handwaffen ist ebenfalls mehr als reichlich vorhanden. Der Laderaum ist etwa zur Hälfte mit verschiedensten Kisten und Fässern beladen. Die Bilge wurde gepeilt, fast kein Wasser.“

Der nächste war Clyde.

„Seekarten von der Britannischen Südküste, Herblonde, Letrion und der Südküste Isafjords. Keine Unterlagen über Besatzung oder Eigner. Das Manifest ist ausgestellt ohne Datum und mit dem möglicherweise gefälschten Siegel des Hafens von Branagh. Das Manifest müsste noch mit dem tatsächlichen Bestand abgeglichen werden.“

Lieutenant Seymore nickte und blickte beiläufig auf eines der Schriftstücke auf dem Schreibtisch, während Clyde fortfuhr.

„Das Schiff heißt laut dem am Heck angebrachten Namen SEAFLOWER. Wir haben in der Bootsmannslast drei weitere Namensschilder gefunden. Einmal auf den Namen GRIFFON, dann RESPETUOSA und dann SLEIPNIR. Der Flaggensatz beinhaltet vier Nationalflaggen, nämlich Britannica, Herblonde, Letrion und Isafjord. Und dann diese hier.“

Damit hielt Clyde eine schwarze Flagge in die Höhe, die in der Mitte zwei gekreuzte Knochen zeigte.

Percy Seymore starrte auf die Piratenflagge, dann huschte ein jähes Erkennen über sein Gesicht.

„Seaflower, Griffon, Respetuosa und Sleipnir. Das sind nicht vier Schiffe, das ist ein Schiff. Ein Schiff mit unterschiedlichen Namen und ich wette, auch unterschiedlichem Aussehen. Ideal dafür, die Küstengewässer zu befahren und unauffällig an Treffpunkten zu kreuzen.“

„Das Beste kommt aber noch.“

Vorsichtig legte Clyde an kleines Paket auf den Tisch. Die Verschnürung war gelöst und man sah eine Anzahl loser Blätter. Percy griff sich das oberste Blatt und erbleichte.

Protokoll der Sitzung des Geheimen Rates Ihrer Majestät der Königin von Britannica, aufgezeichnet am 15. Juli im 2476. JdE

Percy Seymore atmete zischend aus. Das war gerade mal zwei Wochen her. Nachdenklich musterte er Ragnar und dann wieder Clyde. Beide sahen ihn erwartungsvoll an und ihrem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie beide das oberste Blatt gelesen hatten. Unentschlossen trommelte er mit den Fingern der rechten Hand auf der Schreibtischplatte herum. Leise murmelt er den Lieblingsspruch von Sir Sean:

„Mehr als drei Geheimnisträger sind ein öffentlicher Aushang.“

Noch einmal musterte er Ragnar, dann sagte er laut.

„Der Captain wird mich wahrscheinlich umbringen, aber es lässt sich wohl nicht vermeiden. Ragnar, wie gut bist du mit der politischen Situation der sieben Staaten vertraut?“

Clyde setzte sich aufseufzend auf die Heckbank und lauschte noch einmal der Geschichte des ersten Earls of Scythe.


Captain Hansom war tatsächlich nicht sehr erfreut.

„Du hast WAS?!“

Den Schrei konnte Clyde noch draußen vor der Tür der Kapitänskajüte hören. Alles andere verlor sich in erregtem Gemurmel.

Der Kutter, wie Percy Seymore den Schiffstyp bezeichnet hatte, lag jetzt längsseits der FAIRYTALE. Der Erste Offizier hatte den Kutter aus der Höhle gesegelt und dann hatten sie die beiden Beiboote in Schlepp genommen, die draußen am Strand gelegen hatten. Erst etliche Meilen weiter draußen auf See trafen die beiden Schiffe dann aufeinander.

Lieutenant Seymore erstatte, zusammen mit Clyde und Ragnar, einen ausführlichen Bericht.

Captain Hansom kam gar nicht dazu, etwas zu fragen, denn Lieutenant Seymore entließ die beiden mit einer kurzen Handbewegung und flüsterte leise mit dem Captain. Die Antwort darauf hörte Clyde noch auf dem Gang durch die geschlossene Tür.

Die Tür wurde wieder aufgerissen und der Captain starrte Clyde und Ragnar mit hochrotem Gesicht an.

„Reinkommen. Alle beide.“

Percy Seymore stand mit gesenktem Kopf und ebenfalls hochrotem Gesicht neben dem Schreibtisch des Captains. Dahinter hatte Daniel Hansom Platz genommen und sah prüfend zu Clyde, dann zu Ragnar. Beide standen im Stillgestanden vor dem Schreibtisch, wobei sie geflissentlich auf einen Punkt an der Wand hinter dem Captain starrten.

„Ich glaub es nicht! Mein eigener Freund redet sich fast um Kopf und Kragen und zieht auch noch einen nichtsahnenden Kadetten mit hinein. Und der frischgebackene Herr Leutnant steht daneben und sagt kein Wort. Was hast du dir denn dabei gedacht, Percy? Die ganze Arbeit der letzten zwanzig Jahre steht auf dem Spiel.“

„Ja, eben. Die Leiche der Beobachterin ist der erste Punkt, den man nicht so einfach wegerklären kann. Das gibt sowieso noch genug Getuschel unter Deck. Nachdem die beiden bei der Erkundung des Kutters die Schilder zur Umtarnung gefunden haben und dann auch noch die geheime Post, fand ich es nur folgerichtig, auch Ragnar von unseren Aktivitäten zu erzählen.“

„Verdammt, ich weiß nicht, ob das wirklich notwendig gewesen wäre. Mister Thorsson, was halten sie denn von der abenteuerlichen Geschichte, die ihnen der Erste Offizier erzählt hat?“

Ragnar behielt seine Haltung bei und starrte immer noch über den Captain hinweg auf die Wand.

„Ich weiß nicht, wovon sie reden, Sir.“

Clyde musste sich das Grinsen verbeißen, während Daniel Hansom Ragnar erstaunt anstarrte. Dann fing auch er leicht an zu grinsen.

„Guter Versuch, Ragnar, aber das klappt so nicht.“

Nachdenklich schweifte der Blick des Captains ziellos durch seine Kajüte bis er nach einer ganzen Weile bei Percy Seymore hängen blieb. Langsam stand Daniel auf, ging zu seinem Freund und gab ihm einen sanften Kuss.

„Es tut mir leid Percy, aber du hast mich überrascht. Laß uns hinsetzen und in Ruhe reden.“

Aufatmend gab Percy seinem Freund ebenfalls einen kurzen Kuss, dann gab er Clyde und Ragnar ein Zeichen, sich mit einem Stuhl zu bewaffnen und zurück zum Schreibtisch zu kommen.

Bevor Ragnar einen Stuhl greifen konnte, tippte ihm Clyde kurz auf die Schulter. Überrascht wandte sich Ragnar um und Clyde streckte sich ein wenig um ihm einen kurzen Kuss zu geben. Erstaunt weiteten sich Ragnars Augen, doch dann beugte er sich zu Clyde herab und nahm vorsichtig dessen Kopf in seine Hände. Die himmelblauen Augen schienen eine Frage zu stellen.

„Es tut mir leid, aber ich durfte nichts verraten, genau wie auch du jetzt nichts verraten darfst.“

murmelte Clyde etwas undeutlich.

Jetzt verschränkte Ragnar seine Hände hinter Clydes Kopf und der folgende Kuss dauerte einige Zeit. Etwas unsanft wurden sie von einem lauten Räuspern unterbrochen und die beiden schnappten sich schnell einen Stuhl.

„Ich hoffe, es war nicht zu überraschend, aber Clyde kann dir auch die Einzelheiten erzählen, die wir in Caerdon erfahren haben. Nur seid vorsichtig dabei. Auch hier an Bord haben die Wände Ohren.“

„Dann sind wir also tatsächlich im Auftrag Ihrer Majestät, der Königin von Britannica, unterwegs?“

„Ganz recht Ragnar. Aber wie gesagt, es wird alles sozusagen nebenbei erledigt. Wir gehen ganz normal unseren Patrouillen und der Jagd nach Herblondes dickbäuchigen Frachtschiffen nach. Dies hier allerdings…“

Damit klopfte Captain Hansom mit dem Zeigefinger auf die Papiere

„… erfordert neue Entscheidungen. Ihr beide geht erst einmal eurem normalen Dienst nach.“

Ragnar und Clyde erhoben sich, grüßten kurz und verließen die Kapitänskajüte.


Captain Daniel Hansom und Lieutenant Percyval Seymore saßen sich schweigend am großen Tisch in der Kapitänskajüte der FAIRYTALE gegenüber. Zwischen ihnen auf dem Tisch lag ein unscheinbarer Stapel loser Blätter, der Grund ihrer langen Überlegungen.

„Wir müssen so schnell wie möglich Sir Sean benachrichtigen. Es gibt einen Spion in den engsten Kreisen der Königin.“

„Ja, natürlich, aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn wir mit der FAIRYTALE innerhalb von vier Tagen zweimal in Caerdon ein- und auslaufen ohne Ladung zu nehmen oder zu löschen, weiß der dümmste Bollwerkslöwe, dass etwas nicht stimmt. Wir müssen uns irgendwie tarnen.“

„Daniel, der Kutter hat jede Menge Material und Möglichkeiten umgetarnt zu werden.“

„Der Kutter? Der gehört uns nicht. Der ist eine Prise. So lange, bis ein Prisengericht entschieden hat, was damit passiert.“

„Ja, eben. Und genau so lange haben wir offiziell nicht das Geringste damit zu tun. Nehmen wir einmal an, ein paar Freiwillige nehmen den Kutter und machen einen kleinen Ausflug nach Caerdon und fahren dann nach Tarray. Glaubst du, das Prisengericht fragt danach, was sie unterwegs gemacht haben? Die interessiert doch nur der Grund, warum er als Prise genommen wurde und wie viel er Wert ist.“

Daniel Hansom lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

„Die Idee hat was. Allerdings müssten wir dafür die Besatzung der FAIRYTALE noch weiter verringern. Wir fahren zwar nur zurück nach Tarray, aber auf ein Gefecht oder was uns auch immer begegnet, können wir uns dann nicht mehr einlassen. Außerdem brauchten wir dann noch eine gute Tarnung für den Kutter. Die vorhandenen Namen können wir schlecht nehmen. Hast du schon eine Idee, wer den Kutter führen soll?“

„Hmmm… ja. Thorben ist der älteste Lieutenant, also könnte er das Schiff führen. Wenn… Moment… Clyde und Ragnar müssten ja auch mit, sie würden sich mit Sir Sean treffen. Also, wenn Thorben und Ragnar fahren, nehmen wir Sven als Steuermann und tarnen das Ganze als kleinen Frachtsegler aus Isafjord. Für den Rest der Besatzung nehmen wir, wenn möglich, Isafjorder oder Britannier. Leute aus Herblonde oder Letrion sind bei denen eher unüblich.“

Daniel Hansom sah seinen Freund erstaunt und leicht lächelnd an.

