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Dämonenjäger

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2013

Kevin saß jetzt fast eine Stunde in dem alten Überlandbus. Dieses Internat schien wirklich im letzten gottverlassenen Winkel zu liegen. Neugierig sah er sich noch einmal im Bus um. Er war am Bahnhof zugestiegen, da war der Bus etwa halbvoll. Im Laufe der Zeit hatten alle, bis auf drei, den Bus auch wieder verlassen. Eine Reihe hinter ihm, auf der anderen Seite des Ganges, saßen zwei Jungen eng aneinander gedrängt und unterhielten sich leise. Beide waren zwar in etwa gleich groß, wie Kevin vermutete, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Einer der beiden hatte halblange, goldblonde Haare und ein schmales Gesicht, während der andere ziemlich kurze, gelockte, schwarze Haare hatte, mit einem mehr rundlichen Gesicht. Kevin war sich nicht sicher, aber er schätzte die beiden etwa in seinem Alter. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie einer dem anderen einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. Kevin grinste breit. Wahrscheinlich noch zwei Kandidaten. Auf der Rückbank hingegen lümmelte sich der Grund, warum Kevin sich schon zum wiederholten Mal unauffällig umdrehte. Geschätzte 1,90 m groß, breite Schultern, kurze rote Haare und Sommersprossen. Völlig entspannt saß der Typ mit gespreizten Beinen da und lauschte mit geschlossenen Augen dem Gedudel seines MP3-Players, an dem er alle paar Minuten herumfummelte.

Als der Bus über den nächsten Hügel fuhr, sah Kevin etwas in der Ferne, was seine Aufmerksamkeit erregte. Weit ab von der Straße, hoch auf einem weiteren Hügel gelegen, lag eine Ansammlung von Gebäuden. Er konnte eine Kirche erkennen, die von mehreren kleineren, weiß verputzten Häusern umgeben war. Das Ganze umschloss eine wohl gut zwei Meter hohe Mauer, ebenfalls weiß verputzt. Eine schmale Straße führte von der Hauptstraße dort hinauf.

Der Bus hielt mitten in der Landschaft, keine Haltestelle weit und breit. Der Busfahrer aktivierte sein Mikrofon.

„Ihr könnt's hier ‚raus, sonst lauft's euch an Wolf.“

Kevin schnappte sich seine Sachen und sah aus den Augenwinkeln heraus, wie die drei anderen Jungen sich ebenfalls daran machten auszusteigen. Wortlos und ohne sich umzudrehen, machte sich Kevin mit seiner Reisetasche auf den Weg hinauf in Richtung der Siedlung oder was auch immer das war. Alle anderen folgten ihm kommentarlos. Nach einer Weile bemerkte Kevin, dass die Schritte hinter ihm aufgehört hatten. Er drehte sich um. Das Pärchen war stehen geblieben und starrte mit großen Augen auf die Gebäude vor ihnen.

Der große Rothaarige war hinter den beiden ebenfalls stehengeblieben und sah erst auf die Mauer vor ihnen, dann sah er Kevin an.

„Okay, wie ich das so sehe, sind wir alle auf dem Weg zu unserem neuen Bildungsinstitut. Da wir uns dort wahrscheinlich noch öfter treffen werden, kann ich mich auch gleich hier vorstellen. Ich bin Lucas. Lucas mit ‚C', nicht mit ‚K'.“

„Oh, ich heiße Kevin. Mit ‚K', nicht mit ‚C'.“

Lucas grinste ihn breit an, dann wandte er sich mit einem fragenden Blick an die anderen beiden. Die sahen sich nur kurz an, dann sagte der Blonde knapp: „Sven“

Der Schwarzhaarige sah seinen Nebenmann etwas erstaunt an, lächelte dann aber.

„Hi, ich heiße Timo.“

Lucas sah die beiden kurz prüfend an.

„Na, ist doch toll. Auf geht's ins Abenteuer. Wer klingelt?“

Die Frage war rhetorisch, denn sie hatten noch ein gutes Stück zu laufen. Außerdem mussten sie feststellen, dass es am Tor keine Klingel gab. Nach kurzem Zögern bediente Kevin den großen Messingring, der als Türklopfer diente. Eine ganze Weile geschah nichts und als Kevin sich schon überlegte, ein zweites Mal zu klopfen, öffnete sich eine kleine Luke im Tor. Das Einzige, was man erkennen konnte, war ein Gesicht, dessen Augen die vier Jungen eine ganze Zeit lang musterten. Immer noch fiel kein Wort und Kevin wurde die ganze Sache allmählich unheimlich. Aber wie hatte Pater Anselm zum Abschied gesagt: „Lass dich nicht einschüchtern und wunder dich über gar nichts.“

Die Luke schloss sich mit einem quietschenden Geräusch und wenig später konnten die vier hören, wie Schlüssel gedreht wurden und mindestens zwei Riegel verschoben wurden. Erstaunlicherweise ohne jedes Geräusch öffnete sich jetzt der rechte Torflügel, aber nur so weit, dass die Jungen gerade so durch den Spalt hereinschlüpfen konnten. Sofort wurde das Tor geschlossen und verriegelt. Zwei Männer standen schweigend etwa fünf Meter entfernt, während ein dritter das Tor nochmals kontrollierte. Alle drei trugen schlecht sitzende schwarze Anzüge, eine Sonnenbrille und hatten einen Knopf im Ohr. Der Mann, der das Tor verriegelt hatte, drehte sich herum.

„Papiere!“

Eingeschüchtert händigten alle vier ihre Einladungsschreiben aus. Der Mann las die Schreiben sehr gründlich und nickte dann. Ohne ein Wort zu sagen, wies er auf ein weißes Gebäude direkt neben dem Tor. Das Messingschild neben der Tür besagte kurz und knapp: Verwaltung.

Lucas öffnete die Tür und trat in einen langen Gang. Die anderen folgten und Kevin entdeckte als erster die Tür mit der Aufschrift: Sekretariat. Kurz entschlossen klopfte er.

„Herein.“

Was auch immer Kevin erwartet hatte - es war nicht der junge Mann in einem schreiend pinkfarbenen T-Shirt, der dort hinter einem Schreibtisch saß.

„Aha, Kevin Böttcher. Schön dich zu sehen.“

Kevin fiel beinahe der Unterkiefer herunter. Woher kennt der meinen Namen?

„Du wohnst in Haus 4 und hast dort Zimmer 401. Hier sind die Schlüssel und die weiteren Papiere. Ihr habt noch ein wenig Zeit, aber um 15:00 Uhr hält der Leiter die Begrüßungsansprache an alle Neuzugänge. Lageplan liegt gleich oben drauf. Der nächste bitte.“

Lucas, Timo und Sven waren vor der Tür stehen geblieben und sahen sich jetzt fragend an. Lucas zuckte mit den Schultern und schob sich an Kevin vorbei, der gerade das Zimmer verließ.

„Ah, Lucas von Lanz-Ravensberg. Du wohnst ebenfalls in Haus 4 und hast Zimmer 405. Hier sind die Schlüssel und die weiteren Papiere. Wie du vielleicht mitbekommen hast, hält der Leiter die Begrüßungsansprache um 15:00 Uhr. Lageplan liegt gleich oben drauf. Der Nächste bitte.“

Als der Name fiel, hatte sich Kevin verblüfft umgedreht. Er wollte schon einen lustigen Kommentar machen über verarmten Landadel, als er jedoch Lucas' verkniffenes Gesicht sah, verschwand er schnell um die Ecke. Jetzt fehlten nur die anderen beiden. Mit halbem Ohr hörte Kevin die kurze Begrüßung während er in seinen Papieren blätterte.

„Wie schön, Timo Mavelli und Sven Hansen. Ihr wohnt in Haus 1, das ist das Zentralgebäude und ihr habt Zimmer 101. Hier sind die Schlüssel und die Papiere. Um 15:00 Uhr hält der Leiter die Begrüßungsansprache an alle Neuzugänge. Lageplan liegt gleich oben drauf. So, das war's.“

Vor dem Verwaltungsgebäude studierte Kevin seinen Lageplan. Wie er erleichtert erkannte, war das Unterkunftsgebäude direkt gegenüber. Es war ein langgestreckter, rechteckiger Bau mit dunklem Ziegeldach, der im Stil dem Hauptgebäude und der Kirche nachempfunden war. Kevin vermutete, dass es sich bei dem großen zweistöckigen Hauptgebäude um ein altes Klostergebäude handelte.

