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Dämonenjäger

Teil 14

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Inhaltsverzeichnis

Köln, Deutschland, Anno Domini 2018

Der zweite Januar 2018 begann in Köln eigentlich ganz ruhig. Den ersten hatten die meisten Jungs zum großen Teil verschlafen.

Lucas erhob sich und sah Kevin einen Moment beim Schlafen zu. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Dass ihm das Schicksal einen solchen Partner geschenkt hatte, grenzte schon fast an ein Wunder. Niemals hatte er sich in seinem früheren Leben vorstellen können, jemanden wie ihn zu finden.

Auf dem Weg ins Bad sah er noch kurz in das große Schlafzimmer, wo sich Martin zwischen Robin und Kyan dicht eingekuschelt hatte, was ihm nicht schwer fiel, denn beide hatten ihre Tiergestalt. Leise schloss Lucas wieder die Schlafzimmertür.

Martin hatte sich inzwischen gut eingewöhnt und Timo und Thomas hatten ihre ersten Berichte über seine sehr seltene Begabung abgegeben. Es würde nun an ihm liegen, den abschließenden Bericht zu erstellen und eine Empfehlung für die weitere Verwendung einzureichen.

Gerade als er unter der Dusche stand, kam Martin herein und sah etwas überrascht zu Lucas. Sicherlich, er hatte schon alle Mitglieder der SMU näher kennengelernt und auch mit einigen von ihnen ein wenig Zeit verbracht, doch bei Lucas hatte er sich nie so richtig getraut. Zum einen war er einer der beiden Leiter, zum anderen fürchtete er sich ein wenig vor der muskulösen Gestalt, obwohl gerade sie es ihm deutlich angetan hatte.

Lucas lächelte ein wenig und hielt die Shampoo-Flasche hoch. Martin interpretierte das völlig richtig als Frage und näherte sich zögernd. Schwer schluckend sah er an der nassen Gestalt von Lucas herab und streifte dann kurz entschlossen sein einziges Kleidungsstück ab. Er nahm Lucas die Shampoo-Flasche ab und begann mit etwas zitternden Händen mit dem Einseifen des lächelnden Astralmagiers.

Etliche Minuten später warf Michael einen suchenden Blick ins Bad und sah Lucas und Martin unter der Dusche, wo inzwischen Lucas das Einseifen seines Gegenübers übernommen hatte. Schnell schloss Michael die Tür und ging wieder nach unten.

Unten im Flur standen zwei etwas verlorene Gestalten. Ein Wagen des Logistik-Corps hatte zwei neue Unteroffiziere samt Gepäck abgeladen und war dann wieder verschwunden. Michael war zufällig in der Küche gewesen, als es am Tor geklingelt hatte und er hatte den Wagen und dann die beiden Neuen hereingelassen. Nachdem er Kevin immer noch schlafend und Lucas in der Dusche vorgefunden hatte, seufzte er etwas.

„Nun, denn. Die beiden Leiter sind im Moment noch beschäftigt. Ich fürchte, Sie werden im Moment mit mir vorlieb nehmen müssen. Ich bin Oberleutnant Michael Lehrke. Mein Partner ist der S1, Oberleutnant Diberg, aber der schläft auch noch. Ohne allzu persönlich zu werden, würde ich sagen, Sie sind ein wenig früh.“

Beide Gesichter zeigten sofort einen etwas hektischen Ausdruck.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Oberleutnant, aber man hat uns heute Morgen um sechs Uhr in Marsch gesetzt, damit wir rechtzeitig bei unserer neuen Dienststelle sind.“

Da ertönte eine andere Stimme von der Treppe.

„Sind die denn gänzlich bescheuert? Die Verfügung lautet doch auf: Dienstantritt bis sechzehn Uhr.“

Michael drehte sich erstaunt zur Treppe und grinste dann.

„Das ist Oberleutnant Diberg, unser S1. Ich werde Sie dann mal ihm überlassen.“

Der Blick der beiden Neuen ging hin und her. Die beiden Oberleutnante glichen sich ja fast wie Zwillinge. Nur, dass der eine ein paar Jeans trug und der andere lediglich ein paar dunkelblaue Retro-Shorts.

Rafaels Blick musterte die beiden Neuzugänge und er musste unwillkürlich grinsen. Das war der ultimative Renner, zumindest wäre er das für Max, wenn der nicht immer noch in Amerika wäre. Der kleinere der beiden hatte schwarze Haare, trug die Seiten millimeterkurz und den Mittelteil zu einem flachen Kamm aufgerichtet. Ein klassischer Mohawk, genauso wie ihn auch Max trug. Und wenn Rafael nicht alles täuschte, waren Max und der Neue auch noch in etwa gleich groß, wenn auch der Neue wohl etwas schwerer war.

Der zweite Neuzugang war goldblond, die Haare ziemlich kurz und etwas verstrubbelt. Die Haut war gebräunt, als ob er sich oft im Freien aufgehalten hätte. Er war etwas größer als der andere junge Mann neben ihm, doch nicht so groß wie Rafael.

„Okay, das macht nichts. Kommt einfach mit. Eure Sachen bringen wir erst einmal ins Gästezimmer, bis wir wissen, ob vielleicht jemand wo anders untergebracht wird.“

Schweigend folgten die beiden dem fast nackten S1 in das Gästezimmer und legten das Gepäck ab. Dann überreichten sie Rafael ihre Umschläge mit den Papieren.

„So, dann gehen wir am besten ins Wohnzimmer zum Frühstücksbuffet. Ihr habt schon was gegessen?“

Beide schüttelten den Kopf und Rafael unterdrückte einen Fluch. Im Wohnzimmer war nur Michael am Buffet, während im Hintergrund noch alles schlief.

„Schnappt euch, was ihr haben wollt und dann setzen wir uns hier an den Tisch und unterhalten uns ein wenig.“

Etwas zurückhaltend ging es ans Buffet und während die beiden Neuen schweigend aßen, studierte Rafael die Papiere. Schon bei der ersten Akte grinste Rafael breit und sah zu dem jungen Herrn mit dem Mohawk.

„Bevor wir hier starten, liegt es diesmal wohl an mir, die Worte zum Empfang zu sprechen.“

Die beiden hörten auf zu kauen und sahen Rafael erwartungsvoll an.

„Die Special Mission Unit ist, wie der Name nahelegt, eine Spezialeinheit. Sie ist mit nichts zu vergleichen, was es im Moment an Einheiten in der Division Westeuropa gibt. Das gilt auch für das Personal und dessen Zusammensetzung. Wir sind im Laufe der Zeit zu dieser Truppe zusammengewachsen…“

Rafael fasste kurz zusammen, wie die SMU entstanden war und wie sie sich zusammensetzte.

„…nicht zu vergessen die Gestaltwandler, von denen wir inzwischen zwei Stück hier haben.“

Der Gesichtsausdruck der beiden Neuen wandelte sich überraschend schnell von neugierig in erschreckt, ja fast panikartig. Hektisch sahen sie sich um und Rafael ahnte, um was es ging.

„Sie haben doch extra diesen Sonderlehrgang für die Verwendung in Einsatzeinheiten gemacht. Was hat man Ihnen denn über Gestaltwandler erzählt?“

Beide sahen sich betroffen an, dann antwortete der Blonde.

„Jawohl. Also dieser Lehrgang, der war ein bisschen merkwürdig. Wir wären ja schon Ende September mit der normalen Ausbildung fertig gewesen, da hieß es, wir müssten einen Sonderlehrgang machen, wenn wir in eine Einsatzeinheit wollten. Da wir nicht in einer der Tarnfirmen landen wollten, haben wir uns für den Sonderlehrgang gemeldet. Die Fächer hatten sich zu den vorherigen überhaupt nicht verändert und es wurde auch nicht viel Neues erzählt. Lediglich in Magietheorie und theoretischem Gestaltwandel gab es ein paar neue Informationen. In Magietheorie wurde plötzliche jede Menge über die einzelnen Magieschulen berichtet, wo im normalen Unterricht diese Themen nur gestreift wurden und die Beziehungen der Magier zueinander im Mittelpunkt gestanden hatten.“

Rafael nickte seufzend und bedeutete dem jungen Mann, weiterzumachen.

„In Gestaltwandel wurden uns wahre Horrorgeschichten erzählt. Von Menschen, die sich in Tiergestalten verwandeln. Na ja, das war ja noch einigermaßen einleuchtend, sonst hätte es das Fach ja nicht gegeben. Aber dann war da plötzlich die Rede von Werwölfen, die jeden anfallen würden, der nicht aufpasst. Und damit war nicht nur das Beißen gemeint. Sie würden auch über andere Leute herfallen und sie in ihrer Tiergestalt äh…“

„Vergewaltigen?“

Beide fuhren herum, als eine weitere Stimme aus Richtung der Tür ertönte. Der junge Mann der dort stand, hatte wortwörtlich nichts an und sah mit finster zusammengezogenen Augenbrauen zu den beiden Neuen.

„Robin, lass Sie in Ruhe. Sie geben nur das wieder, was ihnen erzählt wurde. Wir haben es jetzt schon öfter gehört und es gefällt mir immer weniger.“

„Mir auch nicht. Aber dann lass uns das Thema gleich hier beenden.“

Die beiden Neuen sprangen vom Tisch auf, als Robin begann, sich zu wandeln. Mit angsterfüllten Blicken starrten sie auf den bei der Tür sitzenden Wolf.

„Was…, was ist das?“

„Hm, ich würde sagen, ein Wolf. Canis Lupus.“

Der nun neben dem Wolf erschienene junge Mann mit seinen rotblonden Locken hatte ebenso wenig Bekleidung an wie Robin zuvor.

„D…Das sehe ich. Ich meine, ist das ein Gestaltwandler? So wurde uns ein Werwolf aber nicht beschrieben.“

Rafael schüttelte den Kopf.

„Man hat Ihnen nicht einmal Bilder gezeigt von den Wandlern?“

„Äh, nein Herr Oberleutnant.“

Rafael grinste etwas säuerlich. Dann fiel ihm etwas ein.

„Übrigens, der Wolf kann Sie auch in seiner Tierform verstehen, er kann nur nicht mit Ihnen reden. Ich möchte Sie also offiziell mit unseren beiden Gestaltwandlern bekannt machen. Dies dort…“

Damit wies er auf Robin

„…ist Oberleutnant Robin Wolff. Leiter der Gestaltwandler der SMU.“

Dann wies er zu dem rotblonden jungen Mann, der sich seiner Nacktheit überhaupt nicht bewusst zu sein schien.

„Und das ist Leutnant Kyan von Södern. Unser zweiter Gestaltwandler, bis jetzt.“

Nun wandelte sich auch Kyan und die beiden Neuen sahen neben dem Wolf einen Luchs sitzen.

„Ein Lu… Lu… Luchs.“

„Richtig. Bedenken Sie bitte, was ich vorhin gesagt habe. Die beiden können Sie ohne weiteres verstehen und das sogar besser als jeder Mensch, was das Hörvermögen betrifft. Nun kommt das Schwierige für Sie beide. Wer keine Gestaltwandler akzeptieren kann oder nicht mit Ihnen klar kommt, ist für unsere Einheit leider nicht geeignet.“

Die beiden Neuen sahen sich nur kurz an, dann ging der Größere dort hinüber, wo die beiden Gestaltwandler saßen und sie erwartungsvoll ansahen. Der junge Mann kniete ab und sah den Wolf an.

„Ich bin Unteroffizier Bente Sönksen. Vorgesehen als S3-Unteroffizier, Herr Oberleutnant.“

Robin fiepte erheitert, doch er hob seine Pfote und der junge Unteroffizier schüttelte sie kurz. Dann drehte er sich zu Kyan, der ebenfalls seine Pfote erhoben hatte. Auch sie wurde kurz geschüttelt.

Der andere junge Mann hatte der ganzen Szene mit etwas offenem Mund zugesehen und war deutlich unentschlossener als sein Vorgänger. Als Unteroffizier Sönksen an den Tisch zurückkam, gab er ihm einen deutlichen Schubs. Zögernd ging nun auch er hinüber und kniete sich vor dem Wolf ab.

„Ich bin Unteroffizier Gabriél Reding. Vorgesehen als S-1-Unteroffizier, Herr Oberleutnant.“

Diesmal sah der Wolf ruckartig zu Rafael und dann wieder zurück. Doch auch hier hob er seine Pfote, die geschüttelt wurde, ebenso wie bei Kyan. Etwas verblüfft erhob sich Unteroffizier Reding, als sich beide Gestaltwandler gleichzeitig wandelten und er zwei nackten jungen Männern gegenüberstand. Ungeachtet der Situation, spürte er, wie der erotische Aspekt ihn beeinflusste, so dicht an so viel nackter Haut. Schnell zog er sich wieder bis zum Tisch zurück.

„So, Gabriél also. Herr Reding, woher kommen Sie?“

„Aus Luxemburg, Herr Oberleutnant.“

Robin stöhnte auf und sah Rafael an.

„Rafi, bitte mach was. Über den Nächsten, der Oberleutnant zu mir sagt, fall ich her.“

„Oberleutnant!“

Kyan war am schnellsten und Robin schnappte ihn sich, um ihn ausgiebig zu küssen. Die weiteren körperlichen Reaktionen blieben den Zuschauern dabei nicht verborgen und die beiden Neuen sahen sich nur etwas hilflos an.

„Robin, Kyan! Nicht hier unten. Geht dazu wenigstens nach oben. Dabei fällt mir ein, wo ist denn Martin?“

„Wohl noch mit Lucas immer noch unter der Dusche.“

Schnell wandte sich Rafael an die beiden Neuen, auch um sie etwas abzulenken.

„Zwei Sachen, die noch geklärt werden müssen. Ich werde Sie beide nachher offiziell der gesamten Einheit vorstellen. Da wird es bei Herrn Reding wahrscheinlich noch einmal zu ein paar Lachern kommen. Das hat nichts mit Ihnen zu tun, sondern damit, dass Sie zur S-1-Abteilung gehören. Mein Vorname ist Rafael und mein Partner heißt Michael.“

Es dauerte einen Moment, bis das Gesagte eingesickert war, doch dann dämmert es Gabriél.

„Oh, die drei Erzengel.“

„Genau. Der zweite Punkt, den Robin und Kyan so eindrucksvoll vorgeführt haben, ist etwas persönlicherer Natur. Ich habe ja die Entstehung der Einheit erklärt und auch die daraus resultierende persönliche Nähe ihrer Mitglieder. Es ist hier so, dass jeder… Nein, anders anfangen. Ich weiß, dass Sie beide schwul sind, sonst wären Sie nicht hier.“

Bente nickte kurz, während Gabriél etwas schüchtern zu Boden sah.

„Man hat Ihnen natürlich auch erklärt, wie die Beziehungen der Magier zueinander sind. Es wäre ja eigentlich viel einfacher für das Logistik-Corps, heterosexuelle Mitarbeiter zu schicken, doch das hat sich im Laufe der Jahrhunderte als nicht durchführbar erwiesen. Die Abneigungen gegeneinander haben den Nutzen überwogen. Auch sämtliche Gestaltwandler sind schwul, sonst könnten sie sich nicht wandeln, denn das hat etwas mit Magie zu tun.“

Diesmal nickten beide ernsthaft.

„Unsere Einheit umfasst mittlerweile Magier, Gestaltwandler, Personal des Logistik-Corps und Personal des Magie-Korps. Sie alle haben inzwischen persönliche Beziehungen zueinander entwickelt, die auch eine sexuelle Komponente beinhalten. Das hat sich im Laufe der Zeit entwickelt und ist nicht unbedingt zwangsläufig geschehen. Es kann sein, dass Sie von dem einen oder anderen gefragt werden, sich mit ihm außerhalb allen Dienstlichen zu treffen. Es ist Ihre freie Entscheidung dies zu tun oder auch nicht. Niemand wird zu etwas gezwungen. Ebenso ist es Ihnen überlassen, genauso jemanden zu fragen, wenn Sie ihn näher kennenlernen wollen. Er wird Ihnen die Antwort freundlich und in Ruhe geben.“

Rafael grinste in sich hinein, als er sah, dass sich Gabriél automatisch zu der Stelle umdrehte, wo Robin und Kyan gestanden hatten. Warum waren es immer zuerst die Gestaltwandler? Bente hatte sich zur Schlafecke des Wohnzimmers gedreht und sah nun mit großen Augen zu, wie sich ein junger Mann unter den Decken hervorarbeitete und splitternackt an ihnen vorbei zum Bad strebte.

„Normalerweise geht es nicht so freizügig zu, aber wir haben ein kleines Problem mit unserer Unterkunft. Was wollte ich eigentlich sagen? Ach ja. Die persönlichen Beziehungen. Daraus resultiert der tägliche Umgang miteinander und auch die Anrede. Der Dienstgrad ist eine Kennzeichnung für den Ausbildungsstand und nach außen hin für die Führungsebene. Untereinander benutzen wir ihn nie, es sei denn, um jemanden damit aufzuziehen, so wie gerade eben. Die Anrede geschieht mit dem Vornamen. Deshalb werde ich Sie nachher auch bei der Vorstellung das letzte Mal offiziell anreden und mit vollem Namen vorstellen, ebenso wie die Mitglieder der Einheit. Danach müssen Sie sich nur noch die Vornamen merken.“

Beide Neuen saßen am Tisch und versuchten das Gehörte so gut wie möglich zu verarbeiten. Gabriél schüttelte unwillkürlich den Kopf.

„Das… das glaub ich einfach nicht. Das ist so meilenweit von dem entfernt, was wir alles gelernt haben. Schon bei der Anwerbung wurde mir klar gemacht, dass ich mein altes Leben vergessen kann. Magie existiert wirklich und wir haben es dann auch vorgeführt bekommen.“

„Wahrscheinlich von einem Elementar.“

Gabriél nickte.

„Und dann der Unterricht. Fast militärisch exakt. Fachunterricht, Sport, ja sogar Formaldienst. Wir haben sogar eine Uniform bekommen, die wir wahrscheinlich niemals tragen werden.“

Rafael grinste etwas und dachte an den letzten Appell.

„Als dann der Sonderlehrgang angeboten wurde, war mir sofort klar, dass ich mich melden würde. Ich wollte unbedingt in eine Einsatzeinheit, obwohl ich beruflich nicht wirklich dafür qualifiziert bin.“

Auf Rafaels fragenden Blick deutete Gabriél auf Bente.

„Er hat Außenhandelskaufmann gelernt. Zusammen mit unseren Fachlehrgängen hat er sich deutlich für Organisation qualifiziert. Ich habe lediglich einen kurzen Fachlehrgang in Personalwesen gemacht. Mein erlernter Beruf hätte eigentlich eher zu S-4 gepasst, aber dort wollte ich auf keinen Fall hin.“

Rafael blätterte scheinbar ziellos durch die Personalakten.

„Sie haben Systemgastronom gelernt?“

„Jawohl, Herr… äh, ich meine…“

„Rafael, einfach Rafael. Ich weiß, zu Anfang ist es noch etwas ungewohnt, aber das legt sich mit der Zeit.“

Gabriél nickte tapfer.

„Okay. Also: Ja, ich habe Systemgastronom gelernt. Ob Sie…, ob du es glaubst oder nicht, bei dem berühmten Schnellrestaurant mit dem goldenen M. Ich war dort das letzte Jahr sogar Manager für eine ganze Schicht.“

Rafael überlegte einen Moment.

„Ohne unseren Leitern vorgreifen zu wollen, möchte ich auf folgendes schon einmal hinweisen. Wir werden in einigen Tagen mit der ganzen Einheit umziehen. Dazu brauchen wir übrigens einen Ablaufplan. Das wird Aufgabe des S3-Bereiches werden und unser S3 ist im Moment nicht vor Ort.“

Bente wurde ein wenig blasser, als er ohnehin schon war.