„Du magst das, nicht wahr? Ein Bisschen Spion spielen. Aber denk dran, das kann ganz schnell böse enden. Was willst du denn den Besatzungen sagen? Besonders auf dem Kutter werden Fragen aufkommen, wenn er umgetarnt werden soll.“

„Ganz einfach. Wir erproben unsere Möglichkeiten zur Tarnung, damit wir uns herblonder Frachtschiffen unauffälliger annähern können.“

Captain Hansom hob seine Augenbrauen.

„Du hast dir das alles schon genau überlegt, was? Na, gut. Dann wollen wir mal sehen, wen wir für den Kutter zusammenbekommen.“


Die drei jungen Männer, die kurz darauf in der Kapitänskajüte standen, waren eine imposante Erscheinung. Thorben Dagursson und Sven Storebjörn waren mit weit über 1,90 m ohnehin die größten Männer an Bord und Ragnar sah neben ihnen mit seinen 1,88 fast klein aus.

„Setzt euch bitte hin, ich will nicht immer nach oben sehen.“

Als das leise Gelächter verklungen war und alle Platz genommen hatten, sah Captain Hansom zu Lieutenant Dagursson.

„Ich habe mich entschlossen, den Kutter auf eine spezielle Mission zu schicken. Dafür brauchen wir eine volle Besatzung für den Kutter, damit er für alle Eventualitäten so gut wie möglich vorbereitet ist. Thorben, du wirst Kommandant des Kutters.“

Bevor der überraschte Isafjorder etwas sagen konnte, fuhr der Captain fort.

„Ragnar, du bist jetzt seit vier Jahren Midshipman und warst davor zwei Jahre Schiffsjunge. Ich habe mit dem Master und dem Ersten Offizier gesprochen und sie haben beide deine Qualifikation bestätigt. Ab heute bist du Lieutenant auf den Schiffen der Kaperflotte von Scythe.“

Ragnar öffnete seinen Mund, aber ihm fehlten die Worte.

„Sven, auch in deinem Fall habe ich mit dem Master gesprochen. Du wirst der neue Segelmeister auf dem Kutter.“

Daniel Hansom hob beide Hände, bevor irgendjemand etwas sagen konnte.

„Freut euch nicht zu früh. Wie gesagt, es handelt sich um eine spezielle Mission. Ihr werdet Leutnant Cameron und die Scythe-Scouts nach Caerdon bringen und zwar unter ganz bestimmten Umständen…“

Die Besprechung dauerte fast zwei Stunden und noch immer waren einige Fragen nicht ganz geklärt, doch die drei jungen Männer entwickelten eine enorme Betriebsamkeit, nachdem sie aus der Kapitänskajüte kamen.

Die Neuigkeiten machten natürlich blitzschnell die Runde auf der FAIRYTALE und innerhalb kurzer Zeit waren die drei umringt von Bittstellern, die alle auf dem Kutter mitfahren wollten.

Thorben sortierte die Leute aus, die er mitnehmen wollte und Ragnar saß mit Clyde in der kleinen Kapitänskajüte des Kutters.

„Er hat ihnen natürlich nicht gesagt, worum es geht, aber das ist schon aufregend genug. Ihr seid übrigens die einzigen Soldaten an Bord. Wir werden beim Segeln alle Mann brauchen, also kannst du den beiden schon mal nahebringen, dass sie dort ebenfalls mit anpacken müssen. Ich hoffe, dass wir bis zum Sonnenuntergang alles geregelt haben und loskönnen. Dann könnten wir morgen Vormittag in Caerdon einlaufen.“

Clyde nickte nachdenklich.

„Was habt ihr euch als Geschichte ausgedacht?“

Ragnar lachte.

„Oh, alles dicht bei der Wahrheit. Wir nehmen das vorhandene Namensschild der SLEIPNIR. Ist in Isafjord ein gebräuchlicher Name für ein Schiff. Wir werden am Rigg ein paar Änderungen vornehmen und an Oberdeck. Dann werden wir dem Schiff eine andere Farbe verpassen und es ein wenig älter und schäbiger aussehen lassen. Wir sind ein kleiner Frachtsegler aus Thorshavn, der nun in Caerdon sein Glück versucht. Ich habe sogar von Miles eine Liste von Waren bekommen, die wir in Tarray brauchen, zusammen mit dem nötigen Geld. Thorben und Sven werden versuchen, die Fracht zu organisieren und wir beide sollen ein Treffen arrangieren. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie. Wir können da ja schlecht reinspazieren, so wie der Earl.“

Diesmal lachte Clyde.

„Keine Angst, da habe ich schon eine Idee. Lass dich überraschen.“


Am frühen Nachmittag inspizierte Captain Hansom den Kutter. Thorben Dagursson hatte die Besatzung auf ihren jeweiligen Arbeitsstationen antreten lassen und begleitete den Captain auf seinem Rundgang. Im Gegensatz zu den Seeleuten der FAIRYTALE trugen die Leute der SLEIPNIR keine Uniformen mehr. Die meisten der Matrosen trugen lediglich ein paar alte, abgetragene Segeltuchhosen und etliche hatten sogar auf ein Hemd verzichtet. Daniel Hansom schüttelte wortlos den Kopf, als die kleine Gruppe von Schiffsjungen, ausnahmslos nur in kurzen Hosen, ihn angrinste. Die Offiziere waren ebenso bunt wie merkwürdig gekleidet. Thorben trug eine lange, graue Hose, ein weißes Hemd und eine schreiend bunt gemusterte Weste. Sven hatte nur eine blaue Hose an und trug auf dem nackten Oberkörper eine Weste aus einem dichten weißen Fell, von dem Daniel Hansom stark annahm, es hätte mal einem Eisbären gehört.

„Unser Schiffsarzt, Sir.“

Cedric Lengfield hatte sich in Anzug und Weste gestürzt und sah aus wie der Medizinstudent aus Caerdon, der er auch gewesen war.

„Der Bootsmann.“

Peter Jaden war bis vor ein paar Stunden noch Bootsmannsmaat, bis ihm der Bootsmann der FAIRYTALE eröffnet hatte, dass er auf der Karriereleiter hochgeklettert war.

„Und unser Zimmermann.“

Ebenso war es Jens Fiedler ergangen. Reinhard Vocke hatte ihn kurz gefragt, ob er es sich zutrauen würde, selbständig zu arbeiten. Als er stumm genickt hatte, kam nur die Aufforderung, sich einen Mann zu schnappen und sich auf dem Kutter zu melden.

Am Ende des Rundganges blieb Daniel Hansom erstaunt stehen, denn er hatte in der kleinen Kombüse neben dem Koch auch den Offizierssteward erkannt.

„Moritz, ich bin erstaunt. Ich dachte, die Offiziersmesse wäre dein Ein und Alles.“

„Jawohl, Sir. Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, aber ich kann sie doch hier nicht verhungern lassen.“

Am Ende der Inspektion ließ Captain Hansom seinen Blick noch einmal über den gesamten Kutter schweifen.

„Also gut. Ihr seid hiermit entlassen. Seht zu, dass ihr euren Auftrag so gut wie möglich ausführt und heil nach Tarray zurückkommt. Viel Glück.“

Thorben Dagursson sah zu, wie Daniel Hansom den Kutter völlig unzeremoniell verließ. Daran würde er sich erst gewöhnen müssen, aber sie waren jetzt ein ganz normales Frachtschiff auf dem Weg nach Britannica. Die FAIRYTALE legte ab und machte sich auf den Weg nach Norden.

Am Nachmittag ließ sich der neue Schiffsführer in dem kleinen Dingi des Kutters einmal um sein Schiff rudern. Am Heck prangte der Name SLEIPNIR und darüber war eine große Holztafel angebracht worden, auf dem das Bild eines achtbeinigen Pferdes zu sehen war. Die Schiffsjungen hatten Thorben damit überrascht. Die meisten von ihnen stammten nicht aus Isafjord und hatten den einzigen, der von dort kam, gefragt, was der merkwürdige Name denn bedeuten würde. Darauf erzählte Leif die Saga von Odin und seinem Pferd mit den acht Beinen. Kurz darauf entstand in der Farblast das Bild, das keinen Vergleich mit den Bildern anderer Schiffe zu scheuen brauchte.

Das Rigg war tatsächlich geändert worden. Die Rahen waren entfernt worden, so dass nur ein Gaffelsegel und die Klüver zur Verfügung standen. Das Schanzkleid und die Reling hatten das traditionelle Hellblau Isafjords erhalten und die Hälfte der Stückpforten waren übermalt worden, so dass sie aus der Entfernung nicht so leicht zu erkennen waren. Einigermassen zufrieden kehrte Thorben an Bord zurück. Jetzt würden die Übungen im Segeln und an den Kanonen beginnen. Sie hatten nur noch wenig Zeit bis zum Sonnenuntergang.

Als das Schiff sich dann zu später Stunde auf dem Weg nach Caerdon befand, saßen Clyde und Ragnar zusammen mit Frank und Finn in der winzigen Messe.

„Sobald wir in Caerdon festgemacht haben, werden wir von Bord gehen. Nicht alle zusammen, sondern einzeln. Wir brauchen einen Treffpunkt. Kennt jeder die Statue von König Harold dem VII.?“

Alle drei schüttelten den Kopf.

„Ist nicht so schwer zu finden. Vom Hafen aus die Harbour Street nach Osten, etwa eine halbe Meile. Wir treffen uns dort und gehen dann zum Stadthaus meines Vaters.“

Ragnar und Frank wirkten irritiert.

„Stadthaus?“

„Ja, genau. Jeder Adlige, der der etwas auf sich hält, hat ein Stadthaus. Es ist sein Heim, wenn er aus irgendwelchen Gründen länger in der Stadt bleiben will, besonders wenn er am Hof der Königin zu tun hat oder auch nur an gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen will. Es wird von einem Verwalter geführt und ist jederzeit bewohnbar.“

Ragnar runzelte die Stirn.

„Und was sollen wir da?“

„Ganz einfach. Ich werde ein kleines, informelles Dinner für den dritten Sekretär des Lordkanzlers geben.“

„Was ist mit uns?“

Frank Beutler machte ein säuerliches Gesicht.

„Mit euch, wieso? Ihr werdet ebenfalls am Abendessen teilnehmen.“

Clyde konnte aus den Augenwinkeln erkennen, wie Finn ein entsetztes Gesicht machte.


Der Hafenmeister hatte die SLEIPNIR in eine der hintersten Ecken des alten Hafens von Caerdon verbannt. Hier waren die Liegeplätze am günstigsten, denn diese Isafjorder sahen nicht so aus, als ob sie viel Geld hätten. Ein Teil der Besatzung blieb, ebenso wie die Schiffsjungen, unter Deck, denn ein Handelsschiff mit einer derart starken Besatzung wäre dann doch sehr auffällig gewesen. Thorben und Sven zogen los, um ein paar Händler ausfindig zu machen und die vier jungen Männer mit ihrem Spezialauftrag machten sich auf den Weg in die Stadt.