Der Eingang von Gebäude 4 befand sich auf der Giebelseite und führte in einen langen Gang mit mehreren Türen. Kevin las das Schild der ersten Tür zu seiner Linken: 401. Richtig, der Schlüssel passte.

Das Zimmer war gar nicht schlecht. Ein Einbauschrank, ein breites Bett, ein Schreibtisch mit Computer! Kevin pfiff durch die Zähne als er den Namen des Herstellers darauf las. Aha, diese Tür führte in ein kleines Badezimmer mit Dusche. Gar nicht so schlecht hier. Ein Blick auf die Uhr: 14:39 Uhr. Was war jetzt um drei? In dem Packen Papiere war auch ein Ablaufplan für den heutigen Tag. Rettung in letzter Sekunde!


Kevin trat zögernd durch die große Doppeltür in den Saal, der von außen mit dem schlichten Schild „Aula“ gekennzeichnet war. Der Saal hatte ein massives Holzparkett und vor einem modernen Rednerpult waren ein paar Stühle aufgestellt worden, die etwas verloren in dem großen Raum wirkten. Es waren achtzehn Stühle, halbkreisförmig angeordnet, die mit ihrem hellen Holz und den gebogenen Beinen richtig wertvoll aussahen. Die Stühle waren so aufgebaut, dass man durch die bis zum Boden reichenden Fenster einen fantastischen Blick auf die entfernten Berge hatte. Einige Stühle waren schon besetzt und Kevin setzte sich der Einfachheit halber auf den erstbesten noch freien Platz. Langsam füllte sich der Saal und ein paar Minuten vor drei waren dann alle Plätze besetzt.

Als sich Punkt drei Uhr eine große dunkle Eichentür auf der rechten Seite der Aula leicht quietschend öffnete, erstarben langsam alle Geräusche in dem hohen lichtdurchfluteten Saal. Die Tür schloss sich wieder leicht quietschend und harte Schritte hallten über den alten Parkettboden. Zögernd erhoben sich die Anwesenden von ihren Stühlen. Unsicher folgten achtzehn Augenpaare der schlanken Gestalt im eleganten Dreiteiler, die zielsicher hinter das Rednerpult trat. Der Mann war etwa fünfzig Jahre alt, mit kurzem grauem Haar und einer goldgeränderten Brille. Sein Blick wanderte kurz über die Anwesenden, dann nickte er, wohl mehr zu sich selber. Eine kurze Bewegung mit der rechten Hand und die Jungen setzten sich wieder. Sie schienen sich nicht sehr wohl zu fühlen in dem Saal mit seinen Deckenmalereien, dem vielen Stuck, den riesigen Fenstern und den zierlichen Stühlen mit den geschwungenen Beinen.

"Meine lieben neuen Schüler!“

Die Stimme war kräftig und deutlich in der Aussprache.

„Ich begrüße Sie herzlich in diesen altehrwürdigen Mauern des Hauses Birkenstein des Internatsverbundes der Stiftung ‚Jugend für die Zukunft’. Mein Name ist Dr. Raymund Berg und ich bin der Leiter dieses Hauses. Gestatten Sie mir ein paar kurze Ausführungen zu unserer Stiftung, zu den Gebäuden und zur Organisation Ihrer Ausbildung.

Die Stiftung ‚Jugend für die Zukunft’ wurde offiziell gegründet, um einerseits begabten Schülern, die finanziell nicht dazu in der Lage sind, eine hochwertige Schulausbildung zu bieten, andererseits um schwer erziehbare Jugendliche auf den Weg der Tugend zurückzubringen.

Unser Haus hier ist ein ehemaliges Benediktinerkloster, das im letzten Krieg teilweise zerstört, mehrere Male umgebaut und für unsere Zwecke angepasst wurde. Sie werden hier wohnen und Ihren Unterricht erhalten. Für die Einwohner der umliegenden Gemeinden sind wir schlicht ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche. Das begründet auch unsere vorhandenen Sicherheitseinrichtungen.

Die Stiftung besitzt ein halbes Dutzend dieser Internate quer über ganz Deutschland verteilt, die den Auftrag im Sinne des Stiftungserlasses erfüllen. In diesem hier jedoch, gibt es eine ganz spezielle Ausbildung. Sie alle sind mit einer ganz besonderen Begabung hier hergekommen. Jeder ist mit der Eigentümlichkeit seiner persönlichen Begabung vertraut gemacht worden, jeder ist informiert worden über die Bedingungen die mit seinem Aufenthalt hier verknüpft sind und jeder ist eingehend über den dann folgenden Auftrag aufgeklärt worden.“

Der Blick des Leiters wanderte einmal die Reihe entlang.

„Sie alle, die Sie hier vor mir sitzen, sind nach Abschluss dieser Schule Mitglieder einer Organisation, deren Wichtigkeit für das Bestehen unserer Zivilisation nicht oft genug betont werden kann. Ich hoffe, dass Sie sich nicht allzu sehr ablenken lassen und sich mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, Energie und Fleiß in die Arbeit stürzen.“

Die ersten bezeichnenden Blicke wanderten zwischen den Schülern hin und her.

„… was mich gleich zu einem weiteren Punkt bringt. Für alle Schüler unseres Institutes ist eine Schuluniform vorgeschrieben, aber das sollte eigentlich in dem Brief erwähnt worden sein, den sie bekommen haben. Wichtig für Sie ist es zu wissen, dass hier streng auf das korrekte Tragen der Schuluniform geachtet wird."

Kevin hatte die Passage zwar gelesen, ihr aber keine weitere Beachtung geschenkt.

"Ab 16:00 Uhr beginnt die Einweisungen durch Ihre Mentoren. Ach, ja. Falls Sie bereits einen Einblick in die Geschichte unserer Organisation erhalten haben sollten, wundern Sie sich bitte nicht, dass diese Gruppe so groß ist. Im Normalfall wären es ja zwölf bis sechzehn Schüler, doch in diesem Jahr mussten wir, aus mehreren Gründen, die Belegung erweitern. Einer der Gründe, und das freut mich im Besonderen, ist es, dass zu Ihrer Gruppe, als erster seit über hundert Jahren, wieder ein Heiler gehört. Nichtsdestotrotz heiße ich Sie nochmals herzlich Willkommen und danke Ihnen für Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.“

Die Schüler erhoben sich, als Dr. Berg sich wieder der Tür zuwandte, durch die er gekommen war. Neugierig glitten die ersten suchenden Blicke über ihre Mitschüler. Kevin überlegte, wer wohl der Heiler sein könnte, doch dann wurde er abgelenkt. Eine Stimme erklang direkt neben ihm, so dass er fast zusammengezuckt wäre.

„Und nu?“

Einige der näher stehenden Kameraden hatten sich umgedreht zu dem schlanken Jungen mit zerrissenen schwarzen Jeans, schwarzem T-Shirt und einem Stachelhalsband. Der Junge hatte kastanienrote Haare mit einer hellblauen Strähne.

„Was ist mit nun? Alle raus hier. Um vier müssen wir in unseren Klassenräumen sein.“

Jetzt sahen alle zu Lucas auf. Einige lächelten, andere verzogen das Gesicht.

„Wer hat dich denn zum Anführer gemacht?“

Der Junge mit den zerrissenen schwarzen Jeans und dem Stachelhalsband trat vor Lucas hin und sah provozierend zu ihm hoch, denn er war gut einen halben Kopf kleiner als Lucas. Dieser sah grinsend auf ihn herab.

„Keiner, aber ich nehme an, du weißt auswendig wo sich dein nächster Klassenraum befindet, wie du dort hinkommst und was du dort benötigst. Dann ist da noch die erwähnte Schuluniform. Wir sollten uns vielleicht vorher umziehen. Im Übrigen, ich bin Lucas. Lucas mit ‚C'. Mit wem habe ich die Ehre parliert zu haben?“

Der Möchtegern-Punk vor Lucas öffnete den Mund, sagte aber keinen Ton. Nach zwei oder drei Sekunden schloss er seinen Mund wieder, drehte sich brüsk um und stürmte aus der Aula.

„Ich nehme an, du weißt alle Punkte, die du eben angesprochen hast. Und bevor du fragst, ich heiße Michael.“

„Sehr erfreut.“

Lucas machte eine kleine Verbeugung, die Kevin das letzte Mal in dem Film ‚Die drei Musketiere' gesehen hatte. Lediglich, dass Lucas keinen großen Hut mit einer Feder hatte.

