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Dämonenjäger

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2014

Gleich nach dem Unterricht ging Kevin hinüber zu Lucas, um ihm die neusten Nachrichten über die Entscheidung des Stiftungsrates zu erzählen. Und natürlich auch die Geschichte, die Tobias so unmittelbar betroffen hatte. Das Zimmer von Lucas war abgeschlossen und Kevin war schon auf dem Weg zum Abendessen, als ihm Lars Meinhardt entgegen kam.

„Lucas ist noch in der Sporthalle.“

„Okay, danke.“

Also änderte Kevin sein Ziel und steuerte die große Mehrzwecksporthalle an. Als er an die Tür des Umkleideraumes kam, hörte er von drinnen laute Stimmen.

„Ich hab‘ dir gerade schon einmal gesagt, du sollst deine Pfoten von mir lassen!“

Das war die Stimme von Lucas!

„Stell dich mal nicht so an. Mit dem Body kannst du hier jeden haben und nicht nur den kleinen Softie, den du ja anscheinend gut besteigst.“

Und das war die Stimme von Christoph Plöger! Was bildete der sich ein?

Kevin stürmte durch die große Doppeltür, deren Flügel krachend gegen die Wand schlugen. Die beiden Personen im Umkleideraum waren in der Bewegung erstarrt.

Lucas stand, nur mit einem Handtuch bekleidet, vor seinem geöffneten Spind, während Christoph im Sportzeug vor ihm stand und seine rechte Hand auf Lucas‘ Brust gelegt hatte. Mit ein paar schnellen Schritten erreichte Kevin die beiden, riss Christoph herum und drückte ihn mit Schwung gegen die geschlossenen Spinde, dass es krachte. Seine rechte Hand hatte er in Christophs Sporthemd verkrallt, mit dem linken Unterarm drückte er Christophs Hals gegen die Spinde.

„So, du kleine Hure. Ich werde dir mal jetzt ganz genau erzählen, was der kleine Softie mit dir macht, wenn du deine Flossen nicht von meinem Kerl nimmst.“

Christoph zappelte und versuchte mit seinen Händen Kevin wegzustoßen, doch der verstärkte nur den Druck auf den Hals, so dass Christoph schnell die Arme wieder sinken ließ.

„Wenn du dich in Zukunft nicht benimmst, und damit meine ich auch alle anderen Jungs gegenüber, nicht nur meinem, dann werde ich dir einen exzellenten Lähmungsblitz auf deinen Schwanz brennen, dass du das Ding die nächsten sechs Wochen nicht mal mehr zum Pinkeln benutzen kannst. Hast du mich verstanden?“

Christoph versuchte etwas zu sagen, konnte aber nur röcheln. Kevin nahm den Arm herunter und trat zwei Schritte zurück.

„Ob du mich verstanden hast!?“

„Ja, Mann, ist ja gut.“

Christoph war kaum zu verstehen, aber in seinen grauen Augen flackerten abwechselnd Furcht und Hass.

„Dann raus jetzt!“

Christoph sah sich kurz um, dann ging er schnell rückwärts zur Tür, die durch den Schwung mehrere Male hinter ihm durchpendelte.

„Puh, was war das denn, Kleiner?“

Kevin zitterte jetzt am ganzen Körper und musste sich auf eine der Umkleidebänke setzen. Lucas setzte sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schulter.

„Ich… Ich weiß auch nicht. Es war auf einmal da. Ich habe mich einfach von mir selber mitreißen lassen.“

„Weißt du, wie es ausgesehen hat? Deine astrale Aura war auf einmal nicht mehr gelb, sondern rot. Du hast deine magische Energie genutzt für eine körperliche Aktion. Das war erstaunlich.“

Kevin erschauerte. Was würden sie noch alles an sich entdecken?

Lucas erhob sich und legte das Handtuch ab. Kevin bewunderte seine muskulöse Gestalt, während sich Lucas ankleidete, dann erhob er sich und umarmte Lucas. Der beugte sich herunter und gab Kevin einen Kuss.

„Vielen Dank, dass mein strahlender Ritter mich beschützt hat.“

Kevin sah hoch und wurde nachdenklich.

„Glaubst du, dass es etwas damit zu tun hat?“

„Hm, eigentlich war das als lustige Bemerkung gedacht, aber jetzt, wo du es sagst. Wir sollten mal sehen, was wir der Bibliothek so alles entlocken können.“

Durch den kleinen Zwischenfall in der Sporthalle war die Cafeteria schon ziemlich leer und es dauerte nicht sehr lange an der Ausgabe.

Kevin sah sich suchend um und hatte Glück.

„Da drüben.“

Kevin und Lucas setzten sich gegenüber von Michael Lehrke geräuschvoll an den Tisch, denn Michael hatte gedankenversunken in einem Joghurt gerührt und die beiden zunächst gar nicht bemerkt.

„Hi, hallo. Na, wie geht’s euch?“

Die drei betrieben ein wenig Smalltalk während des Essens. Als Kevin sein Tablett etwas von sich schob, lehnte er sich leicht nach hinten und fixierte Michael.

„Ich werd‘ nicht lange rumeiern. Einer unserer Kampfmagier ist nicht gerade eine Leuchte in Magietheorie. Ich habe dich für die Nachhilfe empfohlen. Er wird keine Fragen zu dir oder deiner Vergangenheit stellen, wenn du keine Fragen zu seinen Hobbys stellst.“

Michael wurde knallrot und bekam einen gehetzten Gesichtsausdruck.

„Du hast doch nicht…“

„Nein, ich habe niemandem irgendetwas erzählt. Das musst du schon selbst machen, wenn es sich ergibt. Aber ihr sollt euch ja auch erst mal auf die Nachhilfe konzentrieren. Wenn du es machen möchtest, heißt das.“

„Okay, ich kann es ja mal versuchen“, kam es zögerlich von Michael.

Alle drei standen auf, um die Tabletts zurück zu bringen, als Kevins Blick das nächste Opfer gefunden hatte. Bei der Geschirrrückgabe hatte gerade Rafael Diberg sein Tablett abgeladen und sah sich etwas verloren um. Anscheinend sucht er jemanden. Als er Kevin sah, steuerte er direkt auf ihn zu. Sein Gesicht war blass und fast schien es, als ob er geweint hatte.

„Kevin! Ich packs nicht mehr. Erst der Reinfall während der Stunde und jetzt sitz ich schon die ganze Zeit über den verdammten Büchern und krieg den Spruch immer noch nicht gebacken.“

Kevin sah ihn verblüfft an. Dass es so schlimm war, hatte er nicht gewusst. Aber ein Schüler, der vorher mühelos gelernt hatte und jetzt plötzlich nichts mehr verstand, war natürlich eher deprimiert als einer, der immer hart arbeiten musste.

„Sprüche werden auch nicht gebacken sondern fein säuberlich strukturiert. Sie gliedern sich in Anwender, Intention, Niveau, Aufbau, Ziel und Entzug. Ist doch eigentlich ganz einfach.“

Michael hatte sich ein wenig nach vorne geschoben und sofort Mitleid mit der elenden Gestalt gehabt. Doch so elend sah die beim zweiten Blick gar nicht aus. Blond, blaue Augen, eigentlich ganz nett, wäre nicht der traurige Ausdruck. Michael wunderte sich, dass ihm Rafael vorher noch nie so aufgefallen war.

„Wie schön dass die Rettung naht. Rafael, dies hier, in dem schicken blauen T-Shirt, ist, wie du sicherlich weißt, Michael. Ich hatte doch erwähnt, dass ich jemanden wegen der Nachhilfe fragen werde und er hat sich einverstanden erklärt.“

„Ehrlich?! Meine Rettung!“

Stürmisch umarmte Rafael Kevin mitsamt Tablett.

„Hey, vorsichtig, lass uns die erst mal wegbringen.“

Rafael zappelt ungeduldig und sah Michael an.

„Kommst du mit zu mir? Ich hab noch alles auf dem Schreibtisch.“

Michael sah ihn erstaunt an, aber dann lächelte er.

„Ja, sehr gerne.“

Dann musste er sich beeilen, um mit Rafael Schritt zu halten.

Lucas sah Kevin von der Seite an.

„Manchmal frag ich mich echt, wie du das immer machst.“


Abends lagen Kevin und Lucas angezogen nebeneinander in Lucas‘ Zimmer auf dem Bett. Lucas hatte die Augen geschlossen und summte leise eine Melodie vor sich hin, während Kevin gedankenverloren mit einem Zeigefinger über Lucas‘ Brust fuhr. Gerade als er schwungvoll eine Kurve um eine unter dem T-Shirt herausgehobene Brustwarze fahren wollte, öffnete Lucas die Augen und drehte seinen Kopf zu Kevin.

„An was denkst du gerade? Dich beschäftigt doch noch etwas.“

Kevin legte jetzt die flache Hand auf Lucas‘ Brust.

„Heute wurde uns mitgeteilt, dass es für zwei Magier eine Ausnahmegenehmigung gibt, damit sie zusammenbleiben können.“

Im Sprachgebrauch untereinander hatte sich bei allen Schülern eingebürgert dass die Kampfmagier als ‚Kämpfer‘ bezeichnet wurden, alle anderen einfach nur als ‚Magier‘ oder wenn man eine bestimmte Schule meinte, wurde diese mit dem entsprechenden Anfangsbuchstaben abgekürzt.

„Ja, uns hat man auch kurz informiert.“

„Bei uns gab’s gleich einen Ausflug in die Geschichte des damaligen Ordens.“

Kevin erzählte Lucas kurz eine Zusammenfassung der Vorgänge aus dem 14. Jahrhundert.

„Das heißt also, dass zwei Kämpfer zusammenbleiben können, wenn zwei andere bereits zusammen sind und umgekehrt. Habt ihr denn zwei Mann, die noch ungebunden sind?“

„Denk mal scharf nach. Wenn zwei Magier zusammen sind, sind logischerweise noch zwei Kämpfer frei. Das Problem ist aber ein anderes.“

„Huh?“

„Lucas, erinnerst du dich an Timo und Sven aus dem Bus, als wir hier am ersten Tag angekommen sind?“

„Hm, ja klar.“

„Wir haben ja schon damals festgestellt, dass die beiden zusammen sind. Man hat ihnen wahrscheinlich schon vor Beginn der Ausbildung versprochen, sie würden zusammenbleiben dürfen, wenn sich zwei Kampfmagier finden, die ebenfalls zusammenbleiben wollen. Das einzige Problem für die Führung war es dann nur noch, zwei entsprechende Kampfmagier zu finden.

„Aha, die wollten also auf keinen Fall den Heiler verlieren. Aber wenn die beiden zusammen sind, bleiben ja ohnehin zwei Kampfmagier übrig.“

„Es ist natürlich Schade, dass man taktische Notwendigkeiten über eine Beziehung gestellt hat und die beiden nur zusammen lässt, um einen davon zu behalten. Aber das ist nicht das, was ich meine. Die beiden werden ja während des Einsatzes trotzdem getrennt. Der Heiler gehört zum Kompanietrupp, das ist sozusagen die Einsatzreserve. Der Elementar gehört zu einem Einsatztrupp. Jeder von ihnen braucht dort unbedingt einen Beschützer. Das heißt, sie bekommen einen Kampfmagier zugeteilt, der seine gesamte Aufmerksamkeit und Energie während des Einsatzes seinem Schützling zuwenden muss. Wenn die beiden zugeteilten Kampfmagier allerdings kein Paar sein sollten, werden sie wahrscheinlich den Rest ihres Lebens ohne Partner, ohne eigene Beziehung sein. Möchtest du so enden?“

Lucas schüttelte sich.

„Nein, nicht wirklich. Das gilt aber auch umgekehrt für die Magier. Es mag euch ja nicht so vorkommen, aber es ist zu Anfang immer sehr stressig, wenn du versuchst, dich während des Gefechts auf etwas zu konzentrieren und du musst dich darauf verlassen, dass jemand anderer dein Leben beschützt. Wir haben es in den ersten Gefechtssimulationen durchgefahren. Ganz ohne Rückendeckung, dann mit einem Kämpferdummy und zum Schluss wurde der Dummy durch eine Projektion eines tatsächlich existierenden Kämpfers ersetzt.“

„Was? Ich wusste gar nicht dass ihr auch Gefechtssimulationen macht. Wer war deine Projektion?

Lucas grinste Kevin an.

„Was glaubst du wohl? Wir durften sie uns vorher aussuchen. Lars hat sich Hendrik ausgesucht, anscheinend läuft da tatsächlich was. Und ich habe mir so einen kleinen dunkelblonden Typen geangelt, den ich schon länger kenne, heißt glaub‘ ich Kevin oder so.“

Kevin beugte sich herüber und gab Lucas einen Kuss. Er musste zugeben, die Sache mit dem kleinen Typen stimmte. Lucas war gemäß der letzten medizinischen Untersuchung jetzt 1,94 m groß und damit der größte aller Schüler. Da kam er mit seinen 1,82 m nicht mit.

„Ob wir mal mit Timo und Sven reden? Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, ob die beiden erfasst haben, was da auf sie zukommt. Und ob sie wissen, dass es wohl tatsächlich zwei Kampfmagier gibt, die sich füreinander interessieren. Die mussten ja die ganze Zeit damit rechnen, dass man sie dauerhaft trennt. Ich hab mich schon gewundert, dass sie bis jetzt durchgehalten haben. Wahrscheinlich hätten die eher aufgegeben, anstatt sich trennen zu lassen.“

„Und ich wundere mich schon die ganze Zeit, wo du überall deine Nase reinsteckst. Glaubst du nicht, dass dies eine Sache der Lehrer oder der Schulleitung ist?“

„Ist dir an der ganzen Organisation hier noch nichts aufgefallen?“

„Was meinst du?“

„Nun ja. Als wir hier angekommen sind, hat man uns eine Unterkunft gegeben und eine kurze Einweisung. Aber schon da wurden wir darauf hingewiesen, dass wir unsere Freizeit und sogar die Nächte selber frei gestalten können. Rein theoretisch hätte sich jeder hier durch sämtliche Betten rammeln können und es hätte niemanden interessiert.“

„Was ja auch einige gemacht haben.“

Kevin bedachte Lucas mit einem scharfen Blick.

„Egal. Aber auch bei anderen Gelegenheiten wurde uns die Initiative überlassen. Nachhilfe in Latein? Keine Angebote, mussten wir selber organisieren. Informationen über die anderen Magieschulen? Wir waren gezwungen, mit den anderen Magiern zu sprechen und sie kennenzulernen, um ihre Ausbildung zu verstehen. Und siehe da, dann konnten wir sogar untereinander helfen quer durch alle Schulen. Ich sage dir, das ist Absicht. Wir sollen das gesamte Spektrum der Magie kennenlernen, genauso wie deren Anwender. Wir sind im Prinzip eine große Familie.“

„Toll“, brummte Lucas, „sogar mit einem Familienarschloch.“

Kevins Gesicht verdüsterte sich.

„Den greif ich mir sowieso noch mal.“


Am nächsten Morgen war Kevin schon früh aufgestanden und als er aus der Dusche kam, sah er, dass Lucas immer noch im Bett lag. Mit einem Ruck zog er Lucas die Bettdecke weg und klatsche dem auf dem Bauch liegenden Lucas mit der flachen Hand auf das nackte Hinterteil.

„Aua, wofür war das denn?“

„Los, komm hoch. Wir haben noch was vor heute Morgen.“

Lucas stemmte sich auf seine Arme, sah an sich herunter und grinste.

„Ich bin hoch.“

Was ihm noch einen Klatscher auf das Hinterteil einbrachte.

„Bitte, Lucas, beeil dich. Ich möchte rechtzeitig zum Frühstück da sein.“

„Ja, ja“, brummelte Lucas und machte sich auf in Richtung Badezimmer, während Kevin ihm bewundernd, und nun doch schon halb bedauernd, hinterher sah.

Die Cafeteria war noch fast leer und Lucas grummelte mit seinem Tablett hinter Kevin her, als dieser sich zielstrebig durch die Reihen arbeitete.

„Da hätt‘ ich ja auch noch liegen bleiben können.“

„Nee, nee. Da hätten wir ihn verpasst.“

Kevin blieb vor einem Tisch stehen, an dem ein relativ kleiner, schmächtiger Junge in dem violetten Hemd der Elementarmagier saß.

„Guten Morgen, Chris. Dürfen wir?“

Erstaunt sah der Junge mit seinen grauen Augen hoch und er erfasste die Gestalt von Lucas, bei der er seinen Kopf sehr weit heben musste um ihn zu erkennen. Dann ruckte der Blick hinüber zu Kevin.

„Ach, ihr seid es. Ja, setzt euch ruhig hin. Ihr seid ganz schön früh dran heute Morgen.“

Lucas stocherte mit dem Löffel in seinem Müsli.

„Das war seine Idee. Er ist schon wieder unterwegs im Namen des Herrn.“

„Wie bitte?“

„Vergiss es.“

Kevin wusste nicht genau wie er anfangen sollte und musterte Christian unauffällig.

„Sag mal, hast du dich im Gesicht verbrannt? Deine Augenbrauen…“

„Ja, ja, ja. Ich weiß. Ich hab bei einem Feuerball nicht aufgepasst. Der Energieanteil war zu hoch.“

Lucas sah erstaunt hoch.

„Feuerball? Ist das nicht Kampfmagie?“

„Nein. Alles, was die klassischen vier Elemente des Altertums betrifft, ist Sache der Elementarmagie. Feuer, Wasser, Erde, Luft. Die Kämpfer benutzen nur die reine Energie in ihren Anwendungen.“

„Feuer, Wasser, Erde, Luft? Bisschen sehr umfangreich.“

„Wir konzentrieren uns nur auf ein paar wenige Anwendungen. Ist das Saft in deinem Glas?“

Irritiert wegen des Themenwechsels sah Lucas auf sein Tablett.

„Äh, ja, wieso?“

Chris streckte die rechte Hand aus und umfasste das Glas. Ein leichtes, grünes Glühen umspielte kurz seine Hand, dann zog er sie zurück.

Lucas starrte das Glas an, dann nahm er es vorsichtig hoch und drehte es um. Der Saft war gefroren und fiel jetzt als kleiner oranger Kegelstumpf aus dem Glas.

„Dauert ungefähr 5 Minuten, dann kannst du ihn wieder trinken“, grinste Chris Lucas an, „natürlich nur, wenn er vorher wieder im Glas ist.“

„Ja, nee, is klar.“

Mit spitzen Fingern verfrachtete Lucas den kleinen Safteisblock wieder zurück ins Glas.

Chris lehnte sich zurück und sah erst zu Lucas, dann zu Kevin.

„Aber deswegen seid ihr bestimmt nicht zu mir gekommen, oder?“

„Nein, ich dachte, du wüsstest, wann und wie man am besten mal mit Timo und Sven ins Gespräch kommt. Ich würde die beiden ungerne in der Klasse überfallen.“

„Timo und Sven? Hm, wenn die beiden nicht im Unterricht sind, sind sie entweder auf ihrer Bude oder in der Sporthalle.“

„In der Sporthalle? Ich bin eigentlich ziemlich oft da, hab die aber noch nie gesehen.“

Chris nickte Lucas zustimmend zu.