Die Statue von Harold VII. war einfach zu finden und so zogen sie dann gemeinsam in Richtung Innenstadt. Caerdon hatte sich in den letzten zwanzig Jahren deutlich verändert. Schon zu Lebzeiten von König Harold VIII., Königin Maeves Vater, gab es einschneidende Veränderungen. Die links des River Tyrdale liegende Festung dominierte die ganze Stadthälfte und hier lag auch das alte, eigentliche Caerdon mit den massiven Steinhäusern der Adligen und einem weniger ansehnlichen Stadtviertel der unteren Schichten. Auf der anderen Seite des Tyrdale war der Hafen entstanden und mit ihm ein Viertel von Lagern, Handels- und Geschäftshäusern. Dort wohnten auch die Hafenarbeiter, während weiter außerhalb die neureichen Handelsherren sich zum Teil prachtvolle Gebäude errichten ließen.

Clyde führte die kleine Gruppe aus dem Hafen heraus über die große Brücke, die den Tyrdale überspannte. Dann ging es langsam in Richtung der Festung. Die jetzt schon sehr breite Straße öffnete sich auf einen großen, runden Platz in den insgesamt sechs Straßen mündeten. Die Mitte des Platzes wurde von einem riesigen Brunnen eingenommen, der nun im Sommer Tummelplatz für etliche Kinder war. Der Verkehr von Fußgängern, Reitern, Kutschen und welchen anderen Gefährten auch immer, bewegte sich in einem stetigen Strom um den Brunnen herum.

Frank Beutler sah verwirrt auf das Treiben vor ihm, während Finn leise lachte.

„Das ist Britannica Circle. Sir David hat mich mal hierher mitgenommen und es mir erklärt. Siehst du die Statue ganz oben auf dem Brunnen? Die nackte Lady soll die Einheit des ganzen Landes symbolisieren.“

„Wieso Einheit? Ich dachte, das hier ist alles Britannica.“

Frank Beutler sah erstaunt hoch zu der grazilen Lady auf dem Brunnen, während Finn nickte.

„Ist es auch. Doch vor hunderten von Jahren waren es vier Teile. Anglia, Lonlothian, Cymru und die Eastmarshes. Irgendwann unter König hmmm…, Clyde?“

Finn sah Clyde fragend an.

„Dunstan der III. von Anglia. Damals gab es noch ein Rotanisches Reich, das sich ziemlich weit ausgebreitet hatte. Als sie auch die Insel angriffen, vereinigte der König die vier Länder und konnte mit den vereinten Truppen und der Magie der Druiden die Invasion zurückschlagen. Nach dem Sieg schaffte es Dunstan, die anderen drei Königreiche als Herzogtümer neben den fünf von Anglia seiner Herrschaft unterzuordnen. Seitdem besteht Britannica und wir haben acht Herzogtümer mit zusammen 32 Grafschaften und vier unabhängige Grafschaften, die der Königin direkt den Lehenseid geschworen haben.“

Ragnar und Frank sahen Clyde erstaunt an, während Finn nur dünn grinste. Leise flüsterte er den beiden zu.

„Frag bloß keinen Adligen nach der Geschichte seines Landes. Die hören nie wieder auf zu erzählen.“

Clyde hatte es trotzdem gehört und streckte Finn die Zunge heraus. Zur Ablenkung deutete er in die Runde.

„Und rings um Britannica Circle befindet sich ein großer Teil der Stadthäuser des Adels. Hier ist sozusagen die erste Adresse der Stadt.“

Zielstrebig ging Clyde auf eines der Häuser zu und verschwand dann in einer kleinen Gasse zur Rechten des Gebäudes. Nach einigen Schritten hatte Clyde eine kleine Tür an der Seite des Hauses erreicht und klopfte laut. Dann trat er einen Schritt zurück und stellte sich etwas in den Schatten, so dass Frank direkt vor der Tür zu stehen kam.

Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür und eine Frau sah heraus. Sie war wohl um die vierzig und schien gut genährt zu sein. Sie trug über einem dunklen Kleid eine unübersehbare große weiße Schürze. Misstrauisch musterte sie Frank, der sie nun unsicher ansah.

„Was ist? Hier wird nicht gebettelt. Wir geben nichts.“

Nun trat Clyde aus dem Schatten.

„Aber Mary, mir wirst du doch etwas geben, oder?“

Die Frau musterte Clyde, dann huschten Erschrecken, Erkennen und ein Lachen über ihr Gesicht.

„Master Clyde! Verzeiht, Lord Clyde, natürlich. Bei den Göttern, welch ein unerwartetes Treffen!“

Clyde lachte.

„Ja, Mary. Wir sind auch nur kurz auf der Durchreise. Dürfen wir dein kleines Reich betreten?“

Die Frau riss die Tür auf und winkte.

„Aber natürlich. Kommt herein, kommt herein. Aber warum habt ihr nicht vorne geklingelt? Edwards hätte euch sofort geöffnet.“

Clyde grinste verschwörerisch.

„Das ist Mary, unsere Köchin hier. Ich habe mich schon immer in die Küche verzogen, wenn es oben zu langweilig war.“

Dann wandte er sich wieder zu Mary.

„Ich wollte meinen Freunden auch einmal die Unterwelt eines Herrenhauses zeigen. Doch eine andere Frage, Mary. Sind wir in der Lage, heute Abend ein informelles Dinner für fünf Personen zu geben?“

Die Frau stutzte und sah sich wie suchend um.

„Nun, wenn es nichts Großartiges sein soll, könnte ich ein Dinner für fünf Personen hinbekommen, aber dann müssten die Mädchen einkaufen und der Speisesaal muss vorbereitet werden. Ich weiß auch nicht, ob Edwards noch etwas in seinem Keller hat.

„Keine Angst, es gibt extra Geld für die Ausgaben. Und Wein werden wir wohl nicht brauchen. Dann werden wir mal sehen, ob wir Edwards finden.“

Clyde führte seine Gruppe durch die Küche nach oben in eine kleine Halle, von dort aus durch den Speisesaal in die Empfangshalle. Aus dem hinteren Teil des Hauses kamen ihnen bereits zwei Personen entgegen. Die eine war ein in schwarz gekleideter Mann, etwa um die fünfzig. Sein Aussehen und seine Haltung ließen unfehlbar auf einen Butler schließen. Der andere Mann war deutlich jünger, etwa um die zwanzig und trug im Gegensatz zum Butler keinen schwarzen Überrock sondern lediglich eine dunkelblaue Weste.

„Lord Clyde. Wie ich sehe, beehrt ihr das Haus mit einem überraschenden Besuch.“

Die völlig undurchdringliche Miene des Butlers ließ keinen Rückschluss darüber zu, ob er diesen Besuch ohne jegliche Voranmeldung missbilligte oder nicht.

„Es ist etwas überraschend, Edwards, aber wir gedenken nicht, sehr lange zu bleiben. Ich beabsichtige lediglich heute Abend ein kleines informelles Dinner für fünf Personen zu geben und dann hier zu übernachten. Morgen früh werden wir bereits wieder abreisen.“

Der Blick des Butlers wanderte über die vier jungen Männer.

„Wer wird der Ehrengast sein, wenn ich fragen darf?“

„Der dritte Sekretär des Lordkanzlers, Sir Sean McAllister. Ich werde noch eine Einladung schreiben, die unverzüglich zum Palast gebracht werden muss.“

Der Butler hob fast unmerklich eine Augenbraue, enthielt sich aber weiterhin jeglichen Kommentars über die unziemliche Eile, mit der dieses Dinner stattfinden sollte.

„Sehr wohl, Lord Clyde. Darf ich dann vorschlagen, dass ihr und eure Gäste euch ein wenig frisch macht? Euer Zimmer ist in kurzer Zeit hergerichtet. Die Gästezimmer werden ein wenig länger dauern.“

„Keine Eile, Edwards. Ragnar und ich werden auf meinem Zimmer schlafen, “

damit legte er dem großen Isafjorder eine Hand auf die Schulter. Dann deutete er auf Frank und Finn.

„Und diese beiden Herren werden sich ein Gästezimmer teilen. Das ist immer noch deutlich bequemer als die kleinen Kammern an Bord.“

Wieder verzog der Butler keine Miene.

„Wie ihr wünscht, Lord Clyde. Wenn die Einladung geschrieben ist, wird der junge Harvey hier, sie zum Palast bringen.“

Damit deutete der Butler auf den jungen Mann neben sich, der ebenfalls versuchte, einen neutralen Gesichtsausdruck zu behalten, damit aber weniger erfolgreich war.

„Sehr schön. Finn wird ihn begleiten. Finn hat einige Zeit im Palast verbracht und kennt sich einigermaßen aus. Dann werde ich mich jetzt mit den drei jungen Herren in die Bibliothek zurückziehen. Es wird nicht lange dauern.“

Finn sah staunend an den riesigen Regalen voller Bücher hoch, als sie die Bibliothek betraten. Clyde scheuchte sie in die wenigen Sitzgelegenheiten und setzte sich selbst hinter den Schreibtisch.

„Bevor wir das ganze starten, möchte ich noch ein paar Erklärungen abgeben. Frank, für dich ist das hier wahrscheinlich am rätselhaftesten, doch nur Geduld, es wird alles gleich aufgeklärt. Finn, ich weiß nicht, was der Captain dir alles erzählt hat, aber möglicherweise ist einiges auch für dich neu.“

Clyde fasste in kurzen Worten beide Aufträge der Scythe-Scouts zusammen. Beim inoffiziellen Teil bekamen Frank und Finn große Ohren. Besonders als Clyde ihnen erklären musste, warum sie hier waren und wer der Gast am Abend sein würde.

„Spionage, Geheimniskrämerei, feindliche Agenten und was noch alles? Das ist etwas, was ich wohl am Wenigsten erwartet hatte.“

„Aha. Und was hattest du erwartet?“

Finn zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Ehrlich. Als der Captain mir erklärt hat, wie es an Bord zugeht, habe ich erst gedacht, der will mich verar…, also auf meine Kosten einen Scherz machen. Ich bin schon so oft in meinem Leben wegen meiner Vorlieben angefeindet, verhöhnt, verlacht und auch verprügelt worden. Nur meine Brüer haben eigentlich immer zu mir gehalten.“

Clyde hob fragend seine Augenbrauen, doch die Frage selbst kam von Frank.

„Was hast du denn so schreckliches verbrochen? Die Nummer im Heu ist doch erst vor kurzem gewesen.“

Finn lachte leise.