„Ja, ich weiß tatsächlich wohin wir müssen. Lasst uns umziehen gehen, dann sehen wir weiter.“


Raum 124 stand auf dem kleinen Schild neben der Tür, sonst nichts. Kevin sah noch mal auf seinen Zettel und dann auf das Türschild. Die Klassenräume befanden sich alle in der oberen Etage des Hauptgebäudes.

„Das müsste es eigentlich sein“, murmelte er zu sich selber.

„Dann gehen wir eben rein und sehen uns das an.“

Kevin fuhr herum und sah einen seiner Mitschüler neben sich stehen. Er trug das gleiche kurzärmelige Hemd wie Kevin in einem schreienden Feuerwehrrot.

Kevin zuckte mit den Schultern, öffnete die Tür und spähte vorsichtig in das Innere des Raumes. Er sah genau das, was er befürchtet hatte. Ein Pult und neun einzelne Schultische. Kevin drehte sich um.

„Ich fürchte, hier sind wir richtig.“

„Na, denn. Ich bin Hendrik.“

„Kevin.“

Kevin schüttelte die Hand des dunkelblonden Jungen. Der hatte einen leichten Akzent, den Kevin nicht einordnen konnte.

„Ich möchte ja nicht neugierig erscheinen, aber woher kommst du?“

„Oh, aus Roskilde. Das ist in Dänemark.“

Während der kurzen Unterhaltung waren sie weiter in den Klassenraum gegangen und sahen sich zögernd um. An der Tür erschienen zwei weitere Gesichter.

„124?“

Kevin nickte und machte eine einladende Handbewegung.

„Kommt ruhig rein. Wenn ich das so richtig sehe, fehlen aber noch ein paar.“

Die anderen beiden Jungen sahen sich kurz um und nickten. Hendrik ging auf die beiden „Neuen“ zu und streckte die Hand aus.

„Hallo, ich bin Hendrik und das hier ist Kevin.“

Nach kurzem Zögern gaben ihm die beiden die Hand.

„Robert.“

„Ich bin Alexander.“

Als Alexander seinen Namen sagte, sah Kevin ihn erstaunt an. Noch jemand mit einem Akzent, doch den hier kannte Kevin gut genug aus Schule und Wohnviertel, um ihn richtig einzuordnen. Es war deutlich russisch. Alexander schien Kevins kurzes Zögern bemerkt zu haben, doch er lächelte bei seiner Erklärung.

„Ich komme aus Turkmenistan.“

Kevin lächelte zurück. Mein Gott, diese braunen Augen! Doch dann wurde Kevin durch weitere Neuankömmlinge abgelenkt, bis eine tiefe Stimme ihn nach vorne sehen ließ.

„Einen wunderschönen guten Tag, meine Herren! Ich bin Doktor Bruckhaus, Ihr Mentor und Klassenlehrer. Bitte nehmen Sie Platz in beliebiger Reihenfolge.“

Es dauerte nur kurz, bis sich alle sortiert hatten. In der ersten Reihe vor dem Pult saß direkt an der Tür Robert, daneben Alexander, dann Kevin und Hendrik. Von den anderen Jungen kannte Kevin die Namen noch nicht, aber das würde sich bestimmt bald ändern. Na, dachte Kevin, wenn das mal gut geht. Hoffentlich kann ich mich konzentrieren bei den beiden links und rechts neben mir. Dann ging sein Blick wieder nach vorne zu Doktor Bruckhaus. Höchsten 1,60 m groß, war er mindestens genau so breit. Der schwarze Anzug unterstrich noch etwas seine Kugelform. Der Mentor trat hinter das Stehpult, das anscheinend schon vorher auf seine Größe eingestellt worden war. Suchend schweifte sein Blick über die acht Schüler und er blickte etwas zweifelnd auf ein Blatt vor ihm. Er wollte gerade beginnen, als es zaghaft klopfte.

„Herein!“

Langsam öffnete sich die Tür und ein Junge mit dunkelblonden Haaren und strahlend blauen Augen steckte seinen Kopf herein.

„Ist das hier Raum 124?“

„Wenn das Türschild draußen dies aussagt und Sie lesen können, dann ist das hier Raum 124. Ich nehme an, Sie sind Dorian Müller.“

Dorian nickte wortlos und schlich mit gesenktem Kopf hinüber zu dem letzten freien Platz und setzte sich leise.

„Zu Beginn ein paar administrative Dinge, ohne die es leider nicht geht. Für Ihre Zimmer sind Sie selber verantwortlich. Die Nassräume werden gereinigt, aber den Rest müssen Sie schon selber erledigen. Die Besucherregelung sollte der Leiter erwähnt haben – Ihren Gesichtern nach zu urteilen hat er das nicht, na gut. Da Sie alle bereits älter als sechzehn sind, darf jeder auch über Nacht Besucher auf seiner Stube empfangen. Wir werden nicht danach fragen, wer es ist und was dort passiert. Sollten allerdings die schulischen Leistungen in irgendeiner Form darunter leiden, sei es, dass jemand übernächtigt zum Unterricht kommt oder gar überhaupt nicht, werden wir geeignete Maßnahmen ergreifen. Ich hoffe, dass Sie vernünftig genug sind.“

Doktor Bruckhaus schien mit sich selbst zu ringen, ob er noch etwas hinzufügen sollte.

„Wenn Sie hier Ihren Abschluss gemacht haben, werden Sie ausgebildete Thaumaturgen sein. Oder im allgemeinen Sprachgebrauch – Magier. Worum es geht und gegen wen, ist Ihnen in den einführenden Gesprächen deutlich erklärt worden. Was ich jetzt noch mal ansprechen möchte, ist Ihr persönliches Opfer, das Sie möglicherweise bringen müssen.“

Mit dieser Einleitung war er sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer gewiss.

„Der Leiter hat möglicherweise auch die Teampartnerschaft erwähnt. Ein Partner ist immer in Kampfmagie ausgebildet, der zweite gehört einer der anderen vier sogenannten Magieschulen an. Die erwähnten Kampfmagier sind verantwortlich für den Schutz ihres Teampartners während eines Einsatzes.“

Doktor Bruckhaus sah in den Gesichtern vor sich aufkeimendes Unverständnis. Er seufzte leise und dachte kurz nach.

„Sie werden wahrscheinlich schon öfter einmal eine dieser unseligen amerikanischen Polizeiserien im Fernsehen angeschaut haben. Heldenhafte Detektives, die mit ihrem jeweiligen mehr oder weniger freiwilligen Partner die Bösewichter zur Strecke bringen. Ein ähnliches Paarsystem gibt es auch bei uns. Während des Einsatzes sind besonders die Bann- und Astralmagier stark auf andere Sachen konzentriert, als auf ihre physische Umgebung, so dass der Schutz dieser Personen ausschließlich seinem jeweiligen Partner obliegt. Dieser Partner wird ihn während der nächsten Jahre und vielleicht sogar Jahrzehnte begleiten und beschützen. Er wird einzig und allein zu dem Zweck ausgebildet, ihn mit seinem Leben zu schützen. Und zwar immer und überall. Er wird ihn sprichwörtlich überall hin begleiten und ihn besser kennenlernen, als er sich selbst kennt. Es ist deshalb äußerst wichtig, dass Sie mit Ihrem Partner gut auskommen.“

Kevin sah einige skeptische Gesichter rings herum.

„Welches Verhalten oder welche Beziehung Sie zu Ihrem Partner aufbauen, ist Ihnen im Prinzip selber überlassen. Sie können eine berufliche Kameradschaft daraus machen, eine Freundschaft oder sogar eine Lebenspartnerschaft. Wenn man bedenkt, dass tatsächlich alle Magier homosexuell veranlagt sind, wird es kaum wundern, dass es in den letzten vierhundert Jahren lediglich vier Fälle gab, in denen zwei Teampartner keine – äh, feste Beziehung hatten.“

Alexander war aufgestanden.

„Entschuldigung, aber heißt das, wir müssen aus den anwesenden Lehrgangsteilnehmern unsere Lebenspartner auswählen?“

Doktor Bruckhaus sah zu Boden.