„Jep. Geh‘ mal in die kleine Gerätehalle. Sven hat früher wettkampfmäßig Geräteturnen gemacht und Timo macht jetzt Trampolin, soll irgendwie sein äußeres und inneres Gleichgewicht ausgleichen oder so ähnlich.“

„Okay, vielen Dank. Bis später Mal.“

Lucas und Kevin erhoben sich und brachten die Tabletts zur Rückgabe. Vorsichtig steckte Lucas einen Finger in das Saftglas.

„Tatsächlich, genauso wie vorher. Aber woher kennst du denn Chris so gut?“

Kevin lächelte etwas versonnen und dachte an die erste Woche hier zurück.

„Mit Chris bin ich auf dem Gang vor der Bibliothek zusammengerannt, fast so wie mit dir damals. Da hatte aber Chris den großen Stapel.“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2013

Der schmächtige Junge mit dem großen Bücherstapel war sichtlich überladen. Er konnte kaum über den Stapel hinwegsehen und versuchte andauernd das Abrutschen der Bücher zu verhindern. Kevin bog schwunghaft um die Ecke und konnte nicht mehr ausweichen.

„Vorsicht!“

Doch es war zu spät. Die Bücher verteilten sich auf dem Boden und der schmächtige Junge in dem violetten T-Shirt war fast den Tränen nahe.

„Hey, tut mir leid, ich hab dich echt nicht gesehen. Moment, ich helf‘ dir.“

Kurze Zeit später stand der Kleine wieder da, mit seinem Stapel beladen.

„So wird das nichts. So kommst du nie damit auf deine Bude. Gib mal her.“

Und ehe der Junge etwas sagen konnte, hatte ihm Kevin mehr als die Hälfte aller Bücher abgenommen.

„Du gehst vor, ich folge einfach.“

Wortlos schleppten die beiden die Bücher bis zum Gebäude 4, gingen durch den Gang und blieben vor Raum 409 stehen. Dann sahen sie sich an.

„Du kannst die Bücher bei mir mit drauflegen, wenn du an den Schlüssel musst.“

Aufseufzend gab der Junge die Bücher ab und suchte etwas hektisch nach seinem Schlüssel. Die Stube war genauso eingerichtet wie die von Kevin und er stellte den Bücherstapel vorsichtig auf dem Schreibtisch ab. Dann drehte er sich um und streckte die Hand aus.

„Hey, falls du dich nicht erinnerst, ich bin Kevin. Und du bist Christian, richtig?“

„Jep. Oder einfach Chris. Du hast ein gutes Gedächtnis“

„Nett, dich auch mal außerhalb des Unterrichts zu treffen, auch wenn es diesmal mit Arbeit verbunden war.“

Kevin grinste Chris an, während dieser rot anlief.

Etwas zögernd sah Chris zu ihm hoch.

„Du… du bist Kampfmagier?“

„Ja, unschwer zu erkennen. Und du bist Elementar.“

„Äh, ja. Hast du…, ich meine, kennst du, nein, einen Partner?

Oh, oh. Kevin ahnte in welche Richtung diese Frage ging. Um etwas Zeit zu schinden nahm er gedankenlos das oberste Buch vom Stapel und spielte etwas damit herum.

„Ja, Chris, ich möchte dich nicht enttäuschen, aber ich habe schon jemanden mit dem ich mich treffe.“

Chris senkte den Kopf und wurde noch roter im Gesicht.

„Aber du bist echt nett, ein wenig schüchtern, aber ich glaube, dass du hier auch noch den richtigen finden wirst.“

Aus einem Impuls heraus fasste Kevin mit zwei Fingern unter Chris‘ Kinn und hob den Kopf hoch, dann gab er ihm einen Kuss auf die Stirn.

Aufseufzend legte Chris seinen Kopf auf Kevins Schulter und Kevin strich ihm sanft über den Rücken.

In dieser Haltung fiel Kevins Blick auf das Buch das er vorhin unbewusst aufgenommen hatte. Er wusste zwar, dass es auch neben den Fachbüchern ganz normale Literatur in der Bibliothek gab, aber dies hier war schon etwas speziell. Das Buch der Jedi. Chris war anscheinend Star-Wars Fan.

Langsam und zögernd löste sich Chris von Kevin.

„Trotzdem vielen Dank für alles.“

„Sehr gerne, Kleiner.“


Ein paar Tage später war im Klassenraum der Kampfmagier gerade eine kleine Pause und alle mussten mehr oder weniger den lautstarken Wichtigtuereien von Christoph Plöger zuhören.

„…und dann der rothaarige Bann-Fred. Ich sage euch, der hat mich gleich dreimal hintereinander rangelassen…“

„Nun halt endlich die Fresse! Du schaffst ja nicht mal einmal richtig.“

Robert Lotze saß an seinem Tisch und las in einem Buch, das er für seinen Kommentar gesenkt hatte.

Christoph fuhr herum und fauchte zurück.

„Musst du gerade sagen. Hast ja noch nicht mal einen abgekriegt, du Freak.“

Robert hob kommentarlos das Buch und las demonstrativ weiter, während Christoph sich umdrehte und weitere Storys aus seinem ausdauernden Sexleben zum Besten gab.

Neugierig ging Kevin näher und versuchte den Titel des Buches, das Robert gerade las, zu entziffern.

„Aha, das Buch der Sith. Bist du auf dem Weg zur dunklen Seite?“

Robert nahm das Buch wieder herunter und sah Kevin an.

„Nee, eigentlich wollte ich erst das Buch der Jedi lesen, aber das hat sich schon jemand ausgeliehen.“

„Und ich weiß sogar, wer es hat.“

„Tatsächlich? Wer denn?“

Robert sah Kevin erwartungsvoll an.

„Einer von den Elementaren.“

„Was? Etwa der, der andauernd mit dem Heiler abhängt?“

„Nee, der andere.“

„Oh, der Schmale mit den wuscheligen Haaren. Danke für die Info.“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2014

„Tja, und so kommt es, das Chris jetzt… Da, sieh selbst.“

Robert Lotze kam in der schweren schwarzen Kampfmontur mit den auffälligen roten Streifen durch die Cafeteria geeilt, beugte sich kurz zu Chris herunter und gab ihm einen Kuss. Dann nahm er das Tablett des Elementars und trug es für ihn zur Rückgabe, während Chris mit roten Wangen hinter ihm herlief.

„Er macht das jeden Morgen. Deswegen ist Chris auch immer so früh hier, ein Bisschen ist ihm das immer noch peinlich.“

„Wo ich Robert gerade so sehe, habt ihr nicht Gefechtsausbildung heute Morgen?“

„Oh, Scheisse!“

Wie der Blitz war Kevin an Lucas vorbeigestürmt, der laut hinter ihm her lachte.

 

Samstagnachmittag und -abend waren im Prinzip Freizeit, doch die meisten Jungen blieben im Internat um zu lernen oder Sport zu treiben. Lucas und Kevin machten sich auf in die große Sporthalle um ein wenig Basketball zu spielen, doch als sie dort ankamen war die Halle leer und verlassen.

„Wo sind die denn alle hin?“

„Oh, ich weiß. Von uns wollten einige in die Stadt ins Kino. Da läuft doch jetzt der zweite Teil von dem Fantasyfilm mit den Zwergen und dem Drachen.“

„Ach so? Wenn das so ist, können wir ja mal kurz rüber in die Gerätehalle. Vielleicht sind Timo und Sven auch hier geblieben.“

In der Gerätehalle war es nicht so ruhig wie in der großen Halle. Die Geräusche eines benutzten Sportgerätes waren bis vor die Tür zu hören.

Als sie eingetreten waren schloss Lucas leise die Tür, dann sah er anerkennend hoch zu den Ringen.

Kevin wollte etwas sagen aber Lucas flüsterte ihm zu

„Psst. Lass ihn erst die Übung fertig machen.“

Sven machte gerade einen Handstand, dann ließ er sich nach vorne rollen, machte eine volle Drehung und blieb dann senkrecht stehen. Die Arme spreizten sich und ließ er sich sacken. Dann machte er zwei Rückwärtsrollen und aus der Drehung ließ er die Ringe los um sicher auf der Matte zu landen.

Kevin hatte die ganze Zeit hochgestarrt, bewunderte das Spiel der Muskeln auf dem nackten Oberkörper und die eleganten Bewegungen.

Lucas gab ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf.

„Du kannst jetzt aufhören mit sabbern. Er ist fertig.“

Kevin warf seinem Partner einen undefinierbaren Blick zu. Sven war bestimmt genauso muskulös wie Lucas, aber fast einen Kopf kleiner. Aus den Augenwinkeln bemerkte Kevin jetzt auch Timo, der die ganze Zeit auf einer der Matten gesessen hatte und langsam auf die beiden zukam.

„Hallo, was treibt euch denn hier her?“

„Die Neugier. Ich habe noch nie jemandem beim Geräteturnen gesehen, zumindest nicht in natura. Außerdem wollte ich gerne mit euch ein etwas heikles Thema besprechen.“

Der inzwischen näher gekommene Sven trocknete sich mit einem Handtuch ab, zog eine Trainingsjacke an und warf Timo einen kurzen Blick zu. Dann holte er tief Luft als ob er etwas sagen wollte, stieß die Luft aber langsam wieder aus und schüttelte mit dem Kopf.

„Ist wohl besser so. Kommt, wir setzen uns auf die Sprungmatte.“

Als alle auf die dicke Matte geklettert waren, setzte sich Sven in den Schneidersitz, Timo lag vor ihm, den Kopf in seinem Schoß.

Kevin zögerte etwas, aber dann gab er sich einen Ruck.

„Als wir letztes Jahr hier angekommen sind, habt ihr schon nicht sehr begeistert ausgesehen. Ihr habt anscheinend schon gewusst was auf euch zukommt. Trotzdem habt ihr ein halbes Jahr durchgehalten. Wenn es nicht zu persönlich ist, möchte ich gerne wissen, was euch antreibt hier zu bleiben.“

„Oh, das ist ganz einfach. Eine Tradition, ein Schwur, eine Liebeserklärung und jede Menge Hoffnung.“

Timo hatte seinen Kopf verdreht um Kevin anzusehen.

„Und was hat dich zu der Frage veranlasst. Wenn ich es richtig sehe, hast du doch einen passenden Partner.“

„Ja, hab ich. Aber mir ist etwas aufgefallen. Etwas Grundlegendes, nämlich, wie unsere Leitung oder wie man das nennt, mit den Schülern umgeht und ihr Verhalten steuert.“

„Unser Verhalten wird gesteuert?“

„Nicht direkt, aber überlegt mal. Man gibt uns eine Unterkunft und Verpflegung und abgesehen von dem Unterricht, den wir täglich abreißen müssen, sind wir frei in unseren Entscheidungen. Niemand macht uns außerhalb des Unterrichts irgendwelche Vorschriften. Ganz im Gegenteil, wir müssen uns selbst organisieren. Nachhilfeunterricht? Selber vermittelt. Informationen über andere Magieschulen? Fehlanzeige. Nehmt zum Beispiel die Bannmagier. Die sind Spezialisten in Magietheorie. Sagen tut einem das keiner. Und ich glaube, dass auch genauso der kleine Hinweis gedacht war, den wir über das Zusammenkommen von Paaren gleicher Magieschulen erhalten haben.“

„Sie haben euch davon erzählt?“

Kevin erzählte kurz von dem Ausflug in die Geschichte ihrer Organisation.

„Und wisst ihr was? Ich glaube sogar, dass sie extra so lange gewartet haben, bis die Möglichkeit besteht, dass es klappen könnte. Wann hat man euch erzählt, dass vielleicht eine Ausnahme gemacht werden könnte?“

„Noch bevor wir hier hergekommen sind.“

„Ha, dann haben sie so lange gewartet um zu sehen, ob nicht vielleicht zwei Kämpfer als Paar zusammenkommen.“

Timo fuhr senkrecht nach oben.

„Besteht denn die Möglichkeit? Gibt es zwei?“

„Da will ich mich nicht aus dem Fenster lehnen. Die beiden stecken immer und überall sehr dicht zusammen, haben aber noch nie zu erkennen gegeben, dass sie sich für jemanden interessieren. Vielleicht sind sie ja auch schon im Sumpf der hoffnungslosen Liebe stecken geblieben? Keine Ahnung.“

Jetzt meldete sich Sven das erste Mal zu Wort.

„Das sind nicht zufällig die beiden mit ihrer Macke mit den lateinischen Zitaten?“

„Äh, doch. Aber wie gesagt, die müssen erst mal selber mit sich klarkommen.“

Timo ruckte herum zu Sven und strahlte ihn an.

„Krieg ich Alex?“

Sven sah Timo verblüfft an, dann drohte er mit dem Finger.

„Schön ruhig bleiben. Du weißt, was du versprochen hast.“

Kevins Augenbrauen waren nach oben geruckt und Timo zwinkerte ihm zu.

„Keine Angst. Ich weiß, zu wem ich gehöre und das schon seit elf Jahren. So lange kennen wir uns nämlich schon.“

Sven und Timo lachten über die erstaunten Blicke der anderen, dann legte sich Timo neben Sven auf den Rücken und breitete die Arme weit aus.

„Ich glaube, es ist besser wir fangen von vorne an, damit ihr versteht worum es geht. Danach können wir vielleicht ein wenig Problembewältigung machen.“

Lübeck, Deutschland, Anno Domini 2013

Barbara Hansen klopfte zum wiederholten Mal an die Zimmertür ihres Sohnes. Von drinnen war kein Ton zu hören. Wortlos schüttelte sie den Kopf und ging langsam die Treppe hinunter. Seit drei Tagen hatte Sven sich auf seinem Zimmer eingeschlossen und war nur einmal herausgekommen, um kurz ins Bad zu schleichen und sich darauf sofort wieder in sein Zimmer einzuschließen.

Seine Mutter war ratlos. Sie wusste zwar ganz genau, was ihren Sohn bedrückte, doch sie hatte nicht die leiseste Idee für eine Lösung. Geistesabwesend räumte sie in der Küche herum und sah auf den Tisch mit dem vergeblich vorbereiteten Frühstück. Erschreckt zuckte sie zusammen als das Telefon klingelte.

„Hansen.“

„Guten Morgen! Hier ist Timo. Ist der Herr heute denn mal zu sprechen? Dr. Wagner braucht auch endlich eine Entschuldigung für den Unterricht.“

Frau Hansen schüttelte den Kopf, bis ihr einfiel, dass ihr Gesprächspartner sie ja nicht sehen konnte.

„Tut mir leid, Timo. Er hat sich immer noch eingeschlossen.“

„Ich möchte es trotzdem mal versuchen. Darf ich kurz vorbeikommen?“

„Meinetwegen. Ich glaube zwar nicht, dass es viel nutzen wird, aber du kannst gerne vorbeikommen. Ich mach dann auch einen Zettel fertig.“

„Danke, Frau Hansen. Bis gleich.“ Und schon war die Verbindung unterbrochen.

Barbara Hansen konnte sich noch gut an Timo erinnern. Sven und er waren seit der Grundschule zusammen gewesen und gingen auch jetzt noch in eine Klasse. Der dunkelhaarige Timo mit seinen italienischen Großeltern war schon immer etwas aufgedreht gewesen während der hellblonde Sven immer ruhig und bedächtig war.

Im letzten Jahr war die Freundschaft der beiden aber merklich abgekühlt. Sven verbrachte seine Freizeit deutlich mehr mit dem Sohn der neuen Nachbarn. Seine gesamten Aktivitäten waren auf Robby ausgerichtet gewesen und auch während der Wochenenden übernachtete Sven schon mal bei Robby.

Schon nach kurzer Zeit hatte Frau Hansen eine leise Ahnung, was die beiden in ihrer Freizeit so trieben und als sie Sven direkt darauf ansprach gab er auch sofort zu, dass er schwul sei und Robby sein Freund. Für eine moderne Frau, wie Barbara Hansen sich sah, war die Nachricht zwar schwerwiegend, aber kein Weltuntergang - für ihre Nachbarn schon.

Wie sie aus einem vorsichtigen Gespräch heraushörte, wurden wohl fundamentale christliche Werte dort sehr hoch gehalten. Das war auch der Grund, warum Sven sie um absolute Geheimhaltung gebeten hatte. Außer seiner Mutter hatte er keiner Menschenseele von seiner Beziehung zu Robby erzählt.

Und so kam es, wie es kommen musste. Robbys Vater erwischte die beiden in flagranti und nahm sich ein Beispiel am Herrn bei der Vertreibung aus dem Paradies.

Sven wurde des Hauses verwiesen und Robby bekam Hausarrest. Eine Woche später stand der Möbelwagen vor der Tür. Seit diesem Moment hatte Sven sich in seinem Zimmer eingeschlossen und ward nicht mehr gesehen.

Es klingelte an der Tür und Frau Hansen ging nach vorne um zu öffnen.

„Morgen, ich bin’s!“

Timo strahlte sie an. Nie hatte sie diesen Jungen ohne ein freundliches Lächeln gesehen.

„Komm rein. Du kannst ruhig nach oben gehen und dein Glück versuchen. Er hat sich wieder eingeschlossen. Du kennst ja den Weg.“

Timo nickte und spurtete die Treppe hinauf. Oben blieb er vor Svens Tür stehen und nach kurzem Zögern klopfte er leise. Als keine Antwort ertönte klopfte er noch einmal.

„Sven, mach auf. Ich bin’s, Timo!“

„Lasst mich doch alle in Ruhe“, kam die leise Antwort von drinnen.

„Nein, lass ich nicht. Ich kann genauso stur sein wie du. Ich setz mich jetzt hier vor deine Tür und geh erst weg wenn du aufgemacht hast.“

Von drinnen kam nichts als Schweigen, aber nach einigen Minuten hörte Timo wie sich der Schlüssel drehte und die Tür sich öffnete.

Ohne sich äußerlich etwas anmerken zu lassen, musterte Timo seinen Freund. Die Haut war blass, die Augen rot und verweint, der blonde Haarschopf zerwühlt. Mitleid erfasste Timo und er schob Sven vorsichtig zurück, trat durch die Tür und schloss sie von innen wieder ab. Sven sah ihm mit ausdruckslosem Gesicht zu, dann schlurfte er wieder hinüber zu seinem Bett.

Timo beobachtete ihn genau. Wie hatte er sich in dieser kurzen Zeit verändert. Aus dem sportlichen, dynamischen Jungen war ein kraftloses Nichts geworden. Der muskulöse Körper mit dem kleinen Sixpack war deutlich verfallen, nur bekleidet mit einer offensichtlich nicht mehr ganz so frischen Unterhose.

Als er wieder unter seine Decke gekrochen war, sah Sven mit roten Augen hinüber zu Timo, der es sich inzwischen in dem einzigen Sessel im Raum gemütlich gemacht hatte.