„Dort werden wir auch eine eigene Küche haben, die wir selber betreiben werden. Das Haus hat eine umfangreiche Geschichte. Da waren auch schon mal kurzfristig ein Hotel drin und ein Tagungszentrum. Danach hat die Organisation es gekauft und eine Einheit von Intel war darin untergebracht. Jetzt wird unsere Firma dort einziehen.“

Gabriél sah nun aufmerksam zu Rafael.

„Ich soll also die Küche machen und nicht den S-1-Bereich?“

„Nein, so nicht. Du bist und bleibst bei S-1. Die Küche wird, genau wie hier auch, abwechselnd von allen Mitgliedern betrieben. Wir brauchen nur jemanden, der Ahnung von Einkauf, Vorratshaltung und ökonomischem Betrieb hat. Wenn Lucien, unser Küchenguru, wieder da ist, kann der dir das viel besser erklären.“

Im Laufe der nächsten zwei Stunden ließen sich so einige Leute am großen Tisch für ein kurzes Frühstück nieder. Und, wie Gabriél bemerkte, in fast jedem Zustand der Bekleidung. Als er Rafael danach befragte, zuckte der nur mit den Schultern.

„Es ist ja nun nicht so, dass nicht jeder den anderen schon mehr oder weniger oder gar nicht bekleidet gesehen hätte. Oder ihm in diesem Zustand auch näher gekommen wäre. Die Gestaltwandler sind dabei sogar ein eigenes Kapitel für sich. Manchmal schleichen sie den halben Tag in der einen oder anderen Form herum, also warum sich zwischendrin anziehen? Aber zur Beruhigung, der normale Anzug hier sind Jeans und T-Shirt oder Polo-Shirt, je nach Witterung auch etwas Wärmeres.“

Vor dem Mittagessen gab es dann noch die angekündigte Vorstellung. Die gesamte SMU versammelte sich in der Einsatzzentrale und Rafael ging nach vorne zum Podium.

„So, wie die Meisten schon mitbekommen haben, sind die neuesten Mitglieder unserer Einheit heute Morgen eingetroffen. Sie gehören beide zum Logistik-Corps und werden zwei unserer Stabsabteilungen verstärken. Unteroffizier Bente Sönksen gehört ab sofort zur S-3-Abteilung und wird, so lange der S-3 abwesend ist, die Leiter unterstützen. Unteroffizier Gabriél Reding gehört zur S-1-Abteilung. Damit hätten wir alle Stabsabteilungen mit einem Offizier und einem Unteroffizier besetzt.“

Lucas bedeutete Rafael weiterzumachen und der aktivierte nun den großen Monitor.

„Für alle Mitglieder der Einheit und auch für unsere Neuen noch einmal die Organisationsstruktur der Einheit, wie wir sie ab sofort einnehmen sollen.“

Auf dem Bildschirm erschien ein Organigramm mit etlichen Namen, einige Felder waren allerdings noch leer.

„So, ganz oben Kevin Böttcher und Lucas von Lanz-Ravensberg als Leiter der Einheit. Der ihnen direkt zugeordnete Gestaltwandler ist Robin Wolff. Darunter drei Teams mit jeweils vier Magiern und einem Gestaltwandler.“

Rafael sah in die Zuhörer und suchte Michael.

„Team Eins besteht aus Michael Lehrke und Rafael Diberg. Die beiden anderen Magier sind noch offen. Der zugeordnete Gestaltwandler ist Kyan von Södern.“

„Team Zwei besteht aus Lucien Nochterville und Tobias Kerner. Die beiden anderen Magier und der Gestaltwandler sind noch offen. Ebenso wie bei Team Drei, zunächst einmal bestehend aus Sven Hansen und Dorian Müller.“

Jetzt glitt Rafaels Blick hinüber zu Timo.

„Den Leitern untersteht ebenfalls direkt das sogenannte Support-Team, bestehend aus dem Heiler und seinem Kampfmagier, also Timo Mavelli und Alexander Sarutin. Diesen unterstellt sind die Unteroffiziere und Feldwebel des Logistik- und Magie-Korps. Gabriél Reding für S1, Maximilian Harder für S2, Bente Sönksen für S3 und Martin Keller für S4. Thomas Mertens gehört zum Magie-Korps und untersteht fachlich dem Leiter.“

„Fehlen also noch sechs Magier und zwei Gestaltwandler. Dem Stellenplan gemäß sollten es idealerweise ein Astralmagier, ein Elementar und ein Bannmagier sein, aber das liegt in der Entscheidung der Leiter, ebenso wie die Tiergestalt der beiden noch fehlenden Gestaltwandler.“

Kevin stand auf und dankte Rafael für den kurzen Vortrag.

„Dann können wir uns ja auf unsere nächste Aufgabe stürzen. Wir werden nämlich innerhalb der nächsten vierzehn Tage in unsere neue Unterkunft umziehen. Dazu brauchen wir einen Ablaufplan, was den Bezug des neuen Gebäudes betrifft. Wir müssen aufnehmen, was vorhanden ist, was wir mitnehmen müssen und was wir noch nachfordern müssen.“

Kevins Blick glitt, genau wie der von Rafael vorher, über die Anwesenden.

„Aus diesem Grund bilden wir zwei Teams. Eines für die Besichtigung und die Wohnungsplanung und eines für die Organisation des Umzuges. Team Eins besteht aus Lucas, Timo, Gabriél und Robin. Team zwei aus mir, Rafael, Bente und…“

Ein weiterer kurzer Blick in die Runde.

„…Alexander. Kyan sollte sich schon mal mit dem Logistik-Corps in Verbindung setzen und nachfragen, wie die Umwandlung der Firma von statten gehen soll. Dann muss auch dort der ganze Papierkram erledigt werden. Der Rest braucht sich nicht auszuruhen. Die beiden Teams können jederzeit personelle Unterstützung anfordern. Auf geht’s.“

Kalifornien, USA, Anno Domini 2018

Auf der Ranch gab es ein großes Hallo und Matthew sah etwas verloren aus zwischen all den ihm unbekannten jungen Männern. Etwas scheu blickte er zu Kenny, der nun sein Chef sein würde und er war fast ehrfürchtig erstaunt als er erfuhr, welche Begabung Sebastian hatte.

Lucien hingegen hatte sich noch einmal in seinen Fall vertieft und sah nun nachdenklich hinüber zu der kleinen Gruppe, die sich am Küchentisch versammelt hatte. Langsam schlenderte er hinüber zu Kenny.

„Wir beide müssen noch mal reden. Ich denke, dass unsere Auswahl für Portland noch einmal überarbeitet werden sollte.“

Kenneth sah kurz hinüber zu Matthew und nickte. Fast unauffällig verschwanden die beiden in Kennys Büro.

Am Nachmittag gab es dann eine weitere Versammlung in der Einsatzzentrale. Alle Ergebnisse ihrer bisherigen Ermittlungen wurden noch einmal chronologisch vorgetragen mit den dazugehörigen Hintergrundinformationen. Am Ende schwiegen alle eine ganze Zeit lang, bis Toby sich meldete.

„Und warum müssen wir nach Portland? Wir wissen doch, dass er tot ist. Reicht das nicht?“

Lucien schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich will wissen, ob er etwas hinterlassen hat. Einen Nachlass vielleicht oder nur ein Testament. Ich möchte sicher gehen, dass von seinem Wissen nichts weitergegeben worden ist.“

Die meisten nickten, nur Max sah fragend hinüber zu Matthew. Der hatte ein äußerst nachdenkliches Gesicht und schien etwas sagen zu wollen. Nun sah auch Kenny, dass Matthew mit etwas nicht einverstanden war.

„Matt, wenn du etwas sagen möchtest, mach es einfach. Jeder kann und darf sagen, was ihn gerade beschäftigt.“

Matthew sah etwas schüchtern nach vorne zu Kenny.

„Wenn es ein Testament gegeben hat, ist es eröffnet worden und dann wird es, wenn es bei einem Anwalt war, maximal 30 Jahre aufbewahrt. Das dürfte also nicht mehr vorhanden sein. Sollte es keine direkten Erben gegeben haben, bekommt der Staat Oregon den Nachlass. Das lässt sich nachvollziehen.“

Ray nickte zustimmend, während Max sich nun direkt an Matthew wendete.

„Und was passiert in diesem Fall mit seinen persönlichen Gegenständen?“

„Oh, die werden nach einem gewissen Zeitraum öffentlich versteigert.“

Lucien schloss ergeben seine Augen. Sie waren also schon jetzt so gut wie in einer Sackgasse.

„Also gut, ich möchte, dass ihr herausfindet, ob es Erben gegeben hat und was aus seinen Besitztümern geworden ist. Aus diesem Grund habe ich mit Kenny abgesprochen, dass die Zusammensetzung des Teams in Portland geändert wird. Tut mir leid Tim, aber an deiner Stelle wird Max zusammen mit Torben nach Portland gehen.“

Tim sah etwas enttäuscht aus, doch dann warf er einen grinsenden Blick auf Sebastian, der sofort wusste, was Tim stattdessen vorschwebte. Auch Kenny wandte sich an seine Truppe.

„Bei uns wird ebenfalls getauscht. Statt Carl wird Matthew mit nach Portland gehen.“

Die Amerikaner sahen erstaunt zu Matthew, der etwas unsicher um sich blickte. Kenny nickte ihm bestätigend zu.

„Lucien und ich sind übereingekommen, beide Analytiker in den Einsatz zu schicken. Dies hier ist keine Dämonenjagd und auch kein militärischer Einsatz. Hier ist eher der Support-Anteil unserer Einheit gefragt und den bringen wir ein. Unsere Gäste haben ja schon erzählt, welche Bandbreite ihre Einsätze hatten und ich fürchte, nein, ich hoffe, wir werden in Zukunft auch in dieser Form eingesetzt. Also, Ray und Matthew.“

Am Morgen des zweiten Januar tappte Lucien zu früher Stunde den Gang entlang in Richtung Küche, um den Kühlschrank zu überfallen. Toby und er waren bis spät in die Nacht mit sich beschäftigt gewesen und nun plagte Lucien ein großer Durst. Eine der Türen stand halb offen und Lucien sah neugierig hinein, dann grinste er. Auf dem großen Doppelbett lag ein vollkommen nackter Matthew und direkt neben ihm die imposante Gestalt eines Berglöwen. Matt hatte sich an den Berglöwen angekuschelt und ihn umarmt wie einen riesigen Teddybären. Lucien griff nach der Tür und schloss sie leise, dann macht er sich weiter auf den Weg zum Kühlschrank.

Diesmal verdiente das Frühstück seinen Namen, denn die kleine Truppe, die nach Portland reiste, musste zum Flugplatz gebracht werden und die anderen ließen es sich nicht nehmen, sie zu verabschieden.

In Portland organisierte Ray dann den vorbestellten Mietwagen und es ging zunächst zum Hotel. Ohne sich vorher abgesprochen zu haben, gingen alle vier davon aus, dass Torben mit Ray und Max mit Matthew zusammen ein Doppelzimmer bewohnen würden.

Nach dem Mittagessen machten sie sich auf den Weg zum Verlagshaus. Matthew schlug vor, in der Innenstadt besser die Straßenbahn zu nutzen, als das Auto. Ray sah erstaunt auf die blau-roten Straßenbahnwagen, während sich Max und Torben fast wie zu Hause fühlten.

Der Verlag Calvinpress war gemäß Homepage im Jahre 1934 gegründet worden und hatte neben einigen Sachbüchern über Forstwirtschaft hauptsächlich geistlose Comicheftchen vertrieben, wie zum Beispiel ‚Dumbar der Barbar‘ oder ‚The Inflammable Witch‘. In den 1950er Jahren kamen dann mehrere Roman-Heftreihen dazu, unter anderem Western, Kriegs- und Science-Fiction-Geschichten.

Das Verlagsgebäude war ein unscheinbares mehrstöckiges Haus am Rande des Stadtzentrums. Es sah aus, als sei es bereits in den fünfziger Jahren erbaut worden. Matt ging hinüber zur Anmeldung. Die ältere Dame dort schien zu wissen, warum sie gekommen waren.

„Oh ja, Sie wurden bereits avisiert. Mr. Brandis, unser PR-Manager, wird Sie empfangen. Fahren Sie mit dem Aufzug einfach in den dritten Stock. Gleich gegenüber ist sein Büro.“

Neugierig fuhren die drei nach oben und fanden auch tatsächlich das Büro mit der Aufschrift: Damon Brandis, Public Relation Affairs.

Mister Brandis entpuppte sich als ein Mann mittleren Alters, der sichtlich erfreut war, dass er Besuch aus dem Ausland bekam. Er beäugte zunächst Max etwas misstrauisch, doch als dieser dann einen Studentenausweis einer bekannten Berliner Universität zückte, blühte er richtig auf.

„Die Zeitspanne und die Autoren, die Sie untersuchen sind kein besonders rühmliches Kapitel unserer Verlagsgeschichte. Mitte der fünfziger Jahre hatten die Comics an Umsatz stark eingebüßt und unsere Sachbücher waren zwar gut, aber eben nicht gerade Bestseller. Deshalb hat der damalige Junior-Partner, der Sohn des Verlegers, vorgeschlagen, Heftroman-Reihen herauszugeben. Nun ja, es gab dann auch etliche Reihen, die sich mehr oder weniger lange gehalten haben. Als Science-Fiction, wenn man es heute noch so nennen kann, hat sich nur die Reihe ‚Hidden Heroes‘ von Dairyfield gehalten. Zumindest bis er 1964 gestorben ist.“

Max bemerkte, dass sich Mister Brandis wohl schon vor ihrem Besuch einige Notizen gemacht hatte, denn er schielte öfter mal auf einen kleinen Schreibblock.

„Haben Sie noch Exemplare von seinen Werken, die wir einsehen können?“

Nun zögerte Mister Brandis etwas.

„Nun, wir haben natürlich unsere Belegexemplare, doch die dürfen das Haus nicht verlassen. Wenn Sie also etwas Zeit mitgebracht haben, können Sie sich in unserem Archiv gerne das eine oder andere Exemplar ansehen. Ich werde Mister Gaddis Bescheid geben.“

Nach einem kurzen Telefongespräch und ein wenig Smalltalk begaben sich die Besucher hinunter in den Keller in das Archiv. Es sah dort unten genauso aus, wie Torben es sich vorgestellt hatte. Dunkle, graue Betonwände und Stahltüren, von denen eine mit ‚Archiv‘ beschriftet war. Als sie eintraten, wandelte sich der Anblick nur geringfügig. Scheinbar meilenlange Stahlregale standen dort, gefüllt mit Büchern, aber hauptsächlich Kartons.

Vorne, bei der Tür, gab es einen uralten Schreibtisch mit einem überraschenderweise hochmodernen Monitor. Der Mann hinter dem Schreibtisch schien genauso alt zu sein, wie das meiste Mobiliar.

„Ah, die Herrn Studenten aus Germany. Mister Brandis hat mich bereits informiert. Sie suchen also die Werke von Robert Dairyfield. Nicht gerade das Highlight der Science-Fiction-Literatur, wenn Sie mich fragen. Nicht mal nach damaligen Maßstäben.“

Max und Torben horchten auf.

„Was bringt Sie zu der Aussage?“

Der alte Mann lächelte hintergründig.

„Ich habe sie alle gelesen. Alles, was hier im Archiv steht, habe ich gelesen. Mir persönlich gefallen die Western ja am besten, aber darüber kann man streiten. Der verstorbene Mister Dairyfield jedenfalls, war keine Leuchte der englischen Sprache. So viel ich erfahren habe, stammte er ja aus Deutschland und da ist es verständlich, dass einige Formulierungen nicht so glatt sind. Aber warum er dann Romane geschrieben hat, verstehe ich auch nicht, denn er soll angeblich ziemlich wohlhabend gewesen sein.“

Max und Torben sahen sich kurz an und Torben nickte.

„Können Sie uns denn ein Exemplar seines Werkes zu lesen geben?“

„Klar. Sind ja alle gut archiviert. In den knapp zehn Jahren hat die Serie übrigens 252 Ausgaben gehabt. Welche Nummer wollt ihr haben?“

„Huh? Äh, Nummer eins.“

„Dachte ich mir. Danny!“

Aus dem Labyrinth der Regale löste sich eine Gestalt und kam nach vorne. Max musste erst zweimal hinsehen, so überrascht war er. Der junge Mann war gut eins achtzig groß und schlank. Er hatte hellblonde Haare und trug ein hautenges T-Shirt und blaue Jeans. Max schätzte ihn auf etwa siebzehn oder achtzehn.

„Danny, hol mal bitte den Karton SF1955-D.“

Wortlos machte der junge Mann kehrt und verschwand im Archiv. Nach kurzer Zeit kam er mit einem Karton wieder, der für die Aufbewahrung von Aktenordnern vorgesehen war. Immer noch wortlos stellte er ihn auf den Schreibtisch des Archivars und trat dann ein paar Schritte zurück.

„So, hier haben wir die Erstausgabe. Dann sind hier noch… nanu, was ist das?“

Mister Gaddis zog eine ganze Handvoll Hefte aus dem Karton, die deutlich erkennbar das gleiche Titelblatt hatten.

„Oh“, ließ sich Danny nun zum ersten Mal hören.

„Das sind die Exemplare aus den Fan-Kartons. Als wir die Abteilung aufgelöst haben, hab ich die zu den Erstausgaben gepackt.“

„Fan-Kartons?“

Danny drehte sich nun zu Max und lächelte ihn an.

„Da wurden die Zuschriften der Fans aufbewahrt. Jede Heftserie hatte so eine Kategorie und als Mister Dairyfield starb, kamen immer noch ein paar Zuschriften rein, die im Archiv gelagert wurden. Sie konnten ja nicht mehr weiter zugestellt werden. Im letzten Jahr haben wir die Kategorie aufgelöst und die letzten Zuschriften vernichtet.“

Max wurde zappelig.

„Was stand denn da so drin?“

Mister Gaddis übernahm nun wieder, denn Danny schüttelte nur den Kopf.

„Keine Ahnung. Ich bin erst seit dreißig Jahren hier im Archiv. Gladys, meine Vorgängerin, die könnte Ihnen da wahrscheinlich eher was erzählen.“

„Wo können wir die Dame denn finden?“

Mister Gaddis deutete wortlos auf Danny, der etwas schüchtern lächelte.

„Ihr könnt mit mir mitkommen. Gladys ist meine Urgroßmutter.“

Max staunte nicht schlecht.

„Urgroßmutter?“

Doch Danny nickte nur lächelnd.

Torben hatte eines der überzähligen Exemplare geschenkt bekommen und war seitdem darin versunken. Mister Gaddis hatte Danny aus dem Keller entlassen mit der augenzwinkernden Begründung, ein Gespräch mit Gladys erfülle ohne Zweifel den Tatbestand von Archivarbeit. Und so kletterten sie alle in Dannys Pickup, mit dem sie dann durch die Außenbezirke von Portland gefahren wurden. Der Weg ging weiter durch eine ländliche Gegend und dann blieben sie vor einem großen Farmhaus stehen. Danny bedeutete, ihnen zu folgen. Max sah erstaunt auf ein hübsch gestaltetes Schild vor dem Eingang: Baumgartner-Family.

„Meine Eltern haben meine Urgroßmutter aufgenommen, als meine Großeltern bei einem Flugzeugabsturz umgekommen sind. Seitdem wohnt sie hier draußen und hilft immer noch im Haushalt, trotz ihrer 89 Jahre.“

„Das habe ich genau gehört“, ertönte eine Stimme aus dem Inneren des Hauses.