„Ob ihr‘s glaubt oder nicht, aber es hat begonnen mit Lesen und Schreiben. Ich konnte das mit schon mit sechs. Die Druiden haben den Unterricht organisiert, obwohl sich so etwas für einen richtigen Krieger nicht gehört. Mit zwölf habe ich meinem Großvater eine ganze Menge Geld gerettet, denn ein Händler wollte ihn übers Ohr hauen. Ich habe die Verträge kontrolliert und dann die Abrechnungen. Seitdem hat mein Großvater mich nicht mehr vom Lernen abgehalten. Allerdings hat er darauf bestanden, dass ich an allen Waffenübungen der Krieger teilnehmen musste.“

Ragnar beugte sich interessiert vor.

„Lesen Schreiben, Rechnen. Noch mehr?“

„Ja. Zwei Dinge, die ich nicht gerade freiwillig, aber dennoch gerne gemacht habe. Ich weiß nicht, ob es allgemein bekannt ist, dass der Süden von Erin von Isafjordern besiedelt worden ist. Daher hat ja auch die Stadt Waesfjord ihren Namen. Es heißt eigentlich – Einfahrt zum Watt.“

Ragnar nickte zustimmend.

„Das eine ist Lesen und Schreiben in Fjördur. Das andere sind die Sagen der Vorväter von Erin. Ich kann sämtliche Sagenkreise auswendig.“

Ragnar lehnte sich verblüfft zurück und sah Finn zweifelnd an.

„Und die Ausbildung an den Waffen ist ja nun auch nicht spurlos an dir vorübergegangen.“

Finn seufzte.

„Ich kann doch nichts daran ändern. Viele Leute halten mich wegen meines Äußeren für dumm und ungebildet. Muskeln ohne Hirn. Ich möchte aber auch gerne beweisen, dass ich mehr kann, als nur draufhauen.“

Finn lächelte schüchtern.

„Obwohl ich im Draufhauen auch ganz gut bin.“

„Aber warum hast du dich im Palast denn so zurückgezogen? Da wäre doch die Möglichkeit, etwas zu lernen, sehr groß gewesen.“

„Sir David hat mir auch etliche Sachen beigebracht, aber mir fehlt eben die höfische Bildung. Am Hof meines Großvaters ging es so zu, wie es hier vielleicht auf einem großen Gutshof abgeht.“

Clyde tappte nachdenklich mit einer Hand auf der Tischplatte.

„Laß mich erst mal die Einladung schreiben, dann sehen wir weiter.“


Der Weg zum dritten Sekretär des Lordkanzlers war doch nicht so einfach, wie Clyde es sich gedacht hatte. Edwards hatte Finn mit anderen Sachen ausgestattet, so dass dieser ebenfalls so aussah, als wäre er ein Bediensteter höherer Herrschaften.

Harvey, der zwar schon öfter Nachrichten überbracht hatte, fühlte sich diesmal sichtlich unwohl, denn im Palast war er vorher noch nicht gewesen. Am Haupteingang für Besucher wurden sie von dem dort stehenden Posten an den Empfangssekretär verwiesen. Finn nickte dankend und sie begaben sich in die angegebene Richtung. Kurz vor der angewiesenen Tür bog Finn jedoch links ab und ging einen schmalen Gang hinunter.

„Was soll das?“

zischte Harvey aufgeregt.

„Wir sollen doch zum Empfang.“

„Richtig, sollen wir. Wollen wir aber nicht. Der Sekretär dort wird uns nach unserem Anliegen fragen und entscheiden, dass wir ihm die Einladung geben, damit sie weitergeleitet wird. Erstens weiß dann jeder Lakai im Palast, was drin steht und zweitens wird sie wohl so erst um Beltane dort eintreffen, wo sie hin soll.“

Vor einer unscheinbaren, aber doch massiv aussehenden Tür blieb Finn stehen und klopfte leicht. Nach einer kurzen Zeit wurde die Tür vorsichtig geöffnet und ein Mann in der Uniform der Leibgarde der Königin sah auf den Gang.

„Was zum… Finn? Was willst du denn schon wieder hier?“

„Sergeant Brex. Ich habe einen wichtigen Auftrag und ich möchte deshalb Sir David sehen.“

Der Sergeant hob erstaunt die Augenbrauen und musterte die beiden jungen Männer vor ihm. Dann öffnete er die Tür, so dass beide eintreten konnten.

„Einen Moment. Er ist im Bereitschaftsraum.“

Der Sergeant verschwand durch eine weitere Tür im hinteren Teil des Raumes, während sich Harvey neugierig umsah. Bis auf einen Schreibtisch mit Stuhl und einer Bank an der gegenüberliegenden Seite war der Raum jedoch leer.

Die hintere Tür öffnete sich und Sir David Owen trat ein. Er blieb einen Moment stehen und taxierte Finn überrascht.

„Finn, Sergeant Brex hat mir gesagt, du hast einen Auftrag, der meine Hilfe erfordert?“

„Jawohl, Sir David. Harvey hier ist aus dem Haushalt des Duke of Lonlothian. Im Auftrag eines der Söhne des Herzogs ist eine hmmm… eilige Depesche an den dritten Sekretär des Lordkanzlers auszuhändigen.“

Schweigend sah Sir David Finn an. Er war einer der wenigen im Palast, die von den ‚Nebenaufgaben‘ wusste, welchen der dritte Sekretär des Lordkanzlers nachging. Setzte man voraus, wer Finn abgeholt hatte und in wessen Auftrag er nun unterwegs war, schien er es ebenfalls zu wissen. Welcher Sohn des Herzogs die Depesche geschickt hatte, stand ebenso wenig in Frage. Es gab nur einen, den er an Bord getroffen haben konnte.

„Dann folgen sie mir beide.“

Abrupt drehte sich Sir David um und die beiden jungen Männer hatten Mühe, ihm zu folgen. Es ging durch etliche Gänge, über etliche Treppen und über einen Innenhof. Überall ließen die Wachen sie passieren, ohne auch nur einmal zu fragen. Vor der Abbiegung eines Gangs blieb Sir David stehen.

„Ab hier wird es etwas schwieriger. Dieser Teil gehört zum Flügel des Lordkanzlers. Hier hat die Leibwache der Königin normalerweise nichts…“

Er unterbrach sich, als ein junger Mann den Gang herunterkam und auf sie zuhielt.

„Mister Longbottom, welch ein Zufall, sie zu treffen. Diese beiden jungen Herrn hier haben eine eilige Sendung für den dritten Sekretär des Lordkanzlers.“

Etwas aus seinen Gedanken gerissen, sah der junge Mann zunächst zu Sir David, dann zu den anderen beiden Männern. Dann dämmert ihm, was Sir David gesagt hatte.

„Was? Für den… Oh, einen Moment.“

Unauffällig sah Mister Longbottom den Gang hinauf und hinunter.

„Vielen Dank, Sir David. Ich übernehme ab hier. Bitte folgen sie mir.“

Es ging durch einen weiteren Gang und dann durch eine massive Holztür, die von außen mit einem Schlüssel geöffnet wurde. Hinter der Tür befand sich ein Warteraum, dahinter ein Büroraum.

„Ihr entschuldigt, aber ich bin Gilroy Longbottom, Schreiber des dritten Sekretärs, oder besser, einer der drei Schreiber. Ihr habt eine Depesche für ihn?“

Finn nickte Harvey zu und dieser übergab das Schreiben an Gilroy, der damit durch eine weitere Tür nach hinten verschwand. Nur wenige Augenblicke später erschien Sir Sean McAllister in der Tür und betrachtete die beiden jungen Männer.

„Mister Longbottom, bieten sie den Herren eine Erfrischung an.“

Dann sah er direkt zu Finn.

„Mister O‘Brian, wenn ich mich richtig erinnere. Kommen sie bitte mit nach hinten, da können wir ein wenig plaudern. Ihr Begleiter kann hier so lange warten.“

Sie waren kaum durch die Tür zu Sir Seans Büro als er herumfuhr und das Schreiben hochhielt.

„Was soll das hier? Was ist passiert?“

Finn erzählt kurz die Geschichte, wie die Höhle entdeckt und der Kutter erobert wurde.

„Es wurde noch etwas gefunden, von dem ich nicht weiß, was es ist. Das wissen nur Clyde, Ragnar und Lieutenant Seymore. Es ist aber etwas, was sie unter keinen Umständen in den Palast bringen wollten.“

Sir Sean rollte mit den Augen.

„Ist ja nicht so, dass ich nichts zu tun hätte, aber gut. Ich werde zu dem Dinner erscheinen. Ihr wartet kurz, bis die Antwort geschrieben ist und dann wird Gilroy euch nach draußen bringen.“


Das Dinner selbst verlief völlig unspektakulär. Da es nur fünf Teilnehmer gab, war auch das Personal auf das Mindestmaß begrenzt worden. Nach dem Dessert erhoben sich die Teilnehmer und begaben sich in das angrenzende Herrenzimmer, in dem ein Drink gereicht wurde. Nach kurzer Zeit gab Clyde Frank und Finn ein Zeichen und sie verließen den Raum.

„Um es kurz zu machen, Sir Sean. Das ist der Grund, warum sie heute Abend hier sind.“

Vorsichtig legte Clyde einen kleinen Stapel loser Blätter auf den Beistelltisch. Sir Sean griff nach dem obersten Blatt und traute seinen Augen kaum.

Protokoll der Sitzung des Geheimen Rates Ihrer Majestät der Königin von Britannica, aufgezeichnet am 15. Juli im 2476. JdE

Hektisch blätterte er jetzt in dem Stapel, dann nahm er nochmals das erste Blatt.

„Ich muss mich entschuldigen. Ich habe nicht geglaubt, dass meine Anwesenheit heute Abend von besonderer Wichtigkeit gewesen wäre, aber das hier…“

„Könnt ihr noch mal in aller Ruhe und mit größter Genauigkeit alles nachvollziehen, was mit dieser Höhle zusammenhängt?“

Es dauerte fast zwei Stunden, bis Sir Sean sich verabschiedete.

Ragnar und Clyde zogen sich auf Clydes Zimmer zurück. So, wie sie es gewohnt waren, zogen sie sich aus, schlüpften aber diesmal unter die Decken eines festen Betts. In der Dunkelheit taste Ragnar ein wenig umher und traf auf Clyde, der ruhig neben ihm lag. Langsam fuhr Ragnars Hand an Clydes Körper herab und er stutzte.

„Warum liegst du auf dem Bauch?“

Clyde robbte näher und flüsterte Ragnar etwas ins Ohr.

„Bist du sicher?“

Ragnar konnte nicht sehen, wie Clyde errötete, doch er spürte, dass er nickte.


Das Frühstück verlief deutlich gelöster, als das Dinner. Es wurden kleine Scherze gemacht und hauptsächlich Frank und Ragnar staunten ob der vielfältigen und sonderbaren Auswahl eines Britannischen Frühstücks.

Während der Unterhaltung bemerkte Clyde, wie Frank und Harvey, der sie bediente, immer öfter Blicke wechselten. Auch Finn fiel es auf und er beugte sich zu Clyde, um mit ihm zu flüstern.