„Was willst du?“

„Ich will wissen, was mit dir los ist.“

„Das willst du gar nicht wissen. Außerdem würdest du es sowieso nicht verstehen.“

„So, so, würde ich also nicht. Ich weiß nicht so recht, aber wir kennen uns immerhin schon wie lange? Zehn Jahre? Ich denke schon, dass ich da so einiges verstehen würde.“

„Nein. Das nicht.“ Svens Stimme wurde leiser und er schien nachzudenken. „Ich will nicht darüber reden.“

„Aha, der Herr will nicht darüber reden. Worüber willst du nicht reden? Darüber dass wir uns seit zehn Jahren kennen und ich dich besser einschätzen kann als einen Bruder, wenn ich denn einen hätte? Darüber, dass du innerhalb eines Jahres alle freundschaftlichen Brücken hinter dir abgebrochen hast? Nicht nur mit mir, nein, alle deine Freunde, deine Schulkameraden, die Jungs aus dem Sportverein, alle haben dich in den letzten elf Monaten hauptsächlich nur von weitem gesehen. Oder möchtest du auch nicht darüber sprechen, dass du in diesem einen Jahr nur noch Augen für den Typen von nebenan hattest?“

Timos Stimme war immer lauter geworden und Sven starrte ihn jetzt mit großen Augen an. Er wollte etwas sagen, aber Timo ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Hast du eigentlich ernsthaft geglaubt, es würde niemand merken? Am Anfang war ich, ehrlich gesagt, enttäuscht von dir. Dann war ich wütend und zum Schluss nur traurig. Hast du niemand anderem als dir selbst vertraut, nicht einmal deinem besten Freund?“

In Svens Gesicht war das blasse Weiß einem kräftigen Rot gewichen.

„Wir haben es alle früher oder später gemerkt. Die ganze Klasse weiß es und alle haben die Klappe gehalten. Na gut, ich habe ein Bisschen nachgeholfen, aber niemand denkt deshalb schlecht von dir.“

Sven spürte wie ihm übel wurde. Seine ganze Fassade, an die er so fest geglaubt hatte, brach plötzlich in nur einem kurzen Moment vor ihm zusammen. In der Schule hatte er sich immer mehr zurückgezogen, um sich nicht zu verplappern. Im Sportverein war er eine ganze Zeit schon nicht mehr gewesen, um mehr Zeit für Robby zu haben. Und Timo? Er konnte einfach nicht mit Timo zusammen sein, ohne den fast unheimlichen Zwang zu haben, ihm alles zu erzählen. So lange er ihn schon kannte, er wusste trotzdem nicht, wie Timo darauf reagieren würde. Langsam bemerkte Sven, dass er möglicherweise einen großen Fehler, nein mehrere Fehler, begangen hatte.

„Als Robbys Eltern plötzlich weggezogen sind, war mein erster Gedanke so etwas wie Schadenfreude. Okay, es ist sehr unfair, aber ob du es glaubst oder nicht, fast jeder von uns hat das schon einmal mitgemacht, wenn seine große Liebe sich verabschiedet. Nur, dass du dich hier so einmauerst, damit hab ich nicht gerechnet. Sind wir nicht mehr für dich da? Gibt es deine Freunde nicht mehr?“

Als Sven diesmal anfing zu Weinen waren es keine Tränen der Verzweiflung sondern mehr der Erleichterung. Er hätte wirklich zumindest mit Timo sprechen können, aber seine Angst vor der Zurückweisung durch seinen besten Freund oder sogar einem Skandal in der Schule war viel zu groß gewesen.

Jetzt kam Timo näher und setzte sich auf den Rand des Bettes.

„Pass auf, ich hab’ noch was zu erledigen und komme heute Nachmittag wieder. Bis dahin“, Timo schnupperte laut und vernehmlich, „machst du dich wieder frisch, hast was gegessen und wir unternehmen irgendetwas, was du willst, okay?“

Damit beugte er sich herab und gab dem überraschten Sven einen Kuss auf die Stirn.

„Ciao, Bello!“

Sven lachte kurz auf, dann sah er sehr nachdenklich hinter Timo her, der schwunghaft das Zimmer verließ. Was sollte denn das jetzt?

Nach kurzem Zögern erhob sich Sven und ging in Richtung Badezimmer. Als er an dem großen Spiegel seines Kleiderschrankes vorbeikam, drehte er den Kopf in eine andere Richtung, doch dann blieb er stehen und sah sich an. Er sah tatsächlich so aus, wie er sich die letzten drei Tage gefühlt hatte. Als sein Blick auf die ehemals saubere Unterhose fiel, streifte er sie kurz entschlossen ab. Der Blick auf seinen nackten Körper förderte ganz andere Erinnerungen nach oben und er spürte wieder den Schmerz. Er seufzte. Einfach würde es nicht werden.

Eine gute halbe Stunde unter der Dusche wirkten Wunder. Seine Mutter hatte das Geräusch des Wassers gehört und sich gefragt, was Timo wohl angestellt haben mochte, dass Sven endlich aus seinem Schneckenhaus herauskam.

Kurze Zeit später stand Sven in der Küche, bekleidet mit schwarzer Jeans, weißem T-Shirt und seinen Badelatschen, die er im Haus immer trug. Er sah seine Mutter sekundenlang an, dann räusperte er sich.

„Hunger!“

Beide mussten lachen, dann fielen sie sich in die Arme.


Timo war nicht so zuversichtlich, wie er Sven gegenüber aufgetreten war. Er hatte seine Zweifel gehabt, ob er Sven überreden könne, aus seinem selbstgemachten Elend herauszukommen. Es war ihm leichter erschienen als er gedacht hatte.

Nun ja, sie kannten sich auch wirklich schon zwei Drittel ihres Lebens. Timo musste grinsen als er an all die kleinen Dinge dachte, die sie schon miteinander erlebt hatten. Mit sechs war Sven aus dem Apfelbaum gefallen und hatte sich den linken Arm gebrochen. Mit neun hatten sie die Schule geschwänzt und waren auf dem Rummelplatz gewesen. Mit zwölf hatte Timo Sven überredet, dieses rothaarige Mädchen aus der Nachbarschaft zu küssen. Der Versuch war gescheitert und es hatte einen riesigen Aufstand gegeben. Und im vorletzten Jahr, als sie beide zelten waren, hatte Sven ihn überredet, mit ihm zusammen in dem großen Schlafsack zu schlafen, wobei es nicht beim Schlafen geblieben war. Noch heute erinnerte sich Timo an die zaghaften tastenden Versuche.

Egal, so oder so, er würde wahrscheinlich noch ziemlich oft mit Sven reden müssen, um ihn aus seinem tiefen Loch hervorzuholen. Und er würde aufpassen müssen, was er sagte. Er wollte nicht, dass Sven glaubte, er würde einen auf Mitleidstour machen.

Zuvor musste er allerdings erst einmal seine anderen Aufgaben erledigen. Schnell schwang er sich auf seine Vespa, setzte den Helm auf und brauste in Richtung des CATANIA. Bei dem Restaurant angekommen, stellte er seinen Roller auf dem Hof ab und ging durch den Hintereingang in die Küche. Dort begrüßte er kurz seine Mutter und seine Großmutter, die mit den ersten Vorbereitungen für den Tag begonnen hatten.

„Timo, Caro mio! Es wird Zeit, dass du erscheinst.“

„Aber Nonna, ich habe vorher gesagt, dass ich erst noch zu Sven muss.“

Timo gab seiner Großmutter einen Kuss auf die Wange während diese weiter Gemüse schnippelte.

Auf der anderen Seite des Arbeitstisches war Timos Mutter mit dem Marinieren von Fleisch beschäftigt. Flüchtig sah sie herüber.

„Und hast du Erfolg gehabt? Er ist so ein netter Junge, ich verstehe nicht, wie er so reagieren konnte.“

Etwas verärgert blickte sie hinüber zu ihrer Schwiegermutter als diese etwas von „Finocchio“, murmelte.

Die Geschichte mit Sven hatte natürlich die Runde gemacht und auch Timos Eltern und seine Großmutter hatten davon erfahren. Im Gegensatz zu sonstigen gesellschaftlichen Ereignissen, Skandalen und Klatsch, hatte sich die Großmutter erstaunlicherweise mit Kommentaren und Meinungen bis auf ein paar kurze Worte äußerst zurückgehalten.

Kommentarlos band Timo sich eine Schürze um und gesellte sich zu seiner Großmutter, um mit ihr gemeinsam das Gemüse zu verarbeiten. Er musste dann doch leicht grinsen, als er merkte dass seine Großmutter ihm heimlich zuzwinkerte.

Catania, Sizilien, Anno Domini 2011

Vor zwei Jahren waren sie alle zusammen im Urlaub auf Sizilien gewesen, in dem kleinen Städtchen, dessen Name auch das Restaurant trug. Timos Eltern waren ein paar Verwandte besuchen und er war alleine mit seiner Großmutter im Haus. Er hatte es sich auf der Terrasse gemütlich gemacht und lag zum Sonnen, nur mit einer knappen Badehose bekleidet, auf einer Liege. An den Geräuschen der Terrassentür hörte er, wie seine Großmutter herauskam. Überrascht bemerkte er, dass sie sich einen der Korbsessel genommen und neben ihn gesetzt hatte. Normalerweise hielt sie sich nur ungern in der Sonne auf.

„Timo, du bist nun inzwischen erwachsen und hast dich zu einem hübschen jungen Mann entwickelt.“

Timos Italienisch war genauso gut wie sein Deutsch, deshalb konnte er der kurzen Ansprache problemlos folgen. Er wusste nicht genau, was jetzt kommen würde, aber hier fast nackt vor seiner Großmutter zu liegen, war ihm plötzlich sehr peinlich. Schnell schnappte er das große Badetuch und setzte sich auf.

Seine Großmutter sah ihn an und lachte.

„Glaubst du nicht, eine alte Frau wie ich, hat schon so einiges gesehen?“

Jetzt wurde Timo erst richtig rot.

„Es gibt da aber noch etwas, was ich mit dir besprechen wollte. Etwas, was unsere Familie betrifft.“

Timo spitzte die Ohren. Ein Familiengeheimnis?

„Zieh dich bitte an, wir treffen uns gleich in der Bibliothek.“

Ohne weiter nachzufragen sprang Timo auf und lief auf sein Zimmer. Nur wenige Minuten später stand er in der kleinen Bibliothek der Villa, wo seine Großmutter ihn erwartete.

„Warum sind wir hier?“

„Ich möchte dir gerne etwas zeigen. Sieh her.“

Die Großmutter hatte eines der dicken Bücher aus dem Regal gezogen und es aufgeschlagen. Etwa in der Mitte hatte sie eine Doppelseite aufgefaltet und Timo konnte einen kunstvoll gezeichneten Baum erkennen. Ein Stammbaum! Unwillkürlich hielt er den Atem an, als sein Blick auf eine der Jahreszahlen am oberen Rand fiel. 1142!

„Lies einfach nur die Namen und Daten.“

Es war der Stammbaum der Familie Mavelli. Er reichte tatsächlich sehr weit zurück, fast bis in die Zeit, als die Normannen Sizilien eroberten.

Die Äste und Zweige waren einzelne Nebenfamilien, während auf den Blättern die Namen weiterer Personen vermerkt waren.

Langsam fuhr Timo über die Namen und die Großmutter zeigte auf mehrere unterschiedlich verteilte Blätter. Im Gegensatz zu vielen anderen standen hier zwei Namen auf einem Blatt.

Alessandro Mavelli 1417 - 1440

Carlo Bianchi 1416 - 1440

Luigi Mavelli 1631 - 1659

Andrea Romano 1631 - 1659

Matteo Mavelli 1789 - 1807

Luca Fontana 1788 - 1807

Fabrice Mavelli 1890 - 1915

Luigi De Luca 1891 - 1947

Mario Mavelli 1940 - 1962

Vincente Rossi 1941 - 1962

Timos Augen wurden immer größer als er die Eintragungen las.

„Es sind ja immer zwei Männer zusammen auf einem Blatt. Und sie sind fast immer gleichzeitig gestorben. Keiner von ihnen ist, bis auf hmmm, ich glaube eine Ausnahme, älter als etwa 30 geworden.“

„Richtig. Du hast eine gute Auffassungsgabe. Aber ein Detail hast du vergessen.“

„Oh, ich dachte das wäre offensichtlich. Es ist immer ein Mavelli dabei.“

„Sehr gut. Aber nun etwas anderes. Hast du inzwischen vielleicht eine kleine Freundin, von der wir nichts wissen?“

Timo wurde wieder rot und das lag nicht an seinem nachmittäglichen Sonnenbad. Er wusste zwar nicht, wie seine Großmutter ausgerechnet vom Stammbaum auf eine Freundin kam, aber er musste sich jetzt ganz schnell etwas einfallen lassen.

„Äh, im Moment nicht. Ich habe in der Schule viel zu tun und dann auch im Restaurant. Eigentlich habe ich gar keine Zeit für jemanden.“

„Ja, ich habe es bemerkt, dass du viel beschäftigt bist. So viel, dass du montags mit Sven zusammen zum Sport gehst, dienstags kommt er zu den Hausaufgaben und zur Nachhilfe zu dir, mittwochs geht ihr beide ins Schwimmbad und donnerstags wieder zum Sportverein. Freitags bist du bei ihm zur Nachhilfe und Samstag seid ihr wer weiß wo. Ich bin erstaunt, dass er nicht katholisch geworden ist, um mit uns sonntags zur Messe zu gehen.“

Timos Gesicht brannte jetzt heißer als zuvor.

„Großmutter! Das ist nicht so wie… so wie…“

So wie du denkst, wollte er sagen. Aber was dachte sie denn? Sie hatte nur Tatsachen aufgezählt und nicht eine davon kommentiert.

Die Großmutter lachte und sah Timo an.

„Was glaubst du denn, was ich denke? Dass ihr als Freunde eine unbeschwerte Zeit genießt oder dass ihr euch vielleicht näher steht, als du dir selber eingestehen willst.“

Timo war jetzt fast den Tränen nahe.

„Heul‘ nicht rum, wir müssen noch jemanden besuchen.“

Ohne Widerstand ließ Timo sich aus dem Haus und durch die Gässchen der Altstadt führen, bis sie zu einer kleinen Kirche, fast versteckt in einer verwinkelten Ecke, kamen. Die beiden traten ein, nahmen von dem Weihwasser und bekreuzigten sich. Vor dem Hochaltar ein kurzer Kniefall, dann weiter in die Sakristei. Hier saß im Gebet versunken ein in einen schwarzen Habit gewandeter Mönch. Timo kam es vor, als ob er noch nie einen so alten Mann gesehen hatte. Die Gestalt war gebeugt, das Gesicht faltig und er trug einen schneeweißen Bart, der ihm tatsächlich bis zum Gürtel hing.

„Dies ist Padre Eusebio. Er wir dir ein paar Fragen stellen. Antworte einfach, so gut du kannst.“

Timo sah seine Großmutter merkwürdig an, lenkte dann aber seine Aufmerksamkeit auf den Pater.

„Du heißt Timo, richtig? Wie alt bist du?“

„Fünfzehn, Padre.“

„So, so, fünfzehn.“

Er schüttelte leicht den Kopf und murmelte wie zu sich selber

„Sie werden immer jünger heutzutage, ja, ja.“

„Was weißt du vom Geheimnis des Lebens?“

„Bitte? Ich weiß was ein Lebewesen ist, aber das wollt Ihr wahrscheinlich nicht wissen. Das Leben? Das Geheimnis ist wahrscheinlich seine Seele. Alles das, was ein Lebewesen ausmacht.“

Der alte Pater vor ihm lächelte und Timo wusste, dass er die richtige Antwort gegeben hatte.

„Ja, die unsterbliche Seele. Doch die Seele kann nur in einem Körper existieren der auch funktioniert. Bei der Empfängnis wird die Seele an der Körper gebunden und sie sollte dort auch so lange verweilen wie nur irgend möglich.“

Timo wurde das jetzt eine Idee zu esoterisch und er hob die Augenbrauen.

„Hast du dich einmal mit einem menschlichen Körper beschäftigt, außer deinem eigenen natürlich.“

Timo glaubte, ein klitzekleines bisschen Ironie herauszuhören, lief aber trotzdem schon wieder rot an.

„Äh, nein.“

„Dann tu mir bitte einen Gefallen. Zieh dein Hemd aus und lege dich hier auf die Ruhebank.“

Timo zögerte deutlich, aber als seine Großmutter nichts sagte, zog er das Hemd aus und legte sich mit nacktem Oberkörper auf eine in der Ecke stehende Pritsche.

Der alte Pater nahm jetzt Timos rechte Hand und legte sie ihm auf den Brustkorb, genau über dem Herzen. Ganz leicht verspürte Timo seinen eigenen Herzschlag.

"Was spürst du?"

"Das schlagende Herz."

Langsam hob der Pater Timos Hand etwa drei Zentimeter an.

"Jetzt schließe die Augen und sag mir, was du spürst. Lass dir ruhig Zeit dabei."

Timo schloss die Augen und konzentrierte sich. Zuerst spürte er gar nichts, dann schien es, als ob seine Hand im Rhythmus des Herzens pulsierte, so wie er es vorhin gespürt hatte. Vom Herzen schien eine Kraft auszugehen, die durch den Körper lief und sich dort verteilte. Leise murmelte Timo vor sich hin, was er spürte. Automatisch fuhr er mit der Hand hinter dieser Kraft her, aber der Pater hob seine Hand höher. Nachdenklich sah er Timo an, dann trat er an seinen Tisch und nahm ein kleines Obstmesser.

Mit einem schnellen Schritt trat der Pater wieder näher, nahm Timos Hand und machte mit dem Messer einen kleinen Schnitt in den Zeigefinger.

„Aua! Was soll das denn?“

Der Schnitt blutete etwas und Timo presste automatisch seinen Daumen darauf.

„Versuch den Schnitt so zu sehen wie zuvor deinen Herzschlag.“

Timo war etwas stinkig, aber er versuchte tatsächlich, seinen Finger etwas distanziert zu betrachten. Zuerst spürte er ein leises Pochen, dann ein Rauschen.

Das Blut, das ihn verließ. Die zerstörten Blutgefäße, nicht mehr im Einklang, zerrissenes Gewebe, getrennt von seinem Ursprung. Nervenbahnen, tot und nutzlos. Violettes Leuchten, das die Blutgefäße wieder verband, die Zellen wieder in ihren Verbund zurückholte und den Nervenbahnen neue Energie bescherte.

Langsam klärte sich Timos Blick wieder etwas und er nahm den Daumen von der Wunde. Sekundenlang starrte er auf die Stelle wo noch kurz zuvor Blut ausgetreten war und jetzt die glatte Haut keinen Hinweis mehr gab auf irgendeine Beschädigung. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und Timo sackte zurück auf die Liege.

So bekam er auch nicht mit, das seine Großmutter langsam näher trat und sich mit dem Pater zusammen bekreuzigte.

Erst zwei Tage später, als Timo wieder einmal mit seiner Großmutter alleine zu Hause war, traute er sich, sie anzusprechen.

„Großmutter, wer oder was bin ich?“

„Timo, mein kleiner Liebling. Du bist einfach nur gesegnet, Dinge zu tun, die andere nicht können. In dir hat sich einmal mehr die große Aufgabe der Mavelli manifestiert. Du wirst uns wohl in einigen Jahren verlassen, um deiner eigenen Bestimmung zu folgen. Schade eigentlich, ich hatte mir immer noch Urenkel gewünscht.“

„Aber Großmutter, du kannst doch nicht wissen ob ich vielleicht…“, seine Stimme versiegte und plötzlich fielen alle Puzzlesteine auf den richtigen Platz.