Als sie eintraten, sahen sie eine ältere Dame, die unzweifelhaft Gladys sein musste. Selbst noch mit 89 hielt sie sich gerade und war fast genauso groß wie ihr Urenkel. Und noch erstaunlicher waren ihre langen, dichten, hellblonden Haare.

„Gentlemen, dies ist Gladys Baumgartner, meine Urgroßmutter. Und diese beiden Herren hier kommen aus Deutschland um unserem Verlag einen Besuch abzustatten.“

Gladys musterte Max und Torben kurz.

Dann herzlich willkommen in Amerika, meine Herren“, sagte sie in perfektem Deutsch.

Die weitere Unterhaltung wurde dann doch in Englisch geführt, um nicht die Hälfte der Anwesenden auszuschließen. Die zweite Überraschung kam, als sie Ray eindringlich musterte. Max befürchtete schon eine negative Äußerung, als sie Ray lediglich fragte, „Nez Percé?“, und dieser erstaunt nickte. In der Sitzecke erzählte dann Max von ihrem vorgeblichen Projekt über unbekannte Science-Fiction-Autoren der fünfziger Jahre, während Danny von der Auflösung der Fan-Abteilung berichtete.

„Das ist aber schade. Gerade bei Mister Dairyfield gab es immer etliche Zuschriften.“

Gladys schüttelte sich ein wenig bei den Gedanken an die Vergangenheit.

„Er war ein unhöflicher Mensch. Schon vom ersten Tag an mochte ich ihn nicht. Er hatte einen starken deutschen Akzent und als ich fragte, ob er Deutscher sei, fauchte er mich an, er wäre jetzt Amerikaner und ich solle gefälligst Englisch mit ihm reden.“

Max sah Torben an, doch der schüttelte nur stumm den Kopf. Sie würden nichts über die dunkle Vergangenheit des Schriftstellers erwähnen.

„Die Zuschriften. Ja, die waren etwas ganz Besonderes. Ich weiß nicht, ob ihr eines seiner Heftchen gelesen habt, aber dabei ging es um Jungen, die eine besondere Gabe hatten. Als Danny mir vor ein paar Jahren einen Film zeigte, in dem Jugendliche eine Schule für so fantastische Sachen besuchten, musste ich unwillkürlich lachen. Das hatte Dairyfield schon vor sechzig Jahren beschrieben. Und dann erzählte mir Danny, dass es schon 1963 Comics mit diesen Leuten gegeben hat. Wer da wohl von wem abgeschrieben hat?“

Sie seufzte ein wenig nachdenklich, dann sah sie etwas erschreckt hoch.

„Ach ja, die Zuschriften. Etliche waren negativ, schimpften ihn einen Schundautor oder machten sich über seinen Stil lächerlich. In einigen aber, wohl ausschließlich von jüngeren Männern, wurde behauptet, sie hätten ebensolche Fähigkeiten an sich entdeckt und wollten mehr darüber wissen.“

Dieses Mal schreckten Max und Torben hoch.

„Hat er die Zuschriften beantwortet?“

„Keine Ahnung. Zumindest hat er diese mit nach Hause genommen. Der Rest wanderte gleich in den Papierkorb.“

„Wissen Sie, wie viele Zuschriften das waren?“

„Hm, sie waren selten, aber doch wohl so zwei oder drei pro Jahr.“

„Wissen Sie, wo Mister Dairyfield gewohnt hat?“

„Oh ja. Er hat sich eine kleine Farm gekauft, etwas südlich von hier, direkt angrenzend an ein großes Waldstück des Nationalparks. Na ja, die Farm hat er nie bearbeitet, hat wohl das Land verpachtet.“

„Und wem gehört die Farm heute?“

„Keine Ahnung, aber damals ging das Gerücht, ein junger Mann hätte sie geerbt. Einer aus Arizona oder Arkansas – oder war das Alaska? Wie auch immer, er war wohl gerade so im legalen Alter um zu erben. Hat einige böse Kommentare gegeben, denn einige Leute haben behauptet, er hätte schon ein paar Jahre vorher dort gewohnt.“

Gladys wurde nachdenklich.

„Warten Sie einen Moment. Danny, mein Junge, würdest du mir bitte die kleine Schatulle von meinem Nachtkasten holen?“

Danny eilte weiter ins Haus und Max sah ihm bewundernd nach. Plötzlich hörte er Gladys leise auf Deutsch flüstern.

„Du brauchst ihn nur zu fragen. Er wird bestimmt nicht nein sagen.“

Völlig überrascht sah Max zu Gladys, aber in diesem Moment kam Danny auch schon wieder und trug ein kleines Schmuckkästchen, dass er seiner Urgroßmutter überreichte. Nachdenklich wühlte sie dann darin herum.

„Ha! Ich wusste, dass da noch etwas ist.“

Schwungvoll reichte sie Max einen kleinen Zettel. Es war ein alter Zeitungsausschnitt mit einem Nachruf für Robert Dairyfield. Im Gegensatz zu den meisten Nachrufen, die in den Zeitungen erschienen, war dieser hier kurz und knapp:

Am 19.12.1964 verstarb nach kurzer, schwerer Krankheit Robert Dairyfield. Er wurde 1898 in Deutschland geboren und kam erst 1945 in die Vereinigten Staaten, wo er sich nach kurzem Aufenthalt in North-Carolina endgültig 1950 in Portland niederließ.

Hier arbeitete er als freier Schriftsteller bis zu seinem viel zu frühen Tod. Ich danke den Mitarbeitern des Verlagshauses Calvinpress für ihre freundliche Unterstützung und Father O‘Rourke von St. Peter für seine tröstenden Worte.

Michael Hardee

„Michael Hardee, also. Wir werden mal sehen, ob wir etwas mehr über diesen Herrn herausfinden können.“

Es dauerte noch eine ganze Zeit, bis Gladys ihren Besuch entließ und Max hatte kurz Gelegenheit, auf der Veranda mit Danny alleine zu reden.

„Also, deine Urgroßmutter hat da so eine Andeutung gemacht…“

Danny sah Max fragend an, dann bekam sein Gesicht einen panischen Ausdruck.

„Sie hat doch keine Andeutungen über mich gemacht? Ich meine, dass ich, äh…“

„Keine Angst. Sie hat bemerkt, wie ich dir hinterhergesehen habe. Und das war wohl zu auffällig.“

Danny sah Max verblüfft an.

„Du meinst, du bist…“

„Du solltest lernen, in ganzen Sätzen zu reden. Ja, bin ich. Möchtest du dich mit uns heute Abend treffen?“

„Mit euch? Mit allen? Seid ihr etwa alle…?“

„Ganze Sätze, Danny. Ja, sind wir. Aber das soll dich nicht erschrecken. Wir werden dich nicht bedrängen oder etwas Schlimmeres.“

Danny sah hinüber zum Auto, wo Torben, Ray und Matt bereits warteten. Sein Blick wanderte irgendwie unschlüssig über die drei. Max lachte innerlich. Er ahnte, was gerade in Danny vorging. Der schien immer noch etwas unschlüssig, als Gladys kurz vor die Tür trat.

„Danny, mein Junge. Ich habe mir überlegt, wir könnten die jungen Herren doch zu einem Glühweinabend einladen. Wir haben Platz genug und du kannst sie ja morgen früh wieder zu ihrem Hotel bringen.“

Danny sah seine Urgroßmutter verblüfft an, während Max grinsend sein Wissen über deutsche Lehnwörter erweiterte. So kam es, dass die vier Besucher sich unversehens bei Glühwein und Spekulatius – tatsächlich, Spekulatius! vor dem offenen Kamin wiederfanden und einen lustigen Abend mit ihren beiden Gastgebern verbrachten.

Als Gladys sich dann zurückzog, gab auch Danny das Zeichen, ihre Aktivitäten nach unten zu verlagern. Danny hatte in dem großen Family-Room fünf Schlafsäcke ausgelegt.

„Sorry, aber wir haben kein Gästezimmer und das ist die einzige Möglichkeit, dass alle zusammen übernachten und niemand eine bessere oder schlechtere Schlafgelegenheit hat.“

Zum Schlafen kamen sie eigentlich nicht. Nach dem ersten stürmischen Abenteuer mit Max bemerkte Danny mit großen Augen, wie Torben mit Ray tauschte und Matt sich nun dem großen Indianer zuwandte, währenddessen Torben erwartungsvoll zu Max sah. Nach einem kurzen Blick zu Danny winkte Max Torben herüber.

„Ich hoffe, du hast nichts dagegen?“

Danny schluckte etwas und sah hinüber zu Matt und Ray.

„Im Gegenteil, aber ich hoffe, ich schlafe nicht ein. Das ist etwas, was ich noch nie gemacht habe. Ich sollte eigentlich Angst haben, aber bei euch ist es irgendwie… friedlich, ruhig, ach, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“

Max und Torben nickten nur, um dann Danny mit kleinen Küssen zu bedecken.

Das Unglück kam erst später in der Nacht. Ray hatte sich an Max angekuschelt und beide drifteten langsam in den Schlaf hinüber. Max kraulte geistesabwesend Ray und der fing an zu schnurren. Max realisierte zu spät, was das bedeutete. Ein halblauter Schrei, in kurzer Entfernung neben ihm, ließ Max hochfahren. Danny hielt immer noch Matt umklammert, sah aber mit schreckgeweiteten Augen auf den riesigen Puma, der neben Max lag.

„Scheiße!“

Max klatschte dem Puma mit der flachen Hand auf den Schädel und Ray wandelte sich automatisch.

„Hey, was soll denn… oh nein!“

Danny starrte immer noch auf die Stelle wo bis vor kurzem ganz deutlich ein Puma gelegen hatte und wo jetzt ein nackter dunkelhäutiger Indianer saß.

„Danny!“

Danny zuckte zusammen und drehte seinen Kopf langsam zu Max. In seinen Augen las Max Furcht, Verwirrung und auch etwas- hm, Neugier? Bewunderung?

„Ich würde sagen, wir sind dir eine Erklärung schuldig.“

Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018

Lucas sammelte seine Truppen, um zu einer ersten Besichtigung zu starten. Die Fahrt dauerte nicht lange, doch Lucas musste sich auf das Navi verlassen, denn ihr Ziel lag etwas abseits viel befahrener Straßen. Das erste, was sie von dem Schloss sahen, waren die weiß verputzten Wände des Hauptgebäudes auf einer kleinen Insel. Die Straße führte in einem großen Bogen darum herum und endete vor dem Doppeltor des Vorwerks.

„Habt ihr das Schild oben an der Zufahrtsstraße gesehen?“

„Nein, was ist damit?“

„Das stand: Privatweg. Zufahrt nur mit Genehmigung des Eigentümers.“

Lucas grinste.

„Wir sind die Eigentümer.“

Vor dem Vorwerk gab es links und rechts der Straße jeweils vier Parkplätze von denen einer mit einem schon etwas betagt aussehenden Wagen besetzt war. Als Lucas direkt daneben hielt, stiegen zwei Personen aus.

„Das wird hoffentlich der angekündigte Makler sein.“

„Ich dachte, es ist schon alles erledigt.“

„Ist es auch. Das wird sozusagen die Schlüsselübergabe.“

Der Mann stellte sich tatsächlich als Makler heraus und der zweite war ein junger Mann, den der Makler als seinen Auszubildenden vorstellte.

„Guten Tag. Herr von Ravensberg? Wir haben telefoniert. Meine Name ist Müller von der Agentur Müller & Müller.“

Auf Lucas‘ hochgezogene Augenbrauen zuckte Herr Müller die Schultern.

„Familienbetrieb, zusammen mit meinem Bruder. Dies hier ist Herr Deisenberg, unser Auszubildender als Immobilienkaufmann.“

Herr Deisenberg sah mehr als erstaunt an Lucas hoch, gab ihm aber trotzdem, wie auch sein Chef, die Hand. Lucas drehte sich nur kurz um.

„Die Herren sind Mitarbeiter unserer Firma und sollen den Umzug planerisch begleiten. Herr Mavelli ist zuständig für die Unterkünfte, Herr Reding für F & B, Herr Wolff für die Recreation Areas und ich plane das Office-Layout.“

Robin musste sich das Lachen verbeißen, als Herr Müller zustimmend nickte und Herr Deisenberg ihm einen völlig verständnislosen Blick zuwarf, den dieser aber ignorierte.

„Dann kommen wir gleich zum Hauptzugang. Wie Sie ja bereits aus den Unterlagen entnehmen konnten, ist das Objekt zweigeteilt und zwar in das sogenannte Vorwerk und dann in das eigentliche Schlossgebäude. Sehen Sie hier: Die Zufahrt zum Vorwerk erfolgt ausschließlich durch dieses historische Tor. Die Torflügel öffnen nach außen und sind elektrisch betrieben.“

Herr Müller hantierte mit einer Fernbedienung und die beiden großen Torflügel, die auf der inneren Seite der Durchfahrt angebracht waren, schwenkten leise summend nach außen und legten sich flach an die Außenmauer an..

„Das Torhaus beherbergt die Steuerung für die großen Torflügel. Wenn Sie diese nicht dauernd geschlossen halten wollen, besteht die Möglichkeit, die Zufahrt mit einem Gittertor zu versperren.“

Nach einem weiteren Knopfdruck schob sich ein etwa anderthalb Meter hohes Stahlgittertor ebenso leise summend aus der Innenwand der Durchfahrt und versperrte den Zugang etwa einen halben Meter von der Außenmauer entfernt.

„Hier vorne neben der Zufahrt ist ein PIN-Pad für das Gittertor. Die Torflügel werden extra gesteuert.“

Mit zügigen Schritten ging Herr Müller voran durch den Torbogen in den Innenhof. Lucas schätzte, dass die Durchfahrt wohl um die drei Meter breit und mehr als vier Meter hoch war.

„Hier nun das Vorwerk von der Innenseite. Wie Sie sehen, ist das Torhaus von jeweils einem alten Wehrhaus flankiert. Damit wollte man im Mittelalter die Verteidigung verstärken. Heute ist eines der beiden Häuser zu einem Gästehaus umgebaut worden. Dort finden sich auf zwei Etagen insgesamt fünf Suiten mit Wohn- und Schlafbereich sowie einem entsprechend ausgestatteten Bad.“

Lucas gab Timo einen Wink und der zog Gabriél mit sich, die Unterkünfte zu besichtigen. Inzwischen redete Herr Müller unbekümmert weiter.

„Das zweite Wehrhaus beherbergt mehrere Unterhaltungseinrichtungen. In der unteren Etage ein Billardzimmer und ein sogenanntes Spielezimmer mit Spielkonsolen und Monitoren. Die obere Etage wurde zu einem kleinen Kinoraum mit zwanzig Sitzplätzen umgestaltet.“

Robin sah an der weiß verputzten Fassade bis nach oben zu den hellroten Dachziegeln.

„In der ursprünglichen Beschreibung stand etwas von einer Bowlingbahn.“

Herr Müller räusperte sich umständlich.

„Ja, allerdings. Die war aber bereits derart desolat, dass der vorherige Besitzer sie kurz vor seinem Auszug abgebaut hat. Da wäre dann in der oberen Etage noch etwas Platz.“

„Die war oben?“

„Die Wehrhäuser haben, wie das ganze Vorwerk übrigens, keine Keller.“

Damit schien alles gesagt und Robin machte sich auf den Weg zu den Betreuungseinrichtungen.

Herr Müller wedelte mit den Armen.

„Im rechten Winkel zu den Wehrhäusern ist damals jeweils ein Stall, beziehungsweise eine Scheune angefügt worden. Der Stall wurde zu einer Garage mit einer Werkstatt umfunktioniert, die Scheune birgt nun eine kleine Sporteinrichtung.“

Lucas sah hinüber zum ursprünglichen Stall. Sie hätten vielleicht doch Martin mitnehmen sollen.

Timo und Gabriél kamen bereits zurück, so dass Lucas sie in die Garage schickte. Als Robin wieder erschien, drückte Herr Müller dem Auszubildenden den Schlüssel für die Sporthalle in die Hand und Robin folgte ihm dorthin.

Die Besichtigung der Garage dauerte nicht lange, doch die der Sporthalle zog sich hin. Lucas musterte Robin genauer und bemerkte, dass seine Haare deutlich mehr verwuschelt waren als vorher. Ein kurzer Blick zeigte das Gleiche bei Herrn Deisenberg, ebenso wie eine deutliche Beule in dessen Stoffhose, die Herrn Müller aber offensichtlich entging. Lucas verdrehte nur die Augen und konzentrierte sich dann wieder auf den Monolog des Maklers.

„Die Mauer, die das Vorwerk bis an das Wasser abschließt, ist eine Weiterführung der Außenmauern. Wie Sie sehen, sind so links und rechts der Brücke ein paar Parkplätze entstanden. Die Brücke über den Wassergraben ist übrigens eine Bogenbrücke mit drei Pfeilern. Sie ist hauptsächlich im Original erhalten und sollte nicht mit großen Gewichten belastet werden.“

Lucas besah sich die Brücke nun etwas genauer. Es gab tatsächlich einen breiten Pfeiler mitten im Wasser und die beiden Widerlager an jedem Ende. Die Brücke selber war zwischen den Pfeilern jeweils als Bogenbrücke mit einer starken Abflachung ausgebildet und Lucas wunderte sich, warum sie nicht belastet werden sollte.

„Hier nun das Prunkstück dieses Objekts. Ein dreiflügeliger Bau, den großen Schlössern der Renaissance nachempfunden. Wie Sie sehen können, hat dieser Bau ein Souterrain, der gleichzeitig als Fundament dient. Die beiden oberen Etagen sind bei mehreren Umbauten im Laufe der Jahre umgestaltet und renoviert worden. Die beiden rechteckigen Ecktürme sind übrigens keinesfalls nur Zierde. Hier hat man die Treppenanlagen untergebracht, die in einem originalen Bau aus der Renaissance in extra Treppentürmen auf dem Innenhof gewesen wären.“

Lucas schüttelte unwillkürlich den Kopf. Das sollte hier kein Verkausfsvortrag werden.

„Die gesamte Fassade besteht aus Ziegeln, wurde aber Ende des neunzehnten Jahrhunderts verputzt und weiß gestrichen.“

Die Brücke endete im Entree des Schlosses. Die zweiflügelige Eingangstür öffnete sich in ein Vestibül, einem über beide Etagen reichenden Vorraum mit zwei geschwungenen Treppen, die jeweils getrennt voneinander links und rechts zur oberen Etage führten. Etwas verblüfft sah Lucas hinten im Raum eine Einrichtung ähnlich der Rezeption eines Hotels vor sich.

„Das ist ein Überrest des Hotels, das auch Ihre Vorbesitzer nicht entfernen wollten. Man hat die langen Zimmerfluchten in der oberen Etage entfernt und dafür Flure erschaffen, die an den jeweils außen liegenden Mauern entlang führen. Von dort aus kann man die dort liegenden Suiten erreichen. In der unteren Etage hat man im Hauptgebäude die alten Räumlichkeiten nach Möglichkeit belassen um dem Objekt das Flair eines Schlosses zu erhalten.“

Lucas kannte in etwa den Lageplan und war gespannt, was Herr Müller dazu kommentieren würde.

„Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist das Schloss entgegen sonstiger Gepflogenheiten mit der Hauptfassade in Nordrichtung erbaut worden. Hauptgrund hierfür war die Absicht, den offenen Innenhof nach Süden auszurichten. Wir können uns zunächst dem Westflügel zuwenden. Dort finden Sie die modern ausgestatten Büro- und Arbeitsräume.“

Zunächst ging es jedoch durch einige der alten Räume im Westteil des Hauptgebäudes, die Herr Müller mit Begriffen wie Audienzzimmer, Kaffeezimmer und Antichambre belegte. Dann folgte der Westturm und mit schnellen Schritten zog Herr Müller an einigen Büroräumen vorbei, eilte durch ein Großraumbüro für etwa zehn Personen, um am Ende des langen Flures dann über eine moderne Stahltreppe auf die Terrasse am Ende des Westflügels zu treten.