„Wir waren gestern Nacht nicht allein auf dem Zimmer.“

Clydes Kopf ruckte herum, dann sah er wieder zu Finn.

„Genau. Der junge Harvey hat nicht nur Qualitäten als Diener.“

Ungläubig schüttelte Clyde den Kopf, beließ es aber bei der kurzen Unterhaltung.

Nach dem Essen sprach der Butler Clyde an.

„Verzeihung, Lord Clyde, aber ich fürchte, es gibt da etwas, was eurer Aufmerksamkeit bedarf.“

„Nun, Edwards, um was handelt es sich?“

Der Butler räusperte sich etwas umständlich.

„Wie ich erfahren habe, hat der junge Harvey während eures Besuches ein paar für ihn wohl sehr interessante Informationen erhalten, die ihn bewegen würden, den Dienst in diesem Hause aufzugeben und stattdessen, nun ja, zur See zu fahren.“

Ja, dachte Clyde, so was Ähnliches habe ich befürchtet. Interessante Informationen waren da wohl auch dabei gewesen. Aber wenn ich anfange, das Haus leerzuräumen, krieg ich Ärger mit Vater‘.

„Sie meinen, er möchte uns begleiten?“

„So wie ich es verstanden habe, ja. Es soll da wohl ein kleines Schiff geben, das einen Mann mit seinen Qualifikationen benötigt.“

Clyde konnte sich gerade noch ein Lachen verkneifen, doch dann stutzte er.

„Welche Qualifikationen?“

„Oh - er ist ausgebildeter Koch, hat als Kammerdiener gearbeitet und könnte - wohlgemerkt, könnte - in absehbarer Zeit sogar als Butler arbeiten. Unter entsprechender Aufsicht, versteht sich.“

„Ich bin beeindruckt, ich werde mich kurz mit meinen Kameraden beraten.“

Edwards verbeugte sich knapp.

„Vielen Dank, Lord Clyde.“

Clyde stürmte hinaus in die Vorhalle, schnappte sich Frank und drückte ihn in eine Ecke.

„Was hast du mit Harvey gemacht?“

„Was? Nichts! Wir haben ihm nur von der FAIRYTALE erzählt. Alles, was sowieso schon bekannt ist. Und dann ist er uns einfach in das Zimmer gefolgt. Na ja, war eine lange Nacht.“


Die beiden dreckigen Kerle in ihren abgerissenen Sachen stanken schon am Morgen nach billigem Ale. Sie konnten es sich leisten, denn am vergangenen Abend hatte sie ein Gentleman angesprochen, ob sie nicht vielleicht den Hafen ein wenig für ihn im Auge behalten konnten.

Nichts leichter als das, aber das würde etwas kosten. Schweigend und mit großer Verblüffung starrten die beiden dann auf den goldenen Sovereign, den jeder von ihnen bekommen hatte. Falls es etwas Interessantes gab, sollten sie es nur dem Wirt des ‚Bleeding Selkie‘ erzählen, der würde sie schon weiter entlohnen.

Das Ale hatte die halbe Nacht in Anspruch genommen und so standen sie beide am nächsten Morgen, oder besser zur Mittagszeit, am Hafen und versuchten, dem arbeitenden Volk so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.

„Hey, warte mal. Was ist denn mit dem kleinen Küstensegler da hinten? Die Deppen sehen so aus, als ob sie keine Ahnung hätten vom Beladen. Wo kommt der her?“

„Der da drüben? Aus Isafjord, glaub ich. Is‘ so ‘n blödes Tier hinten drauf. Na, und für ‘n Küstensegler sind da ganz schön Leute drauf. Da gibt’s doch nicht viel zu verdienen mit der Ladung. Da, da kommen ja noch welche. Wollen die da mitfahren?“

„Was? Wo? He – der Kleine da drüben, der mit den roten Haaren, der sieht doch fast so aus, wie der Kerl, den uns der Typ beschrieben hat.“

„Welcher Typ… ach so, die Sovereigns. Hm… die Beschreibung passt doch auf jeden zweiten Rothaarigen. Ich kannte da mal einen auf der alten FOXWORTH, als ich…“

„Halt mal die Klappe. Ein merkwürdiges Schiff, ein verdächtiger Kerl, das klingt doch ganz so, als würden wir noch was verdienen. Lass uns rüber ins ‚Selkie‘.“


An Bord der SLEIPNIR sah Thorben Dagursson mit gerunzelter Stirn auf seinen Neuzugang herab. Was sollte er denn mit einem Butler? Clyde räusperte sich.

„Nun, Sir. Er ist auch Koch. Und Steward.“

Das Gesicht des Kapitäns hellte sich auf.

„Ah, wenn das so ist. Sven, klarmachen zum Auslaufen. Ragnar, sieh zu, dass die Ladung ordentlich verstaut ist. Was wollte ich noch? Ach ja. Moritz!“

Eine gute Stunde später befand sich die SLEIPNIR auf dem Weg in Richtung offene See. In dem schwierigen Fahrwasser des Tyrdale bemerkten sie nicht, dass ein Logger ihnen die ganze Zeit folgte.

Das fremde Schiff sah aus wie eines der zahlreichen Fischerboote und fiel bei dem starken Schiffsverkehr nicht besonders auf. Je weiter die SLEIPNIR sich jedoch aus der Mündung des Tyrdale hinausbewegte und dann nach Norden fuhr, desto offensichtlicher wurde ihr Verfolger.

Sven setzte das Fernrohr ab und sah zu Ragnar.

„Sieht tatsächlich so aus, als ob er uns folgt. Was machen wir?“

„Wir halten erst mal an unserer Tarnung fest. Wir segeln weiter nach Norden, so als ob wir zwischen den Skellies und dem Festland durchwollen. Wollen doch mal sehen, wie schnell unser Pferdchen hier ist.“

Sven gab Anweisungen, die Segel neu zu trimmen und Ragnar schickte einen der Schiffsjungen los, den Kapitän zu holen.

Thorben Dagursson war wegen des ihm übertragenen Kommandos etwas nervös. Natürlich war er stolz, dass Captain Hansom ihn für diese Aufgabe ausgewählt hatte, dennoch war er bedacht, nichts falsch zu machen. Da war diese merkwürdige Sache, mit dem Schiff unter falscher Flagge in einen Britannischen Hafen einzulaufen. Und jetzt folgte ihnen auch noch so ein verdammter Logger.

„Sieht aus, als ob er aufholt.“

Sven nickte und sah nach hinten. Der Logger war bereits bis auf wenige Schiffslängen heran.

„Ja, die Dinger haben eine reine Lateintakelung, damit kommen die höher an den Wind als jeder andere. Wir haben zwar auch eine, liegen aber deutlich schwere im Wasser.“

Thorben schüttelte den Kopf.

„Ich möchte mal wissen, was der von uns will. Der wird uns ja nicht bis Isafjord verfolgen wollen.“

Eine Antwort blieb Sven erspart, als ein Kanonenschuss ertönte und eine Kugel surrend über die SLEIPNIR hinwegflog.

„Sie schießen auf uns? Sind die total bescheuert? Gefechtsstationen! Flagge setzen!“

Am Mast der SLEIPNIR stieg jetzt die blaue Flagge der Britannischen Freibeuter empor. Der Effekt war gleich eine ganze Breitseite von Bord des Loggers. So wie es aussah, war er für seine Größe ziemlich schwer bewaffnet mit mindestens vier Kanonen auf jeder Seite.

Die SLEIPNIR trug jeweils sechs Kanonen auf jeder Seite, die normale Bewaffnung für einen Kutter der Marine. Nicht aber für ein normales Handelsschiff in dieser Größe. Die würden drüben gleich ihr wahres Wunder erleben.

„Backbordseite klarmachen zum Feuern! Erste Runde Vollkugeln! Zweite Runde nachladen mit Kartätschen!“

Die Schiffsjungen sausten los, weiteres Pulver zu holen und die Geschützführer suchten sich die Geschosse. Eine Kanone nach der anderen gab nach kurzer Zeit das Signal für die Feuerbereitschaft.

Thorben nickte Sven zu.

„Anluven!“

Der Kutter drehte in den Wind und der Logger kam in die Reichweite der Geschütze.

„Feuererlaubnis!“

Kurz darauf ertönte Ragnars Trillerpfeife und die sechs Kanonen der SLEIPNIR feuerten gleichzeitig eine Breitseite.

Auf dem Lugger schien man mit keiner großen Gegenwehr gerechnet zu haben, denn der Kapitän dort hatte, anstatt möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, ebenfalls angeluvt um nicht zu weit zurückzufallen. Damit zeigte er allerdings seine gesamte Breitseite.

Die Kugeln der SLEIPNIR schlugen in Deckshöhe ein und man konnte erkennen, dass sie an den Aufbauten und an einem Stag Schaden anrichteten. Wütende Rufe schallten herüber und ein einzelner Kanonenschuss antwortete. Die Kugel schlug in den Rumpf der SLEIPNIR.

Die Antwort erfolgte einige Zeit später, als eine weitere Breitseite abgefeuert wurde und den Logger traf. Die Wirkung war ungleich verheerender als vorher. Das Rufen und Schreien verstummte abrupt und machte nur ein paar klagenden Lauten Platz. Das Deck des Loggers war plötzlich wie leergefegt und es sah unheimlich aus, wie das Schiff ohne Ruder in den Wind schoss und allmählich langsamer werdend an der SLEIPNIR vorüberzog.

Thorben setzte sein Fernrohr ab und sah Ragnar an.

„Klarmachen zum Entern. Wir werden wohl den Doktor brauchen.“

Geschickt näherte sich die SLEIPNIR nun dem führerlosen Logger und kam nach zwei vergeblichen Versuchen längsseits. Das Enterkommando betrat das Deck des kleineren Schiffes und sah vor sich einer Anzahl lebloser Seeleute, das Oberdeck voller Blut. Aus der Deckung eines Deckshauses stürmten plötzlich drei Seeleute mit erhobenen Entermessern hervor und hielten auf das Enterkommando zu. Noch bevor jemand reagieren konnte, fielen zwei Schüsse. Alle drei Angreifer fielen zu Boden und Ragnar sah mit Erstaunen, dass einer von ihnen mit einem Pfeil erschossen worden war.

Ragnars Kopf ruckte herum und er sah an der etwas höheren Reling der SLEEIPNIR Clyde und Frank mit einer Pistole bewaffnet und Finn mit seinem Bogen. Ragnar hob nur kurz seine Hand zu einem Gruß und wandte sich an Peter Jaden.

„Alle durchsuchen. Ich brauche jeden noch so kleinen Hinweis, wer sie waren und was sie von uns wollten. Auch die Laderäume kontrollieren.“

Cedric Lengfield war inzwischen auf seinem traurigen Weg über das Deck. Mehr als einmal schüttelte er stumm den Kopf.