„Großmutter, diese Namen auf den Blättern des Stammbaumes. Es waren, äh…“

„Liebespaare, ja. Unter anderem waren sie das oder auch hauptsächlich, je nachdem, wie man das sieht.“

„Und sie waren alle gesegnet? Alle Mavelli, die dort so verzeichnet sind?“

„Ja, sie und ihre Partner.“

„Aber waren sie alle so wie…ich?“

„Du meinst, ein Heiler? Ja, fast alle. Bis auf eine Ausnahme.“

„Normalerweise werden die Begabungen nicht vererbt, aber der Heiler ist eine Ausnahme. Er ist in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Er kann kein Leben nehmen, nur erhalten. Er ist erheblich seltener als alle anderen zusammen und er ist am gefährdetsten. Du hast die Daten gelesen.“

„Gefährdet? Ich habe gelesen, dass sie jung und fast immer zusammen gestorben sind. Haben sie gekämpft?“

„Oh, ja, Das haben sie. Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, eine von Blut und Tränen, von Liebe und Leid. Und sei gewiss, sie hat kein glückliches Ende.“

Und so erfuhr Timo von der Bruderschaft die Michel de Côntebrais nach seiner Rückkehr aus Jerusalem gegründet hatte.

Schweigend saß er neben seiner Großmutter als diese schon lange geendet hatte.

„Woher weißt du das alles, Großmutter?“

„Du hast das letzte Doppelblatt gelesen?“

„Ja, Mario Mavelli und Vincente Rossi.“

„Dann hast du auch die Daten gelesen. Mario war der jüngere Bruder deines Großvaters Manfredo. Wir haben damals noch in einem kleinen Dorf näher beim Ätna gewohnt. Dein Großvater und ich hatten gerade geheiratet, da kam Mario plötzlich mit Vincente an. Manfredo mochte ihn nicht und hat Mario nach einem Streit aus dem Haus geworfen. Mein Schwiegervater hatte den beiden nie etwas erzählt, er wollte das Familiengeheimnis mit in sein Grab nehmen.“

„Aber warum denn das?“

„Er war sehr gläubig. Er empfand eine solche Beziehung als Sünde, egal warum. Und Manfredo folgte immer den Ansichten seines Vaters.“

Aufseufzend rang die Großmutter die Hände.

„Doch Manfredos und Marios Großvater, der alte Matteo, hatte Mario davon erzählt, denn sein älterer Bruder Fabrice steht ebenfalls verzeichnet. Doch wie sollte es weitergehen? Mario und Vincente erzählten mir die ganze Geschichte, denn es würden ja meine Kinder sein, die die Begabung vielleicht weitervererben würden. Ich habe ihnen nicht geglaubt, bis eines Tages die Nachricht von ihrem Tod kam. Ein Verkehrsunfall, wie es hieß. Doch ich wußte auf einmal, ohne jeden Beweis, dass alles, was sie mir erzählt hatten, die Wahrheit war. Da bin ich zu einer Adresse, einem Pater gegangen, der mir alles bestätigt hat und mich gebeten hat, zu ihm zu kommen wenn es soweit war. Entweder einem Mavelli die Geschichte zu erzählen oder ihn zur Prüfung zu bringen.“

„Aber was passiert jetzt? Was wird mit mir passieren?“

„Du bist noch zu jung, um mit einer Ausbildung zu beginnen. In etwa zwei Jahren könntest du zu einem der Seminare in Deutschland oder Italien gehen. Das ist der Grund warum du noch etwas machen sollst, worum ich dich inständig bitte.“

„Was denn?“

„Komm mit mir.“

In der Diele stand in einer Nische eine Statue der Hl. Jungfrau Maria. Timos Großmutter nahm eine Bibel von der Garderobe und hielt sie Timo hin.

„Schwöre mir hier und jetzt, dass du niemals, aber auch niemals, deine Gabe anwenden wirst, so lange du noch nicht in einer Ausbildung bist. Du wirst bei Krankheiten zum Arzt gehen und ganz normal die Schmerzen ertragen, die auch jeder deiner Mitmenschen erträgt. Du wirst niemals, niemals diese Gabe an jemandem vorher anwenden. Schwöre es mir.“

Timo schluckte schwer und hob langsam die Hand. Eine solche Gabe zu haben und nicht anwenden zu dürfen… doch viel schlimmer war es noch, sollte jemals etwas bekannt werden.

Entschlossen legte Timo die Hand auf die Bibel.

„Ich schwöre.“

Lübeck, Deutschland, Anno Domini 2013

Timo arbeitete bis zum Mittag in der Küche, nahm sich dort etwas zu essen und schwang sich dann wieder auf seine Vespa. Er dachte manchmal an die Episode vor zwei Jahren auf Sizilien zurück, aber er hatte nie wieder mit seiner Großmutter darüber gesprochen.

Nur einmal hatte sie Timo angesprochen, ob er nicht vielleicht seinen Eltern etwas sagen wollte, in Bezug auf seine Beziehung zu Jungs. Doch Timo wollte erst mit Sven darüber sprechen, aber dann kam ihm Robby dazwischen. Jetzt war natürlich alles noch komplizierter.

Als Timo bei Sven eintraf, stand dieser bereits vor der Haustür und wartete. Misstrauisch beäugte er den knallroten Roller, der direkt vor dem Gartentor hielt. Erst als Timo seinen Helm abnahm, erkannte er ihn.

„Hey, Mann. Seit wann hast du den denn?“

„Seit ein paar Wochen. Haben mir meine Eltern zum Geburtstag geschenkt.“

Schlagartig wurde Sven klar, dass er Timos Geburtstag vergessen hatte.

„Was hältst du von Eis essen?“

Timo verzog säuerlich das Gesicht und Sven lachte.

„Immer noch das gleiche Problem?“

Die Eisdiele war ebenfalls fest in italienischer Hand, doch Mama Tarantino suchte dringend nach einem ‚passenden‘ Verehrer für ihre ‚preciosa‘ Patrizia.

Timo nickte ergeben.

„Dann lass uns an den Strand fahren. Wie schnell ist denn dein Ferrari?“

„Ha, der läuft bis 90. Bei Rückenwind und den Berg runter.“

„Okay, dann sind die paar Kilometer ja kein Problem. Was ist mit Helm?“

Timo ging zu seinem Roller und klappte die Sitzbank hoch. Daraus zauberte er einen Helm in gleichem Rot wie die Fahrzeuglackierung.

„Tataa, Überraschung. Das ist deiner. Ich hoffe wir werden den jetzt öfter brauchen.“

„Versprochen.“


Zum Baden war das Wasser noch zu kalt, aber Timo und Sven hatten die Schuhe und Strümpfe ausgezogen und liefen etliche Kilometer am Strand entlang in ein intensives Gespräch vertieft.

Es war noch hell, als sie wieder zurückfuhren, doch die Dämmerung hatte sie kurz vor ihrem Ziel eingeholt. Plötzlich klopfte Sven Timo auf die Schulter.

„Halt mal an“, brüllte er, „hier ist irgendwas.“

Timo sah sich um, konnte aber nichts entdecken. Sven beugte sich vor wie ein Jagdhund bei der Witterung.

„Da lang, nächste rechts.“

Die Straße war eine Sackgasse und ganz am Ende konnte man jetzt gegen den dunklen Himmel einen leichten rötlichen Schein erkennen.

„Da brennt’s, gib Gas!“

Timo gab Vollgas und nach kurzem Sprint blieb der Roller schlitternd vor einem Einfamilienhaus stehen. Das Feuer war anscheinend unten ausgebrochen, denn Rauch quoll aus mehreren Fenstern.

Einige Flammen schlugen schon hoch bis zum Dachboden und kurze Zeit später war das ganze Haus in dichten Rauch gehüllt. Sven fummelte hektisch nach seinem Handy und Timo lief an der Hausfront auf und ab und starrte immer wieder nach oben. Er war sich nicht sicher, aber irgendwo her wusste er, dass sich noch jemand im Haus befand.

Mit lautem Krachen zerbarst eine Fensterscheibe im Dachgeschoss und kurz darauf konnte Timo eine leise Stimme hören, die um Hilfe rief. Hektisch sprintete er zu Sven zurück.

„Schnell, da oben ist noch jemand drin!“

„Ja und? Was sollen wir denn machen? Wir müssen auf die Feuerwehr warten.“

„Spinnst du? Bis die hier sind, ist das ganze Haus schon lange abgefackelt!“

Und schon war er unterwegs zur Hauseingangstür. Wie bei vielen Einfamilienhäusern üblich, war es eine geteilte Tür, oben und unten mit einer Glasscheibe mit einem etwas geschmacklosen Ornament. Die Tür war geschlossen, aber es war nicht erkennbar, ob sie abgeschlossen war oder nicht. Timo rüttelte an der Tür, doch nichts rührte sich.

„Lass mich mal.“

Ohne erkennbaren Ansatz trat Sven einmal kraftvoll gegen die untere Scheibe der Tür, die sofort zersprang. Vorsichtig langte Sven durch das Loch und angelte nach dem Türdrücker. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf.

„Bingo!“

Jetzt standen die Jungen in einem kleinen Vorflur. Durch den Spalt der Wohnungstür vor ihnen drang heller Feuerschein.

„Wenn wir die aufmachen sind wir gegrillt.“

„Aber wir müssen da durch!“

Sven schüttelte ratlos den Kopf. Vorsichtig tastete er nach der Türklinke und zuckte dann zurück. Nach kurzem Nachdenken wickelte er sein Taschentuch um die rechte Hand.

„Leg dich flach auf den Boden!“

Timo legte sich auf den Boden und sah nach oben, wo Sven die Türklinke bediente. Dann warf sich auch Sven auf den Boden und stieß mit beiden Händen die Tür auf. Eine Feuerzunge zuckte heraus und schlug über den beiden Jungen zusammen. Eine knappe Sekunde später hatten die Flammen sich wieder zurückgezogen und Sven und Timo kontrollierten gegenseitig ihre Kleidung. Durch den Rauch fingen beide an zu husten.

„Da lang!“

Eine Treppe aus Kunststein führte nach oben und beide Jungen stürmten los. Oben auf dem Treppenabsatz war es noch verqualmter als unten, aber es waren keine offenen Flammen zu bemerken. Die Schreie waren hier besser zu hören und Timo lief nach vorne, um an der nächstbesten Tür zu lauschen. Nichts. Dann die Tür daneben. Aha, wieder die Schreie und schon hatte Timo ohne nachzudenken die Tür aufgerissen. Durch das Licht, das von draußen in das Fenster drang, konnte Timo einen kleinen Jungen erkennen, vielleicht drei oder vier Jahre alt, der in seinem Bettchen saß und ihn angsterfüllt anstarrte.

„Dann komm mal her, mein Kleiner.“

Vorsichtig hob Timo den Jungen aus seinem Bett und ging zurück zur Tür. Ganz hinten auf dem Treppenabsatz stand Sven direkt vor einer weiteren Tür und war gerade dabei sie zu öffnen, als sich unter ihm im wahrsten Sinne des Wortes der Boden auftat. Eine Feuersäule schoss empor und hüllte ihn vollkommen ein.

„NEIN!“

Timos Schrei war noch außerhalb des Hauses zu hören, aber dann verstummte er. Sven stand mit völlig erstauntem Gesicht inmitten des Feuers und starrte auf seine Hände. Seinen ganzen Körper umgab ein sanftes rotes Leuchten, ähnlich dem des Feuers. Seine Haut und die Kleidung waren völlig unversehrt. Timos Gedanken rasten, doch jetzt waren erst einmal andere Sachen wichtiger. Vorsichtig drückte er den Jungen an sich und ging zur Treppe, als ein lautes Krachen ertönte. Als er sich umdrehte, erkannte er, dass Sven zu lange gewartet hatte. Ein Balken hatte sich gelöst und ihn an Kopf und Schulter getroffen. Timo fluchte auf Italienisch und so schnell er konnte, eilte er zu Sven. Dieser hatte den Balken beiseiteschieben können, aber durch eine Platzwunde am Kopf floss langsam Blut und dann erkannte Timo mit Schrecken den Riss über der Halsschlagader aus dem helles Blut pulsierte.

Vorsichtig setzte er seine Last ab und sah Sven in die Augen. Dieser wusste anscheinend ganz genau was passiert war und sein Blick wurde traurig.

„Jetzt kann ich dir gar nicht mehr sagen, dass ich dich liebe.“

„Doch, mio amato, du wirst es noch sehr oft sagen können, denn ich werde jetzt mein Gelübde brechen, weil ich dich liebe.“

Damit legte er beide Hände auf Svens Hals und ein leichtes violettes Glühen erschien, hüllte Hände und Hals ein. Als Timo wenige Sekunden später die Hände hob war die Halsschlagader geschlossen die Haut war glatt und nicht die geringste Spur war mehr von der schrecklichen Wunde zu erkennen. Lediglich aus der Platzwunde sickerte weiterhin Blut. Sven tastete nach seinem Hals und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen.

Als mit lautem Krachen ein weiterer Balken herunterkam wurden die beiden daran erinnert, wo sie sich befanden. Hektisch griff Timo nach dem kleinen Jungen und zerrte Sven wieder auf die Beine.

„Wir müssen hier raus aber schnell.“

Der Hustenanfall der folgte, zeigte, dass er Recht hatte. Die Jungen schafften es bis zur Treppe als ihnen von unten auch schon Licht entgegen kam. Sie registrierten kaum noch, wie sie von den Feuerwehrleuten nach draußen gebracht wurden und nach der Erstversorgung in das nächste Krankenhaus gefahren wurden.


Als Sven erwachte, lag er in einem Bett, dass definitiv nicht seins war. Auch das Zimmer stimmte nicht ganz. Nach einer ersten Orientierung stellte er fest, dass er im Krankenhaus sein musste. Sein Hals war kratzig und das Atmen machte ihm Schwierigkeiten. Als er die Bettdecke zurückschlug, merkte er, dass er bis auf die Unterhose nackt war. Na, toll. Als er sein Bett umrundete, sah er auf einem Tisch am Fenster eine Zeitung liegen. Die Schlagzeile war groß genug, dass er sie durch das halbe Zimmer lesen konnte.

Jugendliche Helden retten Yannik (4) vor dem Feuertod

Neugierig trat Sven näher und las den ganzen Artikel.

Neuendorf (jg). Zu einem Großeinsatz wurde am gestrigen Abend die freiwillige Feuerwehr Neuendorf gerufen. Im Wiesenweg brannte ein Einfamilienhaus lichterloh. Als die Feuerwehr das Haus erkundete, traf sie dort auf zwei Jugendliche, die unter Einsatz ihres Lebens aus dem Dachgeschoss den vierjährigen Sohn der Hauseigentümer gerettet hatten. Die Eltern des Kindes waren zu Besuch bei Bekannten und wurden dort von ihren Nachbarn alarmiert. Das Haus brannte schon in weiten Teilen, als mehrere Zeugen die Hilferufe des Kindes hörten und dann die beiden Siebzehnjährigen sahen, die ohne zu Zögern in das Haus eindrangen und den kleinen Yannik aus der Feuerhölle befreiten. Alle drei wurden mit einer leichten Rauchvergiftung ins Kreiskrankenhaus eingeliefert. Das Haus ist vollkommen niedergebrannt, die Polizei ermittelt noch in der Brandursache.

„Ah, der jugendliche Held ist erwacht.“

Sven fuhr herum und sah Timo in einem Bett an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers liegen. Sven lief zu ihm und umarmte ihn stürmisch.

„Gott sei Dank, dir ist nichts passiert.“

„Da könnte ich das Gleiche sagen.“

Schlagartig überfiel Sven die Erinnerung an die Feuersäule auf dem Dachboden. Er hatte dort gestanden, blickte gehetzt in das leere Zimmer und dann wurde es heiß. Sein ganzer Körper zitterte auf einmal und ihm wurde schlagartig kalt. Als er erstaunt an sich herunter sah, bemerkte er dieses rote Leuchten, das so anders war als der Schein des Feuers. Seine Hände leuchteten fast von innen heraus und dieses Leuchten war irgendwie beruhigend. Doch er hatte wohl zu lange auf seine Hände geachtet, denn plötzlich kam der Balken von oben, streifte ihn in Kopfhöhe und schlug dann auf seine Schulter. Durch den Schwung wurde er zu Boden gerissen. Der glühende Balken lag dicht neben ihm und ohne nachzudenken schob er ihn mit der Hand einfach weg. An Kopf und Hals spürte er jetzt die Schmerzen durch die Wunden, die der Balken gerissen hatte.

Er bemerkte das Pulsieren am Hals und konnte spüren, wie das Blut stoßartig an ihm herunterfloss. Dann kam Timo in sein Blickfeld und er sagte das erste zu ihm, was ihm einfiel. Etwas, das er ihm schon die ganze Zeit hatte sagen wollen.

„Jetzt kann ich dir gar nicht mehr sagen, dass ich dich liebe.“

Warum hatte er es erst jetzt gesagt? Warum nicht früher? Vielleicht wäre ja alles gar nicht so weit gekommen?

Doch dann kam Timos Antwort und er konnte sich an jedes einzelne Wort genau erinnern.

„Doch, mio amato, du wirst es noch sehr oft sagen können, denn ich werde jetzt mein Gelübde brechen, weil ich dich liebe.“

Was dann passierte, konnte er nicht genau verfolgen, doch er sah das violette Leuchten um Timo, genau wie er selber vorher in einem rötlichen Licht gestanden hatte. Die Schmerzen ließen nach und er legte erstaunt eine Hand auf den Hals. Da war noch Blut, aber keine Wunde. Der nächste Balken von oben war Warnung genug und sie sprinteten beide nach unten.

Noch einmal wiederholte Sven in Gedanken Timos Worte, dann wandte er sich ihm zu. Timo hatte bemerkt wie Sven erstarrt war und sein Blick sich in der Ferne verlor. Er konnte nur hoffen, dass Sven nicht alles mitbekommen hatte, doch er wurde enttäuscht.

„Stimmt es?“

„Was?“

„Dass du mich liebst?“

Timo seufzte tief auf und sah Sven direkt in seine blauen Augen.

„Ja, Sven. Ich liebe dich. Ich liebe dich seit zehn Jahren, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich habe immer zu dir aufgesehen, dich bewundert. Du warst mein Held und mit der Zeit merkte ich, wie tief diese Gefühle gingen. Vor etwa einem Jahr wollte ich dir meine Liebe gestehen, doch ich kam ein paar Tage zu spät. Du hattest bereits einen anderen und mir blieb nur noch der Blick aus der Ferne…“

Dicke Tränen unterbrachen Timos Worte die zum Ende hin immer leiser geworden waren.

Sven sah wie betäubt auf den weinenden Jungen herab, der ihm seine unendliche Liebe gestanden hatte. Konnte er das Gleiche tun? Jetzt? So kurz nach einer Trennung?