Die Terrasse umfasste ebenfalls den gesamten Innenhof und fiel am offenen Südende in Form von Treppen bis an den kleinen See herab. Dort war das Ufer befestigt und hatte wahrscheinlich als Anlegestelle für kleine Boote gedient.

„Wir gehen einfach hinüber zum Ostflügel und von dort wieder zurück ins Hauptgebäude.“

Auch am Ende des Ostflügels führte eine kurze Stahltreppe hinauf zum Eingang und wie Lucas schnell feststellte, als Wendeltreppe hoch zur ersten Etage. Herr Müller führte die Besucher nun in eine hochmoderne Großküche.

„Hier befinden sich die Küche und anschließend das ehemalige Restaurant, das bis vor kurzem als Speisesaal genutzt wurde. Unter der Küche befinden sich im Keller eine Anzahl von Lager- und Kühlräumen.“

Gabriél hatte sich ohne Aufforderung schon an die Erkundung gemacht, dicht gefolgt von Timo. Neugierig sahen sie sich in der Küche und den angrenzenden Räumen um. Timo war mit den hygienischen Zuständen nicht ganz zufrieden.

„Sag mal, fallen wir damit unter die Lebensmittelüberwachung?“

Gabriél schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Glaub‘ nicht. Wir erreichen ja nicht einmal mit allen drei Mahlzeiten die Grenzwerte. Als Großküche müssten wir schon über 200 Mahlzeiten pro Tag ausgeben. Wenn wir hier etwas zurückbauen, kommen wir als nicht-öffentliche Küche für den Eigenbedarf durch, so wie in jedem normalen Haushalt auch.“

Herr Müller war inzwischen in den nun leer stehenden Speisesaal getreten.

„Unterhalb des Saales befinden sich die Betriebsräume. Sie haben hochmoderne Gasbrenner, kombiniert mit einer Wärmepumpe. Solarpaneele durften leider aus Denkmalsschutzgründen keine installiert werden.“

Nach dem Speisesaal waren sie am Ostturm angelangt.

„Hier geht es einmal hinunter in den Keller zu den Betriebsräumen im Ostflügel und dann zu einer neu erbauten Einrichtung unter dem Hauptgebäude. Aber zunächst möchte ich Ihnen noch die Räume auf der Ostseite des Hauptgebäudes zeigen. Wohl die schönsten, erhaltenen Räume des ganzen Objekts.“

Die Räume auf dieser Seite des Hauptgebäudes waren etwas repräsentativer, als die auf der Westseite. Hier gab es das ehemalige Raucherzimmer, ein Empfangszimmer, einen Salon und den großen Rittersaal. Dieser wurde hauptsächlich durch den großen, offenen Kamin dominiert und mehrere dekorativ herumstehende Ritterrüstungen.

„Die sind natürlich nicht historisch. Das Schloss ist ja erst im 18. Jahrhundert auf den Ruinen des Vorgängers neu erbaut worden und seitdem mindestens zweimal umfangreich renoviert worden.“

Der erste Rundgang endete dann auch dort, wo er begonnen hatte, im Vestibül mit dem Empfangstresen.

Herr Müller stand jetzt vor einer Tür ziemlich weit hinten im Raum, ganz in der Nähe der Rezeption, geheimnisvoll lächelnd.

„Dann darf ich Ihnen jetzt das Highlight der unteren Etage vorstellen. Auf Initiative ihres Vorbesitzers wurde nämlich einer der Pläne des Hotels für das alte Burggewölbe unter dem Hauptgebäude doch noch umgesetzt. Es beherbergt nun ein Schwimmbad mit einer Saunaanlage.“

Lucas sah Robin fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Das Schwimmbad war ein etwa zehn Meter langes Becken, wie es in vielen Hotelanlagen üblich war. Die Sauna bestand aus drei Saunaräumen mit Duschen, Fußbecken und zwei Ruhezonen.

„Die Anlage umfasst das gesamte Souterrain und kann von beiden Türmen aus betreten werden. Auf der Westseite endet dort allerdings der Ausbau der Kelleretage. So weit sind ihre Vorbesitzer dann doch nicht gekommen.“

Wenn du wüsstest‘, dachte Lucas und folgte Herrn Müller über den Westturm nach oben in die zweite Etage.

„In der oberen Etage waren ursprünglich die Gästezimmer des Hotels. Sie sind renoviert worden und wurden von ihren Vorbesitzern als Wohnräume benutzt. In den etwas kürzeren Seitenflügeln befinden sich jeweils fünf, im Hauptgebäude sechs Suiten. Jede besteht aus einem Wohn- und einem Schlafraum mit einem mittig gelegenen Bad. Jede Suite ist ausgelegt für zwei Personen.“

Timo und Gabriél erkundeten eine der Suiten, während Robin Herrn Deisenberg in ein leises Gespräch verwickelte.

„Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, besitzen die Türme nicht zwei, sondern vier Etagen. Das wurde hauptsächlich gemacht, damit die Giebel der Dächer nicht über die Türme hinausragen. Die Dächer sind ohnehin sehr flach, aber dazu sage ich nachher noch etwas.“

Sie betraten nun den Ostturm und stiegen eine weitere Etage nach oben.

„Diese Etage ist in beiden Türmen freigelassen worden. Wie Sie sehen, ist die Treppe an die andere Seite versetzt worden. Der Grund ist der Zugang zur obersten Etage.“

Neugierig folgten nun alle nach oben. Das erste, was auffiel, war die fantastische Aussicht über die gesamte Gegend. Das Vorwerk lag schräg unter ihnen und man konnte die Straße kilometerweit durch die leicht hügelige Landschaft verfolgen.

„Die oberen Räume der Türme wurden absichtlich nicht weiter ausgebaut. Durch die höhere Decke und den quadratischen Grundriss eignen sie sich hervorragend als Loft oder auch als repräsentativer Arbeitsraum. Alle dafür notwendigen Installationen sind bereits vorhanden.“

Danach ging es wieder zurück bis ins Vorwerk. Herr Müller drehte sich noch einmal um und deutete auf das Dach.

„Im Gegensatz zu den historischen Vorbildern hat man hier eine geringere Dachneigung gewählt. Zum einen wollte man die Türme hervorheben, zum anderen ist das Dach nicht ausgebaut worden. Etwas verwunderlich, da ja in früheren Zeiten die Unterkünfte der Dienstboten dort waren, aber sie haben da wohl eine andere Lösung gefunden.“

Etwas zappelig wegen der Kälte trat Herr Müller von einem Bein auf das andere, während der junge Herr Deisenberg Robin etwas überreichte.

„Das war dann alles. Herr von Ravensberg, ich danke Ihnen, dass Sie gerade unsere Firma mit der Abwicklung des Kaufes beauftragt haben. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Firma viel Erfolg.“

Schnell scheuchte er seinen Auszubildenden in sein Auto und sie fuhren leicht räuchernd davon. Timo sah ihnen kopfschüttelnd hinterher.

„Der war ja ganz aufgeregt. Ist der hier aus der Gegend?“

Lucas nickte grinsend.

„Ja. Das kleine Örtchen, durch das wir vorhin gekommen sind, heißt Neuerburg, genau wie das Schloss. Hier gibt es zwei Maklerbüros und dies war das, na, sagen wir, das seriösere der beiden. Ich hab‘ einen Bericht vom Logistik-Corps bekommen, dass der Verkauf ganz normal über ein Maklerbüro abgewickelt werden sollte. Sie haben Intel beauftragt, sich für eines der Maklerbüros vor Ort zu entscheiden. Sobald das Ding ausgeschrieben war, haben wir zugeschlagen. Die haben bestimmt gedacht, das würde ewig dauern, bis sie es los wären. Kein Wunder, dass er so aufgeregt war. Das war bestimmt sein bisher teuerstes Objekt.“

Timo hob fragend die Augenbrauen.

„Zwei Komma drei Millionen. Ohne Maklergebühr.“

Timo rechnete schnell.

„Dann hat er an dem Deal rund 170.000 € verdient. Nicht schlecht.“

Lucas nickte und drehte sich zu Robin.

„Was hattest du denn mit dem Azubi noch zu tuscheln?“

Robin grinste und hielt eine Visitenkarte hoch. Lucas verdrehte die Augen und sah sich zur Straße um, wo der Wagen des Maklers bereits über den nächsten Hügel verschwand.

„Dann wollen wir mal. Wir haben noch den Keller der Westseite zu besichtigen. Da sind die Einsatzzentrale und die dazugehörigen Einrichtungen drin.“

Oregon, USA, Anno Domini 2018

Es war nicht einfach zu erklären. Danny hockte an eine Wand gelehnt und hatte sich in seine Decke gewickelt. Ray und Matthew sahen sich nur fragend an, während Max und Torben unsicher nach Worten suchten.

Der erste, der seine Sprache wiederfand, war allerdings Danny.

„War das wirklich, ich meine… ein echter Puma?“

Ray lachte bitter und bewegte sich etwas, doch Danny zuckte zusammen. Max verdrehte die Augen.

„Oh Mann, Danny. Du hast doch Ray vor einer Weile in allen Einzelheiten kennengelernt. Und jetzt hast du auf einmal Angst vor ihm?“

„Aber… der Puma…“

„Hat das so ausgesehen, als ob er mir was tun würde?“

Zögernd schüttelte Danny den Kopf.

„Dann pass mal auf.“

Max machte Ray ein Zeichen, worauf der den Kopf schüttelte, doch Max ließ sich nicht beirren.

„Los, mach schon. Das funktioniert.“

Ray legte sich wieder der Länge nach auf einen der Schlafsäcke und wandelte sich. Danny sah ihm mit großen Augen dabei zu. Fast schien es, als ob ihm schlecht werden würde, trotzdem wandte er seinen Blick nicht ab. Eine ganze Zeit lang studierte er den schlanken Körper des sandgelben Pumas, der friedlich auf der Seite lag.

Etwas erschreckt sah er nun zu Max, als dieser sich dem Puma näherte und neben ihn legte. Langsam kuschelte er sich, ebenfalls auf der Seite liegend, an ihn, so dass sein Rücken das helle Bauchfell des Tieres berührte. Der Puma hob eine Pranke und legte sie beschützend über Max.

„Komm her, Danny.“

Danny schüttelte vehement den Kopf.

„Was ist, wenn er mich nicht mag? Ich zumindest mag keine Narben auf meinem Körper.“

Max seufzte laut, um das unwillige Brummen des Pumas zu übertönen.

„Danny, hör mir jetzt genau zu. Das ist Ray. Ich weiß, dass er dich mag und du magst ihn auch, denn sonst hättet ihr beiden vorhin nicht miteinander… was auch immer. Der Grund, warum ich das betone ist, er kann dich hören. Er kann dich verstehen und mit dir agieren. Er kann nur nicht mit dir reden. Und jetzt komm her.“

Zögernd erhob sich Danny und kam näher. Neben Max und Ray ließ er sich nieder und sah immer noch etwas misstrauisch zu dem Puma. Max nahm eine Hand von Danny und legte sie auf den Körper des Pumas. Danny spürte den Herzschlag. Langsam begann er, das Fell zu streicheln. Erstaunt vernahm er ein leichtes Brummen, ähnlich dem Schnurren einer Hauskatze. Etwas mutiger geworden, fuhr er mit der Hand noch vorne und streichelte den Kopf wie bei einer Katze. Fast unwillkürlich spielte er dabei mit den Ohren. Die Ohren zuckten und der Kopf hob sich. Dannys Hand zuckte zurück, doch der Puma sah ihn nur aus seinen großen, gelben Augen an. Dann schnellte seine Zunge hervor und leckte die Hand. Vollkommen fasziniert beobachtete Danny den Puma, während sich Max vorsichtig erhob. Ohne viel Widerstand schob er Danny an die Stelle, an der er gelegen hatte. Danny lag nun auf der Seite, dem Puma zugewandt. Eine große rosa Zunge fuhr Danny durchs Gesicht und er lachte.

„Iiiih, nicht! Du bist gemein.“

Anscheinend ohne darüber nachzudenken, verpasste Danny dem Puma einen Kuss auf die dunkle Nase. Dann drängte er sich an ihn und legte seinen Kopf auf den Hals des Pumas.

Torben und Matthew beobachteten das Geschehen zunächst etwas Misstrauisch. Torben hatte sich schon bereitgehalten um einzugreifen, sollte etwas schief gehen. Doch dann verfolgten sie immer überraschter die Entwicklung der Dinge. Max ging zu ihnen hinüber.

„Es ist erstaunlich, dass immer die Gestaltwandler die ersten sind, die akzeptiert werden. Es ist fast so, als würden die Tiere aus den Märchen Wirklichkeit werden.“

„Du meinst, er hat Ray als Gestaltwandler akzeptiert?“

„Nein, nicht so ganz. Und auch nicht so schnell. Er hat einen Puma akzeptiert. Wir müssen bis morgen früh… hm, heute Morgen warten, wenn sich Ray wieder wandelt. Es wird wohl peinlich werden, wenn die beiden sich dann gegenübertreten.“

Torben gähnte.

„Apropos heute Morgen. Wir sollten vielleicht auch noch ein paar Stunden schlafen.“

Matthew sah von einem zum anderen und nickte. Dann zog er die beiden auf den Boden, wo die Schlafsäcke lagen. Kommentarlos kuschelte er sich zwischen Torben und Max.


Der Morgen wurde tatsächlich etwas peinlich. Als Danny erwachte, war Ray bereits nicht mehr da. Verschlafen trottete Danny ins Bad, wo er auf Torben und Matthew traf, die sich gerade gegenseitig trocken rubbelten. Erst zögerte Danny, doch dann trat er zur Toilette. Erstens hatte er ohnehin nichts an und zweitens hatten sie sowieso schon alles gesehen, berührt, gefühlt…

Berührt! Hatte er geträumt oder war da tatsächlich ein Puma gewesen? Und dieser Puma war Ray! Oder war Ray der Puma? Unauffällig, wie er meinte, schnupperte Danny an seinen Armen. Es roch nach Katze. Sein Blick ging hinüber zur Dusche. Hoffentlich war noch genug heißes Wasser übrig. Torben hatte das Schnuppern und auch den Blick bemerkt. Schnell scheuchte er Matt vor sich her aus dem Bad und sie ließen Danny alleine.

Als Danny nach oben in die Küche kam, bemerkte er vollkommen erstaunt Ray, der zusammen mit Gladys am Herd stand und Frühstück machte. Die beiden schienen sich glänzend zu unterhalten, denn Gladys lachte, während Ray etwas erzählte. Max saß bereits grinsend am Tisch, lauschte der Unterhaltung und futterte munter seine Pancakes.

„Guten Morgen, Grammy.“

„Guten Morgen, Danny.“

Danny nahm sich ein Glas, goss sich von dem Orangensaft auf dem Tisch etwas ein und setzte sich dann neben Max. Gladys schob ihm einen Teller mit Rührei und Schinken zu.

„Es ist richtig aufregend heute Morgen. Ray ist so ein charmanter junger Mann. Er hat mir eine lustige Geschichte über seine erste Verwandlung bei seinen Freunden erzählt.“

Danny verteilte seinen Orangensaft quer über den Tisch.

„WAS!?“

Gladys eilte mit einem Putztuch zum Tisch und sah Danny vorwurfsvoll an.

„Der gute Saft. Na, sein Leben als Puma. Er hat mir gesagt, du weißt es.“

Danny starrte seine Urgroßmutter ungläubig an. Nicht nur ich weiß es, sie ja wohl auch!

„Du… du…“

Gladys kam noch einmal zum Tisch und tätschelte Dannys Hand.

„Armer Junge. Natürlich weiß ich es. Es ist doch gerade mal, warte… du warst wohl fünf oder sechs, also so zwölf Jahre her. Du kennst doch noch die Familie Manati, drüben beim Elm-Creek?“

Danny erinnerte sich sehr gut an die Familie. Es waren Salish-Indianer, die nicht im Reservat lebten, sondern hochbezahlte Berufe erlernt und sich außerhalb der Stadt niedergelassen hatten. Besonders erinnerte er sich an George, das jüngste der Kinder. Sie hatten im Elm-Creek zum ersten Mal zusammen ihre Körper erforscht. Danny nickte und versuchte vergeblich, nicht rot zu werden.

„Dann erinnerst du dich auch an Logan. Er war der Älteste. Er war damals dreizehn oder vierzehn, so genau weiß ich das nicht mehr. Na ja, auf jeden Fall hab ich irgendwann an einem Sommerabend Schüsse gehört. Hab mir die Flinte von deinem Großvater geschnappt und bin hinten auf die Veranda. Da lag ein Tier bei den Apfelbäumen und ein Wagen mit diesen Suchlichtern fuhr kreuz und quer. Hab dann einen Warnschuss abgegeben und die Brüder haben sich schnell verzogen. Wussten wohl, dass sie auf Privatgelände waren.“

Torben und Matt standen an der Küchentür und trauten sich nicht hereinzukommen um Gladys nicht zu unterbrechen. Doch Ray winkte sie herein und sie nahmen wortlos am Tisch Platz, wo sie von Ray ihr Essen bekamen.

„Und als ich da zu dem Tier hingehe, sehe ich, dass es gar kein Tier ist, sondern ein Mensch. Es war Logan, splitternackt und mit einer Kugel in der Schulter. Er war wohl bewusstlos, aber noch bevor ich reagieren konnte, schlug er die Augen auf und sah mich an. Dann kam für mich etwas zunächst Erschreckendes. Er verwandelte sich in ein Tier. Das Tier schien nicht verletzt zu sein und ist auch sofort entsprungen.“

Danny schüttelte fassungslos den Kopf, während Ray nur grinste. Anscheinend hatte er die Geschichte bereits gehört.

„Entsprungen? Was für ein Tier war es denn?“

„Oh, hab ich das nicht gesagt? Ein Weißwedelhirsch. Er sah richtig niedlich aus.“

„Niedlich?“

Danny schüttelte den Kopf. Seine Urgroßmutter überraschte ihn immer wieder. Aber das hier war mit Abstand die wildeste Geschichte, die sie bisher erzählt hat.

„Ja. Logan ist dann ein paar Tage danach zu mir gekommen, um sich zu entschuldigen, dass er mich so erschreckt hat. Dann hat er mir die Sache mit den Gestaltwandlern erklärt. Ich hab ihm darauf einen Kalender geschenkt.“

Nun hob auch Max fragend die Augenbrauen, während Matt breit grinste, weil er ahnte, was kommen würde.

„Einen Kalender?“

„Ja, natürlich. Einen mit den Jagdzeiten drauf. Der arme Junge sollte sich während der Saison nicht draußen rumtreiben. Als er nach der Highschool weggegangen ist, hat er mir auch noch erzählt, dass er jetzt irgendwo arbeitet, wo es noch mehr Gestaltwandler gibt.“

„Und du hast nie… ich meine, ich höre die Geschichte zum ersten Mal.“

„Und das ist auch ganz richtig so. Es ist seine persönliche Angelegenheit gewesen und wer bin ich, dass ich solche Sachen weitertratsche. Ich hab ja auch nichts gepostet, als ich dich mit Andy in der Scheune erwischt habe.“

Nun gänzlich knallrot, legte Danny seinen Kopf auf die Tischplatte.

„Du brauchst gar nicht so zu tun. Glaubst du etwa, ich weiß nicht, was letzte Nacht unten passiert ist? Nicht in allen Einzelheiten natürlich, das wäre dann auch etwas zuviel für mich. Aber ich bin ganz froh, dass du so nette Freunde gefunden hast.“

Danny hob seinen Kopf vom Tisch und sah seiner Urgroßmutter kopfschüttelnd zu, wie sie weitere Pancakes vorbereitete.