Aus einem der beiden Laderäume ertönte plötzlich Geschrei. Ragnar ruckte herum und ging hinüber. Zwei Matrosen der SLEIPNIR zielten mit ihren Pistolen nach unten, während eine Stimme von dort ertönte.

„Nicht schießen. Nicht schießen. Ich bin unbewaffnet.“

Die Stimme hatte einen starken Akzent und Ragnar seufzte innerlich.

„Los, hochkommen. Aber langsam und mit erhobenen Händen.“

Zunächst erschienen langsam ein paar Hände über dem Lukensüll und dann folgte der Besitzer. Ragnar hob erstaunt die Augenbrauen, denn der Junge, der dort langsam hochkletterte, schien nicht ganz in diese Umgebung zu passen. Er trug zwar ein paar Leinenhosen und ein abgerissenes Hemd, doch seine ganze Erscheinung schien etwas Anderes auszusagen. Die helle, fast schneeweiße Haut kontrastierte stark mit den tiefschwarzen Haaren und die schlanke Gestalt ließ den Jungen bei seiner geringen Größe fast zierlich aussehen.

Der Junge hatte bestimmt noch keine Stunde an Oberdeck eines Schiffes gearbeitet.

„Und wer bist du?“

„Mein N-n-n-name ist L-l-luca. Luca Dubois. Ich bin hier d-der Dolmetscher.“

Clyde war inzwischen herübergekommen und stand nun schweigend neben Ragnar, der Luca etwas überrascht musterte.

„Dolmetscher? Ja, wofür denn?“

„Äh, Herblondaise?“

„Das hab‘ ich mir fast gedacht. Ich meinte, aus welchem Grund braucht ein Schiff wie dieses einen Dolmetscher?“

Lucas dunkle Augen huschten angstvoll hin und her, während er sich seine Antwort überlegte. Clyde kam ihm zuvor.

„Schmuggler. Von Britannica nach Herblonde und umgekehrt, stimmt’s?“

Luca schlug seine Augen nieder und blickte auf das Deck. Als er dort einen großen Blutfleck sah, ruckte sein Kopf wieder hoch.

„Ja. Sie haben mich gekauft, weil sie zu faul oder zu blöd waren, eine andere Sprache zu lernen. Und das alles wegen der paar Fässer Alkohol.“

Clyde sah Lucas betroffen an.

„Sie haben dich gekauft?“

„Ja, von Maitre Couillon, ich bin nämlich…“

Ragnar unterbrach die beiden ungeduldig.

„Das können wir nachher klären. Warum haben sie uns verfolgt? Das ist doch sehr ungewöhnlich für einen Schmuggler.“

„Keine Ahnung. Als sie losgefahren sind, haben sie nur gelacht und gesagt, sie könnten mal locker 1000 Sovereigns verdienen, wenn sie diesen rothaarigen, kleinen…“

Lucas Stimme wurde leiser und er sah nun mit großen Augen zu Clyde.

„Weiter. Wenn sie diesen rothaarigen, kleinen, was?“

„…kleinen Zauberer einfangen und abliefern.“

Clyde stieß seinen Atem aus und hinterher gleich einen Stapel voller Flüche, die den Göttern sei Dank, niemand von den anderen verstand.

Ragnar sah die schmale Gestalt vor sich abschätzend an.

„Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“

Lucas Augen blitzten auf und seine Gestalt straffte sich.

„Achtzehn.“

Ragnar sah Luca einen Moment lang schweigend in die Augen, bis dieser seinen Kopf senkte.

„Na gut. Also… sieb- ich meine sechzehn. Und elf Monate.“

Ragnar sah sich nun um, während an Deck die ersten Aufräumarbeiten begannen.

„Wir werden unsere Unterhaltung an Bord der SLEIPNIR fortsetzen.“

Doch dazu sollte es zunächst nicht kommen. Thorben Dagursson hatte schon während des Enterns überlegt, was mit dem Logger passieren sollte. Es gab im Prinzip nur zwei Möglichkeiten. Das Schiff an Ort und Stelle zu versenken, oder es mit nach Tarray zu nehmen. Der Angriff auf ein Britannisches Schiff war Grund genug, es dem Prisengericht zu überlassen und es war wohl gut 600 bis 700 Sovereigns wert, ohne Ladung. Die würden nach der Prisenordnung unter der Mannschaft der SLEIPNIR aufgeteilt werden. Thorben war nicht unbedingt hinter dem Geld her, aber es wäre eine schöne Belohnung für die Mühen der Mannschaft.

„Ragnar, einen Moment, bitte.“

Ragnar wunderte sich, was sein Kapitän von ihm wollte.

„Wir haben es nicht mehr weit bis nach Tarray und ich möchte den Logger ungerne hier versenken. Nimm dir sechs bis acht Leute und bring das Schiff als Prise nach Hause.“

Ragnar sah Thorben überrascht an. Vor wenigen Tagen noch Midshipman und heute ein eigenes Kommando. Ein kleines zwar und auch nur sehr kurze Zeit, aber wirklich sein erstes Kommando.

Hektisch sah sich Ragnar um und bedeutete einigen Matrosen, ihm zu folgen. Thorben sah ihm grinsend hinterher.


Tarray war der Hafen der Insel Scythe. Direkt gegenüber, auf dem im Osten gelegenen Festland, befand sich die Hafenstadt Linderney. Tarray lag an der Ostseite und wurde schon durch die Insel selbst abgeschirmt vor den hauptsächlich aus Nord und Nordwest kommenden Stürmen und der hohen Dünung. Zum zweiten lagen die Piers und die Zufahrt zu einer kleinen Werft innerhalb einer halbkreisförmigen Bucht, die fast bei jeder Wetterlage ruhiges Wasser im Hafen garantierte.

Die FAIRYTALE lag im Hafen vor Anker und Clyde starrte neugierig hinüber zu den Gebäuden in Ufernähe und zur Werft mit seinen angrenzenden Gebäuden. Dort lag ein Schiff, das ihm merkwürdig bekannt vorkam.

„Ist das die SIRÈNE dort drüben?“

Thorben sah nun ebenfalls hinüber.

„Ja, das ist sie. Das ging ja schneller als erwartet. Lionel muss sie ganz schön gescheucht haben. Anscheinend hat man das Schiff bereits dem Prisengericht übergeben.“

Clyde betrachtete weiter das Treiben auf der Werft und der angrenzenden langen Pier.

„Da sind ja jede Menge Leute unterwegs.“

„Was hast du denn gedacht? Die Arbeit macht sich nicht von alleine. Tarray ist der größte Ort der Insel und gleichzeitig Hauptstadt der Grafschaft Scythe. Hier haben wir eine kleine, aber richtig gut gehende Werft und fast alle Läden, die man so braucht. Seit der Einsetzung des vorigen Earls hat sich die Einwohnerschaft des Ortes mehr als verdoppelt. Das wichtigste aber ist das Seegericht der Grafschaft. Hier werden die als Prisen aufgebrachten Frachtschiffe verhandelt. Wird der Kapitän oder der Eigner eines Schiffes einer Straftat gegenüber der Britannischen Krone überführt, werden Schiff und Ladung beschlagnahmt und versteigert. Das Geld wird nach Abzug des Anteils der Krone unter der Besatzung aufgeteilt.“

„Davon habe ich schon gehört. Wieviel bringt denn so was?“

Clyde deutete vage hinüber zur SIRÈNE. Thorben überlegte kurz.

„Da ist die Ladung wahrscheinlich wertvoller als das Schiff. Außerdem wird der Captain wohl ein paar Sachen behalten, die wir hier gut an Bord gebrauchen können. Also bei einem Verkaufswert von achttausend Sovereigns würde jeder von den Kadetten etwa 30 Sovereigns bekommen.“

„Was? So viel?“

Thorben grinste nur und sah dann nach vorne, während Sven den Kutter langsam in Richtung der FAIRYTALE manövrierte, an deren Steuerbordseite sie längsseits gehen sollten. Ragnar würde mit dem Logger an der Steuerbordseite der SLEIPNIR festmachen.

Clyde und seine beiden Scouts hatten beim Anlegen keine Aufgaben und so hatten sie sich zwischen zwei der kleinen Kanonen verzogen um niemandem im Weg zu stehen.

Von Land kam gerade ein einzelnes Boot mit einer großen Britannischen Heckflagge und hielt auf die FAIRYTALE zu.

„Der Lord-Lieutenant der Grafschaft Scythe.“

Sven hatte den Wimpel über der Heckflagge erkannt.

„Wer ist der Lord-Lieutenant?“

Thorben hatte die Frage gehört und sah sich kurz um, bevor er antwortete.

„Unser Lord-Lieutenant ist Sir Brian Sandlake.“

Clyde sah weiter neugierig zu, wie das Boot des Lord-Lieutenants direkt vor ihnen festmachte.

„Ich bin ja mal zu neugierig, was die da alles zu besprechen haben.“


Die Unterredung in der Kapitänskajüte dauerte über eine Stunde. Sir Brian ging so unspektakulär von Bord wie er gekommen war. Kurze Zeit später wurde ‚Alle Mann‘ gepfiffen.

Wieder ertönte das typische Rennen und Trappeln auf dem ganzen Schiff. Clyde stand jetzt mit seinen zwei Leuten etwas abgesetzt am Ende der Seesoldaten. Da die FAIRYTALE vor Anker lag, waren alle drei Wachen vollzählig an Oberdeck.

Der Captain stand erhöht auf dem Achterdeck neben dem Steuerruder.

„Männer! Ich habe wieder ein paar neue Nachrichten. Die SIRÈNE, das Schiff aus Herblonde ist vom königlichen Prisengericht gekauft worden für den Preis von knapp 8.400,-- SeaSovereigns.“

Jubel brandete auf und die Seeleute schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Clyde machte sich gerade klar, dass er ja noch gar keine richtige Stelle an Bord gehabt hatte, als die SIRÈNE erobert worden war. Ade, du schönes Geld.

Doch der Captain fuhr fort.

„Für den Kutter und den Logger, den wir erbeutet haben, steht eine Entscheidung noch aus. Doch nun noch eine andere wichtige Ankündigung. Die FAIRYTALE wird ab morgen hier in die Werft gehen. Wir werden ein paar Reparaturen und ein paar kleine Umbauten vornehmen. Es sollte nicht länger als drei oder vier Tage dauern. Jede Wache hat abwechselnd einen Tag frei. Die Dauerwächter stimmen sich mit ihren Vertretern ab.“

Begeistert jubelten die meisten, doch ein paar, so wie der Schiffszimmermann, schüttelten seufzend den Kopf. Drei oder vier Tage waren eine kurze Zeit. Der gesamte Rumpf musste kontrolliert werden und die Umbauarbeiten für die Unterbringung der Seesoldaten mussten fertiggestellt werden. Zum Glück hatten sie schon auf See damit angefangen.

Nach dem die Versammlung aufgelöst worden war, trat Feliciano de Luca auf Clyde zu.