Das letzte Jahr mit Robby zog an seinem inneren Auge vorbei. Die flüchtigen Küsse. Die Treffen, immer von der Angst überschattet, entdeckt zu werden. Ausreden, kleine Lügen über das Wohin und mit Wem. Kurzer, hektischer Sex und immer wieder der gehetzte Blick über die Schulter. In der Schule nur noch Schweigen - und dann Timo. Timo, dem er nicht mehr in die Augen blicken konnte, denn obwohl er es da noch nicht wahrhaben wollte, er spürte, dass er Timo irgendwie betrog.

„Timo, ich … Was ich da oben bei dem Feuer gesagt habe stimmt. Nie ist es mir so klar geworden wie dort oben, das Gefühl, dass ich dich verlieren könnte, dass du nicht mehr bei mir bist. Ich weiß, das letzte Jahr war ich ein Arsch. Sicherlich, die Zeit mit Robby war wunderschön, aber ich habe meine ganzen Freunde ausgeblendet und besonders dich. Timo, ich kann dir nicht sagen, dass ich dich liebe. Nicht, bevor du mir nicht verzeihst, was ich dir angetan habe.“

Timo sah Sven mit seinen großen braunen Augen an. Er wusste gar nicht, dass Sven einen Hang zum melodramatischen hatte, aber anscheinend war es ihm wirklich ernst.

„Es gibt nichts zu verzeihen. Du hast so gehandelt, wie du gedacht hast, dass es am besten ist. Aber bitte, sag es mir. Du kannst auch nein sagen. Ich werde dir nicht böse sein. Aber meine Gefühle fahren gerade Achterbahn und ich möchte zurück auf den Boden.“

Sven lächelte ihn an. Wie hatte er je übersehen können, was dieser Junge für ihn empfand.

„Mach dich erst noch auf einen großen Looping gefasst.“

Damit beugte er sich über Timo und gab ihm einen langen, ausgiebigen Kuss.

„Madre di Dio!“, kam es von der Tür und Sven sprang erschreckt von Timo hoch.

In der Tür standen Timos Großmutter und Barbara Hansen.

Sowohl Sven als auch Timo liefen tiefrot an.

„Wie… wie lange steht ihr schon da?“

„Schon eine kleine Weile. Ihr wart ja sehr mit euch selber beschäftigt.“

Barbara ging hinüber zu ihrem Sohn und wuschelte in seinen Haaren.

„Was macht ihr bloß für Sachen.“

Damit war nicht klar ob sie das Feuer meinte, den Kuss oder beides.

„Hallo Timo, wir sehen uns in letzter Zeit ja wieder öfter.“

Timo sah sie an und war sich nicht sicher, was diese Bemerkung bedeuten sollte. Dann wandte er die Aufmerksamkeit seiner Großmutter zu, die momentan aber nur Augen für Sven hatte.

„Sven, es ist nicht nett, einer alten Frau auf diese Weise beizubringen, dass sie keine Urenkel haben wird.“

Sven wurde schon wieder rot und senkte den Kopf.

Doch dann nahm Timos Großmutter seine rechte Hand ihn ihre beiden Hände und tätschelte seinen Handrücken.

„Sven, es ist gut. Timo hat mir schon vor zwei Jahren gestanden dass er hmmm innamorato pazzo…“

„Nonna, per favore…“

„Sei still, Timo. Also, dass er verliebt sei, sehr verliebt, in einen Jungen. Was sollte ich sagen? Ich kann es nicht ändern. Niemand kann das. Er wollte mir nicht sagen wer es ist, aber es war sehr offensichtlich…“

Timo zog die Bettdecke über seinen Kopf.

„Er war ja nun nicht der einzige. Als du mir nach vielem hin und her gesagt hattest, dass du in einen Robby verliebt bist, war mein erster Gedanke: Das ist der Falsche.“

Sven bedachte seine Mutter mit einem entsetzten Blick.

„Du brauchst mich gar nicht so anzusehen. Ihr hättet euch die letzten beiden Jahre vor Robby mal zusammen sehen sollen. Rangeleien auf dem Rasen, zusammengekuschelt auf der Couch beim Fernsehen, Eis essen aus einem gemeinsamen Becher. Es war schon ein wenig offensichtlich.“

Sven wusste gar nicht mehr wo er hinblicken sollte, als seine Mutter etwas erschreckt auf ihre Armbanduhr sah.

„Mein Gott, ich muss los. Geht es euch auch wirklich gut? Braucht ihr noch was?“

„Nein, Mama. Es ist alles in Ordnung, in bester Ordnung sogar“, lächelte Sven, als Timo langsam wieder unter seiner Decke hervorkam.

Barbara Hansen ging zu ihrem Sohn und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn, was ihn zu einer leichten Abwehrbewegung veranlasste.

Dann ging sie hinüber zu Timo und küsste ihn ebenfalls, was dieser mit großen Augen quittierte.

„Du kommst alleine nach Hause, Sophia?“

„Kein Problem, Barbara. Fahr nur.“

Sven sah seine Mutter von der Seite her an. Seit wann duzten sich die beiden?

Als sich die Tür hinter Frau Hansen geschlossen hatte, rutschte Timo in seinem Bett nach oben in eine sitzende Haltung. Fest sah er seine Großmutter an und mit entschlossener Stimme sagte er

„Nonna, ich habe das Gelübde gebrochen.“

Die Großmutter fuhr herum und starrte ihn an. Dann ging sie hinüber zu dem Tisch, nahm sich einen Stuhl und setzte sich müde.

„Lass mich raten. Du erzählst es mir hier und jetzt, weil es kein Geheimnis mehr ist. Du hast ihm geholfen.“

Damit deutete sie auf Sven, der erstaunt der Unterhaltung zugehört hatte. Doch plötzlich begriff er und er tastete vorsichtig mit den Fingern nach seiner Halsschlagader.

„Ja, ich habe ihn gerettet, weil ich ihn liebe. Ich hätte es wahrscheinlich für mich behalten, aber da ist noch ein anderer Grund.“

Misstrauisch sah Sophia Mavelli hinüber zu ihrem Enkel, worauf Timo ihr in allen Einzelheiten die Vorgänge während des Brandes erzählte.

„Dio mio!“

Mit großen Augen sah sie hinüber zu Sven, der Timo entsetzt anstarrte, als ob er die Geschichte wieder durchleben würde.

„Sven! Auch du bist benedetto! Was machen wir denn jetzt? Du bist kein Cavaliere, kein Difensore.“

Sven sah sie völlig verwirrt an, er begriff im Moment gar nichts.

Timo sprang aus dem Bett und ging hinüber zu seiner Großmutter.

„Nonna. Ich werde es Sven erklären. Ich werde ihm die Geschichte erzählen, so wie du sie mir erzählt hast. Und wir werden einen Weg finden, wie wir das Dilemma lösen können.“

Sophia sah Timo in die Augen, dann nickt sie langsam.

„Si. Ich komme morgen wieder. Bis dahin werde ich ein paar Informationen einholen.“

„Ciao, Nonna.“

„Ciao, Timo.“

„Auf Wiedersehen.“

Doch Sophia schüttelte den Kopf, ging zu Sven und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sven errötete etwas, nickte aber dann.

„Ciao, Nonna.“

„Ciao, Sven. Und zieht euch lieber was Warmes an.“

Mit erstauntem Blick sahen die beiden Jungen Sophia hinterher, als sie den Raum verließ. Dann sahen sie sich gegenseitig an und bemerkten erst jetzt, dass sie beide nichts anderes als eine knappe Unterhose trugen.


Am nächsten Morgen wurden Sven und Timo durch eine Krankenschwester geweckt, durchliefen das Ritual von Messungen, Befragungen und Frühstück und zum krönenden Abschluss die Visite.

Ihnen wurde versichert, dass sie keine ernsthaften Beeinträchtigungen hatten und sie bereits gegen Mittag entlassen würden.

Da ihre Sachen nicht mehr so richtig straßentauglich waren, warteten sie, jeder in seinem Bett, auf Svens Mutter mit frischen Klamotten und einer Mitfahrgelegenheit.

Jetzt erst kam Sven zur Ruhe und konnte über das nachdenken was ihm Timo am gestrigen Abend alles erzählt hatte. Eine fast unglaubliche Geschichte von Magiern und Dämonen, von Gut und Böse und von Liebe und Leid.

Sven wollte nichts lieber, als das alles abtun als Märchen für Leichtgläubige, doch immer wieder sah er sich selbst in der Feuersäule stehen, völlig unversehrt. Was, wenn das alles wirklich wahr wäre? Wenn Timo, oder in diesem Fall seine Großmutter, wirklich recht hatten? Würde er dieses Leben führen wollen, als Dämonenjäger, mit der Option früh zu sterben? Timo war ihm in dieser Hinsicht ein Rätsel. Er hatte zwar von einer Familientradition gesprochen, aber nicht, ob er dieser auch folgen würde.

Timo lag in seinem Bett und wälzte sich unruhig hin und her. Es hatte viel Mühe gekostet, Sven von der Ernsthaftigkeit seiner Geschichte zu überzeugen, doch sie beide waren ja der beste Beweis. Timo wusste nicht, welche Entscheidung er treffen sollte. Sollte er der Tradition seiner Vorfahren folgen oder versuchen ein ‚normales‘ Leben zu führen? Würde Sven ihm folgen, wenn er zu den Dämonenjägern ging? Selbst dann, wenn man sie trennen sollte und ihnen jemand anderen an die Seite stellen würde? Timo war innerlich so zerrissen, dass es schon wehtat.

Die Erlösung kam am späten Vormittag. Barbara Hansen brachte frische Sachen zum Anziehen, nahm die Papiere in Empfang und brachte die beiden Jungen zurück nach Hause.

Als sie vor dem CATANIA anhielten, gab sie Sven ein Zeichen und sie beide stiegen ebenfalls aus.

„Wir können gleich hier etwas essen. Sophia wollte ohnehin noch mit euch sprechen.“

Das Restaurant war eigentlich noch geschlossen, doch alle trabten durch den Nebeneingang, wo sie bei einem kurzen Blick in die Küche Timos Mutter begrüßten, die ihren Sohn umarmte als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte.

„Timo, mein Kleiner, was machst du denn für Sachen?“

„Ach, nichts. Ist ja nichts passiert.“

Sich eine Träne aus den Augenwinkeln wischend eilte sie zurück zum Herd. Während der Mittagszeit war sie alleine in der Küche, erst zum Abend kam noch ein zweiter Koch dazu.

Die Großmutter kam aus dem Gastraum, wo sie noch die letzten Anweisungen erteilt hatte, für Gino den Kellner, einen jungen Mann aus Verona und Janina, die deutsche Tresenkraft.

„Ah, da seid ihr ja. Ich habe schon etwas vorbereiten lassen. Es gibt Lachs auf Spaghetti. Das ist einfach und ich weiß noch, dass Sven es gerne isst.“

Sven sah sie erstaunt an. Es stimmte, aber er war das letzte Mal vor über einem Jahr hier gewesen.

Das Essen war gut und reichhaltig, die Jungen hatten eine extra große Portion bekommen und doch waren sie als erste fertig. Barbara Hansen wunderte sich.

„Mein Gott, gab es im Krankenhaus nichts zu essen?“

„Doch“, mampfte Sven über seinen letzten Rest, „aber nicht so viel und lange nicht so gut.“

Sophia lächelte über das Kompliment, Timo hatte nie ein Wort über das Essen verloren.

Barbara Hansen verabschiedete sich ziemlich rasch, weil sie wieder zur Arbeit musste und hatte noch einen kleinen Disput mit Sophia über die Rechnung, aber die alte Dame ließ sich nicht erweichen, dies war ihr Beitrag für die Heimkehr der Jungen.

Als die drei alleine waren, fixierte Sophia die beiden so unterschiedlichen Jungen und seufzte leise.

„So, Bambini, es ist schwierig, aber nicht unmöglich. In Italien würdet ihr zur Ausbildung in zwei getrennte Institute geschickt. Außerdem ist Svens Italienisch nicht gerade perfetto. Hier in Deutschland gibt es eine Stiftung die euch nehmen würde, aber keine Garantie übernimmt für euer zusammenbleiben. Sie müssten dafür eine Ausnahme machen und zwei Kampfmagier zusammenbringen, was, soviel ich verstanden habe, immer sehr schwierig ist. Das wichtige ist, ihr könntet nach den ersten beiden Jahren, nachdem ihr euer Abitur gemacht habt, einfach aufhören. Ihr würdet dann einen Verzichteid schwören und einer dauerhaften Überwachung unterliegen.“

„Was!? Sie würden uns den Rest unseres Lebens überwachen? Das ist doch krass. Wer würde so etwas wollen?“

„Sven. Wenn ich mich entschließen würde dorthin zu gehen, würdest Du mit mir gehen?“

Sven holte tief Luft um etwas zu sagen, aber dann schüttelte er den Kopf. Mehrere Sekunden sah er Timo an, dann flüsterte er leise

„Wo Du hingehst, da werde auch ich hingehen.“

Timo starrte ihn an, dann fing er an zu weinen.

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2014

Nach dem Timo seine Geschichte beendet hatte, saßen die vier noch eine ganze Weile schweigend auf der Matte.

Sven flüsterte Timo etwas ins Ohr, dann drehte er sich zu Lucas.

„Möchtest Du auch mal eines der Geräte ausprobieren?“

Lucas sah ihn erstaunt an, aber dann grinste er von einem Ohr zum anderen.

„Gerne, ich hab schon lange nicht mehr geturnt. Ich hab mir zum Schluss was gesucht was man alleine machen kann, ohne dass beim Training Leute zuschauen.“

Auf Svens fragenden Blick sagte er: „Triathlon.“

„Hey, auch nicht schlecht. Aber mal sehen, für dich werden wir wohl das Pferd aus seinem Stall holen.“

Timo sah den beiden hinterher und wandte sich an Kevin.

„Kommst du mit mir auf das Trampolin?“

Kevin sah ihn ebenso erstaunt an wie vorher Lucas Sven, doch dann sprang er auf.

„Klar, aber ich war noch nie auf so einem Ding.“

„Ha, dann werden wir mal sehen was ich dir heute alles so beibringen kann.“

Als sie beide auf dem großen Trampolin standen, war Kevin erst recht unsicher, aber die kleinen Übungen im Fallen, vorwärts und rückwärts, machten mit der Zeit richtig Spaß und Kevin schaffte es nach einiger Zeit sogar bis zu einem Vorwärtssalto.

Danach zeigte ihm Timo was man alles auf so einem Gerät machen konnte. Doppelte Salti vorwärts, gestreckter Salto vorwärts und rückwärts und Sprünge, die Timo fast bis zur Hallendecke brachten. Kevin war ehrlich beeindruckt.

Etwas außer Atem gingen sie zurück und beobachteten Sven und Lucas am Pauschenpferd. Beide hatten ihre Hemden wieder abgelegt und trugen nur noch die kurzen Turnhosen. Lucas war gerade auf dem Pferd, doch so richtig lief es nicht. Die Drehbewegungen bekam Lucas noch einigermaßen hin, nur bei den Scheren blieb er jedes Mal hängen.

„Er ist zu groß, die Beine sind zu lang“, kicherte Timo.

Dann machte Sven noch einmal eine kurze Vorführung. Bei den ganzen Drehbewegungen und dem Wechsel von einem Ende zum anderen wurde Kevin richtig verwirrt.

Beim Stand machte Sven noch eine Bewegung nach vorne, so dass Lucas ihn abfing. Beide sahen sich kurz an, dann gab Sven dem überraschten Lucas einen Kuss. Nur kurz, aber definitiv ein Kuss.

„Ich hätte nicht gedacht, dass er das wirklich macht.“

Kevin blickt erstaunt zu Timo der sich jetzt ebenfalls herüberbeugte und Kevin einen kurzen Kuss gab.

„Und wofür war der?“

„Als Dankeschön“, ertönte Svens Stimme neben den beiden.

„Als Dank dafür, dass ihr euch um uns gekümmert habt, dass ihr uns ein wenig Hoffnung gegeben habt und dafür, dass ihr bei uns geblieben seid. Es war schon etwas einsam unter all den Leuten.“

Lucas ging hinüber zu Kevin und küsste ihn.

„Und der war als Dank dafür, dass du anscheinend immer wieder das richtige tust.“


Kevin und Lucas hatten sich auch für das nächste Wochenende mit Timo und Sven in der Gerätehalle verabredet. Um in die kleine Halle zu kommen, mussten sie die große Sporthalle durchqueren. Bis auf zwei Mann war die große Halle leer, was Kevin ein wenig verwunderte.

„Was ist hier denn los?“

„Keine Ahnung, wo die alle sind.“

Die beiden einsamen Sportler in der Halle waren Dorian und Alexander, die mit einem Aufwärmtraining beschäftigt waren.

„Hey, wo wollt ihr denn hin?“

Alexander kam herangejoggt und betrachtete Kevin und Lucas, die statt des üblichen Sportzeugs nur kurze Hosen und ein ärmelloses Sporthemd trugen.

„Zum Geräteturnen.“

„Was?! Das gibt’s hier? Warum sagt denn keiner was?“

Kevin und Lucas sahen sich an. Da war es wieder. Eigeninitiative war gefragt. Niemand bekam etwas vorgesetzt.

„Drüben in der kleinen Halle. Das ist der Durchgang mit der nicht gekennzeichneten Stahltür. Ihr könnt gerne mitkommen, es sind, glaub ich, noch zwei Mann da.“

„Sofort, ich geh mich eben umziehen. He, Dorian! Kommst du mit?“

Alexander hatte sich schon umgedreht und war in Richtung der Umkleideräume unterwegs.

Lucas sah ihm grinsend hinterher, während Kevin ihn mehr nachdenklich verfolgte.

„Erstaunlich, dass er sich für Geräteturnen interessiert.“

„Wieso? Da gibt es bestimmt etliche, sonst hätten wir ja auch keine Olympiateilnehmer.“

„Mpf.“

In der kleinen Halle waren tatsächlich Timo und Sven schon beim Training. Beide lagen auf der Wettkampffläche für das Bodenturnen auf dem Rücken und kicherten vor sich hin. Als Lucas und Kevin eintraten, sprangen sie auf und liefen zu ihnen.

„Hey, schon wieder hier? Gebt’s zu, ihr hattet Sehnsucht nach uns.“

Lucas sah Timo erstaunt an, dann stieß er Kevin leicht in die Seite.

„Klar, wenn wir als Belohnung immer einen Kuss bekommen, lohnt sich das.“

Sven lachte laut auf.

„Nee, den gibt’s nur bei besonderen Anlässen.“

Alle vier drehten sich um als die Tür erneut aufging und Dorian und Alexander eintraten. Die beiden waren jetzt ebenfalls in das kurze Sportzeug gekleidet und sahen sich interessiert um.

„Hey, hallo. Mit der Zeit wird es ja richtig voll hier. Herzlich willkommen in unserem kleinen Refugium.“

Timo verbeugte sich mit elegantem Schwung, während Dorian und Alexander ihn erstaunt ansahen. Die restlichen drei brachen in lautes Gelächter aus.

„Hey, du bist doch der Heiler.“

Timos Gesichtsausdruck wurde schlagartig ernst. Er blickte erst zu Sven, dann zu Kevin und Lucas. Zum Schluss wandte er sich wieder den beiden Neuzugängen zu.