„Nein. Natürlich nicht. Aber wie Sie bald feststellen werden, ist ein Leben als Magier bei uns sehr starken Einschränkungen und Anforderungen unterworfen. Nach den zwei Jahren hier, werden tatsächlich Paare, bestehend aus einem Kampfmagier und einem weiteren Magier gebildet, die in dieser Zusammensetzung in den Einsatz gehen. Alle fünf Magieschulen absolvieren ihre Vorausbildung zeitgleich an diesem Institut. Sie werden sich also zwangsläufig beim gemeinsamen Unterricht, beim Essen oder anderen sozialen Aktivitäten treffen. Im Laufe dieser zwei Jahre werden Sie sich also genauer kennenlernen. Wie Sie während dieser Zeit Ihre Beziehungen untereinander gestalten ist natürlich Ihnen überlassen, aber erfahrungsgemäß gibt es eine hmmm... ausgeprägte Paarbildung. Bedenken Sie bitte nur eines: Am Ende Ihrer Ausbildung muss jedes Team oder wenn Sie so wollen, jedes Paar, aus einem Kampfmagier und einem Magier einer anderen Schule bestehen. Es würde uns sehr leidtun, wenn wir Sie für den Einsatz dann von einem eventuell vorhandenen Partner wieder trennen und Sie beide vielleicht in völlig verschiedene Einheiten versetzen müssten.“

Alexander setzte sich schweigend und das Gemurmel wurde lauter.

„Wie gesagt, es ist natürlich möglich, die Partnerschaft auf eine rein berufliche Basis zu stellen. Das würde aber bedeuten, dass beide Partner zunächst ohne eine persönliche Beziehung leben würden und es sehr schwierig ist, eine solche mit Personen außerhalb unserer Organisation aufzubauen.“

Kevin versank in seinen Gedanken. Er würde in diesen zwei Jahren mit irgendwem zusammen kommen und dann sein weiteres Leben mit ihm verbringen sollen? Und der sollte dann einer von seiner Klasse sein? Wie krass war das denn? Welcher von denen könnte ihn interessieren? Kevin grinste innerlich. Das war ja fast zu einfach, spätestens beim Essen sind ja wieder alle zusammen. Kam jetzt etwa das Märchenprinzensyndrom wieder durch? Er hatte eigentlich geglaubt, die Zeit der feuchten Träume sei vorbei. Plötzlich fuhr er hoch und drehte sich hektisch um. Neun Mann in roten Hemden. Die Hälfte aller Jungmagier.

„Kampfmagier! Wir sind die Kampfmagier.“

Doktor Bruckhaus grinste ihn an.

„Ah, der erste Kandidat für ein Fleißkärtchen. Alle Schüler haben eine Schuluniform in der entsprechenden Farbe erhalten. Für alle schwarze Jeans mit farbigen T-Shirts, bzw. Sweatshirts, Hemden und Pullovern. Die Kampfmagier tragen rot, die Bannmagier blau, die Astralmagier gelb, die Elementarmagier violett und der Heiler grün. Für spezielle Ausbildungen gibt es noch Zusatzausrüstungen, die Sie dann extra empfangen werden. Wie der Leiter wahrscheinlich ausgeführt hat, wird streng auf die Einhaltung der Anzugsordnung geachtet. Während des Aufenthaltes außerhalb dieser Mauern wird das Tragen unserer Schuluniform nicht empfohlen. Dort können Sie sich nach Belieben kleiden. Dazu jemand noch Fragen?“

Alle schüttelten den Kopf.

„Dann zu den Sicherheitseinrichtungen. Wie Sie ja wohl bei Ihrer Anreise bemerkt haben, gibt es einen Sicherheitsdienst, der die Aufgaben der Eingangskontrolle durchführt und auch nachts einen Streifendienst im Gelände versieht. Die Herren sind zu Ihrer Sicherheit da, nicht um Sie zu schikanieren oder zu kontrollieren, also verärgern Sie sie bitte auch nicht. Zum zweiten gibt es einen Perimeterschutz…“

Irgendjemand hinter Kevin hatte ein lautes „Hä?“ausgestoßen und Dr. Bruckhaus sah auf.

„Wenn Sie eine Frage haben, dürfen Sie sich ruhig melden, wie Sie es an ihrer bisherigen Bildungseinrichtung ja wohl gelernt haben. Ansonsten bitte ich, nicht von unartikulierten Lautäußerungen unterbrochen zu werden.“

Die Jungen sahen sich halb betroffen, halb amüsiert an.

„Dann darf ich fortfahren. Der Perimeterschutz umfasst einen etwa fünfhundert Meter breiten Streifen rings um die Umfassungsmauer. Hier sind Sensoren installiert und das Gebiet unterliegt einer Kameraüberwachung. Ich muss Sie dringlichst bitten, die vorhandene öffentliche Zuwegung zu benutzen und nicht etwa aus irgendwelchen Gründen über die Mauer zu klettern. Eine letzte Bemerkung zu den Sicherheitseinrichtungen, die Sie wahrscheinlich am Einschneidendsten finden werden. Überall im Gelände sind Störsender installiert, die einen Empfang von jeglichen elektronischen Geräten unterbinden.“

Bei dem jetzt einsetzenden lauten Gemurmel hob Dr. Bruckhaus beide Hände.

„Meine Herren! Ich muss Sie doch bitten. Die Sicherheit dieser Einrichtung hat absoluten Vorrang und es ist sicher nicht sinnvoll, Ihren Standort durch Ihr Mobiltelefon der ganzen Welt mitzuteilen. Immerhin haben Sie einen Zugang zum Internet über den PC auf Ihrer Stube. Die Verbindung läuft als Intranet über einen unserer Zentralserver und wird dort abgesichert. Der Zugang zum Internet ist beschränkt und unterbindet zum einen Verbindungen die nicht Ihrer Altersklasse entsprechen, zum anderen aber werden auch sämtliche sozialen Medien gesperrt. Für die einfache Telefonie steht Ihnen ein Festnetzanschluss über unsere Zentralanlage zur Verfügung. Dazu noch Fragen?“

Den Gesichtern ringsum war anzusehen, dass die Jungen noch so einige Fragen hatten, doch sie schwiegen alle.

„Sehr gut. Dann können wir mit etwas anderem fortfahren. Ich möchte Sie nun mit Ihrem Stundenplan vertraut machen und ein paar kurze Sätze zum Unterricht sagen. Trotz Ihrer sehr unterschiedlichen Vorkenntnisse wird der allgemeinbildende Unterricht für alle Schüler gemeinsam stattfinden Es wird keine Schwerpunkte und keine Leistungskurse geben. Die Fächer wurden festgelegt und Sie haben am Unterricht teilzunehmen. Abmeldungen vom Unterricht erfolgen nur mit Genehmigung des Rektors.“

Doktor Bruckhaus' Stimme klang hart und akzentuiert. Die Schüler sahen sich betroffen an. Doch schon ging es weiter.

„Hauptfächer sind Deutsch, Englisch, Mathematik und Latein. Nebenfächer sind... Ja, bitte.“

Kevin hatte ungläubig seine Hand gehoben.

„Ich hatte noch nie Latein!“

„Dann haben Sie ja zwei Jahre Zeit, um sich einen entsprechenden Wissensstand anzueignen. Also, Nebenfächer sind Geschichte, Geographie, Physik, Chemie, Normen und Werte und Wirtschaftskunde.“

Allgemeines Aufstöhnen ließ Doktor Bruckhaus kurz hochsehen.

„Dazu kommen die verpflichtenden Arbeitsgemeinschaften Thaumaturgie und Fachmagie, plus das Fach Sport mit acht Stunden die Woche. Beim Sport dürfen Sie zwischen fünf verschiedenen Sparten wählen, wobei allerdings waffenloser Kampf und Konditionstraining mit jeweils zwei Stunden dabei sein müssen.“

Völlig verblüfft saßen die Schüler an ihren Tischen und sahen sich fragend an. Robert hob zögernd die Hand.

„Wie sollen wir das denn alles schaffen? Und was bitte ist Thaumaturgie?“

Doktor Bruckhaus beugte sich etwas vor, was bei ihm leicht komisch wirkte.