Nach dem Frühstück hatte Max Ray beiseite gezogen.

„Es gibt drei Dinge, die wir als nächste klären müssen. Da ist zum einen Danny. Wir können nicht das Risiko eingehen, dass er sich verquatscht. Da trau ich Gladys schon eher. Dann möchte ich gerne wissen, was die Jungs damals veranlasst hat, die Briefe an Dairyfield zu schreiben und zum Schluß müssen wir klären, ob dieser Michael Hardee noch lebt und ob er es war, der das Haus geerbt hat.“

Ray nickte nachdenklich.

„Die Sache mit Danny kann ich nicht entscheiden. Wer geerbt hat und ob Michael Hardee noch lebt, kann ich möglicherweise bei der Stadtverwaltung herausfinden. Was machen wir, wenn wir es wissen?“

„Hinfahren und nachsehen. Sollte er noch leben, können wir ihn vielleicht befragen.“

„Das dürfte nicht so einfach sein. Wir sollten vorsichtig vorgehen. Einige Leute sind ziemlich angepisst, wenn man ihr Grundstück betritt und hier in Amerika sind die Waffengesetze nicht so streng wie bei euch. Wir sollten den Rest der Einheit nachfordern. Mit nur einem Bannmagier kommen wir nicht weit.“

Max nickte zögernd. Ray hatte Recht, die Situation könnte eskalieren und das war etwas, was Max auf jeden Fall vermeiden wollte.

„Und was war das mit den Briefen?“

„Da muss irgendetwas drin gestanden haben, weil er die mit nach Hause genommen hat. Und ich bin überzeugt, dass es etwas mit den Romanen zu tun hatte.“

„Torben hat doch ein Heft mitgenommen. Vielleicht hat er das ja schon gelesen.“

Torben lag unten auf seinem Schlafsack und war in die Lektüre des Romans versunken. Als Ray und Max erschienen, senkte er das Heft und sah beide mit sehr ernstem Gesicht an.

„Ich weiß nicht, woher er es hat, aber es erschreckt mich ein wenig. Es geht hier hauptsächlich um Jungen im Alter von sechzehn bis zwanzig, die an sich eine Art von PSI-Fähigkeiten entdecken und dann nach dem Durchlaufen einer militärischen Ausbildung Abenteuer erleben. Die beschriebenen Fähigkeiten ähneln deutlich denen von Elementaren, Kampfmagiern und Bannmagiern.“

Max und Ray sahen sich bezeichnend an.

„Gladys hat doch gesagt, dass diese Fan-Zuschriften von jüngeren Männern gekommen sind, die behauptet haben, sie hätten ebensolche Fähigkeiten an sich entdeckt und mehr darüber wissen wollten. Was ist, wenn er einige davon eingeladen hat, um das zu überprüfen?“

Max erschauerte bei dem Gedanken und sah zu Ray. Er merkte, wie ihre Gedankengänge in die gleiche Richtung liefen.

„Kenny soll eine Abfrage starten nach vermissten männlichen Jugendlichen in den Jahren von 1955 bis 1964. Am besten gestaffelt nach Entfernung von Portland.“

Ray sah etwas erschreckt zu Max, nickte dann aber zögernd. Entschlossen griff er zu seinem Handy.

Danny brachte die vier Besucher wieder zurück zu ihrem Hotel. Sie hatten sich von Gladys verabschiedet und ihr versprochen, so bald wie möglich wieder hereinzuschauen. Der Abschied von Danny war etwas schwieriger. Ray und er sahen sich lange schweigend an, bis sie sich nach einer kurzen Umarmung trennten. Auch die anderen drei bekamen eine Umarmung und Danny fuhr mehr als nachdenklich zurück.

Es dauerte keine sechs Stunden, bis Kenny mit dem Rest der Truppe in Portland eintraf. Sie hatten sich ebenfalls einen SUV am Flughafen geliehen und trafen sich mit den anderen auf einer kleinen Lichtung im Forest Park. Als erstes musste Ray das Vorkommnis mit Danny beichten. Kenny war fast einem Herzinfarkt nahe, während Leroy nur stumm nickte. Nach kurzem Nachdenken wandte er sich an seinen Partner.

„Du weißt, es gibt nur zwei Möglichkeiten.“

Kenny nickte und überlegte kurz. Gedankenblock oder Rekrutieren? Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer.

„Ich möchte diesen Danny gerne kennenlernen.“

Bis auf Leroy sahen ihn alle Mitglieder seiner Einheit erstaunt an. Max lächelte leicht. Eine interessante Entscheidung. Dann kamen sie auf die Abfrage, die Max in Auftrag gegeben hatte. Carl zückte sein PDA und scrollte die Daten.

„Also, für den Zeitraum von Januar 1955 bis Dezember 1964 gibt es 12.857 bis heute ungeklärte Vermisstenfälle in den gesamten USA. Davon sind 5.142 unter 21 Jahre alt und von diesen wiederum sind 2.674 männlich.“

Max sah erstaunt von Carl zu Kenny.

„So viele? Das hätte ich jetzt nicht erwartet.“

Carl scrollte weiter.

„Na ja, die USA hatten 1960 auch über 179 Millionen Einwohner. Interessanter Weise gibt es die meisten Vermissten in Oregon und Arizona. Dann folgen die weiteren Nord-West-Staaten. Im Süden und im Osten scheinen weniger Leute abhanden zu kommen.“

„Gilt das auch für die 50er und 60er Jahre?“

„Keine Ahnung. Darüber haben wir so schnell nichts gefunden.“

„Na gut. Dann haben wir noch etwas für euch.“

Kenny sah etwas hektisch von Max zu Ray, doch der winkte ab.

„Ich war in der Zwischenzeit unterwegs um ein paar Informationen einzusammeln. Also, das Haus, in dem Robert Dairyfield gelebt hat, existiert noch. Er hat es einem gewissen Michael Hardee vererbt. Besagter Mister Hardee lebt noch und bewohnt tatsächlich das in Frage kommende Haus. Er ist jetzt 72 Jahre alt und wohnt dort zusammen mit seinem Neffen, einem gewissen Thomas Hardee, 39 Jahre alt. Allerdings hat niemand im ganzen County jemals etwas von weiteren Verwandten gehört oder gesehen.“

Kenny sah wortlos zu Leroy, der auf Michael und Ryan deutete.

„Heute Nacht, nach Einbruch der Dunkelheit astrale Aufklärung.“

Köln, Deutschland, Anno Domini 2018

Zurück in Köln gab es zunächst ein kurzes Briefing für alle, um die neuesten Änderungen bekannt zu geben, danach wurden die beiden Teams für Besichtigung und Umzugsplanung zusammengerufen.

Sie hatten sich ins Wohnzimmer zurückgezogen, weil nur hier der Tisch groß genug für acht Personen war. Kevin sah in die Runde.

„Wir beginnen einfach mit der Einsatzzentrale, das dürften wir am schnellsten abgehandelt haben. Aus verständlichen Gründen gibt es keine Pläne, also müsst ihr schon ein bisschen zuhören. Gabriél, bitte.“

Gabriél sah noch etwas verschüchtert in die Runde, doch dann räusperte er sich.

„Die gesamte technische Einrichtung der Einsatzzentrale wird so übernommen, wie sie dort vorhanden ist. Das ist vorgegeben worden. Es handelt sich dabei um drei getrennte Serverräume für jeweils eine Außenverbindung zur Organisation, einen Server für das hauseigene Intranet und eine davon getrennte Anlage für die Sicherheitsüberwachung. Der Briefingraum ist ähnlich dem hiesigen aufgebaut und hat Platz für 30 plus zehn Mann.“

„Plus zehn?“

„Oh, ja. Da können noch weitere zehn Plätze hinzugefügt werden, aber dann wird es mit dem Sitzen etwas eng. Der Raum kann auch auf ausschließliche Bestuhlung ohne Tische umgerüstet werden und bietet dann Platz für 60 Personen.“

Gabriél sah auf, aber es gab keine weiteren Fragen.

„Neben dem Briefingraum gibt es einen Konferenzraum mit Platz für zwölf Personen. Dann die eigentliche Einsatzzentrale mit dem Einsatzleitpult und Platz für drei Dispatcher und einem Supervisor.“

„Einem was?“

Gabriél sah irritiert zu Alexander und dann etwas hilflos zu Lucas.

„Einem Supervisor. So ist die Bezeichnung durch die Bedienungsanweisung vorgegeben. Ich persönlich bevorzuge Einsatzleiter. Denn nichts anderes wird derjenige dort unten machen, falls wir die ganze Einrichtung einmal wirklich nutzen sollten. Die drei Dispatcher überwachen, beziehungsweise verfolgen die im Einsatz befindlichen Personen und der Einsatzleiter gibt Hinweise oder auch Anordnungen an das Einsatzteam.“

Kevin hob abwehrend die Hände, als einige Stimmen laut wurden.

„Spart euch das für später. Wir geben im Moment nur einen Überblick über das Gebäude und die darin befindlichen Einrichtungen. Mach weiter, Gabriél.“

„Dann befindet in der Einsatzzentrale noch eine medizinische Einrichtung, bestehend aus einem Behandlungsraum, einem OP und einem Patientenraum mit zwei Betten.“

„Ein OP?“

Timo nickte nur und Alexander verkniff sich daraufhin jede weitere Frage.

„Für den restlichen Teil des Objekts haben wir Grundrisspläne verteilt, auf denen die verschiedenen Einrichtungen mit unterschiedlichen Farben markiert sind. Die Unterkünfte im oberen Stockwerk sind ja in Benutzung gewesen und deshalb voll möbliert. Wenn die Verteilung der Unterkünfte abgeschlossen ist, kann jeder entscheiden, ob er die Einrichtung behalten will oder ob er sich individuell einrichten möchte. Wir haben vom Logistik-Corps einen zusätzlichen Etat für diesen Zweck zugesagt bekommen. Das gilt nicht für die Büroräume der Firma. Dort gibt es zwei Einzelbüros mit je einem Vorzimmer und vier Räume mit jeweils zwei Arbeitsplätzen. Im hinteren Bereich ist ein Großraumbüro mit zehn Arbeitsplätzen. Wir sollen dort, wenn möglich, die vorhandenen Einrichtungen nutzen.“

Kevin sah zu Rafael hinüber.

„Da es sich hierbei ja hauptsächlich um die Tarnfirma handelt, werden wir die Arbeitsplätze wahrscheinlich nicht oft besetzen. Trotzdem muss es so aussehen, als ob dort intensiv gearbeitet wird. Die Einzelbüros bekommen der kaufmännische und der technische Direktor, also Kyan und ich. Die Vorzimmer werden wir bei Bedarf bei Kyan mit Bente besetzen und bei mir mit Tobias. Die Zwei-Mann-Büros bekommen die Sachgebiete, also du und Gabriél, Robin und Martin, Lucien und Max und Michael und Thomas. Alle Rechner der Tarnfirma laufen ebenfalls über unsere Server, sind also sicher genug um daran unbedenklich zu arbeiten. In den Büros können sich die einzelnen Sachgebiete austoben, wenn etwas Fachliches besprochen oder vorbereitet werden muss. Das Großraumbüro ist im Prinzip über, aber es kann von jedem genutzt werden, der möchte.“

Stumm sahen die meisten auf ihre Tablets und die angezeigten Pläne. Kevin blickte in die Runde.

„Das Schwierigste wird wahrscheinlich die Aufgabe, die Unterkünfte zu verteilen. Die wurden ja erst kürzlich renoviert und zu Suiten umgebaut. Wir haben insgesamt sechzehn Suiten in drei Flügeln. Um Verwirrungen auszuschließen haben wir die Suiten im Hauptgebäude von 11 bis 17 nummeriert. Die im Ostflügel tragen Nummern von 21 bis 25 und im Westflügel 31 bis 35. Jede Suite ist für zwei Personen vorgesehen, kann aber aufgrund der Größe aber auch mehr Personen beherbergen. Ich würde vorschlagen, nicht mehr als vier Leute auf Dauer dort unterzubringen.“

„Elf bis Siebzehn? Ich dachte, da sind nur sechs Zimmer.“

Lucas grinste Alexander an.

„Richtig. Aber wie in jedem guten Hotel, haben wir natürlich die 13 ausgelassen.“

Kevin lachte leise und sah zu Gabriél.

„Ist die Küche einsatzbereit?“

„So wie es ausgesehen hat, ja. Sie war ja erst bis vor kurzem in Benutzung. Wir müssen alles vorher nur noch gründlich reinigen. Besonders die Lager und die Kühlräume. Ich schlage vor, eine Hälfte fährt rüber und macht die Reinigung der Unterkünfte und der Gemeinschaftsräume und die andere Hälfte packt hier zusammen, was wir noch mitnehmen müssen. Für die Küche wären das alle Utensilien und Kleinteile. Also im Prinzip alles, was sich in den Schränken befindet. Und dann natürlich, was im Vorratslager ist.

Timo machte sich Notizen und nickte ein paar Mal.

„Und die TK-Ware?“

„Machen wir zum Schluß. Der Weg ist nicht so lang.“

Alles schwieg einen Moment und Kevin betrachtete das Thema damit als abgehakt. Nächster Punkt.

„Was ist mit den Akten und Unterlagen der Tarnfirma?“

Da Kyan nicht anwesend war, drehten sich alle zu Bente, der erst jetzt registrierte, dass er gefragt war.

„Oh, die? Die müssen alle mit. Wir sind Rechtsnachfolger der Firma, also müssen alle Unterlagen mindestens zehn Jahre aufbewahrt werden. Das dürfte nicht so schwer sein, so viele sind das ja nicht.“

„Was ist mit den ganzen An-, Um- und sonstigen Meldungen bei den Ämtern und was weiß ich noch?“

„Das läuft alles. Die Firma ist bereits ins Handelsregister eingetragen. Damit steht auch das Finanzamt fest. Persönlich müssen noch die Ummeldung des ersten Wohnsitzes und andere Sachen erfolgen, wie Bank, Krankenkasse und so weiter. Am besten, wir geben für jeden ein Hinweisblatt aus, was alles erledigt werden sollte. Dann kann jeder das individuell abarbeiten.“

„Gute Idee. Was ist mit den Parkplätzen im Vorwerk und draußen?“

Diesmal fühlte sich Robin angesprochen.

„Die drei Dienstfahrzeuge kommen in die Garage. Dort sind sie geschützt und außer Sicht. Kyans Motorrad kann ebenfalls dort untergestellt werden. Für die restlichen privaten Fahrzeuge und die beiden Kombis gibt es Parkplätze links und rechts der Brücke. Dort sind jeweils vier Stellplätze markiert.“

Robin wedelte etwas mit den Händen.

„Bevor wir zu den Parkplätzen draußen kommen, etwas zu den Sicherheitseinrichtungen. Die beiden großen Torflügel des Vorwerks sollen tagsüber geöffnet bleiben und nur nachts geschlossen werden. Da müssen wir uns einen Zeitplan für Sommer und Winter ausdenken. Das automatische Gittertor wird über ein PIN-Pad vor der Durchfahrt gesteuert. Jedes Mitglied der SMU bekommt dafür einen individuellen PIN. Dann gibt es noch einen PIN für Fahrzeuge der Organisation, die nicht direkt zur SMU gehören. Wenn dieser PIN benutzt wird, gibt es einen Alarm im Sicherheitszentrum. Ebenso, wenn jemand zum dritten Mal hintereinander eine falsche PIN eingibt.“

„Sind wir jetzt so wichtig?“

Rafael war sichtlich erstaunt.

„Nein. Wir nicht, aber die Firma. Seht mal, wir haben offiziell Software im zweistelligen Millionenbereich erfolgreich verkauft. Wir sollten schon genügend Sicherheitseinrichtungen haben. Außerdem ist das die perfekte Ausrede für weitere Einrichtungen im Haus und auf der ganzen Anlage.“

„Das können wir später erörtern.“

„Ja, Chef. Also, vor dem Tor gibt es direkt an der Straße jeweils links und rechts vier markierte Parkplätze. Neben dem Tor gibt es eine deutlich markierte Sprecheinrichtung, für den Fall, dass uns jemand besuchen möchte.“

Kevin sah zu Lucas, dann wieder einmal in die Runde.

„Gut. Diejenigen, die einen konkreten Auftrag haben, dürfen sich schon mal mit der Planung der Durchführung beschäftigen. Falls jemandem noch etwas einfällt, kann er gerne mich oder Lucas fragen. Wenn’s geht, nur nicht mitten in der Nacht.“

„Da hätte ich wohl auch ganz andere Fragen“, grinste Robin.

„Wissen wir“, kam die Antwort von Alexander und dann ahmte er er das Heulen eines Wolfes nach, das dann von mehreren anderen aufgenommen wurde. Robin sah verblüfft in die Runde.

„Ihr… Ihr seid ja soooo…. schlecht. Das glaubt euch kein Wolf.“

Oregon, USA, Anno Domini 2018

Die Aufklärung des alten Farmgebäudes sollte gegen Mitternacht stattfinden und möglichst unauffällig vor sich gehen. Michael und Ryan hatten sich in ihre schwarzen Tarnanzüge geschmissen und sogar das Gesicht dunkel geschminkt.

Kenny hatte sie kurz vor Mitternacht in einem Waldstück, etwas abseits ihres Zieles, des kleinen Farmgebäudes, abgesetzt. Neben ihnen wartete Ray in seiner Tierform.

„Also, noch einmal. Ihr macht zunächst eine astrale Aufklärung, keine Annäherung an irgendwelche Gebäude. Ich will wissen, wie viel Leute in der Hütte sind und wie deren Zustand ist. Mehr nicht.“

„Das hätten wir auch mit einer Astralprojektion herausfinden können.“

„Richtig. Zweiter Punkt ist aber, Ray zu begleiten und ihn die Umgebung der Hütte absuchen zu lassen. Ihr geht die ganze Umgebung in drei konzentrischen Kreisen ab. Egal, was Ray findet, ihr führt die Suche zu Ende und kehrt dann zu Punkt Bravo zurück. Verstanden?“

„Jawohl, Sir“, entfuhr es Michael und Ryan automatisch und sogar der Puma nickte. Schnell verschwanden die drei im Unterholz und Kenny hatte sie schon nach Sekunden aus den Augen verloren.

Vorsichtig näherten sich die drei dem ehemaligen Farmgebäude. Es brannte nirgendwo Licht und es war auch nichts zu Hören.

„Hast du irgendwelche Hunde bemerkt?“, flüsterte Ryan und Michael schüttelte den Kopf, ebenso wie der Puma. Michael konzentrierte sich nun auf das Haus und scannte es zunächst mit dem Zauber ‚Magie erkennen‘. Es gab keinerlei Hinweise auf irgendwelche magischen Aktivitäten oder auch passiven Zaubern in irgendwelchen Zauberspeichern. Dann erfolgte der nächste Scan mit ‚Leben erkennen‘. Auch hier war das Ergebnis eindeutig. Es gab zwei Auren, die ziemlich schwach ausgeprägt waren, wie bei schlafenden Menschen üblich.

„Tatsächlich nur zwei. Sieht so aus, als ob sie schlafen.“

„Gut, dann weiter.“

Das war das Stichwort für Ray, der sich nun auf den Weg zum Haus machte und dort in einer langsam größer werdenden Spirale langsam immer weiter entfernte. Seine Nase dicht über dem Boden, kam er zu dem Schluss, dass es eine blöde Idee gewesen war, ausgerechnet ihn mit dieser Suche zu beauftragen. Ein Hund oder Wolf wäre dafür erheblich besser geeignet. Immer noch schnuppernd wurde er von einem fremden Geruch irritiert. Der Wind wehte von dem kleinen Wäldchen her, das bereits zum Staatsforst gehörte und der Geruch war frisch und intensiv. Rays Kopf ruckte hoch und er beobachtete den Waldrand.