„Ich heiße Timo. Und ja, ich bin der Heiler. Trotzdem habe ich einen Namen. Und ihr seid…“

Timo schloss für eine Sekunde die Augen. „…ihr seid Dorian und Alexander. Kampfmagier.“

Dorian und Alexander sahen sich betroffen an.

„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen, aber wir haben deinen Namen, glaub ich, nur bei der Vorstellung gehört. Die Lehrer benutzen ja immer nur die Nachnamen und bei uns, also den Kampfmagiern, wirst du immer nur als ‚der Heiler‘ bezeichnet.“

„Eigentlich erstaunlich, nicht wahr. Wir sind nur achtzehn Schüler und wir haben uns grüppchenweise abgekapselt, ohne unsere Nachbarn zu beachten. Wäre nicht der Zwang der Partnersuche, würde wahrscheinlich niemand den Namen des anderen wissen. Ich kenne den Vor- und Nachnamen jedes einzelnen Schülers, ebenso wie seine magische Begabung und seinen gesundheitlichen Status, denn das ist meine Aufgabe.“

Sowohl Dorian und Alexander als auch Kevin und Lucas starrten Timo jetzt an. Noch niemals hatte jemand einen Gedanken darauf verschwendet, was der Heiler eigentlich macht, wenn sie nicht im Gefecht waren.

Während des Gefechts, so hatten sie gelernt, war der Heiler dazu da, die Einsatzbereitschaft der wichtigsten Personen zu gewährleisten.

„Was? Den gesamten gesundheitlichen Status?“

„Nicht, was du jetzt denkst. Nicht deine ganze Krankenakte. Nein, ich kann bei einem Lebewesen…“

Timo zögerte kurz, dann sah er Alexander in die Augen.

„Zieh dich bitte mal aus.“

„Was?!“

Dorian sah prüfend zu Timo, dann zu Alexander.

„Mach einfach.“

Jetzt sah Alexander erstaunt zu Dorian.

„Einfach hier?“

Timo kicherte, dann deutete er auf die Hochsprungmatte.

„Da dürfte es bequemer sein.“

Kevin sah Lucas an und dann den Rest der Gruppe.

„Wir gehen dann wohl mal wieder.“

„Nein, nein. Das sollte euch eigentlich auch interessieren, wenn es Alexander nichts ausmacht, natürlich.“

Der schüttelte nur den Kopf.

„Die beiden haben mich schön öfter nackt gesehen.“

Auf Timos hochgezogene Augenbrauen antwortete er leise lachend.

„In der Dusche der Schwimmhalle.“

Jetzt lachten alle.

Bei der Hochsprungmatte angekommen streifte Alexander ohne zu zögern seine gesamte Bekleidung ab und legte sich flach auf den Rücken. Timo bewunderte kurz den muskulösen Körper, doch dann wurde er ganz sachlich.

„Der Heiler ist in der Lage, den Körper eines Lebewesens zu erfassen und eine Störung des Systems zu erkennen. Eine Störung kann alles Mögliche sein, von einer offenen Wunde über einen Knochenbruch bis hin zu Krankheitserregern. Der Heiler weiß instinktiv, was im Körper eine Störung ist oder was dort hingehört.“

Mit der flachen rechten Hand fuhr Timo jetzt über Alexanders Brustkorb, dann an den Armen entlang und wieder zurück, den Bauch hinunter. Ohne zu zögern fuhr er weiter über die Genitalien, die Beine hinab und wieder zurück bis zum Bauch.

Alexander hatte dort gelegen ohne sich zu bewegen oder auch nur einmal zu zucken. Erwartungsvoll sah er Timo an.

„Ganz einfach. Zwei Rippen und der rechte Unterarm waren einmal gebrochen. Herz und Kreislauf sind vollkommen in Ordnung, der Magen ist noch mit dem Mittagessen beschäftigt und du hast einen leichten Befall von Fußpilz. Außerdem…“

Hier beugte sich Timo vor und flüsterte Alexander etwas ins Ohr. Der wurde rot im Gesicht und sah sich im Kreis der Zuschauer um. Er schloss kurz die Augen, dann fixierte er Dorian, sprach aber zu Timo.

„Du kannst es ruhig laut sagen.“

Timo sah ihn an, dann grinste er etwas verschämt.

„Okay. Außerdem hattest du irgendwann innerhalb der letzten sechs Stunden Sex.“

Dorians Augen weiteten sich schreckhaft.

„Alex! Das geht doch niemanden…“

Plötzlich verstummte er und sah sich um. Sven stand da mit hochgezogenen Augenbrauen, Kevin und Lucas grinsten wissend und Alexander sah ihn fast flehend an, die grauen Augen weit geöffnet, fast den Tränen nahe.

Dorian beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss. Einen langen und intensiven Kuss. Dann holte er tief Luft.

„Ja, hatten wir. Eigentlich waren wir uns nie sicher, was wir wollten. Der Zwang, jemanden aus einer anderen Magieschule auswählen zu müssen, stand immer zwischen uns. Nachdem bekannt gemacht wurde, dass zwei Magier zusammen sind, haben wir gehofft, dass wir übrig bleiben werden, aber noch sind ja nicht alle untergebracht. Außerdem war da ja noch die Tatsache, dass wir dann für den Einsatz mit dem Magierpaar die Partner tauschen müssen. Wir kennen euch ja nur aus dem allgemeinen Unterricht, aber jetzt…“

Sven trat hinter Dorian und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Es ist gut, dass ihr heute hergekommen seid. Es wird Zeit, dass wir uns näher kennenlernen und vielleicht zu einer passenden Lösung für unser Problem kommen.“

„Na, ehrlich gesagt, haben uns die beiden hier mitgeschleppt.“

Damit deutete Dorian auf Kevin und Lucas. Sven lachte.

„Ich hätte es mir denken können.“

Dann ging er zu Kevin und gab ihm einen kurzen Kuss. Noch bevor Kevin fragen konnte bekam er seine Erklärung.

„Du weißt schon, der besondere Anlass. Ich bin euch echt dankbar, dass ihr die beiden mitgebracht habt. Wir hätten wohl nicht so schnell den Mut aufgebracht, sie zu fragen.“

„Hey, und was ist mit mir?“

Lucas grinste Sven an, doch die Antwort kam aus einer ganz anderen Richtung.

Alexander hatte sich erhoben und splitternackt wie er war umarmte er Lucas und gab ihm einen Kuss.

„Der war auch für diesen besonderen Anlass. Wenn alle Gerüchte stimmen, die über euch in Umlauf sind, habt ihr ja schon so einiges auf den Weg gebracht.“

Kevin und Lucas liefen rot an. Um etwas von sich abzulenken sah Kevin sich um und meinte wie beiläufig zu Lucas

„Eigentlich können wir denn ja mal eine kleine Party schmeißen.“

Dorian flüsterte Kevin etwas ins Ohr, der darauf kurz zu Alexander hinübersah.

„Okay, das machen wir.“

Alexander hatte sich inzwischen wieder angezogen und sah hinüber zu dem Bodenturnfeld.

„Eigentlich können wir ja jetzt das machen, wozu wir eigentlich hergekommen sind.“


Die Zusammenarbeit von Michael und Rafael gestaltete sich nicht so einfach, wie die beiden sich das vorgestellt hatten. Michael war es nicht gewohnt, jemandem etwas beizubringen und Rafael hatte gedacht, dass es deutlich schneller gehen würde. Jetzt, kurz vor den Prüfungen für das erste Jahr wurde er immer nervöser.

„Noch mal, Rafael. Anwender, Intention, Niveau, Aufbau, Ziel und Entzug.“

Rafael Diberg warf entnervt seinen Kugelschreiber in eine Ecke des Zimmers.

„Im Leben nicht. Anwender ist klar. Das ist derjenige, der Mana sammelt und konzentriert für eine Anwendung, sprich - Magie, bereitstellt.“

Michael nickte zustimmend.

„Intention ist die Absicht des Anwenders. Das heißt, welcher Spruch wird ausgewählt. Die Auswahl steht in direktem Zusammenhang mit Ziel und Wirkung.“

Wieder nickte Michael.

„Niveau. Die Menge an Energie, die eingesetzt wird. Der Anwender muss also vor dem Aufbau des Spruchs entscheiden, wie viel Energie aufgewendet werden soll. Woher soll ich denn wissen, wieviel ich brauche? Das ist doch alles nur geschätzt. Ein Energiestrahl ist eben ein Energiestrahl.“

Diesmal seufzte Michael auf.

„Nein, ist es nicht. Du kannst mit einem Energiestrahl ein Loch in einen Tresor brennen, oder ein zerrissenes Halskettchen zusammenlöten. Deswegen ja vorher Intention. Das Niveau ändert sich mit Ziel und beabsichtigter Wirkung.“

„Der Aufbau ist ein verdammter Mist. Wer ist jemals auf die Idee gekommen, eine mathematische Formel in einen Zauberspruch einzubetten? Oder umgekehrt? Ich muss mich darauf konzentrieren die Formel auswendig zu wissen, weil diese die Struktur ergibt, dann die erste Ableitung zu bilden mit der das Energieniveau geändert werden kann und dann auch noch das Ziel zu erfassen.“

„An den Formeln kann ich nichts ändern. Die Sprüche sind vom Aufbau her so einfach wie möglich. Die Ableitung ist das wichtigste. Wenn du die versaust, veränderst du das Energieniveau. Ich weiß, das sich Chris bei so einem Versuch beinahe verbrannt hätte.“

„Chris? Oh, der kleine Elementar?“

„Jep. Aber los, weiter. Was ist mit dem Ziel?“

„Ich muss das Ziel erfassen und die fokussierte Energie des erstellten Spruches auf das Ziel wirken lassen. Die Verbindung zum Ziel ist entweder durch Energieübertragung wie bei einem Blitz, durch Selbstanwendung wie bei Barrieren oder durch Körperkontakt wie bei Heilzaubern.“

Rafael sah Michael skeptisch an.

„Können die Heiler wirklich jemanden richtig …ähhh, heilen?“

„Glaub‘ mir, die können das. Wir müssen ja alle Spruchstrukturen lernen, deshalb hat uns Timo einige der Heilzauber vorgeführt. Er hat bei André eine kleine Schnittwunde geschlossen. Du hast nachher nicht mehr das Geringste erkennen können.“

Rafael erschauerte unwillkürlich. Michael tippte auf die letzte Zeile seines Notizzettels.

„So und jetzt noch der Entzug.“

„Entzug entsteht, wenn der Anwender bei einem Spruch mehr Energie einsetzt, als er vorher gesammelt oder fokussiert hat. Besonders wichtig bei Sprüchen die aufrechterhalten werden müssen. Je schwieriger die Anwendung im Aufbau ist, desto höher der Aufwand an Konzentration und Energie. Das Produkt von Konzentration und umgesetzter Energie ist immer gleich, lediglich das Verhältnis zueinander wechselt. Bei einem Energieblitz aus den Kampfzaubern ist die Energie sehr hoch, die Konzentration relativ gering, bei einer Hellsicht aus den Wahrnehmungszaubern ist die Energie entsprechend niedriger, die Konzentration allerdings sehr hoch. Lässt die Konzentration nach, steigt der Energiebedarf. Ist nicht genug Mana vorhanden, zieht die Anwendung die notwendige Energie aus dem Körper des Anwenders.“

„Und das heißt?“

„Wenn ich dem Spruch zu viel Energie gebe oder ihn nicht rechtzeitig beende, führt der Entzug zu Bewusstlosigkeit oder bei schlagartigem hohen Entzug sogar zum Tod.“

„Du siehst, der richtige Umgang mit den Sprüchen ist nicht nur aus Prinzip wichtig, er schützt dich auch selbst vor Schaden. Und es würde mir echt leidtun, wenn dir etwas passiert.“

Nach der letzten Bemerkung drehte Rafael etwas erstaunt seinen Kopf zu Michael.

„Wirklich? Ich meine, du hast bis jetzt noch nie etwas gesagt…“

„Rafael. Wir sind nun schon gut neun Monate hier an der Schule. Wir lernen seit drei Monaten zusammen. Es ist richtig, ich habe nie etwas gesagt, aber du ebenso wenig. Sicherlich, du hattest und hast immer noch ein Problem mit Magietheorie. Dann vergräbst du dich manchmal in deinen Büchern, um plötzlich vor meiner Tür zu stehen und mich zu irgendwelchen sportlichen Aktivitäten zu schleppen. Ich…“

Michael seufzte tief.

„Um es vorsichtig zu formulieren, ich habe mich irgendwie an dich gewöhnt.“

Rafael sah Michael erst forschend, dann lächelnd an. Ganz langsam beugte er sich nach vorne, damit Michael sich zurückziehen konnte, falls er ihn falsch interpretiert hatte.

Doch Michael rührte sich nicht. Sanft spürte er Rafaels Lippen auf den seinen.

„Michael, wenn ich es richtig sehe, war dies eine der vorsichtigsten Liebeserklärungen von denen ich je gehört habe.“

Michael lächelte versonnen.

„Ja, Rafi. Ich liebe dich.“


Nur noch wenige Tage trennten die Schüler von den großen Ferien. Kevin und Lucas hatten sich bis jetzt nicht entscheiden können, was sie denn in den Ferien unternehmen wollten. Die Situation war seit Weihnachten nicht besser geworden. Kevins Eltern hausten weiterhin in der kleinen Mietwohnung und die Villa von Lucas‘ Eltern wurde, den letzten Informationen nach, nur von der Haushälterin besucht.

An der Essensausgabe betrachtete Lucas misstrauisch den Teller mit dem Abendessen.

„Was ist das denn?“

„Bratnudeln. Die Reste von heute Mittag aufgebraten.“

„Ach so?“

Langsam wanderten die beiden hinüber zu einem freien Tisch.

„Ich weiß ehrlich nicht, was wir in den Ferien machen könnten. So ein Urlaub im Hotel oder einem Ressort wird mir nach ein paar Tagen langweilig.“

„Ja, weil du Sport machen willst und ich möchte mehr was Kulturelles erleben.“

Lucas sah Kevin skeptisch an.

„Schon wieder auf der Jagd nach alten Kirchen?“

„Ich bin nicht auf der Jagd. Aber ich hab‘ zufällig im Fernsehen einen Bericht über die ganzen Weltkultur- und naturerbe gesehen. Weißt du eigentlich, dass es über 1.000 davon gibt und ich bisher kein einziges gesehen habe?“

Lucas versuchte an den Nudeln vorbeizunuscheln, während er mit der Gabel auf Kevin zeigte.

„Können ja ein paar abklappern.“

„Wir haben beide kein Auto, nicht mal einen Führerschein.“

Kevin sah Michael und Rafael, jeder mit einem Tablett beladen, vorbeischleichen. Die Stimmung schien bei den beiden auch nicht gerade besonders gut zu sein. Trotzdem hob Kevin einen Arm.

„Ihr könnt ruhig zu uns kommen. So schlecht ist das Essen nicht, dass wir beißen würden.“

„Ha, ha“, machte Michael, während er sich Kevin gegenüber hinsetzte. Rafael nahm Lucas gegenüber Platz. Der warf nur einen kurzen Blick auf Rafael.

„Und was hat euch die Suppe verhagelt?“

„Unsere Ferien sind im Eimer. Kann euch ja nicht passieren“, fauchte Rafael zurück. Kevin sah erstaunt von seinem Teller hoch.

„Hey, ganz ruhig, Tiger. Möchtest du uns vielleicht mitteilen, worum es sich handelt?“

Da Rafael ganz plötzlich die Nudeln sehr interessant fand und mit roten Ohren darin herumstocherte, ergriff Michael das Wort.

„Wir wollten in den Ferien wegfahren. Da ich immer von Schottland und Irland geschwärmt habe, kam Rafi auf die Idee, wir könnten eine Kreuzfahrt machen. Wir haben uns ein paar Unterlagen besorgt und es schien auch gut zu laufen. Bis gestern jedenfalls.“

Lucas hob nur fragend seine Augenbrauen.

„Wir hatten uns schon für eine Tour entschieden, einmal rund um England. Für zwölf Tage im August. Als wir die Buchung machen wollten, stellte sich heraus, dass die Tour schon fast vollkommen ausgebucht ist. Sind nur noch ein paar Suiten frei und die können wir uns nicht leisten.“

Kevin sah jetzt interessiert zu Michael.

„Rund um England?“

„Ja. Invergordon, Greenock, Belfast, Dublin, ähhh… den nächsten hab ich vergessen, dann irgendwo in Wales, Southampton und zurück nach Hamburg.“

Kevin sah Lucas an, während dieser ähnlich wie Rafael im Essen stocherte. Dann hob Lucas den Kopf.

„Wieviel kostet denn so eine Suite?“

Michael seufzte.

„Knapp fünftausend - pro Person!“

Kevin fiel klappernd die Gabel aus der Hand.

„Und wieviel Personen können da mitreisen?“

„Keine Ahnung. Müsste ich nachsehen.“

„Vier.“

Meldete sich Rafael.

„Jede weitere Person nach der zweiten zahlt nur neunhundert. Das ist auch bei den Kabinen so. Wenn mehr als zwei mitfahren, zahlen die eben weniger.“

Die Gabel von Lucas schwebte schon einige Zeit über seinem Teller während er nachdachte.

„Wenn die Suite also mit vier Personen belegt wäre, würde das für jeden etwa - hm… „

„Zweitausendneunhundertfünfzig“, kam es von Kevin.

„Genau. Weniger als dreitausend.“

Michael senkte den Kopf.

„So viel haben wir auch nicht. Mehr als zwei-fünf hätten es nicht sein dürfen.“

Die restliche Zeit des Abendessens verlief in niedergeschlagenem Schweigen.


Später am Abend lagen Kevin und Lucas bei Kevin auf dem großen Doppelbett.

„Wäre das denn was für dich, so eine Kreuzfahrt?“

„Das ist doch viel zu teuer.“

„Das hab ich nicht gefragt. Was ist mit den Häfen, den Ländern?“

„Ja, natürlich. England, Schottland, Wales, Irland. Alles in einer Tour. Das wäre natürlich was.“

„Okay. Dann lass uns das mal in Angriff nehmen. Schmeiß dich mal ans Internet.“

„Bist du nicht ganz dicht? Du hast doch gehört, was das kostet.“

Lucas seufzte tief auf und griff dann zögernd zu seinem Portemonnaie. Aus einem gesonderten Fach nahm er eine kleine Karte und gab sie Kevin.

Kevin nahm die Karte und besah sie sich. Es war eine Kreditkarte eines Kieler Bankinstitutes. Kevin hatte lediglich eine EC-Karte für sein Konto, auf dem er die Ersparnisse aus seinen Nebenbeschäftigungen geparkt hatte.

„Eine Kreditkarte. Und?“

„Sie gehört zu meinem Konto. Meine Eltern haben mir mit meinem sechzehnten Geburtstag dieses Konto eingerichtet. Mit einem Bestand von 10.000 Euro. Jeden Monat bekam ich 1.000 Euro an… Du würdest wahrscheinlich sagen Taschengeld, ich sage Bestechungsgeld dazu.“

Lucas unterbrach Kevin als dieser etwas sagen wollte.