„Sie werden jeden Tag sechs Stunden allgemeinbildenden Unterricht haben. Dieser und der Sport sind für alle Schüler gemeinsam. Die Arbeitsgemeinschaften, getrennt nach Magieschulen, sind aufgeteilt auf montags bis freitags je zwei Stunden und samstags sechs Stunden. Und Thaumaturgie sollte für Sie besonders interessant sein, das ist nämlich Magietheorie. Sie werden dort in die theoretischen Grundlagen der Magie und den mathematisch etwas komplexen Aufbau von Spruchentwürfen eingewiesen.“

Während sich die Schüler weiterhin fragend ansahen, teilte Dr. Bruckhaus schon mehrere Blätter aus.

„Sie erhalten jetzt Ihren Stundenplan für das erste Halbjahr, dann eine Liste aller notwendigen Bücher. Die Bücher können Sie sich in der Bibliothek ausleihen. Auf dem dritten Zettel ist für jeden vermerkt, welche Bücher er sich zusätzlich ausleihen sollte und welche Unterrichtshilfen er besuchen sollte, um die vorhandenen Schwachpunkte so effektiv wie möglich auszugleichen. Falls Sie die Unterlagen verlieren, verlegen oder Sie ihnen sonst wie abhandenkommen sollten, können Sie alles noch im Intranet auf Ihrer Stube nachlesen. Guten Tag.“

Und noch ehe irgendjemand etwas sagen konnte, war er aus dem Raum ‚gerollt’.


Die Jungen waren noch kurz im Klassenraum zusammengeblieben und diskutierten das eben Gehörte.

„Latein! Was soll ich mit Latein? Ich hatte Französisch und Spanisch.“

Kevin nickte wortlos. Er hatte Englisch und Spanisch als Fremdsprachen.

„Was soll ich denn sagen? Außer Englisch hatte ich noch nie eine Fremdsprache. Ich hab nur einen mittleren Bildungsabschluss.“

Alle Köpfe drehten sich zu Alexander.

„Was ist? Kann ja nicht jeder so schlau sein. Als wir vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen sind, hab' ich nur ein paar Worte Deutsch gesprochen. Daraufhin hat man mich in der Grundschule in eine Förderklasse für Lernschwache gepackt. Meinen Schulabschluss musste ich mir im wahrsten Sinne des Wortes erkämpfen.“

Dorian Müller sah Alexander nachdenklich an.

„Ich habe da eine Idee. Versteh es bitte nicht falsch, aber welche Noten hattest du beim Abschluss?“

Alexander blickte finster vor sich hin, sah auf den Boden und murmelte dann „Fünf Einsen, drei Zweier, eine Drei.“

„Die Drei in Deutsch?“

„Idiot, in Sport. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Sportlehrer, weil ich nicht mit den anderen duschen wollte. Reicht das?“

Dorian hob abwehrend die Hände.

„Okay, okay. Tut mir leid. Aber ich glaube, meine Idee lässt sich verwirklichen. Wer hat noch Latein gehabt?“

Ein einsamer Arm kam langsam nach oben. Nicht dass man ihn hätte übersehen können, der Besitzer war der größte Junge im Raum und strohblond.

„Ich. Ich heiße Rafael. Ich hatte Latein, Griechisch und Hebräisch.“

Zusammen mit allen anderen starrte Kevin Rafael an.

„Wozu, zum Henker braucht man…“

„Für ein Geschichtsstudium ihr Ignoranten. Falls es jemanden interessiert, ich kann auch noch Hieroglyphen und Hieratisch.“

Die Antwort kam wohl etwas zu hitzig, denn Dorian hob schon wieder beide Hände.

„Ideal, einfach ideal. Wir sollen irgendwann in einem Team arbeiten, also können wir schon mal jetzt unsere Teamfähigkeit beweisen. Was hältst du davon Rafi, wollen wir den Ignoranten hier mal zeigen wie Latein geht?“

Rafael verzog etwas säuerlich das Gesicht, was allerdings in ein breites Lächeln überging.

„Den Rafi spar ich mir für jemand besonderen, aber ansonsten, gerne.“


Kevin brummte der Kopf. Die Arme mit Büchern beladen, ging er vorsichtig über den Rasen in Richtung seiner Unterkunft. Dieser erste Tag hatte ihn ganz schön mitgenommen. Der Stundenplan war ja schon ganz schön happig, aber was da alles noch dazu kam! Montags bis freitags sechs Stunden Unterricht! Und an den Nachmittagen zwei und am Samstag sechs Stunden der sogenannten Arbeitsgemeinschaften. Bei Sport hatte Kevin ohne zu überlegen vier Stunden Schwimmen gewählt, die anderen vier Stunden waren ja schon mit waffenlosem Kampf und Konditionstraining belegt. Außerdem hatte er natürlich noch mit seinen Lateinkenntnissen zu kämpfen.

„Hey, vorsichtig. Gegenverkehr!“

Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Aus dem Gebäude vor ihm stürmten gerade zwei in gelb gekleidete Jungen aus der Tür und hatten ihn fast umgerannt. Kevin kam aus dem Gleichgewicht und die obersten Bücher seines Stapels gaben der Schwerkraft nach.

„Scheiße!“

Bücken konnte er sich nicht, dann wären die anderen Bücher auch abgerutscht, aber jetzt spürte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter.

„Nicht fluchen. Entschuldigung, Kleiner.“

Aus der Bewegung heraus sammelte Lucas die Bücher vom Boden auf und legte sie auf den Stapel. Seine grünen Augen strahlten Kevin an und er blieb irgendwie unschlüssig stehen.

„Nun komm schon. Wir kommen zu spät zum Unterricht!“

Der etwas dickliche, dunkelblonde Junge neben Lucas zappelte nervös auf und ab. Lucas räusperte sich kurz.

„Sehen wir uns beim Abendessen?“

Kevin nickte vorsichtig. Jetzt nur nichts runterfallen lassen. Lucas strahlte.

„Okay, bis dann.“

Und schon sprintete er hinter dem Blonden her.

Kevin ging jetzt ganz vorsichtig hinüber zu seinem Gebäude. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Geschehen von gerade eben ab. Bei der Eingangstür hätte es beinahe noch ein Unglück gegeben, aber dann schaffte es Kevin ohne Unfall bis auf sein Zimmer. Aufseufzend legte er den Bücherstapel auf den Schreibtisch und ließ sich dann auf das Bett fallen. Sein Blick suchte den Wecker. Wie lange noch bis zum Abendessen?

Ich glaube, jetzt weiß ich, was Schmetterlinge im Bauch sind. Immer wieder lief vor seinem inneren Auge das Geschehen von vorhin ab. Er spürte noch die Hand auf seiner Schulter und sah die grünen Augen, die so intensiv strahlten.

Ein weiterer Blick auf den Wecker brachte keine wirkliche Erleichterung.


Als Kevin die Cafeteria erreichte, war schon ein großer Teil der Tische besetzt, hauptsächlich mit Lehr- und Verwaltungspersonal, und an der Ausgabe war eine lange Schlange. An einem der Pfeiler war ein Zettel befestigt worden und Kevin erkannte den Grund für die Verzögerung: Er war ein wenig spät dran und die Essenszeiten für das Ausbildungspersonal hatten bereits begonnen. Mit denkbar schlechter Laune stellte er sich an und als er endlich sein Essen hatte, begann die Suche nach einem Sitzplatz.

Die Tische waren völlig wahllos im ganzen Raum verteilt, fast ausschließlich Tische für vier Personen, aber auch einige Sechser. Kevin sah sich suchend um, bis er Lucas entdeckte. Dieser saß mit drei anderen Jungen in blauen T-Shirts an einem weiter entfernten Tisch.

Na, das war’s dann wohl. Als genau vor ihm ein Vierertisch komplett frei wurde, setzte sich Kevin etwas enttäuscht auf einen der Plätze. Missmutig stocherte er in den Bratkartoffeln.

Auf einmal bemerkte Kevin, dass fast alle Geräusche im Speisesaal verstummten und neugierig sah er hoch. Timo und Sven, die beiden Jungs aus dem Bus, hatten die Cafeteria betreten und sich ebenfalls in die Schlange an der Ausgabe eingereiht. Es war ihnen sichtlich peinlich, dass anscheinend alle sie plötzlich anstarrten, denn Timo trug als einziger weit und breit ein grünes T-Shirt. Kevin hatte seine Hausaufgaben gemacht, er kannte den Farbcode inzwischen auswendig.

Der Heiler, schoss es ihm durch den Kopf, Timo ist der Heiler, die seltenste Begabung, die es überhaupt gibt.