Tatsächlich! Zwischen den Bäumen war eine Bewegung und Ray erkannte die dunkle Masse eines Bären, der sich langsam näherte. Was machte der denn hier, mitten in der Nacht?

Michael und Ryan hatten Rays Reaktion bemerkt und folgten nun seiner Blickrichtung.

„Verdammt. Wenn er uns bemerkt, haben wir ein Problem. Lass uns weiter zurückziehen. Am besten auf die andere Seite des Hauses.“

Michael nickte und vorsichtig schlichen die beiden um das Haus, während Ray weiter den Bären beobachtete. Erstaunt verfolgte er den Bären, der scheinbar unmotiviert herumsprang und mit seinen vorderen Tatzen nach etwas zu schlagen schien. Dann bemerkte auch Ray eine schnelle Bewegung auf dem Boden. Der Bär brummte und begann mit seinen langen Krallen den Boden aufzureißen. Ray wusste zwar, dass Bären ihre Beute manchmal ausgruben, hatte das aber noch nie vorher gesehen.

Nach einer ganzen Weile emsiger Arbeit schnappte der Bär ein paar Mal zu. So wie es aussah, hatte er seine Beute erfolgreich zur Strecke gebracht. Er schüttelte sich, dann trollte er sich langsam zurück in das Waldstück, aus dem er gekommen war.

Vorsichtig sichernd schlich Ray hinüber zu dem Loch, das der Bär gegraben hatte. Man konnte nicht erkennen, was er gejagt hatte, denn der Boden war ziemlich aufgewühlt. Etwas anderes fesselte jedoch Rays Aufmerksamkeit. Trotz der Dunkelheit war deutlich etwas Helles in dem Loch zu sehen. Ray starrte das Objekt einen Moment an, dann durchzuckte ihn eine Erkenntnis. Es war ein Knochen. Und wenn er es richtig interpretierte, war es ein menschlicher Oberschenkelknochen.

Nur wenige Minuten später standen auch Ryan und Michael um das Loch herum. Ray hatte seinen Overall bekommen und zitterte etwas wegen der Kälte. Ryan leuchtete mit einer abgeblendeten Taschenlampe hinein.

„Ich würde sagen, Ray hat Recht. Was machen wir jetzt?“

„Sind wir noch auf dem Farmgelände oder schon im Staatsforst?“

Ryan bemühte die Karte.

„Hm. Hier führt die Straße entlang, direkt auf der Grenze. Das Loch ist südlich der Straße, also auf dem Gelände der Farm. Da ist der County-Sheriff zuständig. Was wollen wir dem erzählen?“

„Wir brauchen einen Hund.“

„Was?“

„Wir führen unseren Hund Gassi und kommen zufällig hier vorbei. Da fängt der Hund an zu bellen. Den Rest kannst du dir denken.“

Ryan sah Michael zweifelnd an.

„Soweit ja ganz gut. Aber erstens sind wir nicht von hier und wohnen auch nicht mal ansatzweise in dieser Gegend. Zweitens haben wir keinen Hund.“

Ray seufzte leise und deutete in Richtung Osten.

„Etwa drei Meilen in diese Richtung wohnt Danny mit seiner Urgroßmutter. Ich nehme mal an, einer seiner Nachbarn hat bestimmt einen Hund, der gerne mal ausgeführt werden möchte.“

Michael und Ryan sahen sich unsicher an.

„Lass mich raten, das ist wieder etwas, was Kenny nicht gefallen wird.“

Diesmal hatte Ryan daneben geraten. Kenny war von der Idee fasziniert. Er war am Abend vor dem Einsatz bei Danny gewesen, hatte längere Zeit mit ihm geredet und ihm ohne Umschweife erklärt, wer sie waren und was sie machten. Kenny wusste, dass er ein Risiko einging, doch falls alles schief ging und Danny abdrehte oder sich weigerte zu schweigen, gab es immer noch die Möglichkeit eines Gedankenblocks. Kenny hoffte, dass es nicht so weit kommen würde.

Nun standen Kenny, Ray und Max am frühen Morgen wieder auf der Veranda des alten Farmhauses und klopften. Gladys öffnete sichtlich erfreut.

„Hallo, welch unerwarteter Besuch. Danny ist schon wach. Der arme Junge hat wohl die ganze Nacht nicht richtig geschlafen. Wollt ihr Frühstück?“

Kenny hob abwehrend die Hände.

„Nein, danke. Wir haben bereits gegessen. Aber ein Kaffee wäre nett.“

„Dann kommt rein, ihr wisst, wo die Küche ist.“

In der Küche sah Danny vollkommen erstaunt auf, als die drei Besucher eintraten. Gladys gab jedem von ihnen eine große Tasse mit Kaffee und dann setzten sie sich zu Danny an den Tisch, wo sie ihm zunächst wortlos beim Frühstücken zusahen.

Danny hatte ein merkwürdiges Gefühl. Max und Ray hatte er ja mehr durch Zufall kennengelernt und dann waren sie sich schnell näher gekommen. Bei Kenny war es etwas anders gewesen er war höflich, aber distanziert. Er hatte Danny eine mehr als fantastische Geschichte über Zauberei und Dämonen erzählt, die Danny als absolut schwachsinnig abgetan hätte, wäre da nicht die Sache mit Ray gewesen. Insgeheim fragte er sich, was Kenny machen würde, wenn er mit der Geschichte an die Öffentlichkeit ging. Was natürlich außer Frage stand. Grammy würde ihm ohne Zweifel die Hölle heiß machen, sollte er nur ein Sterbenswörtchen davon verlauten lassen.

„Lass uns mal ein wenig spazieren gehen.“

Danny sah verblüfft auf, folgte aber Kenny wortlos nach draußen vor das Haus. Dort erfuhr er dann in einer gekürzten Version die Hintergründe zu Mister Dairyfields Romanen, der Fanpost und den Schlüssen, die sie gezogen hatten. Nach kurzem Zögern fügte Kenny noch den Fund des Knochens mit hinzu.

Danny war mehr als Überrascht. Er brauchte eine Weile, bis er die ganze Geschichte verarbeitet hatte. Was hatte dieser Mann getan?

„Und warum erzählst du mir das jetzt?“

„Erstens, weil ich dir vertraue. Ich handele hier mehr nach Gefühl, als nach Verstand, aber es ist so. Zweitens, weil wir deine Hilfe brauchen. Wir müssen den Fund irgendwie melden und da kommt es nicht gut, wenn ich sagen muss: Okay, Sheriff, wir haben uns mitten in der Nacht in völlig fremdem Gebiet herumgetrieben und heimlich die Gegend beobachtet. Wir brauchen etwas, was unauffälliger ist. Vielleicht jemanden, der seinen Hund in der Gegend…“

„Chico!“

„Bitte?“

„Wir holen Chico. Los. Komm mit.“

Kenny folgte mit schnellen Schritten dem davoneilenden Danny. Nach ein paar hundert Metern bremste Danny vor einem kleinen Blockhaus. Ein älterer Mann saß in einem Rollstuhl vor dem Haus und rauchte eine dünne Zigarette.

„Buenos Dias, Señor Cataldo. Schon so früh auf?“

„Buenos Dias, Danny. Das Gleiche könnte ich dich fragen. Du bist selten so früh unterwegs.“

Danny zuckte etwas verlegen mit den Schultern.

„Wir haben Besuch. Dies ist Kenny Cameron aus Kalifornien. Wenn es klappt, mein zukünftiger Arbeitgeber. Ich möchte ihm und einem paar seiner Freunde gerne die Gegend zeigen, drüben beim Nationalpark. Ich dachte, wir können vielleicht Chico mitnehmen, damit er ein bisschen Auslauf hat.“

Der Mann im Rollstuhl wandte Kenny seine Aufmerksamkeit zu.

„Aus Kalifornien? Bienvenido a Oregon, Señor Cameron.“

„Muchas Gracias, Señor Cataldo.“

Señor Cataldo lächelte erfreut, dann wandte er sich wieder an Danny.

„Oh, eine gute Idee mit Chico. Aber du weißt, im Park muss er an der Leine bleiben.“

„Selbstverständlich Señor Cataldo.“

Der Mann rollte zur Haustür und öffnete sie einen Spalt.

„Chico, sieh mal, wer uns da besucht!“

Kenny konnte nur einen kleinen weiß-braunen Blitz erkennen der aus der Tür geschossen kam und an Danny hochsprang, so dass der ihn zu fassen bekam und auf dem Arm hielt. Kenny grinste beim Anblick des hektischen kleinen Jack Russel Terriers. Das würde lustig werden.

Danny holte die Leine aus dem Inneren der Blockhütte und sie verabschiedeten sich von Señor Cataldo. Auf dem Rückweg zu Gladys‘ Haus rannte Chico in weiten Kreisen um die beiden jungen Männer herum und hüpfte dabei wie ein Gummiball.

„Wer soll mit auf die Besichtigungstour?“

„Nicht so viele. Ich würde sagen, außer dir nur Ray und Michael.“

„Aha? Warum Michael?“

„Du weißt noch, was ich über Astralmagier erzählt habe?“

Danny nickte sofort.

„Die mit dem wandernden Geist.“

Kenny seufzte leise, nickte aber.

„Ja, aber nicht nur. Er dürfte der flexibelste sein, sollte etwas passieren.“

Danny versuchte sich vorzustellen, was passieren könnte, doch er war viel zu aufgeregt, um an etwas anderes zu denken als die vor ihm liegende Aufgabe.

Danny hatte seinen Pickup am Straßenrand oberhalb der Fundstelle geparkt und dann die Tür für Chico geöffnet. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis der Hund den Knochen gefunden hatte.

„Ist doch toll“, murmelte Danny, während er versuchte, Chico an die Leine zu legen.

„Da brauchen wir dem Sheriff nicht mal was vorzumachen.“

Eine halbe Stunde später standen drei weitere Fahrzeuge an der Straße, darunter ein Streifenwagen des Sheriffs, der Wagen des Sheriffs höchst selbst und ein dunkler Wagen der Kriminaltechnik des County.

Danny, Ray und Michael hatten mindestens drei Mal ihre Geschichte zum Besten gegeben, immer mit Chico an der Leine. Der Blick des Sheriffs wanderte mehr als einmal hinüber zu dem alten Farmhaus. Er schien zu einem Entschluss gekommen zu sein und drehte sich zu dem zuerst eingetroffenen Deputy.

„Ted, nimm dir deine Mossberg und bleib drei Schritte neben mir.“

Ohne weitere Rückfragen nahm der Deputy eine schwere Flinte aus dem Kofferraum seines Wagens und folgte dem Sheriff hinunter zum Farmhaus.

Sie hatten vielleicht die halbe Strecke hinter sich, als der erste Schuss fiel. Die beiden Männer sprangen hinter einen alten, umgefallenen Baumstamm in Deckung. Auch oben auf der Straße waren alle in Deckung gegangen.

„Mister Hardee! Hier ist Sheriff Endicott. Wir wollen nur mit ihnen reden.“

Die Antwort aus dem Haus bestand aus einem weiteren Schuss. Danny lugte neugierig hinter seinem Auto hervor und sah nun, wie der Sheriff seine Waffe zog und auf die Tür des Hauses zielte. Als sein Schuss fiel, bemerkte Danny ein ziemlich großes Loch in der Tür. Was hatte der denn für Munition? Noch etwas anderes bemerkte Danny aus den Augenwinkeln.

„Oben am Fenster!“

Der Deputy reagierte sofort und der dumpfe Abschuss seiner Flinte war zu hören. Zu sehen war ein Körper, der oben am Fenster in sich zusammensackte. Aus dem Haus war ein weiterer Schuss zu hören, dann war Stille. Sich abwechselnd Deckung gebend rückten die beiden Gesetzeshüter bis zur Tür vor. Ein Blick in das Innere genügte. Der Sheriff steckte seine Waffe weg und schüttelte nur mit dem Kopf. Dann griff er zu seinem Funkgerät.


Die SMU Nordamerika samt ihren Gästen und Danny hatte sich am Abend im Family-Room der Familie Baumgartner versammelt. Die meisten der Jungs flüsterten miteinander, Danny hatte sich an Ray angekuschelt. Er zitterte immer noch, aber das war hauptsächlich auf die Nachrichten zurückzuführen, die Kenny vor ein paar Minuten verbreitet hatte.

„So, Leute. Das FBI hat inzwischen die Ermittlungen an sich gezogen. Zum Glück haben wir da an der Westküste ein paar gute Kontakte. Das einzige, was bis jetzt feststeht ist, dass dieser Michael Hardee und sein sogenannter Neffe tot sind. Einer ist oben am Fenster mit einer Waffe in der Hand erschossen worden, der andere hat sich selbst gerichtet.“

Max sah Lucien an und beide schüttelten nur mit den Köpfen.

„Die von dem Bären ausgegrabenen Überreste stammen tatsächlich von einem Menschen. Nach einer ersten Suche mit Spürhunden vermutet das FBI mindestens vierzehn weitere Leichen auf dem Grundstück.“

Etliche der Jungs schnappten nach Luft und Danny verschwand nach nebenan in die Toilette.

„Die Ermittlungen werden wohl noch eine Weile dauern. Wenn sie abgeschlossen sind, werden wir einen Einblick in die Akten erhalten. Tut mir leid, dass wir nichts Greifbares mehr erreichen konnten.“

Lucien sah in die Runde.

„Das ist auch mehr, als wir erwartet hatten. Ich möchte es so formulieren: Ich bin froh, dass die Wahrheit ans Licht gekommen ist, aber das Ergebnis ist erschreckend. Leider müssen wir nun auch zurück nach Deutschland, denn die vier jungen Herren hier müssen ja noch zur Schule. Ich würde mich freuen, wenn wir an den Ergebnissen der Ermittlungen beteiligt werden.“

„Das ist kein Problem. Morgen früh geht es für unsere SMU ebenfalls zurück nach Kalifornien. Ihr könnt direkt von Portland aus zurückfliegen. Danny hat uns freundlicherweise erlaubt, heute Nacht hier unten zusammen zu bleiben.“

Alle drehten sich nun zu Danny, der schüchtern lächelte.

„Ich war da nicht so ganz uneigennützig. Ich möchte heute Nacht nicht alleine sein. Ich… ich brauche jemanden, der mich hält und tröstet.“

Eine leichte Röte überzog Dannys Gesicht, doch niemand lachte. Fast alle nickten und fast wie selbstverständlich fand jeder zu seinem eigenen Partner, was vier junge Männer zunächst etwas ratlos ließ. Als Ray dann vorsichtig Danny umarmte und der sich förmlich in ihn einkuschelte, gab Matthew Max einen scheuen Kuss, der auch prompt erwidert wurde.

Es war ungewöhnlich ruhig und schon nach wenigen Augenblicken waren die ersten eingeschlafen.

Deutschland, Anno Domini 2018

Kevin und Lucas, sowie Robin und Kyan, holten das Auslandsteam bereits in Frankfurt vom Flughafen ab. Lucien, Tobias und Max wurden von Kevin und Lucas nach Köln gebracht, während Robin und Kyan die vier Schüler zurück nach Haus Birkenstein brachten. Auf dem Rückweg blieb ausreichend Zeit, alle ‚Urlauber‘ auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Genauso wie Lucien ausführlich über die Ergebnisse ihres Auslandseinsatzes berichten konnte.

Die drei Weltreisenden waren mehr als erstaunt, wie weit die Planung ihrer neuen Unterkunft gediehen war. Ebenso erstaunt waren sie von den beiden Neuzugängen. Max starrte vollkommen verblüfft auf Gabriél und auch die Umstehenden sahen von einem zum anderen.

Gabriél und Max waren tatsächlich gleich groß, bis auf den Zentimeter genau, wie sich später noch herausstellen sollte. Die schwarzen Haare waren bei beiden die Naturfarbe, nur trug Gabriél die Seiten etwas kürzer und den Mohawk etwas höher als Max. Beide hatten braune Augen, dafür hatte Max eine etwas hellere Haut.

„Ich glaub’s ja nicht. Wo kommst du denn her?“

Max hatte etwas zu laut geklungen und Lucien legte ihm sofort eine Hand auf die Schulter. Gabriél zuckte sichtlich zusammen.

„Ich… ich… aus Luxemburg.“

Jetzt traten bei Max fast die Augen aus dem Kopf.

„Was?! Jetzt sag‘ nicht, du kommst aus Esch!“

„Äh, doch.“

Max erstarrte einen Moment, dann riss er sich von Lucien los, stürmte aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Verblüfft sahen ihm alle hinterher; Gabriél war fast den Tränen nahe. Lucien runzelte die Stirn.

„Was zum…“

„Rafael, du kümmerst dich um Gabriél, Lucien, sieh bitte einmal nach Max. Der Rest bleibt hier. Lucas, mir nach. Wir müssen telefonieren.“

Lucien machte sich auf die Suche nach Max, während Lucas Kevin folgte.

„Was war das denn?“

„Keine Ahnung, aber wir müssen es herausfinden. Deshalb möchte ich ja erst einmal telefonieren.“

„Mit General Harder, nehme ich an.“

„Richtig, Watson. Da ist irgendetwas in der Vergangenheit von Max, dass ihn ziemlich aus der Bahn geworfen hat.“

Das Telefongespräch mit General Harder dauerte etwas länger und Kevin und Lucas saßen danach fast ebenso lange am Schreibtisch und sahen sich nur gegenseitig schweigend an.

„Da hätten wir dann das ganze Elend einer deutschen Einheitsfamilie inklusive dessen, was passiert, wenn man als schwul geoutet wird.“

„Du glaubst doch nicht, dass das so üblich ist. Oder?“

„Wir sollten mit Max darüber reden.“

Lucas nickte stumm und sie erhoben sich langsam, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.


Lucien fand Max in seinem Zimmer auf dem Bett liegend und hemmungslos weinend. Wortlos legte er sich neben ihn und nur einen Moment später klammerte sich Max, immer noch weinend, an ihn.

„Die ganze Erinnerung“, schluchzte er, „ist auf einmal wieder hochgekommen. Dabei hat der arme Kerl wahrscheinlich nicht einmal etwas damit zu tun.“

Entgegen seiner sonstigen Angewohnheit schwieg Lucien ganz einfach und hielt Max in seinen Armen. Tatsächlich begann sich dieser etwas zu Beruhigen und nach einer Weile fing er leise an zu erzählen.

Lucien hörte aufmerksam zu, während Max leise aus seinem Leben berichtete.

„Ich war gerade vierzehn geworden und hatte meinen ersten Freund, im Sinne von Testobjekt für sexuelle Handlungen. Hatte nicht viel mit Liebe zu tun, mehr mit nackten Tatsachen. Wir gingen beide in dieselbe Klasse und waren oft zusammen. Zumindest, bis mein Vater uns knutschend auf dem Bett erwischte. Wir haben nur rumgeknutscht, noch voll angezogen, doch er ist vollkommen abgedreht. Hat Rainer rausgeworfen und mich grün und blau geprügelt. So ging es denn mindestens einmal die Woche, bis meine Mutter endlich den Mut gefunden hat, das Jugendamt einzuschalten. Sie hatte wohl Angst, dass sie die Nächste wäre. Zu meiner Überraschung taten die vom Jugendamt auch tatsächlich mal was. Die Polizei musste anrücken um sie zu beschützen. Dann kam eines zum anderen und der Alte wurde eingeknastet. Meine sogenannte Mutter verweigerte allerdings ganz plötzlich mein Verbleiben in der Familie. Und Zack war ich im Heim. Kein halbes Jahr später bin ich zur dortigen allgemeinen Überraschung von Matthias Harder adoptiert worden.

Lucien konnte seine Neugier doch nicht so ganz zügeln.