„Moment. Mit siebzehn erhöhte sich der monatliche Betrag auf 2.000 Euro, und so weiter. Du hast mitgerechnet? Ich bin jetzt neunzehn und bekomme viertausend. Zum nächsten Geburtstag erhöht sich das auf fünftausend und bleibt dort, bis ich achtundzwanzig bin. Dann, glauben meine Erzeuger, haben sie ihre Schuldigkeit getan.“

Lucas setzte sich aufs Bett und vergrub sein Gesicht in den Händen.

„Das ist alles, so viel bin ich ihnen wert.“

Kevin setzte sich neben Lucas und umarmte ihn.

„Ich habe dich als netten, warmherzigen, freundlichen und auch liebevollen Menschen kennengelernt. Du hast nichts von ihnen, so wie du wie beschrieben hast. Sie sorgen sich dennoch um dich, sonst hätten sie dir nicht das Geld gegeben.“

„Ha. Weißt Du, wie oft ich als Kind darauf gewartet habe, dass mich mal jemand in den Arm nimmt? Mir eine Gutenachtgeschichte vorliest? Wer denn, wann denn?“

Lucas senkte die Arme, dann grinste er müde.

„Aber jetzt können sie mit ihrem ganzen Geld wirklich mal etwas Gutes tun. Los, Kevin. Wir brauchen eine große Suite für vier Personen. Sieh zu, was du findest.“

Zwei Stunden später waren Kevin und Lucas auf dem Flur des Unterkunftsgebäudes unterwegs. Lucas rüttelte an einer Tür, doch es war abgeschlossen.

„Die sind wohl bei Michael auf 407.“

Diesmal klopfte Kevin.

Als sich die Tür öffnete sahen die beiden einen erstaunten, halb angezogenen Michael.

„Stören wir etwa?“

„Nein, kommt ruhig rein. Wir waren beim fernsehen.“

Rafael lag im Bett unter der Bettdecke. Sein Oberkörper war ebenso nackt wie der von Michael.

So,so. Fernsehen also.‘

Lucas grinste Rafael breit an, dann warf er ein paar Blätter mit Ausdrucken auf das Bett.

Rafael hob die Augenbrauen und Michael sah Lucas misstrauisch an.

„Was ist das?“

„Das, mein lieber Michael, ist die Buchungsbestätigung für eine Kreuzfahrt rund um England für vier Personen in einer Suite.“

„Aber… aber, wir haben doch gesagt, wir haben nicht so viel Geld.“

„Doch, habt ihr. Ich habe mir erlaubt, die Suite auf meinen Namen und auf Kevin zu buchen. Ihr beide seid jeweils der dritte und vierte Mitreisende. Und deshalb bezahlt ihr auch nur den Preis für die zusätzliche Person.“

Michael griff sich die Blätter vom Bett und sah sie hektisch durch.

Rafael hingegen verzog das Gesicht.

„Aha. Einfach so. Und was willst du dafür von uns haben?“

Erst sah Lucas Rafael verständnislos an, dann dämmerte ihm, was er damit sagen wollte. Lucas wurde bleich, dann ballte er die Fäuste. Wortlos machte er kehrt und stürmte aus dem Raum.

Kevin sah ihm erschrocken hinterher. Michael schüttelte den Kopf und Rafael lief rot an.

„Ich habe doch… so habe ich es doch gar nicht gemeint.“

„So hast du es aber gesagt.“

Kevin setzte sich zu Rafael auf das Bett. Kurz erzählte er die Vorgeschichte zu der Reisebuchung.

„Rafael, er hat das Geld. Er will einfach jemandem etwas Gutes tun, eine Freude damit machen. Er will dafür nichts zurück. Und dass du ihm unterschwellig unterstellt hast, er würde ähhh, eine Dienstleistung dafür von dir einfordern, das war einfach nur daneben.“

Rafael hatte nun hektische Flecken im Gesicht und war sichtlich aufgeregt.

„Ich weiß, dass es so geklungen hat, aber ich war in dem Moment völlig daneben. Ich hatte mit der Reise schon geistig abgeschlossen und dann kam Lucas…“

Rafael schob die Bettdecke beiseite und ging, nur mit einer roten Boxershorts bekleidet, zur Tür.

„Wo ist er? Bei sich auf der Stube?“

„Wahrscheinlich, aber…“

Doch Rafael war bereits zur Tür hinaus. Kevin sah Michael fragend an, doch der zuckte nur mit den Achseln.

Etwa zehn Minuten später brummte Kevins Handy.

Rafael bleibt bei mir heute Nacht, wenn du nichts dagegen hast. Wenn du möchtest, kannst du Michael ja fragen, ob du bei ihm übernachten darfst.

Kevin zeigte Michael die Nachricht. Der nickte lächelnd.

„Ja, klar. Ich bin nur froh, dass anscheinend alles gut ausgegangen ist. Manchmal ist Rafi ein bisschen zu bissig. Er ist wegen seiner Hobbys und seiner Interessen immer wieder aufgezogen oder sogar angefeindet worden. Als dann noch bekannt wurde, dass er schwul ist, war es ganz aus. Ich lerne an ihm immer noch neue Seiten kennen.“

„Da bist du nicht alleine. Ich hab den Satz mal gelesen bei einem Interview von einem Ehepaar, das 65 Jahre verheiratet war.“

„Huh?“

„Ja, genau. Wenn dass das Zusammenleben mit jemandem ausmacht, dann freue ich mich schon auf die nächsten 65 Jahre.“

Michael sah demonstrativ auf die Uhr.

„Ist schon spät. Wie steht‘s mit schlafen?“

Kevin überlegte kurz.

„Ich gehe mal eben rüber zu mir. Badezimmer und umziehen. Aber ich komme auf jeden Fall zurück.“

Dann reckte er sich etwas um Michael einen schnellen Kuss zu geben und war schon auf dem Weg nach draußen.

Hamburg, Deutschland, Anno Domini 2014

Hamburg Hauptbahnhof war ein endloses Gewusel von Menschen.

„Wo müssen wir hin?“

„Haupteingang. Die Treppe hoch und dann Richtung Kirchenallee.“

In der großen Empfangshalle war bereits ein Gepäckservice der Reederei aufgebaut. Problemlos konnten die vier ihre Koffer abgeben und dann nur mit dem Handgepäck bewaffnet auf den Bus warten, der sie zum Cruise Center nach Altona brachte.

Das Einchecken verlief ebenso problemlos. Kevin war richtig peinlich berührt, als sie an der wartenden Schlange vorbeigeführt wurden und an einem Extraschalter, nur für Suite-Bucher, abgefertigt wurden.

Kevins Blick schweifte über die geduldig in ihrer Schlange wartenden Reisenden. Kein Wunder, dass Rafael keinen Platz mehr bekommen hatte. Es war Hauptferienzeit und die zahlreichen Schalter konnten den Ansturm kaum bewältigen. Obwohl das Schiff nur Platz für knapp 2.000 Passagiere hatte, kamen es Kevin hier bei dem Andrang viel mehr vor.

Nach einer Kontrolle der Reiseunterlagen, ihrer Ausweise und einem Foto für die Bordkarte konnten sie dann endlich los aufs Schiff. Lucas hatte sie wieder alle drei überrascht, als er bei der Ausgabe der Bordkarten, einer Mischung aus Schlüsselkarte und Bordkreditkarte, alle vier Bordkarten auf seine persönliche Kreditkarte hatte buchen lassen.

Doch bevor jemand etwas sagen konnte, winkte Lucas ab.

„Das klären wir gleich.“

Dann machten sie sich auf in das Schiff. Mit einem Lageplan ausgestattet fuhren sie in einem der Aufzüge hoch bis zum 10. Deck.

„Wo müssen wir hin?“

„Steuerbord-Seite“, meinte Kevin und trat aus dem Aufzug.

„Häh?“

Lucas und Kevin lachten.

„Das ist die rechte Seite in Fahrtrichtung, ihr Landratten.“

Die Suite war nur ein paar Schritte vom Aufzug entfernt. Als sie eintraten, sahen sie sich neugierig um.

„Wow. Zwei Räume. Guck mal, hier hinten ist das Schlafzimmer.“

„Und hier draußen eine Veranda.“

Michael sah sich suchend um.

„Wo schlafen wir denn?“

Kevin konsultierte seine Reisebeschreibung.

„Hm, zwei Betten und eine Doppelbettcouch. Das ist die hier.“

Damit deutete er auf die Sitzecke mit dem Sofa. Lucas kam gerade aus einer anderen Ecke hervor.

„Ihr glaubt es nicht. Hier gibt es eine Doppeldusche.“

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis jeder seine Sachen eingeräumt und es sich gemütlich gemacht hatte.

„Und jetzt?“

Rafael studierte das Tagesprogramm.

„Also, wir fahren erst um zwanzig Uhr los. Vorher ist um sechs noch eine Seenotrettungsübung für alle.“

„Seenotrettungsübung?“

„Damit du weißt, wo du hin musst, wenn wir untergehen.“

Kevin warf Lucas einen vernichtenden Blick zu.

„Nicht nur, das gilt für alle Notfälle. Zum Beispiel auch für Feuer. Aber es ist schon wichtig, die grundlegenden Notfalleinrichtungen zu kennen. Denk mal an den Italiener vor zwei Jahren.“

Michael wechselte seinen Blick von Lucas zu Kevin.

„Du kennst dich gut aus mit Schiffen.“

„Ich dachte, ich hätte es mal erwähnt. Ich komme hier aus Hamburg. Mein Alter hat auf einem Schlepper gearbeitet, na ja, als er noch Arbeit hatte. Und ich durfte damals sogar einen Segelschein machen. Da war ich acht.“

„Du hast einen Segelschein?“

„Ich hatte einen. Ist schon abgelaufen. War nur für ein Opti.“

Lucas grinste Kevin an und beantwortete dann die Fragezeichen der anderen beiden.

„Ein Optimist. Das kleinste Boot, das man segeln kann. Ist für Anfänger gedacht.“

Alle lachten, sogar Kevin.

„Und wann gibt es was zu essen?“

Rafael sah Michael kopfschüttelnd an, griff aber wieder nach dem Tagesprogramm.

„Äh, also die machen alle um sieben auf. Sind acht Restaurants. Keine Ahnung, wo da der Unterschied ist.“

Lucas lehnte sich bequem zurück.

„Das kann ich erklären. Ich hab‘ mich ja im Voraus mit den ganzen verschiedenen Reedereien und den Angeboten beschäftigt. Hier an Bord haben wir All-inclusive gebucht. Das heißt, wir können in jedes Restaurant, jede Bar und zu jeder Veranstaltung und dort alles bestellen was mit ‚Inclusive‘ gekennzeichnet ist, ohne zu bezahlen.“

„Ernsthaft? Wir könnten uns jeden Tag besaufen ohne einen Cent zu bezahlen?“

Michael schien von dem Gedanken fasziniert zu sein. Rafael weniger.

„Anscheinend schon. Doch wer will das schon?“

Lucas nahm den Faden wieder auf.

„Genau. Von den acht Restaurants sind fünf ‚Inclusive‘, in den drei anderen muss man bezahlen. Aber das ist auch nicht weiter tragisch. Ich habe mir nämlich erlaubt, für einen Abend einen Tisch im Steakhouse zu reservieren.“

Michael brummelte etwas unverständliches, dann wandte er sich an Rafael.

„Guck mal nach, ob es jetzt was zu essen gibt.“

Lucas kam ihm zuvor.

„Gibt es. Auf dem Pooldeck gibt es einen Grill.“

Michael sprang auf.

„Wo muss ich hin?“

„Einfach nur im Treppenhaus ein Deck höher und dann nach vorne.“

Michael war schon an der Tür als ihm die anderen drei lachend folgten.

Auf See, Nordsee, Anno Domini 2014

Der nächste Tag war ein sogenannter Seetag. Das Schiff war den ganzen Tag unterwegs zum nächsten Hafen, Invergordon in Schottland.

Kevin hatte festgestellt, dass man in jedem Hafen auch sogenannte Landausflüge buchen konnte. Vorgefertigte Kurztrips in alle möglichen Gegenden rund um den jeweiligen Hafen. Da sie allerdings ziemlich spät gebucht hatten, waren auch die Landausflüge fast alle ausgebucht.

„Für Invergordon gibt’s nichts mehr. Und für Greenock auch nichts mehr Vernünftiges. Schade, ich hätte ganz gerne Loch Ness oder auch Loch Lomond gesehen.“

Die vier stellten fest, dass Seetage langweilig sind. Das einzig spannende war das Umstellen der Uhr auf eine andere Zeitzone.

Invergordon, Schottland, Anno Domini 2014

Der Hafen von Invergordon war enttäuschend. Eine kleine Stadt mit einer Pier, an der im letzten Weltkrieg Schlachtschiffe festgemacht hatten.

Die vier wollten dennoch ein wenig von der Landschaft sehen, auch wenn sie keinen Landausflug mehr ergattert hatten. Am frühen Vormittag machten sie sich auf den Weg zu einem kleinen Spaziergang durch den Ort.

Es gab sogar eine kleine Tourist-Information, doch der junge Mann hinter dem Tresen konnte nicht viel anbieten. Zum anderen hatte besonders Michael ein Problem mit dem harten, schottischen Akzent.

Während Kevin noch in den wenigen Prospekten blätterte, bekam der junge Mann hinter dem Tresen einen Anruf auf seinem Handy. Hektisch sprach er etwas hinein, was keiner der vier interpretieren konnte. Rafael vermutete, es war gälisch.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe einen kleinen Notfall. Ich müsste das Büro für eine kurze Zeit schließen.“

Die Jungs verließen die Tourist-Information und hörten dann den jungen Mann weiter in sein Handy sprechen, während er abschloss.

Erstaunlicherweise hörte Rafael ihn jetzt französisch sprechen.

„Ich weiß, dass wir hier oben niemand weiter haben, aber David ist alleine. Er hat das Tor durch Zufall entdeckt und sie haben ihn bemerkt. Er konnte durch einen Spalt in eine Nebenhöhle flüchten in die sie nicht folgen können, aber jetzt ist er dort gefangen.“

Nervös lauschte der Mann auf eine Antwort.

„Was? Vier Stunden? Niemals!“

Wütend trennte der junge Mann die Verbindung und fuhr herum. Er erstarrte in der Bewegung, als er sah, dass seine Besucher immer noch da waren und ihn neugierig beobachteten.

„Was ist!?“

Rafael überlegte kurz, dann antwortete er auf Französisch.

„Das Tor müsste erst geschlossen werden.“

Der Blick, mit dem der junge Mann ihn bedachte, war unbezahlbar. Es war eine Mischung aus Unglauben, Panik, Hoffnung und Verwirrung.

Leise flüsterte Rafael den anderen drei eine kurze Erklärung zu.

Immer noch etwas zurückhaltend, musterte der junge Mann jetzt alle vier. Diesmal sprach er wieder Englisch.

„Okay, ich habe vorhin verstanden, dass ihr hier mit dem Kreuzfahrtschiff angekommen seid und Urlaub macht. Was macht ihr denn sonst so?“

Lucas fühlte sich angesprochen.

„Oh, wir gehen noch zur Schule. Ein Internat in Deutschland. Gehört zur Stiftung Jugend für die Zukunft.“

Jetzt stieß der junge Mann seinen angehaltenen Atem aus.

„Dann seid ihr… Moment, Eure Ausbildung ist noch gar nicht abgeschlossen?“

Kevin schüttelte den Kopf.

„Nein, aber das ist im Moment ja auch nicht so wichtig. Wenn ich es richtig verstanden habe gibt es einen Notfall. Und wir würden gerne helfen, ahemm…“

„Oh, pardon. Mein Name ist Ian. Ich arbeite hier in der Woche. Mein Freund David ist öfter in den Hügeln unterwegs und erkundet die Landschaft. Er stammt aus den Lowlands.“

Es folgte ein fast entschuldigendes Achselzucken und Ian zögerte etwas.

„Ihr wollt wirklich helfen? Es könnte gefährlich werden.“

„Michael und ich haben schon einmal an einem Kampf teilgenommen.“

Kevin verschwieg geflissentlich, dass Michael die meiste Zeit auf einem steinernen Opferaltar festgekettet war.

„Oh, wer ist denn, ich meine...“

Vorsichtig sah Ian sich um, doch die Straße schien nicht bevölkert zu sein um diese Tageszeit.

Lucas wusste, was Ian fragen wollte, ohne die Bezeichnungen öffentlich auszusprechen. Er hob nur die rechte Hand.

„Gelb.“

Michael folgte prompt.

„Blau.“

Jetzt hoben auch Kevin und Rafael eine Hand.

„Rot.“

Ian grinste sie an.

„Rot.“

Lucas runzelte die Stirn.

„Und David?“

„Äh, gelb.“

Lucas schüttelte wieder den Kopf.

„Uns fehlt einmal blau.“

Ian machte ein bestürztes Gesicht, doch Michael beugte sich zu Lucas und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Bist du sicher?“

Michael nickte.

„Dann los, wo müssen wir hin?“

„Kommt mit zu meinem Wagen, die Fahrt dauert etwa eine halbe Stunde.“


Der Wagen war ein alter Land Rover und sie fuhren zunächst auf einer gut ausgebauten Hauptstraße, dann einer Nebenstraße und die letzte Viertelstunde auf irgendwelchen fast unkenntlichen Wegen.

Vor einem grün bewachsenen Hügel hielt das Fahrzeug. Ian sprang heraus und sein Blick glitt suchend über die nackten Felsen, die hier und dort unter dem Gras hervorsahen.

„Hier muss der Eingang irgendwo sein. Es soll nur ein schmaler Felsspalt sein.“

„Ich glaube, hier ist was.“

Kevin deutete auf einen dunklen Spalt in Bodenhöhe. Der Spalt war knapp zwei Meter hoch und ziemlich eng.

„Das muss es sein. Ich gehe vor. Ihr folgt mir in größeren Abständen. Nicht so dicht aufeinander bleiben.“

Ian machte sich daran, sich durch den Spalt zu zwängen und Lucas wollte ihm folgen, doch Kevin zog ihn zurück.

„Hier sind wir erst mal dran. Hinter mir kommt Rafi, dann du und zum Schluss Michael. Du versuchst beim Reingehen einen Magiescan, Michael bereitet eine physische Barriere vor. Rafi, ich brauch eventuell gleich Deckungsfeuer.“

Lucas zuckte nur kurz, dann setzte bei ihm die Ausbildung ein. Im Gefecht hatten die Kampfmagier das Sagen, bis die Gegner kampfunfähig waren und das Schließungsritual beginnen konnte. Dann übernahm einer der Astralmagier die Leitung des Rituals.

Der Spalt erweiterte sich zu einem schmalen Gang. Hintereinander folgten sie Ian, der jetzt vorsichtig um eine Gangbiegung sah.

„Eine Höhle“, flüsterte er.