Sven hingegen trug ein violettes Hemd. Oha, ein Elementarmagier. Wie wollen die das denn mit dem Kampfmagier hinkriegen, die beiden sind doch schon erkennbar zusammen.

„Ich dachte schon, du kommst gar nicht. Darf ich?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte Lucas sein Tablett ab und setzte sich Kevin gegenüber. Dieser starrte jetzt Lucas in einer Mischung aus Überraschung und unverhohlener Freude an, stocherte aber weiterhin in seinem Abendessen.

„Schmeckt's nicht?“

Kevin wurde knallrot. Er bekam vor lauter Schüchternheit fast kein Wort heraus.

„Doch, doch. Sehr gut sogar.“

Hastig schaufelte er die Bratkartoffeln in sich hinein. Mit der Zeit wurden seine Bewegungen langsamer und seine Gedanken gingen wieder auf Wanderschaft. Hatte Lucas jetzt den anderen Tisch verlassen, nur um bei ihm zu sitzen?

"Was machst du heute Abend noch?"

Kevin schrak aus seinen Gedanken hoch. Was wird denn das jetzt? Glaubt der etwa, ich bin so leicht zu haben? Obwohl... nein! Oh, mein Gott, was mach’ ich denn jetzt?

"Ich… Ich werde wohl früh schlafen gehen. Aber wenn du möchtest können wir ja ein wenig spazieren gehen und die Gegend erkunden, ich meine… wenn du willst… vielleicht?"

Kevin wartete ängstlich auch eine Reaktion und musste dennoch innerlich grinsen, als Lucas leicht die Gesichtszüge entglitten. Doch dann wurde dieser rot wie eine Tomate. Sein Blick suchte Kevins Augen.

"Entschuldige bitte, so war meine Frage nicht gemeint. Ich würde gerne mit dir die Gegend erkunden."

Kevin sah Lucas jetzt näher an. Sicherlich, er war groß, ganz bestimmt über 1,90m und hatte breite Schultern. Das ließ auf viel körperliche Betätigung schließen. Die auffälligen hellroten Haare trug er ziemlich kurz, fast ein militärischer Haarschnitt. Durch die helle Haut kamen die Sommersprossen unter den Augen und quer über der Nase besonders gut zur Geltung. Das interessanteste aber waren für Kevin die strahlenden grünen Augen, die ihn jetzt ebenso gründlich musterten, wie er zuvor deren Besitzer.

Der Typ ist ja echt süß, wenn er rot wird. Bei dem könnte ich wirklich schwach werden. Und er trägt gelb, ein Astralmagier. Aber erst mal abwarten.

Kevin konnte nur wortlos nicken und sah sich suchend um. Dann erhoben sich beide und begaben sich mit ihren Tabletts in Richtung Rückgabestation. Gemeinsam gingen sie den Weg zurück zu ihrer Unterkunft.

"In zehn Minuten vor dem Block?"

Lucas nickte und zeigte den Daumen nach oben. Als Kevin zehn Minuten später vor die Tür trat musste er unwillkürlich lachen. Es war zwar Sommer und relativ warm draußen, aber beide hatten sich für den leichten Pullover entschieden. Lucas grinste ihn an.

"Das Rot steht dir gar nicht so schlecht. Bei meinen Haaren ist gelb ganz schön bescheuert."

"Mir gefällst du auch mit gelbem Pulli. Eigentlich ist es sogar sehr gut, dass er gelb ist."

Seine Antwort kam impulsiv und Kevin merkte wie er Farbe im Gesicht bekam. Lucas sah ihn von der Seite her an, sagte aber erst einmal nichts. Nach ein paar Sekunden klopfte er leicht mit der Hand auf Kevins Schulter.

"Na, komm. Wollen doch mal sehen, was es hier alles noch so gibt."


Im Laufe der nächsten Tage und Wochen spielte sich der Tagesablauf allmählich ein. Aufstehen, Frühstück, Unterricht, Mittagspause, Arbeitsgemeinschaften, Abendessen und dann sehr oft ein paar kleine Aktivitäten am Abend.

Kevin und Lucas sahen sich ziemlich oft in dieser Zeit, beim gemeinsamen Unterricht ohnehin, fast immer beim Essen, aber dann auch öfter am Nachmittag. Kevin stellte erstaunt fest, dass Lucas alle Sportfächer mit ihm zusammen hatte. Kevin hatte sich Schwimmen gewählt, weil er es schon seit Jahren in einem Verein als Leistungssport betrieben hatte. Dass Lucas sich auch für das Schwimmen interessieren würde, hatte er ihm eigentlich nicht zugetraut. Was Lucas ihm nicht verraten hatte, war, dass er seine ursprünglich gewählte Sportart Krafttraining gegen Schwimmen getauscht hatte, um noch öfter mit Kevin zusammen zu sein.

Das erste Mal als Lucas beim Schwimmen erschien, war Kevin fast die ganzen zwei Stunden lang unkonzentriert. Sehr oft wanderte sein Blick hinüber zu dem muskulösen Jungen in seiner knappen grünen Badehose (Alle Badehosen waren grün, nur die der Rettungsschwimmer rot). Und ziemlich oft verschwand Kevin unter der kalten Dusche. Am Ende der Stunden standen sie mit acht anderen Jungen zusammen unter der heißen Dusche und ließen sich aufwärmen.

"Schwimmen ist ja anscheinend ganz schön beliebt. Ich hätte aber nicht gedacht, dass du schwimmen gehst. Ich hätte eher was Muskelmäßiges vermutet."

Lucas war froh, dass man bei dem heißen Wasser nicht sah, wie er rot wurde.

"Ich brauch' was zum Ausgleich, aber wenn ich mich so umsehe, könnten einige hier auch ein bisschen mehr Muskeln vertragen."

Kevins Blick streifte die anderen Jungen. Fast alle typische Schwimmer. Lucas fiel da etwas aus dem Rahmen. Die breiten Schultern und die Brustmuskulatur waren deutlicher ausgeprägt als bei den meisten, ebenso der Sixpack.

Nach der Aufwärmphase schnappte sich Lucas sein Duschgel und fing an, sich einzuseifen. Ohne weiter nachzudenken streifte er seine Badehose ab und machte sich weiter ans Werk. Kevin stand ihm gegenüber und war ebenfalls beim Einseifen.

Oh, Gott. Wenn ich jetzt die Badehose ausziehe, bin ich blamiert bis auf die Knochen. Ich kann mich doch hier nicht mit 'nem Ständer präsentieren. Und wenn ich sie nicht ausziehe, sieht das noch blöder aus.

Kevin drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und zog seine Badehose herunter. Die ganze Zeit präsentierte er damit Lucas sein Hinterteil, was diesen aber nicht im Geringsten störte. Der hatte schon bemerkt, warum Kevin so verbissen zur Wand sah.

"He, Kleiner. Gibst du mir mal von deinem Haarshampoo?"

Automatisch drehte Kevin sich um und erst als Lucas ihm die Flasche abnahm, merkte er, dass er sich dem Rest der Welt in voller Herrlichkeit präsentierte.

"Mach dir nichts draus. Den anderen geht das genauso."

Erst jetzt sah Kevin bewusst an Lucas herunter und bemerkte, dass es dem auch nicht besser ging als ihm selber. Im Gegensatz zu Kevin schien es Lucas überhaupt nicht zu stören und er bewegte sich unter der Dusche als ob gar nichts wäre. Kevins Blick wanderte die Duschreihen entlang und er musste mit einem Grinsen feststellen, dass fast alle Jungen sich in deutlich erregtem Zustand befanden. Oh, Mann. Hoffentlich passiert jetzt nicht irgendetwas, was irgendjemand nachher bereut.

"Zeit zu verschwinden", murmelte Kevin, schnappte sich Badehose und Handtuch und ging in Richtung der Sammelumkleide. Als er sich umsah, bemerkte er den Jungen mit den kastanienroten Haaren - er hieß Lucien, wie er nun wußte - der sich unter seiner Dusche zur Seite drehte und anfing, dem neben ihm stehenden Jungen mit langsamen Bewegungen die Brust einzuseifen. Dann sah er ein anderes Paar unter der Dusche die sich ebenfalls gegenseitig einseiften, aber das war definitiv schon nicht mehr die Brust. Kevin zögerte kurz, dann ging er entschlossen in Richtung Ausgang. Bin ich jetzt irgendwie verklemmt, dass ich nicht dabei geblieben bin? Egal.