„Und was hat das jetzt…“

„Mit Luxemburg zu tun? Das ist etwas komplizierter. Mein Erzeuger kommt ursprünglich von dort. Genauer gesagt, aus Esch. Ist wohl mit zwanzig von zu Hause abgehauen, weil er, den Gerüchten nach, mehr als eines der Mädel dort geschwängert haben soll. Dann hat er irgendwann meine Mutter geheiratet, weil er die wohl auch geschwängert hat, aber wohl nicht so schnell verschwinden konnte. Wie wir, oder zuerst wohl meine Mutter, erfahren mussten, hat er das mit den Weibern offensichtlich nicht nachlassen können. Ich habe mindestens noch zwei Halbgeschwister aus seiner Zeit nach der Hochzeit.“

„Und als du jetzt diesen Typ aus Esch gesehen hast, der dir ziemlich ähnlich sieht…“

„Ja, tut mir leid. Es ist wahrscheinlich ein großer Zufall, aber ich wurde schlagartig wieder an mein früheres Leben erinnert. Noch einen Halbbruder hätte ich nicht ertragen. Na ja, zumindest nicht sofort. Aber kannst du dir das vorstellen? Ein ganzes Jahr lang all diese Schläge und dann die Zurückweisung. Schon Morgens als ‚schwule Sau‘ beschimpft zu werden und dann genau zu wissen, dass es nach der Schule erst mal Schläge gab und dann pünktlich nach dem Abendessen noch einmal. Oh ja, in der Hinsicht war er ein Vorbild deutscher Pünktlichkeit und Gründlichkeit.“

Lucien spürte, wie die Umklammerung von Max etwas nachließ und er sich leicht entspannte.

„Matthias und Ludwig haben mir das erste Mal gezeigt, was eine richtige Familie ausmacht. Ich bin gefragt worden, ob ich einer Adoption eines schwulen Paares zustimmen würde und mir ist sofort durch den Kopf geschossen, dass ich dann wohl das Boy-Toy sein würde. Das habe ich den beiden beim ersten Treffen auch sofort auf den Kopf zugesagt. Matthias hat sich stumpf umgedreht und ist gegangen. Ludwig blieb bei mir und hat mir den Kopf gewaschen, aber so richtig.“

Lucien bemerkte, erstaunt, wie bei Max schon wieder die Tränen liefen, aber diesmal lächelte er dabei. Die Tränen versiegten und Max wurde noch ruhiger, bis er langsam vor sich hindämmerte. Vorsichtig trennte sich Lucien von Max und schlich hinunter ins Wohnzimmer, wo Rafael zusammen mit Gabriél am Wohnzimmertisch saß und jeder eine Tasse heißen Kakao vor sich stehen hatte. Lucien musste unwillkürlich grinsen. Das war auch eines der Rezepte seiner Oma gewesen für die kleinen seelischen Probleme all ihrer Enkel.

Rafael sah Lucien fragend an.

„Er hat sich etwas beruhigt und schläft.“

Dann wandte sich Lucien an Gabriél.

„Und es tut ihm leid. Ich werde nichts davon weitersagen, was er mir erzählt hat, aber ich bin fest davon überzeugt, dass du es verstehen wirst, wenn du es erfährst.“

Gabriél seufzte und fuhr sich unbewusst über seine hochstehenden Haare.

„Ich war nur etwas überrascht. Ich habe schon öfter dumme Kommentare gehört und bin auch schon mal körperlich bedroht worden und das alles nur wegen ein paar Äußerlichkeiten. Aber gerade eben wusste ich nicht, was ich machen sollte. Nur weil ich aus Esch komme, bin ich plötzlich ein Hassobjekt?“

„Das hat nur bedingt etwas mit dem Ort zu tun. Max hat schon zugegeben, dass alles ein Zufall ist und er den Ausfall selber zu verantworten hat. Warte einfach ab, bis er den Mut findet, mit dir zu reden.“

Kevin und Lucas hatten von Matthias Harder eine ähnliche Auskunft erhalten. Über die Vergangenheit in Maximilians Familie hatte er nicht viel gesagt, dass war die Sache von Max, ihnen etwas darüber zu erzählen. Deutlicher waren hingegen schon die Informationen über den Vater von Max, der sich sogar geweigert hatte, ihn als Sohn anzuerkennen, bis man ihm mit einem DNA-Test die Vaterschaft nachweisen konnte. Neben den drei Kindern mit der Mutter von Max hatte er noch zwei jüngere in Deutschland mit verschiedenen Frauen und mindestens zwei in Luxemburg. Für die Kindesmisshandlung und Widerstand gegen die Staatsgewalt gab es fünf Jahre ohne Bewährung. Seine Frau hatte sich scheiden lassen und war mit den anderen beiden Kindern unbekannt verzogen.

„Was machen wir jetzt? Einer von uns sollte mit ihm reden.“

Ein einziger Blick zwischen Kevin und Lucas genügte und dann machte sich Kevin auf den Weg zu Max. Als er das große Schlafzimmer betrat, lag Max immer noch auf dem Bett, sah ihm aber entgegen.

„Ich habe schon einen von euch erwartet. Es tut mir leid, dass ich so abgedreht bin. Ihr werdet mich nicht zurückschicken?“

Zurückschicken?

Kevin musste einen Moment überlegen, was Max meinte, doch dann wurde es ihm klar. Es war weder ihm noch Lucas jemals die Idee gekommen, Max wegen dieses kleinen Vorfalls aus der SMU zu entlassen. Ganz im Gegenteil, er brauchte sie jetzt umso mehr, genauso wie sie auch ihn brauchten.

„Bist du blöd? Warum sollten wir dich zurückschicken? Weil deine Vergangenheit dich eingeholt hat und du deine Gefühle gezeigt hast?“

Kevin sah leichtes Erschrecken auf Max‘ Gesicht.

„Keine Angst. Ich muss zugeben, wir haben mit Matthias Harder geredet. Aber er hat uns nur ein paar nüchterne Fakten genannt, die dich nicht direkt persönlich betreffen. Trotzdem wissen wir nun natürlich, warum du adoptiert worden bist.“

„Da ist nicht viel, was man erzählen könnte. Ich habe vorhin mit Lucien geredet und es hat mir ganz gut getan, ich denke, ich werde dir und Lucas auch noch den Rest erzählen. Und natürlich auch… oh, wie heißt er eigentlich?“

Max machte ein betroffenes Gesicht, als er realisierte, dass er nicht einmal den Namen seines ‚Opfers‘ kannte.

„Gabriél. Gabriél Reding. Bist du sicher, dass du ihm jetzt schon gegenübertreten möchtest?“

Max nickte ernsthaft.

„Ja. Ich möchte, dass er mich versteht. Und ich möchte es sofort machen, nicht dass er irgendetwas auf Umwegen erfährt. Außerdem ist eine Entschuldigung wohl angebracht.“

Kevin nickte und ging zur Tür.

„Ich werde ihn dir hochschicken. Ihr könnt euch so viel Zeit lassen, wie ihr wollt.“

Kevin ging ins Wohnzimmer und schickte den sehr zögerlichen Gabriél nach oben. Zaghaft klopfte der an die Schlafzimmertür.

„Komm ruhig rein.“

Gabriél zögerte etwas.

„Komm bitte herein. Ich möchte mich entschuldigen und dir auch erzählen, warum ich so ausgetickt bin. Natürlich nur, wenn du es möchtest.“

Gabriél überlegte einen Moment, dann schloss er die Tür von innen.

Nach gut zwei Stunden wanderte Kevin über den oberen Flur vom Bad zurück in sein Zimmer. Doch etwas neugierig, blieb er vor dem großen Schlafzimmer stehen, doch alles war ruhig. Leise klopfte er und als nach einer Weile keine Antwort kam, öffnete er die Tür einen Spalt weit.

Max und Gabriél lagen beide komplett angezogen auf dem Bett und schliefen, beide eng umschlungen. Und auch beiden Gesichtern konnte man ansehen, dass sie geweint hatten.


Die Verteilung der Suiten in Schloss Neuerburg verlief völlig problemlos. Fast wie Kevin und Lucas es erwartet hatten, nahm jedes der vorhanden Paare eine gemeinsame Unterkunft, lediglich Robin hatte etwas schüchtern gefragt, ob er dauerhaft bei ihnen wohnen dürfte.

Kevin zog seine Augenbrauen hoch und sah Robin erstaunt an.

„Hast du ein kurzes Gedächtnis?“

„Bitte?“

„Kannst du dich noch daran erinnern, was wir dir nach unserer ersten gemeinsamen Nacht gesagt haben? Dass wir beide dich wirklich gerne mögen. Und dass du, wenn du es möchtest, gerne bei uns beiden bleiben darfst. Nicht als Objekt für die Nacht, sondern als Partner fürs Leben. Und das mit dem Leben ist wörtlich zu nehmen, damals, wie heute.“

Robin schlug fast verschämt seine Augen nieder.

„Ich weiß, aber es ist ja nicht bei euch geblieben. Es war ein ganz schönes ‚rumgehopse‘ in der letzten Zeit.“

Kevin lachte leise.

„Stimmt, aber niemand hat von dir ewige Treue verlangt. Und falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, wir beide sind auch nicht die ganze Zeit alleine geblieben. Du selbst hast das Konzept des Rudels doch erklärt. Mach dir deswegen keine Gedanken.“

Robin lächelte und gab Kevin und Lucas einen Kuss.

Auch bei den anderen Paaren stellte sich zunächst eine ruhige Zweisamkeit ein. Lediglich die Mitglieder des Logistik-Corps und des Magie-Korps waren etwas unentschlossen. Zur allgemeinen Überraschung zogen Max, Gabriél und Kyan zusammen. Bente, Martin und Thomas bevorzugten eine Einzelunterkunft.

Der Umzug stellte das Organisationsteam noch vor so manche Herausforderung. Die einzelnen Suiten waren vergeben worden und wurden nun den Wünschen ihrer zukünftigen Bewohner entsprechend angepasst und ausgestattet. Das umfasste alle Einrichtungselemente, von der Wohnwand über Fernseher, Teppiche und Bilder bis hin zur Bettwäsche. Eine Spezialfirma für Wohnraumausstattung hatte sieben Tage Zeit bekommen, die gewünschten Ausstattungen durchzuführen. Kevin und Rafael waren jeden Tag unterwegs um die Durchführung zu beaufsichtigen und der Ausstatterfirma letzte Änderungen schonend nahezubringen.

Die Unterlagen der Scheinfirma wurden durch ein Umzugsunternehmen verpackt, verfrachtet und auch wieder nach Plan ausgepackt. Kyan blieb nur die Aufsicht darüber, dass auch alles dorthin kam, wo es hin sollte.

Bente und Alexander organisierten den Umzug der persönlichen Ausrüstung. Da ja alle Möbel und das Inventar der Villa zurückblieben, brauchte nicht viel gepackt zu werden. Jeder schnürte sein kleines persönliches Bündel, das am letzten Tag mit dem Transporter nach Neuerburg gebracht wurde.

Alle waren nun vollauf damit beschäftigt, ihre kleinen Reiche einzuräumen und nach ihren persönlichen Wünschen noch einmal umzudekorieren.

Lucien schlich, dicht gefolgt von Gabriél, mit immer noch glänzenden Augen durch die Küche. Sie hatten schon am gestrigen Tag alle Vorräte hergebracht und die Lager und Lasten in Betrieb genommen.

Lucien grinste, als er an den gestrigen Nachmittag dachte, als er mit Gabriél im örtlichen Supermarkt war. Neuerburg war ein kleines Örtchen mit knapp 6.000 Einwohnern im Einzugsbereich, wovon viele auf den einzelnen Bauernhöfen ringsum wohnten. Es gab im Ort noch etliche Einzelhandelsgeschäfte und einen großen Supermarkt, der für Gabriéls Zwecke geeignet war. Als die beiden den Geschäftsführer zu sprechen wünschten, ernteten sie erstaunte Blicke, doch der Geschäftsführer verstummte, als er die Einkaufsliste sah.

„Und das ist Ihr Ernst?“

„Hundertprozentig. Zwei Dinge, die wir noch gerne geklärt hätten. Können Sie das liefern und wenn ja, bis morgen Nachmittag?“

Etwas hektisch sah der Geschäftsführer noch einmal die Einkaufsliste durch.

„Äh, ja. Normalerweise liefern wir nicht, aber bei diesen Mengen… Morgen Nachmittag? In Ordnung.“

Tatsächlich rumpelte der Transporter des Supermarkts pünktlich um 15:00 Uhr durch das Tor und zwei Angestellte waren eine ganze Zeit damit beschäftigt, die Waren in den Keller zu bringen, wo sie später von Lucien, Gabriél und dem shanghaiten Dorian verstaut wurden.

Lucien sah auf die Uhr und grinste Gabriél herausfordernd an.

„Was glaubst du, bekommen wir bis Mitternacht ein Fünf-Gänge-Menü für siebzehn Personen hin?“

Gabriél zog erstaunt die Augenbrauen hoch und sah ebenfalls automatisch auf seine Uhr.

„Warum bis Mitternacht?“

„Weil Michael morgen Geburtstag hat. Eigentlich wollte er keine Feier, aber die Gelegenheit ist günstig. Wir machen ganz normal ein kleines Buffet für das Abendessen und wenn dann alle raus sind, geht’s los.“

Gabriél grinste Lucien verschwörerisch an.

„Wenn das so ist, worauf warten wir?“

Eine halbe Stunde vor Mitternacht wurden Robin und Kyan herumgeschickt, alle Anwesenden in den festlich gedeckten Speisesaal zu holen. Dazu hatte Robin in seiner Wolfsform eine breite rote Schleife um den Hals bekommen und Kyan steckte ihm dann jeweils die Umschläge mit den persönlichen Einladungen in den Fang. Kyan öffnete die Türen, damit Robin seine Lieferungen loswerden konnte.

Wie Lucien vermutet hatte, waren alle neugierig genug, der Einladung zu folgen. Nun standen sie staunend vor der festlich eingedeckten Tafel und Lucien ließ seinen Blick schweifen. Aha.

„Lieber Michael, liebe Gäste. Heute gibt es gleich zwei Dinge zu feiern. Zum einen haben wir den erfolgreichen Umzug in unser neues Domizil gemeistert, zum anderen wird Michael in wenigen Minuten ein ganzes Jahr älter. Aus diesem Grund hat sich die Küche genötigt gefühlt, zu zeigen, was sie leisten kann. Dazu auch meinen besonderen Dank an unseren dritten Erzengel.“

Lucien gab Gabriél einen langen, intensiven Kuss, der diesen erröten ließ.

„Dann nehmt mal Platz, es gibt Platzkarten.“

Nach kurzer Sucherei hatte jeder seinen Platz gefunden und Michael bemerkte, dass alle Paare voneinander getrennt worden waren. Das war ziemlich einfach, denn sie hatten sieben Einzelkämpfer, aber nur fünf Paare.

Dann fiel Michaels Blick auf die an jedem Platz ausliegende Menükarte.

Aperitif

Cream Sherry

Kalte Vorspeise

Kalte Freuden aus griechischen Landen

Warme Vorspeise

Norwegischer Lachs auf Bandnudeln

Hauptgericht

Norddeutscher Krustenbraten mit Apfelrotkohl Salzkartoffeln oder Kartoffelklößen

Dessert

Göttliche Speise vom Olymp in Backbord oder Steuerbord mit Sauce Vanille Irish Cream Dessert

Kaffee

Cappuccino oder Heiße Schokolade mit oder ohne Lübecker Marzipanaroma

„Backbord oder Steuerbord?“

„Rot oder grün“, kam es prompt von Kevin, Lucas und Bente.

„Aha, dann kann es ja losgehen.“

Pünktlich um Mitternacht begann Kevin mit einem Toast auf ihre Einheit und der Gratulation für Michael. Es wurde auf jeden Fall ein lustiger Abend. Oder war es ein lustiger Morgen?

Den krönenden Abschluss verkündete Lucien dann auch, nachdem jeder satt und zufrieden an seinem Platz saß.

„Das Team ‚Sport und Freizeit‘“, damit deutete er auf Robin und Kyan, „gibt bekannt, dass die Saunaanlage in Betrieb genommen wurde und ab sofort zur Benutzung bereit steht.“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2018

Ende Februar war der Unterricht in Haus Birkenstein schon weit fortgeschritten. Die allgemeinbildenden Fächer waren bei etlichen Schülern ein größeres Problem als die magischen Unterrichtseinheiten. Chris und Leon saßen bei einer kleinen Nachhilfestunde Latein, als Oliver seinen Kopf nach einem kurzen Klopfen zur Tür hereinstreckte.

„Leon, für dich ist ein Paket an der Rezeption.“

Erstaunt sahen Leon und auch Christian auf.

„Für mich?“

„Nein, für den heiligen Geist. Natürlich für dich oder heißt hier sonst noch jemand Leon?“

Oliver verschwand und Chris nickte Leon erwartungsvoll zu. Er wusste, dass es mit Latein nichts mehr werden würde, wenn Leon neugierig herumzappelte.

Eilig holte Leon das Paket an der Rezeption ab und wunderte sich ein wenig, denn der Absender war ein gewisser S. Bekker.

Zurück im Zimmer zeigte Leon das Paket zunächst Christian, bevor er es öffnete. Christian hatte ein etwas besseres Gedächtnis als Leon und wusste, wer dieser mysteriöse S. Bekker war.

Leon saß nun etwas hilflos vor dem geöffneten Paket und starrte erstaunt auf die beiden Stangen, die darin lagen. Christian sah ebenfalls hinein und grinste dann schwach.

„Na, da hat aber jemand ein sehr persönliches Geschenk geschickt.“

„Was? Wieso?“

„Die Geweihträger werfen am Anfang des Jahres ihr Geweih ab, das dann wieder neu wächst. Die abgeworfenen Stangen werden oft als Trophäen gesammelt. Ich nehme an, dass die hier von Simon selber sind.“

Leon schrak hoch. Simon! Dieser niedliche kleine, etwas schreckhafte Junge, der sich dann doch als richtiger Bock entpuppt hatte, so wie er es vorhergesagt hatte.

„Simon. Oh, ja. Der war echt niedlich. Seine braunen Augen waren so sanft, aber er war dann doch so bestimmend und das gleich mehrere Male.“

Christian grinste.

„Ja, hat er dir ja angedroht, der kleine Bock. Und du hast dich danach auch nicht beschwert. Wo wart ihr eigentlich? Bei ihm auf der Bude?“

Leon nickte etwas schuldbewusst.

„Er war zunächst ganz schön dominant, aber dann wieder sehr anschmiegsam.“

Leons Blick verlor sich in der Ferne. Christian sah ihn nachdenklich an.

„Na, hat sich da jemand verguckt?“

Leon schrak betroffen zusammen, doch Chris lachte nur.

„Kannst du dich daran erinnern, was du ganz am Anfang gesagt hast, dass du mich mit niemandem teilen willst?“

Leon nickte errötend.

„Dann ist es wohl jetzt Zeit, darüber nachzudenken. Ich nehme an, du hast damals daran gedacht, dass ich mit jemandem ankommen würde, doch mir war eigentlich schon klar, dass du derjenige sein würdest, der sich in einen anderen verguckt.“

Leon sah Christian erstaunt an.

„Nun schau nicht so. Ich kenne das inzwischen. Auch in der Zeit vorher, hat es neben Robert noch andere Männer gegeben, wobei wir eigentlich fast jeden miteinander geteilt haben.“

Leon sah interessiert auf, doch Christian winkte ab.

„Diesen Teil meines Lebens habe ich hinter mir gelassen. Nicht, dass ich Robert je vergessen würde, aber ich habe jetzt jemanden, den ich ebenso liebe.“

Leon stand wortlos auf, ging um den Tisch herum und umarmte Christian lange.