„Drei Rallorian und ein Gothmar, die mit irgendetwas beschäftigt sind.“

Als die kleine Truppe vorsichtig den Gang verließ, verteilten sie sich nach links und rechts und beobachteten kurz die Wesen, die etwa zehn Meter vor ihnen auf den Felsen einschlugen. Die drei Rallorian schlugen mit ihren harten, zangenähnlichen Klauen auf den Felsen ein, während der Gothmar einen Felsbrocken in seiner Hand hielt und ihn als Werkzeug benutzte.

„Sie versuchen, den Spalt zu erweitern. David ist dahinter in der kleinen Höhle.“

Lucas versuchte so leise wie möglich zu sprechen und hoffte, seine Stimme würde von dem Steinklopfen übertönt. Ian nickte. Man konnte ihm ansehen, dass er am liebsten sofort vorgestürmt wäre, doch er sah sich weiter um.

„Dort, da führt der Gang weiter, dort müsste es zu dem Tor gehen.“

Kevin nickte, dann sah er Ian fragend an.

„Erst die hier vorne oder sollen wir versuchen, unbemerkt zum Tor zu kommen?“

Ian schüttelte den Kopf.

„Zu gefährlich. Wenn sie uns bemerken, haben wir Gegner von vorn und hinten. Erst die hier. Zuerst die Rallorian. Jeder einen.“

Kevin und Rafael nickten. Auf ein Zeichen von Ian rasten drei grüne Energieblitze auf die Rallorian zu. Überrascht unterbrachen sie ihre Arbeit und drehten sich schwerfällig um. Dann schlugen schon die nächsten Blitze ein. Der Gothmar hatte die Blitze und die Reaktion seiner Mitarbeiter bemerkt. Erheblich schneller als die Rallorian drehte er sich herum, stieß ein lautes Tuten aus und stürmte auf die Angreifer zu. Mitten in der Höhle lief er mit einem dumpfen Geräusch gegen eine kaum sichtbare orangefarben schimmernde Wand. Das Tuten wurde lauter und zorniger, während die Rallorian unter den dritten Energieblitzen zusammenbrachen.

Der Gothmar versuchte nun, die Barriere zu umgehen, doch nun schlugen auch bei ihm drei Energieblitze und ein Manablitz ein. Wie von einer Axt gefällt, fiel der Gothmar stumpf nach hinten um.

Ian rannte hinüber zu dem kleinen Spalt, in dem sich jetzt eine weitere Gestalt zeigt. Der junge Mann der dort hervorkletterte war noch etwas kleiner und leichter als Kevin, mit dunkelblonden Haaren die eine gelbe und eine rote Strähne hatten. Der Junge war schweißnass und vollkommen erschöpft.

„David! Wie geht es dir?“

„Ian! Du hast mich gefunden. Wer ist denn… egal, schnell. Wir müssen zum Tor. Sie bereiten eine Bruthöhle vor!“

David konnte sich kaum auf den Beinen halten, doch er zerrte Ian zum nächsten Gang.

„Einen Moment. Was heißt, sie bauen eine Bruthöhle?“

„Sie bereiten die Eiablage für eine Mothera vor. Los, schnell.“

Ian fluchte auf Gälisch und folgte seinem Freund. Lucas hatte eine erregte Diskussion mit Michael.

Als der Gang sich zur nächsten Höhle verbreiterte, sah man im Hintergrund schon das Tor leuchten. Davor waren ein gutes Dutzend Rallorian damit beschäftigt, aus einer zähen, grauen Masse, die wie Kaugummi aussah, kleine Nester zu formen und in der Höhle zu verteilen.

Die Jungen hatten sich im Gang geduckt an die Wände gepresst.

„Was jetzt? Das sind zu viele.“

„Wir versiegeln den Gang mit einer Barriere und starten das Ritual von hier aus.“

Lucas schien sich sicher zu sein.

„Spinnt ihr? Wir haben nur einen Bannmagier. Wie soll er die Barriere und das Ritual aufrechterhalten?“

„Das braucht er nicht. Michael?“

Michael zog sein Polo-Shirt aus und auf seiner Brust leuchtete schwach der Zauberspeicher.

„Wir brauchen nur etwas mehr Energie wegen der Entfernung. Michael errichtet die Barriere. Dann muss Rafael ihn als Batterie unterstützen. Ich markiere das Ziel und aktiviere den Zauberspeicher. Ian und Kevin bleiben als Reserve, falls etwas schiefgeht.“

Ian und Kevin sahen Lucas etwas skeptisch an, aber das war jetzt seine Entscheidung.

„Dann los.“

Michael richtete sich auf und legte eine physische Barriere vor die Gangmündung. Dann stellte er sich mitten in den Gang. Rafael trat hinter ihn und legte seine Hände auf Michaels Schultern. Lucas stellte sich schräg links vor Michael, legte seine rechte Hand auf den Zauberspeicher auf Michaels Brust und mit der linken Hand deutete er auf das Tor.

Bis jetzt hatte sich noch nichts in der Höhle getan, doch das Leuchten des Zauberspeichers erzeugte Aufmerksamkeit. Ein Rallorian kam näher und prallte gegen die Barriere. Damit versperrte er Lucas die direkte Sicht auf das Tor. Ian und Kevin reagierten sofort und bedachten den Rallorian mit Energieblitzen, während Lucas den Zauberspeicher aktivierte.

Das violette Glühen des Zaubers erfasste erst Michael, dann auch Lucas. Es schien zu zunehmen und zu pulsieren, doch nichts geschah. Unbemerkt hatte sich nun auch David genähert und legte Michael ebenfalls eine Hand auf den freien Rücken.

Die Energie reichte nun aus und ein violetter Blitz brach aus Lucas‘ linker Hand, überquerte die ganze Höhle und schlug im Tor ein.

Im Gegensatz zu dem normalen Schließungsritual, in dem die Energie langsam aufgebaut wurde, kam sie hier schlagartig zum Einsatz. Das Tor flammte einmal violett auf, dann erlosch es schlagartig.

In der Höhle und dem Gang wurde es ebenso schlagartig dunkel. Lediglich die graue Masse, aus denen die Nester gebaut worden waren, war zurückgeblieben und sie glühte jetzt in einem leichten blaugrünen Leuchten.

Mit dem Erlöschen des Schließzaubers waren Michael, Rafael und David bewusstlos zusammengesunken. Lucas hatte gerade noch Michael auffangen können, obwohl er auch nicht mehr so sicher stand.

„Was machen wir jetzt?“

Ian hatte sich über David gebeugt und während er ihn vorsichtig auf dem Boden ausstreckte, beantwortete er Kevins Frage.

„Wir warten auf die Unterstützung. Eigentlich sollte bald ein Team eintreffen.“

Es dauerte noch über eine Stunde, bis die Verstärkung eintraf. Eine Einsatzgruppe von acht Mann sicherte die Höhle und half bei der Bergung der drei Magier, die nun tief und fest schliefen.


Man hatte die die ganze Truppe, inklusive der vier Urlauber nach Inverness gebracht. Hier wurden sie in einem kleinen Bed-and-Breakfast untergebracht und am nächsten Vormittag waren sie zu einer Unterredung in ein Rechtsanwaltsbüro geladen worden.

Im Warteraum der Kanzlei saßen bereits Ian und David. Die Begrüßung fiel recht herzlich aus und jeder der vier Urlauber bekam einen Kuss von Ian und von David. Sie wurden am Ende von einem dezenten Räuspern unterbrochen.

In der Tür zum Büro wartete ein elegant gekleideter Mann, so um die dreißig. Er bat alle herein und Ian und David schienen ihn zu kennen. Ebenso den erheblich älteren Mann, der hinter dem Schreibtisch saß.

„Meine Herren, nehmen Sie ruhig Platz.“

Der ältere Mann deutete auf die sechs Stühle vor seinem Schreibtisch, während der jüngere Mann schräg rechts hinter ihm stehen blieb.

„Mein Name ist McDonald. Colonel McDonald, um genau zu sein. Ich bin der Regimentskommandeur des Einsatzregiments 2, Europäische Inseln. Der Herr hinter mir ist Captain Fraser, der Kompaniechef der beiden Sublieutenants Jervis und Harvey.“

Damit nickte er Ian und David zu. Dann nahm er ein Schriftstück von seinem Schreibtisch und sah beiläufig darauf.

„Ihre Identität habe ich mir zweimal bestätigen lassen, denn ich habe bei der ersten Auskunft einen Fehler vermutet.“

In der entstehenden Pause wechselten Kevin, Lucas, Michael und Rafael erstaunte Blicke.

„Doch wenn ich es so recht bedenke, war ich nicht überrascht. Einen solchen Einsatz dermaßen unvorbereitet und leichtsinnig zu begehen war definitiv das Werk von Anfängern. Die beiden Sublieutenants hätten es eigentlich besser wissen müssen.“

Die vier Urlauber schienen in ihren Sitzgelegenheiten zu schrumpfen. Unauffällig wechselten sie unsichere Blicke, während die beiden jungen Offiziere rot anliefen.

„Die Ausführung des Einsatzes allerdings hat etwas sehr professionelles gehabt, obwohl der ganze Erfolg an einem Zufall gehangen hat, dem Vorhandensein eines Zauberspeichers. Die Einplanung des Speichers und die Ausführung des Schließungsrituals waren gute Arbeit.“

Diesmal sahen sich die Jungen etwas hoffnungsvoller an.

„Captain Fraser wird in Zukunft dafür sorgen, dass niemand mehr ‚unbeaufsichtigt‘ durch das Hochland streift. Das Zurückbleiben von Material nach einer Schließung ist bis jetzt einzigartig. Ein komplettes Forschungsteam ist bei der Arbeit.“

Colonel McDonald lehnte sich in seinem Sessel etwas zurück.

„Sie vier werden Ihre Urlaubsreise ganz normal fortsetzen. Wir haben das Schiff informiert, dass sie auf Grund eines Notfalls an Land geblieben sind. Sie werden im nächsten Hafen in Greenock wieder zusteigen und Ihre Reise wie geplant beenden.“

Die Jungen sahen sich erfreut an.

„Bitte tun Sie mir den Gefallen und halten Sie sich während Ihrer Reise von weiteren Toren fern.“

Dem Tonfall und dem Gesichtsausdruck des Colonels war nicht zu entnehmen, ob die Bemerkung ernst gemeint war oder nicht. Dennoch antworteten alle vier prompt.

„Jawohl, Sir.“

Colonel McDonald lächelte, dann hob er kurz eine Hand.

„Noch etwas. Ich habe natürlich einen kurzen Bericht an Ihre vorgesetzte Dienststelle geben müssen. Dort wird Ihr Einsatz erwähnt und natürlich auch Ihr Verhalten. Ich habe mir erlaubt, eine Empfehlung für eine Auszeichnung oder Belobigung beizufügen.“

Diesmal wechselten die Blicke von erstaunt zu erfreut. Doch noch bevor jemand etwas sagen konnte erhob sich der Colonel und automatisch standen alle auf.

„Ihr müsst erst morgen Abend in Greenock sein. Macht euch ein paar schöne Stunden in Schottland mit Ian und David. Und nun raus!“


Ian und David überraschten die vier mit einer kleinen Reise quer durch Schottland. Da sie am nächsten Tag in Greenock ja erst wieder abends um zehn an Bord sein brauchten, hatten sie noch genügend Zeit, die Landschaft zu erkunden. So kam Kevin zu einer privaten Führung zum Loch Ness und dann ging es ab Richtung Süden.

„Übrigens, man kann sogar mit einem Boot komplett durch Schottland durchfahren.“

„Wie denn das?“

„Es gibt einen Kanal, beginnt hier bei Inverness im Beauly Firth und endet auf der Westseite im Loch Linnhe, bei Fort William.“

„Und der ist befahrbar?“

„Ja, für Boote. Da machen etliche Leute inzwischen ihren Sommerurlaub auf Hausbooten.“

Weiter ging die Tour quer durch das schottische Hochland. Die Nacht verbrachten sie in einem kleinen Gästehaus in der Nähe des Loch Rannoch.

Am nächsten Tag kam Kevin dann noch in den Genuss einer Rundfahrt auf dem Loch Lomond.

In Greenock verabschiedeten sich Ian und David und es ging wieder an Bord, wo sie der Kreuzfahrtdirektor mit ein paar freundlichen Fragen nach ihrem Befinden bereits erwartete. Der Rest der Fahrt verlief ohne weitere Zwischenfälle und die Jungen konnten Belfast, Dublin, Holyhead, Cobh und das kleine St. Peter Port erleben. In Southampton ergatterten sie dann doch noch einen Landausflug nach London.

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2014

Nach den Sommerferien wurden neue Pläne verteilt und neue Unterrichtseinheiten eingeführt. Der allgemeinbildende Unterricht blieb unverändert, lediglich die Arbeitsgemeinschaften wechselten.

Doktor Bruckhaus verkündete die frohen Nachrichten.

„Im zweiten Jahr ändern sich ein wenig die Schwerpunkte. Die Arbeitsgemeinschaften Thaumaturgie und Fachmagie bleiben bestehen, hinzu kommt das Fach Dämonologie. Der Sport wird auf sechs Stunden zusammengestrichen. Da bleiben Ihnen leider nur noch zwei Stunden für die freie Sportwahl, denn Waffenloser Kampf und Konditionstraining mit jeweils zwei Stunden bleiben weiterhin erhalten.“

Doktor Bruckhaus sah auf seine Uhr.

„Ich möchte Sie nun bitten, sich in der Aula zu versammeln, danke sehr.“

Kevin sah sich fragend um, aber die anderen Kampfmagier zuckten nur mit den Schultern.

In der Aula waren bereits die restlichen Magier versammelt. Doktor Bruckhaus schritt nach vorne und musterte den wilden Haufen.

„Meine Herren, wir erwarten heute höheren Besuch. Ich möchte Sie bitten, sich nach Magieschulen getrennt, nebeneinander hinzustellen. Und zwar in den Farben rot, blau, gelb, violett und grün. Wenn möglich, innerhalb der Farben nach Größe.“

Bei den Schülern brach so etwas wie operative Hektik aus. Das Sortieren nach Farben war einfach, besonders bei Timo. Die Kampfmagier brauchten etwas länger. Am Anfang stand eindeutig Rafael, daneben Alexander. Dann kamen schon Kevin und Dorian, die fast genau gleich groß waren. Christoph fing mit Robert und Uwe an zu streiten, weil alle drei gleich groß waren, doch Doktor Bruckhaus sortierte sie dann nach Nachnamen und Herr Plöger kam ans Ende.

Die kleine Nebentür der Aula öffnete sich und der Direktor trat heraus in Begleitung zweier Herren in einer schwarzen Uniform. Lucas hatte die aktuelle Uniform der ehemaligen Bruderschaft der Ritter der Gnade noch nie so öffentlich gesehen, obwohl sie natürlich im Unterricht behandelt worden war. Die beiden Herren trugen die Abzeichen eines Brigadegenerals.

Doktor Berg räusperte sich, bevor er begann.

„Meine Herren, ich möchte Ihnen die Herren Brigadegeneräle Jester und Behling vorstellen. Sie haben den Posten des S3 und stellvertretenden Kommandeurs der Division Westeuropa.“

Die beiden Generäle grüßten militärisch. Einer von ihnen war, wie zu erwarten ein Kampfmagier, der andere hatte die violetten Abzeichen eines Elementars.

„Die Herren sind heute hergekommen, weil es schon eine ausgesprochene Seltenheit ist, wenn Schüler dieses Hauses bereits eine militärische Auszeichnung überreicht bekommen.“

Die Schüler sahen sich erstaunt an, doch Kevin ahnte, was kommen würde. Der General mit den roten Abzeichen trat vor und las von einem Blatt ab.

„Die Schüler Kevin Böttcher, Rafael Diberg, Lucas von Lanz-Ravensberg und Michael Lehrke haben vor kurzem an einem Einsatz im Gebiet der Division Westeuropa teilgenommen. Trotz der schwierigen Ausgangssituation haben sie entscheidenden Anteil an der Planung und Durchführung des Einsatzes gehabt und diesen mit großem Erfolg abgeschlossen. Der zuständige Regimentskommandeur hat eine Auszeichnung empfohlen und dieser Empfehlung ist der Divisionskommandeur gefolgt. Die oben genannten Herren erhalten die Combat Medal. Eine Auszeichnung für die Teilnahme an schwierigen Gefechtssituationen. Des Weiteren erhalten sie den Battlescore. Diese Gefechtsauszeichnung zeigt die Anzahl der unschädlich gemachten Gegner während der gesamten Laufbahn.“

Kevin pustete die Backen auf und ließ die Luft dann langsam ab. Das hatte er nun doch nicht erwartet. Lucas hingegen schielte unauffällig auf die Uniform des Kampfmagiers und entdeckte ein violettes Ordensband, das eine Zahl enthielt. Er konnte die Zahl nicht erkennen, aber sie war definitiv dreistellig.

Dr. Berg holte die Schüler für die Auszeichnung einzeln nach vorne. Jeder nahm zwei kleine dunkelblaue Schächtelchen und zwei Urkunden entgegen.

Nach einem weiteren Gruß entschwand Dr. Berg mit den beiden Generälen durch die kleine Nebentür. Doktor Bruckhaus trat wieder vor die Schüler.

„Meine Glückwünsche an die Ausgezeichneten. Die Unterrichtsstunde ist ohnehin fast beendet, Zeit für das Mittagessen.“

Sofort bildete sich ein dicker Pulk um die vier neuen Ordensträger.


Am Abend saßen Kevin, Lucas und Michael bei Rafael auf der Stube. In aller Ruhe konnten sie jetzt die Auszeichnungen betrachten, die sie am Vormittag bekommen hatten. Michael zog die Combat Medal aus der Schachtel. Eine goldfarbene runde Medaille mit einem eingravierten einfachen, fünfstrahligen Stern hing an einem himmelblauen Band mit einem goldfarbenen, senkrechten Mittelstreifen.

„Das Ding fällt ja richtig auf zu einer schwarzen Uniform.“

„Soll es ja wohl auch. Im Normalfall trägst du aber nur die Bandschnalle.“

„Die, was?“

„Bandschnalle. Das rechteckige kleine Ordensband. Sieht so aus wie ein Ausschnitt aus dem großen.“

Michael betrachtete die kleine Schnalle in himmelblau mit dem senkrechten goldenen Streifen.

„Aha.“

Kevin hatte inzwischen das Kästchen mit dem Battlescore geöffnet. Darin lag nur eine einfarbig violette Bandschnalle.

„Hey, das gibt es nur als Bandschnalle.“

„Hm, wahrscheinlich, weil es ja keine richtige Auszeichnung ist.“

„Aber warum steht bei mir eine vier drauf? Das waren doch nur drei.“

„Ich glaube, ich weiß es.“

Michael hielt ebenfalls einen Battlescore hoch. Bei ihm prangte eine Eins darauf.

„Auf der Urkunde sind hinten die Daten drauf. Meiner ist der Gothmar von der Opferung.“

„Tatsächlich, meine erster ist der Rallorian aus der alten Brauerei.“

„Na, da kannst du dir ja richtig was drauf einbilden. Ein Bannmagier mit Battlescore.“

Lucas schreckte aus seinen Gedanken hoch.

„Was? Wieso?“

Die anderen drei lachten.

„Wieviel Kampfzauber kann ein Bannmagier?“

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