Wenige Sekunden später betrat auch Lucas den Umkleideraum. Kevin sah ihn nachdenklich an.

"Ich dachte, du wärst noch im Duschraum geblieben."

Lucas bedachte ihn mit einem undefinierbaren Blick. Dann schüttelte er den Kopf.

"Bis vor ein paar Tagen wäre ich da auch noch geblieben."

Die beiden zogen sich schweigend an und verabschiedeten sich dann. Für Kevin folgten noch zwei Stunden Nachhilfe in Latein bei Rafael. Zunächst hatte Lucas versucht, ihm bei Latein zu helfen, doch Kevin war viel zu sehr abgelenkt und so hatten sie sich darauf geeinigt, dass Kevin mit Rafael üben würde und Lucas einem anderen Kampfmagier half.

Mitten in der Nacht schreckte Kevin aus einem Traum hoch. Er hatte gedacht, dass die Zeit der feuchten Träume für ihn vorbei sei, aber anscheinend war dem nicht so. Nachdem er alles gesäubert hatte, lag er noch lange wach und dachte an den Grund seiner nächtlichen Eruption, einen echt süßen, frech grinsenden Rothaarigen mit einem geilen Sixpack und noch einer Menge mehr ein Stück tiefer.

Ich bin verknallt. Ich kenne ihn kaum und ich bin hin und weg. Ist das jetzt nur Geilheit oder bedeutet das mehr? Ich weiß nicht einmal, ob er etwas von mir will, vielleicht nur einen One-Night-Stand? Lieber Gott, mach dass es ein Ende hat, so oder so!


So oft sich Kevin und Lucas auch trafen, sei es während des Unterrichts oder in der Freizeit, immer hielten sie einen gewissen Abstand zueinander. Sie wussten jetzt zwar die alltäglichen Dinge von ihrem Gegenüber, aber so eine richtige, tiefgründige Unterhaltung hatten die beiden noch nicht geführt. Genau so war es mit dem körperlichen Aspekt. Sie hatten inzwischen mehr als genug ihre nackten Körper gesehen, aber berührt hatten sie sich noch nie. Irgendetwas schien sie beide zurückzuhalten, einen entscheidenden Schritt zu tun.

Kurz vor den Weihnachtsferien erreichte Kevin eine Nachricht von Pater Anselm über seine Eltern. Seine Mutter lag im Krankenhaus mit einem schweren Leberleiden und sein Vater hatte sich jetzt endgültig dem Suff ergeben. An Ferien zu Hause war nicht zu denken. Als er Lucas davon erzählte, nahm ihn dieser wortlos in die Arme und hielt ihn fest. Es war das erste Mal, dass die beiden sich körperlich so nahe kamen.

"Ich würde ja sagen, wir könnten zu mir fahren, aber meine Eltern sind mal wieder nicht da und wir beide wären ganz alleine in der Bude... Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, aber ich glaube, zu Weihnachten wäre das ganz schön deprimierend."

"Ich glaube, Doktor Bruckhaus hat irgendetwas davon erwähnt, dass man auch hier bleiben kann während der Feiertage."

"Also mal ehrlich, wir hocken jetzt seit September hier und du willst während der Ferien auch noch hier bleiben? Nee, da machen wir was anderes. Ich denke, ich hab' da schon eine Idee."

Kevin sah Lucas fragend an, aber der lächelte nur wissend.

Zwei Tage später erschien Lucas in Kevins Zimmer mit einem breiten Lächeln und Papieren in der Hand.

"So, für einen kleinen Ausflug ist gesorgt."

"Was für ein Ausflug?"

Lucas warf zwei Tickets auf den Schreibtisch.

"Zwei Mal ein Kurztrip mit der Fähre nach Oslo und zurück."

Kevin angelte sich die Tickets und fing an zu lesen.

"Kurztrip? Das ist eine Woche! Sag mal, spinnst du? Was das kostet!"

"Das lass mal meine Sorge sein. Die sind schon bezahlt."

"Mensch Lucas, ich will nicht, dass du für mich Geld ausgibst. Ich kann dir das doch nie zurückgeben."

Lucas sah Kevin ernst an, dann nahm er Kevin die Tickets aus der Hand und spielte damit gedankenverloren.

"Ich dachte auch nicht daran, dass ich das Geld zurückhaben will. Ich wollte dir nur einfach eine Freude machen. Ich wollte dir etwas schenken weil ich... weil ich dich einfach mag."

"Ich... ich mag dich auch, aber... aber..."

"Kein aber. Komm mal her zu mir."

Langsam näherte sich Kevin und Lucas umarmte ihn vorsichtig.

"Ich mag dich furchtbar gerne mein Kleiner. So etwas wie mit dir, ist mir noch nie passiert. Ich fürchte, ich habe mich... ich habe mich in dich verliebt. So, jetzt ist es raus. Jetzt sag was."

Kevin war in Lucas' Armen erstarrt. Seine Gedanken rasten, aber immer nur im Kreis. Er hat sich verliebt. In mich. Können Träume wahr werden?

Langsam löste Lucas die Umarmung und sah Kevin ins Gesicht.

"Hey, Kleiner. Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen."

Sanft wischte er mit seinen Daumen die Tränen aus Kevins Gesicht, dann näherten sich die Köpfe und sie fanden sich zu einem Kuss.

Als der Kuss endlich endete, seufzte Lucas.

"Ich wusste nicht, dass es auch so schön sein kann."

Kevin sah ihn fragend an, aber als er keine Antwort bekam zog er Lucas an sich heran und flüsterte in sein Ohr

"Bleibst du heute Nacht bei mir?"

Lucas erstarrte und Kevin kicherte leise.

"Nein, nicht was du gerade gedacht hast. Zumindest noch nicht. Ich möchte dich heute Nacht nur ganz nah bei mir haben."

Oslo, Norwegen, Anno Domini 2013

Der so genannte Kurztrip war fast schon eine Weltreise, zumindest kam es Kevin so vor. Erst mit dem Zug nach Kiel, dann auf die Fähre. Schon als er in Kiel aus dem Bahnhof trat, konnte er gegenüber die Fähre erkennen und je näher sie kamen, desto größer ragte sie vor ihm auf. Kevin hatte sich unter Fähre eigentlich gar nichts Bestimmtes vorgestellt, auf keinen Fall aber ein über 250m langes Traumschiff. Grinsend wies Lucas auf den Namenszug des Schiffes: MAGIC. Nach dem Einchecken hatten sie ihr Gepäck in der Kabine untergebracht und erkundeten das Schiff. Allein der Rundgang auf dem Promenadendeck dauerte eine gute Stunde. Nach dem Abendessen waren sie in die Kabine zurückgekehrt.

Kevin war aufgeregt wie nie. Nach einem kurzen Kuss hatten sie sich beide in ihre Betten gelegt, bei Kevin brannte noch die Kojenbeleuchtung. Das Bewusstsein, dass jemand, der ihn liebte, hier so zum Greifen nahe lag, hatte in ihm eine Saite zum Klingen gebracht die er nie erwartet hätte. Lucas kannte er nun schon gut drei Monate und immer hatten sie einen großartigen Körperkontakt vermieden, bis zu dem Moment in dem ihm Lucas seine Liebe gestanden hatte. Er musste sehr viel daran überlegt haben. Umso mehr vertraute Kevin ihm.

Es war nicht nur die große Liebe, so mit Schmetterlingen im Bauch, sondern auch ein tiefes Vertrauen ineinander, das in der Zwischenzeit gewachsen war. Und diesem Vertrauen würde er seine Jungfräulichkeit opfern.

Wie das klingt! Jungfräulichkeit. Gibt’s dafür kein besseres Wort? Lucas lag in seinem Bett und war eigentümlich ruhig.

„Bist du noch wach?“

„Ja.“

Kevin nahm seinen ganzen Mut zusammen, schwang sich aus seinem Bett und kroch zu Lucas unter die Decke.

„Hey, was wird denn das?“

„Wenn du mich nicht magst, gehe ich wieder zurück.“

„Ist schon in Ordnung. Ich war nur etwas überrascht.“

Kevin lag auf der Seite, dicht neben Lucas. Vorsichtig tastete er sich mit der Hand an Lucas heran und legte sie ihm sanft auf die Brust.

Kevin holte tief Luft. Jetzt oder nie.

„Möchtest du mit mir schlafen?“

Lucas' grüne Augen strahlten wie Smaragde.