„Aber warum ist es so… so merkwürdig. Ich liebe dich, doch auch bei Simon habe ich irgendetwas gespürt, was mich nicht ganz loslässt.“

„Ihm muss es ähnlich gegangen sein, sonst hätte er dir bestimmt nicht dieses Geschenk geschickt. Und jetzt werde ich dir noch etwas verraten. Ich habe am letzten Abend drüben in Waldesruh mit Simon gesprochen.“

„Was?“

„Ja, wir haben uns lange unterhalten. Es ging ihm hauptsächlich um die Beziehungen unter den Magiern und warum einige Leute davon berichten, als seien es gottgegebene Ehen, die unantastbar seien und andere schildern sie als, vorsichtig ausgedrückt, kompliziert. Was ist denn zum Beispiel ein Rudel? Robin hätte das wahrscheinlich viel besser erklären können. Und bevor du fragst, ja, wir haben auch miteinander geschlafen. Er hat gemeint, es wäre für sein Gewissen besser so und er müsse über seine Gefühle noch etwas nachdenken.“

Leon schwieg eine ganze Weile, dann küsste er Christian ausgiebig. Mit einem Blick auf das Geschenk meinte er dann.

„Anscheinend ist er sich über seine Gefühle im Klaren geworden. Was meinst du, werden wir ihn noch einmal wiedersehen?“

Christian lachte.

„Das will ich doch sehr hoffen. Ich nehme an, du möchtest dann das Alpha-Tier in einem Rudel werden?“

Leon starrte Christian verblüfft an.

„Du… du meinst, das geht? Also, so als Mensch?“

„Denk dran, dass wir noch das Offiziersseminar machen und die Schüler von Waldesruh es ebenfalls mit uns zusammen absolvieren. Ich möchte ja nicht wissen, was dort dann los sein wird.“

Leon schwieg einen Moment, dann stahl sich ein breites Grinsen auf sein Gesicht. Christian grinste ebenfalls und sah Leon von oben bis unten prüfend an.

„Na, gut das du so sportlich bist. Du wirst dann jede Menge Kondition brauchen.“

Leon tat ihm den Gefallen und errötete noch einmal.

Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Anno Domini 2018

Einer der ersten offiziellen Besucher von Schloss Neuerburg war Anfang März zur allgemeinen Überraschung Pater Anselm.

Ein fremder Wagen war in den Innenhof des Vorwerks eingefahren. Da er das Tor mit dem Code für die Dienstfahrzeuge der Organisation passiert hatte, wurde ein interner Alarm ausgelöst und Lucien hatte heute Dienst, um die Besucher zu empfangen.

Den ersten der Besucher erkannte er sofort, denn es war Pater Anselm der ihn anlächelte. Der zweite Besucher war ein Mann etwa Mitte vierzig, schlank und sportlich aussehend, in einem dunklen Anzug mit Krawatte. Lucien entging nicht das kleine silberne Kreuz am linken Revers. Pater Anselm begrüßte Lucien und stellte ihn seinem Begleiter vor. Dann wandte er sich wieder an Lucien.

„Dies ist Monsignore Bergleitner, unser Verbindungsmann zum Vatikan.“

Lucien musste seine gesamte Willenskraft aufbieten um keine neugierigen Fragen zu stellen, sondern bat die Herren herein und führte sie gleich hinunter in den Konferenzraum der Einsatzzentrale. Dann benachrichtigte er Kevin und Lucas.

Die Begrüßung von Pater Anselm war herzlich und auch der Besucher erkannte die enge Zuneigung, die insbesondere Kevin und Pater Anselm betraf.

„Nun, wie ihr euch vielleicht denken könnt, ist dieser Besuch nicht unbedingt ein Höflichkeitsbesuch, auch wenn ich doch sehr gerne hier her gekommen bin. Monsignore Bergleitner hat sich auf Weisung des Heiligen Vaters mit dem Exekutivrat in Verbindung gesetzt und dieser hat mit einem, wie soll ich sagen, ausgestreckten Zeigefinger auf diese SMU gewiesen.“

„Es handelt sich also gewissermaßen um einen Auftrag des Vatikans?“

Monsignore Bergleitner machte ein etwas unglückliches Gesicht.

„Eigentlich nicht. Doch das ganze Umfeld geht den Heiligen Stuhl schon etwas an. Deshalb möchte ich die ganze Angelegenheit so unauffällig wie möglich halten.“

Kevin sah mit einem säuerlichen Gesicht zu Pater Anselm.

„Ich nehme an, Sie haben ihm die Beziehungen innerhalb unserer Einheit erklärt und dass wir alles gemeinsam erfahren, besprechen und auch erledigen.“

„Selbstverständlich. Dazu muss ich sagen, dass Monsignore Bergleitner nicht nur unser Verbindungsmann zum Vatikan ist, er ist auch Bannmagier.“

„Oh.“

Der Monsignore seufzte etwas, doch dann lächelte er leicht.

„Es war nicht ganz einfach, damals. Ich hatte meinen Partner verloren und suchte nun Rat bei Gott. Der konnte mir zwar aus meiner seelischen Not helfen, gab aber keine praktischen Ratschläge. Deshalb wandte ich mich an Pater Anselm, der damals neu im Regiment als Seelsorger war. So bin ich dann Priester geworden und habe aufgrund meiner Vergangenheit eine besondere Aufgabe erhalten. Ich bin nicht nur der Verbindungsmann des Vatikan zur Organisation, sondern als Bannmagier auch Einsatzleiter der Magier des Vatikan.“

Kevin staunte und Lucas hob fragend die Augenbrauen.

„Es gibt Magier im Vatikan? Und ich dachte, die mögen so etwas nicht.“

Pater Anselm lächelte leicht.

„Im Prinzip stimmt das auch, doch auch der Vatikan kann sich den Tatsachen nicht verschließen. Es gibt dort eine Einsatztruppe bestehend aus einem Astral- und einem Bannmagier mit ihren jeweiligen Partnern. Für den unwahrscheinlichen Fall eines Tores ist Monsignore Bergleitner der zweite Bannmagier. Die vier Magier gehören übrigens zur Schweizergarde.“

„Von der Schweizergarde? Ich glaub’s nicht.“

„Doch, sind sie. Aber bevor wir mit den Einzelheiten starten, wie wollt ihr das handhaben? Eine große Runde für alle?“

Kevin und Lucas nickten simultan.

„Wie immer. Aber dazu müssen wir nach nebenan in die Einsatzzentrale, hier ist zu wenig Platz. Wir haben jetzt schon siebzehn Mann.“


Es gab eine kurze Nachricht an die Handys der SMU und schon hatte sich die Mannschaft in der Einsatzzentrale versammelt.

Kevin stellte zunächst Pater Anselm vor, für diejenigen, die ihn noch nicht kannten, dann auch Monsignore Bergleitner. Dieser stellte sich noch einmal ausführlich vor, so wie er es bei Kevin und Lucas getan hatte. Dann kam er auf den Grund seines Besuches zu sprechen.

„Meine Herren, es ist etwas ungewöhnliches vorgefallen und das birgt nicht nur Brisanz für den Vatikan, sondern möglicherweise auch für die Organisation. Ich bin mir nicht sicher, ob alle hier mit dem Begriff der ‚Wunderheilungen von Lourdes‘ etwas anfangen können.“

Monsignore Bergleitner sah in etliche fragende Gesichter und holte etwas weiter aus.

„Lourdes ist eine französische Stadt in den Pyrenäen in der Nähe der spanischen Grenze. Sie zählt heute etwa 15.000 Einwohner. Und ist mit über vier Millionen Besuchern jährlich einer der weltweit meistbesuchten Wallfahrtsorte.“

Die ersten Augenbrauen wanderten hoch und Timo richtete sich interessiert auf.

„1858 soll eine gewisse Bernadette Soubirous nahe einer Grotte mehrfach Erscheinungen einer weiß gekleideten Frau gehabt haben. Später offenbarte sich nach ihren Worten die Erscheinung als „die unbefleckte Empfängnis“, was der Pfarrer und die kirchliche Untersuchungskommission als Bestätigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Marias, der Mutter Jesu, deuteten. Bei einer dieser Erscheinungen wurde eine Quelle in der Grotte freigelegt. Die Mutter Gottes bat Bernadette Soubirous nach ihren Worten darum, den Priestern auszurichten, dass an der Grotte eine Kirche errichtet werde, und um Prozessionen dorthin.“

„Das war vor 160 Jahren!“

„Klappe, Max“, zischte Lucien.

„Heute ist die Kirche ein bedeutender Wallfahrtsort. Der Quelle werden Heilkräfte zugeschrieben und es wurde von vielen Wunderheilungen berichtet. Pilger, die nach Lourdes kommen, nehmen – im festen Glauben an eine mögliche Heilung – Bäder im Quellwasser. Untersuchungen konnten keine außergewöhnliche Mineralstoffzusammensetzung des Quellwassers feststellen, es hat Trinkwasserqualität. Der Bischof von Tarbes, wozu Lourdes zählt, erkannte am 18. Januar 1862, vier Jahre nach den Ereignissen, eine erste Erscheinung als Wunderheilung im Namen der Kirche als echt an, woran eine Marmortafel in der Grotte erinnert. Von den fast 7.000 Heilungen, die im medizinischen Büro seit seiner Gründung bis heute gemeldet wurden, hat die römisch-katholische Kirche 70 als Wunder anerkannt.“

Alexander tuschelte heftig mit Timo, der ihn aber nach einem Moment abwürgte. Timo sah entschuldigend nach oben zum Rednerpult.

„Entschuldigung, Monsignore, aber es ist immer etwas schwierig für mich, wenn von Wundern gesprochen wird.“

Nun machte Monsignore Bergleitner ein fragendes Gesicht und Timo seufzte etwas.

„Ich bin ein Heiler.“

„Oh, darauf war ich jetzt nicht gefasst. Dann werden sie vermutlich unser Problem verstehen, wenn ich gleich darauf komme. Vor drei Wochen hat es begonnen. In Lourdes geht eine Person um, die bei anscheinend willkürlich gewählten Pilgern eine Heilung vornimmt, die von diesen als Wunder wahrgenommen werden.“

„Was?! Gibt es da nähere Informationen?“

„Leider nicht. Es soll sich wohl um einen Mann mittleren Alters handeln, der mit einem dunklen Kapuzenpullover bekleidet war. Beim ersten Mal hat er eine ältere Dame angesprochen, die mit einer Begleiterin auf einer der Bänke direkt vor der Grotte saß. Sie war gehbehindert durch eine Hüftgelenksarthrose. Der besagte Mann nahm neben ihr Platz und nach den Beschreibungen beider Frauen ging eine Art bläuliches Leuchten von ihm aus. Nach einer Weile erhob er sich und sagte nur: Betet für mich.“

„Das war alles?“

„Nun ja, nach der Aufforderung ‚Betet für mich‘ wies er auf die obere der drei Kirchen an der Grotte.“

Die meisten der jungen Herren sahen sich ratlos an, nur Lucien seufzte gequält. Tobis stieß ihn an.

„Was ist?“

„Die drei Kirchen an der Grotte sind traditionell der Dreifaltigkeit gewidmet. Die untere, die Rosenkranzbasilika für Gott Vater. Oben dann eine Kapelle mit einem ewigen Licht für den Heiligen Geist und die Maria-Empfängnis-Basilika ganz oben für Jesus Christus.“

Der Monsignore machte ein etwas säuerliches Gesicht, nickte aber.

„Das ist nicht offiziell, aber so wird es von vielen gesehen.“

„Wollte der Mann damit andeuten, er wäre Jesus?“

Pater Anselm hob beide Hände um den Sturm von Kommentaren einzudämmen, der plötzlich nach der Frage von Sven losgebrochen war.

„Einen Moment, bitte. Etwas Ruhe, bitte. Ich weiß, es ist nicht gerade einfach, besonders für gläubige Christen, aber wir müssen uns zunächst darüber klar werden, dass die jüdischen Dämonenjäger vor 2000 Jahren eine sehr eindeutige Beschreibung der Vorgänge hinterlassen haben. Ich kann mich erinnern, dass Kevin am Anfang seiner Unterweisung eine Passage aus der Geschichte von Michel de Côntebrais gelesen hat.“

Kevin nickte nur erstaunt, als Pater Anselm ein dünnes Büchlein unter seiner Kutte hervorholte und aufschlug.

„Es ist ein Teil einer Unterhaltung zwischen Michel de Côntebrais und Joshua ben Simeon. Der alte Mann berichtete von der Geschichte der Dämonenjäger.“

„…seit die Stämme Israels hier gesiedelt haben. Wir haben das Wissen aus Ägypten mitgebracht, die es noch von viel weiter her hatten. Aber ich weiß, was Ihr gerade gedacht habt. Ja, vor mehr als tausend Jahren war hier ein junger ambitionierter Mann aus der Sekte der Essener, der sich geweigert hatte, unserer Bruderschaft beizutreten, denn die Essener waren Pazifisten. Leider war er ein gutes, wenn auch tragisches Beispiel für diejenigen, die nicht im Verborgenen bleiben wollen und dann den Intrigen der Dämonen zum Opfer fallen.“

Michel starrte Joshua an und fing an zu stammeln.

Ja, aber … was hat er denn … ich meine … er hat doch nicht…“

Und damit streckte Michel die Hand aus, als ob er einen Blitz schleudern wolle.

Nein“, Joshua seufzte tief, „er hatte die seltenste, die verletzlichste und die wohl begnadetste aller Gaben, er war ein Heiler.“

Michel dachte eine ganze Zeit nach, dann nickte er langsam.

Ja, ich glaube Euch. Es fühlt sich richtig an. Er war von Gott gesandt, um einen Auftrag zu erfüllen und das hat er wahrlich getan.“

Pater Anselm schloss das Buch und sah hinunter auf seine Zuhörer, die alle verstummt waren. Lediglich Dorian versuchte seine Gedanken zu artikulieren.

„Ein Heiler,“ flüsterte er.

„Aber, das hieße ja, er war ebenfalls…“

Er wagte es nicht, das letzte Wort auszusprechen, doch alle wussten, was er sagen wollte. Pater Anselm zuckte mit den Schultern.

„Wir wissen es nicht. Die Natur der Magie lässt eigentlich keine Ausnahmen zu, aber es geht nicht um seine persönlichen Dinge, die nur ihn etwas angingen, sondern um das, was er uns hinterlassen hat. Wie Michel de Côntebrais so treffend gesagt hat: Er war von Gott gesandt, um einen Auftrag zu erfüllen und das hat er wahrlich getan.

Pater Anselm suchte nun eine bestimmte Person im Raum.

„Timo, denkst du von dir, dass du göttliche Wunder wirkst?

Fast augenblicklich schüttelte Timo den Kopf.

„Es ist eine Begabung. Für einen gläubigen Menschen vielleicht von Gott gesandt, aber nichts desto trotz eine Begabung, die eine Wirkung auf Menschen hat. Ob ich es mit Magie mache oder mit einem Skalpell ist kein Unterschied. Magie wirkt vielleicht besser und gründlicher, ist aber dennoch nur so gut, wie der Mensch der sie wirkt. Das hat nichts mit einem Wunder zu tun. Und wenn ein Heiler, oder was auch immer, sich mit der Aura von Göttlichkeit schmückt, dann ist das in meinen Augen eine Anmaßung.“

Etliche der jungen Herren sahen Timo erstaunt an. Er hatte sich eigentlich noch nie über seine Begabung geäußert und schon gar nicht so demonstrativ.

Kevin sah zu Monsignore Bergleitner, der dem Wortwechsel mehr als staunend gefolgt war.

„Was erwartet man im Vatikan von uns? Eine Bloßstellung des Mannes, soll er unauffällig entfernt werden? Was passiert, wenn er öffentlich auftritt und vielleicht sogar angebetet wird? Wir sind Magier und keine Theologen. Das ist alles sehr vage. Und mit Verlaub, es sieht fast so aus, als ob die katholische Kirche Angst hat, ihr Monopol mit Wunderheilungen zu verlieren.“

Pater Anselm war mehr als erstaunt über Kevins offensichtliche Abneigung, diesen Vorfällen nachzugehen und Monsignore Bergleitner sah ihn etwas ratlos an.

„Nun gut, wenn wir das theologische einmal außen vor lassen, können wir es auch einmal folgendermaßen betrachten: Die Menschen in Lourdes erleben einen Mann, der in der Lage ist, aufgrund einer, wie auch immer gearteten, Begabung, andere Menschen zu heilen. Das führt im Endeffekt zu einer ganzen Reihe von Fragestellungen. Unter anderem auch, gibt es noch mehr davon? Wo sind die alle? Und, ist das nicht eine Art von Bedrohung?“

Diesmal nickte Kevin langsam.

„Ja, das wäre der Ansatz gewesen, mit dem uns der Exekutivrat beauftragt hätte. Wir werden bei der Planung des Einsatzes von einer Bedrohung der Organisation ausgehen und dem theologischen Aspekt erst einmal weniger Gewichtung geben. Es sollte ein kleines Team ausreichen, am besten mit guten Französisch-Kenntnissen.“

Kevin sah die ersten grinsenden Gesichter.

„Nein, ich meinte eindeutig die Fremdsprache. Rafael, wer vom Team spricht Französisch?“

Noch bevor Rafael antworten konnte, sah Kevin, wie Lucien rot anlief. Natürlich, er war zweisprachig aufgewachsen, so wie auch Gabriél mit sogar drei Sprachen.

„Oh, no! Nicht der schon wieder“, kam es aus dem Hintergrund.

Jetzt realisierte Kevin, dass Lucien bei allen Auslandseinsätzen der SMU dabei gewesen war und nun höchstwahrscheinlich auch mit nach Frankreich ging.

„Also, ganz einfach. In Frage kommen Timo, Sven, Lucien, Tobias und Gabriél.“

Kevin sah Lucas an, doch der zuckte nur mit den Schultern.

„In Ordnung. Tut mir Leid für die anderen, aber diesmal liegt es tatsächlich nur an der Fremdsprache. Teamleiter wird Timo, zusammen mit Tobias. Toby, du bist diesmal der einzige Kampfmagier, also pass gut auf sie auf.“

Tobias sah Kevin vollkommen erstaunt an. Hatte der eine Vorahnung oder traute er der ganzen Sache nicht?

Kevin hatte sich inzwischen jedoch wieder an Pater Anselm gewandt.

„Ich nehme an, es sind schon Vorbereitungen getroffen worden für unseren Einsatz.“

Der Pater nickte kurz und zückte einen kleinen Zettel.

„Allerdings. Die Operationsabteilung hat sich für die unauffälligste Version entschieden, nämlich eine kleine Pilgergruppe mit einem geistlichen Pilgerleiter. Wenn nichts dagegen spricht, würde ich gerne die Rolle des Pilgerleiters übernehmen. Monsignore Bergleitner wird ebenfalls mit einer kleinen Pilgergruppe von vier Personen die Mysterien von Lourdes erkunden.“

Lucien sah interessiert auf.

„Die Magier des Vatikan?“

Monsignore Bergleitner verzog etwas das Gesicht wegen der Formulierung, nickte aber schweigend. Auch Kevin und Lucas nickten.

„Dann ist es ja geklärt. Timo, ihr könnt mit Pater Anselm die Einzelheiten des Einsatzes durchgehen. Ach so, was ich noch fragen wollte. Ist jemand von euch fünf nicht katholisch?“

Der einzige der nun zögernd seine Hand hob, war Sven.

„Ist nicht weiter wichtig. War nur reine Neugier.“

Kevin hatte ursprünglich etwas zu Lourdes und dem Erscheinungsbild des Ortes sagen wollen, doch Sven sollte besser unvoreingenommen dorthin kommen.

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