„Erzähl, was hältst du von Mario?“

„Der Junge hat anscheinend so einige verborgene Talente.“

Feliciano lachte.

„Das kannst du laut sagen. Er hat mich auf der ganzen Fahrt hierher bequatscht, ihn zu den Scouts zu lassen. Ich hab ihm gesagt, ich wüsste ja nicht einmal, ob du noch jemanden suchst.“

Nun musste Clyde lachen.

„Du kannst ihm sagen, er soll sich schon einmal ein violettes Halstuch besorgen.“

Feliciano pfiff anerkennend.

„Das wird ein geflügeltes Wort werden. Ich werde es ihm ausrichten. Aber jetzt noch was anderes. Ich werde während des Aufenthaltes in der Werft an Land schlafen, du kannst ruhig meine Kammer haben für die Zeit. Dann kannst du noch so richtig Abschied feiern in der Junior-Messe. Pascal hat auch eine Unterkunft an Land, also ist das kein Problem.“

Clyde wurde auf einmal schmerzhaft klar, dass er die Junior-Messe verlassen würde. Die wenigen Tage hatten gereicht, dass er sich an das Leben dort und an seine Kameraden gewöhnt hatte.

„Danke, gar keine schlechte Idee. Aber ich habe noch ein Problem. Frank und Finn machen die militärische Feindaufklärung. Einer beobachtet, der andere sichert. Das klappt glaube ich schon ganz gut. Aber ich brauche noch andere Leute. So wie Mario etwa. Leute, die ich auch in den Häfen und Städten einsetzen kann.“

„Da fällt mir im Moment niemand ein. Aber wir können morgen früh zum Heuerbaas gehen.“

„Zu wem?“

„Zum Heuerbaas. Das ist ursprünglich eine Einrichtung der Handelsschifffahrt. Hier melden sich alle arbeitslosen Seeleute und werden bei Bedarf vermittelt. Bei uns sammelt Harold, der Heuerbaas, übrigens der alte Master-at-arms der FAIRYTALE, alle Meldungen derjenigen, die gerne bei uns mitfahren möchten. Er sortiert schon einmal die aus, die absolut nicht in Frage kommen und hat Listen mit Namen und Fähigkeiten.“

„Da bin ich aber mal gespannt.“

„Ich auch. Wir sehen uns dann morgen Vormittag um zwei Glasen auf der Pier.“


Clydes Kameraden betrachteten einen Abschied aus der Messe als sehr seriöse Angelegenheit. Sie wurde entsprechend dem Anlass gebührend mit alkoholischen Getränken gewürdigt. Am nächsten Morgen verspürte Clyde starken Seegang und einen Feudel im Mund, von dem er keine Ahnung hatte, wie er dort hingekommen war.

Der Junge, der ihn wecken sollte, machte kurzen Prozess. Die Hängematte wurde umgedreht und Clyde knallte unsanft auf den Boden.

„Sorry, Sir. Die Hängematte muss ordentlich verstaut werden. Es ist gleich acht Glasen und nach dem Wachwechsel kommt der Erste Offizier zur Hafeninspektion.“

Clyde rettete sich in die Kombüse, wo er noch einen Kaffee und etwas zu essen abstauben konnte.

Danach nahm er eines der Boote, die regelmäßig nach Tarray ruderten.

Die Anlegestelle in Tarray war eine hohe Kaimauer mit einer eisernen Leiter. Clyde war froh, dass er an Bord einige Übungsmöglichkeiten im Klettern gehabt hatte. Feliciano wartete bereits auf ihn.

Das Kontor des Heuerbaases war in einem kleinen Gebäude direkt an der Hafenkaje untergebracht. Als die beiden Offiziere das Büro betraten, war es bis auf den großen, schlanken Mann hinter dem Tresen leer.

„Ah, Feliciano. Was treibt dich zu früher Stunde her?“

„Zwei Dinge. Der Captain hat in seiner unendlichen Weisheit angeordnet, dass die Seesoldaten aufgestockt werden sollen. Ich brauche 22 neue Leute, die vernünftig mit einem Karabiner umgehen können.“

Harold nickte wissend.

„Ich habe schon gerüchteweise davon gehört. Und wer ist dieser junge Mann?“

„Oh, Entschuldigung. Das ist Clyde Cameron. Er ist der Leutnant der neuen Scythe-Scouts.“

„Ah. Auch das ist mir schon zu Ohren gekommen. Dann herzlich willkommen in meinem bescheidenen Anwesen, Lord Clyde.“

Clyde wusste nicht, welche Beziehungen Harold hier in der Stadt hatte, aber seine Informationsquellen schienen gut zu sein.

„Clyde reicht. Ich fürchte, ich werde nämlich noch öfter hier auftauchen. Die Scouts benötigen auch noch Personal, aber ich weiß, ehrlich gesagt, noch nicht einmal welches.“

Harold hob erstaunt seine Augenbrauen und überlegte einen Moment.

„Welche Anforderungen stellt ihr denn? Gibt es etwas, was alle können müssen?“

Clyde drehte sich ratlos zu Feliciano, der aber nur mit den Schultern zuckte.

„Also, zunächst sollten sie Lesen und Schreiben können. Dann sollten sie vielleicht einen Beruf gelernt haben. Keiner jünger als…“

Wieder der fragende Blick zu Feliciano.

„Siebzehn.“

„Also, keiner jünger als siebzehn. Was haben wir noch? Ach ja. Mit einer Waffe umgehen sollten sie auch können. Reicht das erst mal?“

Harold sah skeptisch auf ein großes Buch, dass vor ihm auf dem Tresen lag.

„Die Seesoldaten sind kein Problem. Da mache ich bis heute Nachmittag eine Liste fertig. Bei den Scouts sieht das anders aus. Die meisten, die hierherkommen, wollen auf das Schiff, haben also schon mal was mit Seefahrt zu tun gehabt. Ich führe hier ja nur die Listen der Kandidaten. Wenn Posten frei werden, entscheiden Percy und der Captain, wer angeheuert wird. Sie sagen mir, was sie brauchen und sie bekommen eine Liste mit den Angaben, die die Leute gemacht haben.“

Clyde nickte. Er hatte sich das irgendwie einfacher vorgestellt.

„Wie viele Leute sind denn überhaupt erfasst?“

„Das Buch enthält über vierhundert Namen von Bewerbern.“

„Vierhundert? Und die sind alle hier in der Stadt?“

Harold nickte.

„Viele. Die meisten haben eine vorübergehende Arbeit gefunden. Etliche davon auch auf dem Land draußen. Die Bauern brauchen Helfer, denn die Stadt verbraucht erheblich mehr Lebensmittel als noch vor zwanzig Jahren. Einige haben eine feste Arbeit gefunden andere sogar ein eigenes Geschäft gegründet und lassen sich dann aus dem Buch wieder streichen.“

„Das sind weitaus mehr als ich gedacht habe. Aber nicht, dass ich nachher eine Liste mit vierhundert Namen bekomme.“

Harold lachte.

„Keine Angst. Von denen können nicht mal die Hälfte Lesen und Schreiben.“

Nachdenklich verließen Clyde und Feliciano das Heuerbüro.


Das nächste Ziel lag etwas weiter im Inneren der Stadt. Dieser Teil war sichtlich neu gebaut worden. Es gab Häuser mit steinernen Fundamenten und die Straßen öffneten sich an den Kreuzungen zu freien Plätzen, die mit viel Grün bepflanzt waren. Das Gebäude, auf das Feliciano zuhielt, war erheblich größer als das Kontor am Hafen und Clyde erkannte schon von weitem eine große hölzerne Schere, die frei über dem Eingang schwang. Eine Schneiderei.

Links und rechts des Eingangs waren große Schaufenster, deren Glas schon alleine ein Vermögen gekostet haben musste.

Im linken Schaufenster waren Uniformen ausgestellt. Eine Offiziersuniform der Marine in dunklem violett, daneben die eines Seekadetten. Dann die grüne Uniform eines Seesoldaten und ganz rechts eine Uniform mit hellroter Jacke und dunkelblauer Hose, die Clyde bisher noch nicht gesehen hatte.

„Das ist die Uniform der Garde. Die Grafschaft hat ein eigenes Miliz-Infanteriebataillon, das auch die Wachen für die offiziellen Gebäude stellt. Kommandeur ist der Lord-Lieutenant.“

Feliciano schleppte seinen Begleiter auch vor das andere Schaufenster. Hier waren verschiedene Gehröcke, ein Dinnerjacket und ein langes Abendkleid ausgestellt. Clyde deutete auf das Kleid.

„Ich dachte…“

Feliciano lachte leise.

„Überleg einmal. Die Stadt, der Hafen, ja die ganze Grafschaft sind erst vor etwa zwanzig Jahren durch den ersten Earl of Scythe als eine, wie es offiziell heißt ‚offene Gemeinschaft‘ bezeichnet worden. Es ist jedem erlaubt, hier so zu leben, wie er es für richtig erachtet, wenn er nicht dadurch einen Mitbewohner, schädigt, belästigt oder sonst wie beeinträchtigt. Es gibt hier weniger Gesetze als in den meisten Grafschaften. Der größte Teil befasst sich mit Steuern und Grundstücken.“

Clyde sah Feliciano überrascht an. Daran, dass ja die gesamte Insel von den Veränderungen betroffen war, hatte er gar nicht gedacht.

„Hafen und Stadt hat es ja schon weit vorher gegeben und hier haben wohl so um die achthundert Einwohner gelebt. Die ganze Grafschaft hatte damals höchstens anderthalbtausend Einwohner, einschließlich Tarray. Als der erste Earl die Gesetze über die ‚offene Gemeinschaft‘ erlassen hat, haben die Leute ihre Köpfe geschüttelt und wer konnte, hat Scythe verlassen. Aber es sind auch eine ganze Anzahl geblieben. Selbst ganze Familien mit Mann und Frau und Kindern. Du würdest dich wundern, es waren hauptsächlich die Fischer und die Bauern aus dem Hinterland, die geblieben sind. Die Veränderungen würden sie nicht kümmern, haben viele behauptet. Doch interessanterweise respektieren sie die neuen Gesetze mehr, als die sogenannten Stadtbürger. Ganz Britannica kennt inzwischen die Politik unserer Grafschaft. Interessanter Weise kommen manchmal sogar ganze Familien oder auch einzelne Frauen hier her.“

Feliciano überlegte kurz, aber dann zuckte er die Schultern. Was soll’s, er wird es ja sowieso gleich erfahren.

„Außerdem noch zwei Bemerkungen. Es gibt nicht nur Männer die mit Männern zusammenleben, sondern auch Frauen mit Frauen. Zum anderen gibt es auch Männer, die sich so etwas gerne mal anziehen.“

Damit wies er auf das Kleid.

Clyde versuchte die letzte Bemerkung zu verarbeiten, was allerdings wieder zu den unterschiedlichsten Rottönen auf der Haut führte.

„Du kennst dich gut aus hier. Ich dachte, du kommst aus Rota.“

„Meine Mütter kommen dort her. Ich wurde in Tarray geboren. Angeblich war ich das erste Kind hier in Tarray, dessen Eltern keine Britannier waren.“

„Mütter?“

Clydes Frage kam so schnell, dass er sich beinahe auf die Zunge biss, um sie noch zu verhindern.

„Entschuldige, es geht mich nichts an.“

„Oh, das ist kein Problem. Ganz Tarray kennt meine Mamas. Wie ich bereits sagte, auch Frauen leben mit Frauen zusammen. Deshalb habe ich auch gleich eine Überraschung für dich.“

Schwungvoll betrat Feliciano den Laden und Clyde folgte ihm, während er sich neugierig umsah. Ein kleines Glöckchen ertönte und aus einem Hinterzimmer kam eine Frau mittleren Alters nach vorne. Sie hatte lange, pechschwarze Haare und ein freundliches Lächeln. Als sie Feliciano erkannte, stieß sie einen leisen Schrei aus. Dann wandte sie sich nach hinten.

„Lucia, komm schnell. Unser kleiner Feliciano ist wieder da.“

Aus dem Hinterzimmer trat eine weitere Frau, größer als die erste und mit hellblonden Haaren. Clyde brauchte sie nur kurz anzusehen, da wusste er, welche Überraschung Feliciano gemeint hatte. Er war der Dame wie aus dem Gesicht geschnitten.

„Feliciano!“

Die große blonde Frau eilte auf Feliciano zu und umarmte ihn stürmisch. Auch die andere Frau umarmte ihn bewegt. Als Feliciano wieder Luft bekam, drehte er sich um zu Clyde.

„Clyde, das sind meine Mamas. Lucia und Veronica de Luca.“

„Mamas, das ist Clyde Cameron. Er ist neu bei uns und der Captain hat ihn mit einer besonderen Aufgabe betraut, bei der wir eure Hilfe brauchen.“

„Unsere Hilfe? Caro mio, was können wir beiden alten Frauen denn schon tun?“

Clyde verbeugte sich artig. Veronica betrachtete ihn näher, blinzelte etwas erstaunt, sagte aber zunächst nichts.

„Kommt nach hinten. Du hast bestimmt eine Menge zu erzählen, Felice.“

Doch bevor sie sich zurückziehen konnten, klingelte noch einmal die Tür. Ein junger Mann trat ein, etwa zwei oder drei Jahre jünger als Feliciano und Clyde erkannte in seinen Gesichtszügen sofort die von Veronica. Auch ihre schwarzen Haare und die dunkelbraunen Augen schien er von ihr geerbt zu haben.

„Romano!“

„Feliciano!“

Feliciano stürmte auf den Jüngeren zu und riss ihn förmlich vom Boden, als er ihn umarmte.

„Hey, ich bekomme keine Luft mehr!“

Vorsichtig setzte Feliciano ihn wieder auf den Boden und wandte sich an Clyde.

„Das ist Romano, mein kleiner Bruder und dies ist Clyde unser neuer Scout-Offizier.“

Romano streckte seinem Bruder die Zunge raus und sah Clyde mit großen Augen an.

„Du bist das? Die Gerüchte sind schon durch den ganzen Hafen gelaufen. Und du bist wirklich ein Elf?“

Clyde hörte, wie die beiden Frauen überrascht nach Luft schnappten, während Feliciano seinem Bruder einen tödlichen Blick zuwarf. Dann wandte er sich an seine Mütter.

„Bitte, Mamas, es ist nicht so, wie ihr denkt. Clyde ist nicht so wie die bösen Geister aus eurer Heimat. Er kann seine Begabungen beherrschen.“

Veronica betrachtete Clyde skeptisch, doch dann nickte sie.

„Lasst uns erst einmal nach hinten gehen, dort können wir in Ruhe sprechen. Romano, ich hätte da noch ein paar Auslieferungen.“

Romanos Gesicht zeigte tiefe Enttäuschung, aber er gehorchte.


Die beiden rotanischen Frauen hatten sich im Laufe der Zeit gut in Britannica eingelebt und auch einige der einheimischen Sitten übernommen. So gab es dann für jeden eine Tasse Tee im Hinterzimmer. Veronica hatte sich einen Sessel genommen und beobachtete weiterhin Clyde. Dann setzte sie ihre Teetasse ab und sah in die Runde.

„Es ist deine Mutter, nicht wahr? Deine Gesichtszüge verraten sie, auch wenn die Farbe deiner Haare nicht der ihren entspricht.“

Clyde sah Veronica vollkommen erstaunt an.

„Ihr kennt meine Mutter? Das ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise zeigt sie sich nicht gerne in der Öffentlichkeit.“

„Oh, es ist schon etliche Jahre her. Wir hatten gerade den Laden eröffnet, als diese wunderschöne Frau eintrat und sich umsah. Sie fragte nach uns, unseren Absichten, unseren Wünschen und nach unserer Arbeit.“

Clyde hob nun erstaunt die Augenbrauen. Er hatte seine Mutter selten gesehen und somit hatte er geglaubt, sie hätte sich zurückgezogen, doch anscheinend streifte sie durch das Land und sammelte Eindrücke.

„Jedenfalls, als sie ging, hat sie uns Glück und Erfolg gewünscht. Und ich muss sagen, wir hatten beides.“

Clyde grinste breit.

„Kein Wunder. Wenn eine Hohe Sidhe einen Wunsch ausspricht, dann passiert das auch.“

Etwas betroffen sahen sich die beiden Frauen an.

„Nun, da das jetzt alles geklärt ist, verratet ein paar alten Frauen doch mal, wobei ihr unsere Hilfe braucht.“

Clyde hätte bei all der Aufregung beinahe vergessen, warum sie eigentlich hergekommen waren. Zunächst erklärte Feliciano, dass seine Seesoldaten aufgestockt werden würden und dass er befördert worden war. Das führte erst einmal zu weiteren Umarmungen.

„Und wie viele Leute kommen jetzt dazu?“

Feliciano rechnete einen Moment.

„Also, das sind erst einmal zweiundzwanzig neue Soldaten. Dann müssen von den schon ausgerüsteten Soldaten einer zum Offizier, zwei zum Sergeanten und zwei zum Corporal umgekleidet werden.“

Die beiden Damen de Luca sahen sich überrascht an.

„Das ist eine ganze Menge Arbeit. Wir müssen auch sehen, ob wir noch so viel Stoff vorrätig haben. Ich nehme an, die übliche Ausrüstung, also drei Uniformen für den täglichen Dienst und eine Paradeuniform?“

„Eine Paradeuniform?!“

Feliciano grinste Clyde an.

„Du musst nicht nur gut arbeiten, sondern auch gut aussehen. Es gibt eine Paradeuniform. Wird zwar selten getragen, aber es gibt bestimmte Anlässe, wo sie benötigt wird. Der größte Knackpunkt wird da wahrscheinlich die Kopfbedeckung. Wir haben für die Seesoldaten kleine schwarze Tschakos mit allem möglichen Brimborium. Wird aber fast nie getragen. Wenigstens nicht an Bord.“

Clyde schüttelte sich unbewusst.

„Da müssen wir unbedingt noch drüber reden.“

Die beiden Damen hatten Felicianos Ausführungen über das gute Aussehen lächelnd zugehört, jetzt wandten sie sich an Clyde.

„Und du hast eine ganz neue Truppe bekommen. Sind das auch so viele?“

Clyde schüttelte hektisch den Kopf.

„Nein, nein. Wir sind erst mal nur drei…. äh, vier Mann. Drei Mannschaften, ein Offizier.“

„Und die Uniform soll so aussehen wie die der Seesoldaten?“

Clyde sah noch einmal zu Feliciano, der aber aufmunternd nickte.

„Nein. Das heißt, der Schnitt soll genauso sein wie bei den Seesoldaten. Aber sie sollen sich farblich unterscheiden. Ich habe mir überlegt, dass die Uniform komplett schwarz sein soll, sowohl Jacke, wie auch Hose. Dazu gibt es dann violette Halstücher. Da wir die Jacken wahrscheinlich sehr oft geschlossen tragen, können wir die Halstücher nicht immer verwenden. Um die Farbe hervorzuheben, dachte ich, wir könnten die Knopfleiste verdecken und in der Waffenfarbe gestalten. Ebenso wie die Umrandung der Kragen.“

Lucia hatte ein Blatt Papier und ein Stück Holzkohle geholt. Mit schnellen Strichen skizzierte sie den Schnitt und markierte dann die farblichen Teile.

„Keine Ärmelaufschläge?“

Clyde schüttelte den Kopf.

„Nein, es soll so einfach wie möglich bleiben.“

„Was ist mit den Offizieren?“

Feliciano und Clyde sahen sich fragend an.

„Nun ja, sie würden sich dann, abgesehen von der Schärpe, nicht von den Mannschaften unterscheiden.“

Clyde nickte verstehend.

„Richtig. Aber mal ehrlich, ich möchte mich nicht gleich als Zielscheibe präsentieren. Es sollte unauffällig sein, zumindest auf die Entfernung.“

Clyde überlegte einen Moment und sah dann auf die Zeichnung.

„Hm, bei Feliciano sind die Sterne auf den Ärmelaufschlägen. Die haben wir aber nicht mehr. Das machen wir anders. Der Kragen ist doch hoch genug. Kann man da auf jeder Seite einen kleinen Stern anbringen?“

„Da hast du dir ja was richtig Elegantes ausgedacht. Schlicht und doch beeindruckend.“

Bevor Clyde etwas erwidern konnte, wurde er durch Veronica abgelenkt. Sie hatte schon eine ganze Weile zugehört und mitgerechnet.

„Das wird aber eine ganze Weile dauern. Das sind pro Uniform etwa zweieinhalb Meter Stoff. Den Bestand an Grün müssen wir überprüfen. Gelb und Violett haben wir wohl genügend, aber Schwarz haben wir auf keinen Fall so viel. Das müssen wir erst bestellen.

„Wie lange dauert denn so etwas?“

„Die Maße von Felicianos Leuten haben wir noch hier. Aber am besten, die jungen Herren werden neu vermessen. Sie wachsen in dem Alter ja noch. Die Neuen könnt ihr hier gleich vorbeischicken, sobald sie angeheuert sind. Wir könnten dann mit den Uniformen beginnen, sobald die Stoffe und das andere Material hier sind. Feliciano, du hast lange genug hier gearbeitet. Kannst du noch jemanden abmessen?“

„Natürlich, so etwas verlernt man nicht.“

„Das Vermessen dauert nicht lange. Clyde, wo du schon einmal da bist, kannst du gleich damit anfangen.“

„Was? Womit?“

Feliciano lachte und sah seine Mütter grinsend an.

„Ich werde mich dann mal an die Arbeit machen. Ich glaube nicht, dass er das Romano machen lassen möchte.“

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