„Möchtest du das wirklich? Vielleicht will ich ja nur harten brutalen Sex von dir.“

Sein freundliches Lächeln und das Strahlen seiner Augen straften seine Aussage Lügen. Aber Kevin erkannte wie es gemeint war. Es war die Möglichkeit hier und jetzt aufzuhören und so zu tun als sei nichts gewesen. Er nickte ganz ernsthaft.

„Vielleicht will ich das ja?“

Beide lachten und dann spürte Kevin, wie sich Lucas ebenfalls zu ihm drehte. Kevin zögerte etwas, er wusste nicht so richtig, was er machen sollte, doch Lucas fuhr sanft mit seiner großen Hand den Körper hinauf und erkundete Kevins Halsansatz und die Brust. Nun wurde auch Kevin ein wenig mutiger und er fuhr mit seiner Hand ebenfalls über die breite unbehaarte Brust neben ihm und genoss das Gefühl samtweicher Haut.

Aha, so schön kann das also sein.

Fasziniert fuhr Kevin mit den Fingern über Lucas’ Brustwarzen, die sich etwas aufrichteten. Aus einem Impuls heraus spielte Kevin etwas mit der Brustwarze und nahm sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. Lucas schnappte hörbar nach Luft.

„Hey, ganz vorsichtig.“

„Entschuldige, hab ich dir wehgetan?“

„Nein, aber wenn du damit weitermachst bin ich gleich fertig.“

Erst nach kurzem Überlegen dämmerte Kevin was Lucas wohl damit gemeint hatte. Also ließ er erst mal davon ab und fuhr mit der Hand langsam tiefer. Lucas beugte sich herüber und gab Kevin einen Kuss. Als sich ihre Zungen wieder entwirrt hatten, sah er Kevin nachdenklich an.

„Willst du das wirklich?“

„Ja, ich will.“

Und wieder grinsten beide. Lucas' Zunge begann eine lange Wanderung von Kevins Brust über den Bauchnabel bis zu seinem Slip. Ohne anzuhalten fuhr sie weiter über den Stoff, die ganze Länge der deutlich sichtbaren Beule herunter. Mit einem diabolischen Grinsen öffnete Lucas den Mund, nahm die Beule quer zwischen die Zähne und biss ganz leicht zu. Kevin quiekte auf.

„Oh, Mann. Wenn du das nochmal machst, dann bin ich als erster fertig.“

Doch Lucas zog jetzt langsam an dem Slip und Kevin hob sein Becken. Er spürte nur noch wie Lucas wieder mit seiner Zunge am Bauchnabel anfing und langsam tiefer fuhr…

Als Kevin eine ganze Weile später wieder Luft bekam, der Kreislauf sich langsam beruhigt hatte und er die Augen öffnete, sah er in Lucas’ strahlend grüne Augen.

„Geht’s wieder?“

„Ja, es war wunderschön.“

Er griff nach Lucas und zog seinen Kopf herunter zu einem langen Kuss. Als sie sich trennten sah Kevin zum ersten Mal bewusst an Lucas herab. Er hatte ihn schon so oft unter der Dusche gesehen, aber noch nie unter diesem erotischen Blickwinkel betrachten können. Durch die hellen Haare sah es aus, als ob er fast unbehaart war. Eine schöne, breite Brust, ein niedlicher Bauchnabel und der Rest war noch von den Boxershorts verdeckt.

Nur Mut. Wenn das genauso schön wird wie der erste Teil...

Mutig zog er an den Boxershorts und Lucas hob sein Becken an. Als die letzte Hülle gefallen war, musste Kevin schlucken. Er hatte zwar jetzt schon öfter die Erektion anderer Jungen gesehen, aber nicht aus dieser Nähe.

„Du brauchst nicht, wenn du nicht willst. Du musst nichts machen.“

„Hast du 'ne Ahnung was ich alles will!“


Die Woche in Oslo nutzten die beiden für einen Stadtbummel, Besichtigungen der zahlreichen Museen und Spaziergänge durch die verschneite und weihnachtlich geschmückte Stadt. Lucas übersetzte für Kevin die ganzen Schilder und Beschriftungen.

„Woher kannst du denn eigentlich Norwegisch?“

„Kann ich gar nicht. Wie du inzwischen weißt, komme ich aus Kiel und wir haben dort einige zweisprachige Schulen in Deutsch-Dänisch, so auch die meine. Und Dänisch ist dem Norwegischen sehr ähnlich. Also…“

„Okay, verstanden. Dann solltest du wohl eher Lars oder Björn heißen.“

„Björn? Sehe ich aus wie ein Bär?“

Das große Doppelbett im Hotel war äußerst komfortabel und Kevin wäre am liebsten bis zum Mittag drin geblieben, doch Lucas hatte immer neue Ideen für den Tag. Während der Rückfahrt mit der Fähre verließen sie die Kabine nur zum Essen. Und hier erfuhr Kevin so langsam etwas über Lucas und seine Geschichte.

Kiel, Deutschland, Anno Domini 2012

Das erste Mal, dass Lucas mit dem Thema Sex konfrontiert wurde, war in der Schule. Nicht etwa im Unterricht, sondern in einer Freistunde die er sich selbst genehmigt hatte. Lucas hasste Mathematik und so war er der Ansicht, dass der heutige Unterricht in der 9b auch ohne ihn stattfinden könnte.

Der beste Platz für solche kurzen Pausen war bis jetzt die Schultoilette gewesen. Hier wurde selten kontrolliert. Er hatte sich einen Comic mitgebracht und gerade zu lesen angefangen, als er hörte, wie die Außentür aufging. Dann folgten leise Schritte. Es klang fast so, als ob da ein Hall gewesen wäre. Dann wurde die Toilettentür nebenan verriegelt und es raschelte. Lucas vertiefte sich weiter in Batmans letzte Abenteuer. Von Nebenan erklang ein unterdrücktes Stöhnen. Da wird sich doch nicht jemand...? Lucas stieg leise auf das Toilettenbecken. Vorsichtig hangelte er sich an der Trennwand hoch und spähte hinüber. Was er dort sah verschlug ihm den Atem. Einer der Jungs aus der 10. Klasse, Lucas kannte ihn vom Sehen, stand dort mit heruntergelassenen Hosen. Vor ihm kniete ein Junge aus Lucas' Parallelklasse. Es war unzweideutig, was die beiden dort machten. Lucas starrte so lange hinüber bis der größere Junge nach oben sah. Er sah Lucas kurz in die Augen, zwinkerte ihm zu und ließ sich nicht weiter stören. Lucas stieg wieder herunter und vor seinen Augen sah er immer noch die Geschehnisse von nebenan, als ein lautes Stöhnen und ein leiser Schrei das Ende der Aktion ankündigte. Es raschelte wieder, die Spülung wurde betätigt und die Tür geöffnet. Leise entfernten sich zwei Personen. Lucas sah immer noch den großen Jungen vor seinem geistigen Auge und mit langsamen Bewegungen öffnete er seine Hose.

Am nächsten Tag, in der großen Pause, kam der größere Junge auf Lucas zu.

„Na, hat es dir gefallen, was du gesehen hast?

Lucas wurde rot, nickte aber. Sein Blick ging herum, ob sie nicht jemand gehört hatte.

„Wie wär’s? Du kannst da auch mitmachen.“

„Was...was muss ich denn da machen?“

„Hast du ja gestern gesehen. Ist gar nicht so schwer. Wie viele Stunden hast du heute?“

„Sechs.“

„Okay, einfach nach der sechsten. Da, wo gestern auch.“

Und schon war er wieder im Gewühl verschwunden.


Im Laufe der Zeit ging Lucas öfter zu solchen „Sessions“, wie er es nannte. Ihm gefiel der Reiz, das unmittelbar Sexuelle. Aber je öfter er es machte, desto mehr fiel ihm auf, dass irgendetwas Wichtiges fehlte, es wurde von Mal zu Mal immer ‚mechanischer'. Er konnte nicht genau sagen, was ihm da fehlte und jemanden fragen ging natürlich auch nicht. Was sollte er überhaupt fragen? Ich treibe es mit Jungs, es ist zwar geil, aber es fehlt Gefühl?

Seine Eltern brauchte er nichts zu fragen. Wenn die überhaupt zu Hause waren, dann kümmerten sie sich um ihre Geschäfte. Ansonsten waren sie manchmal tagelang, ja wochenlang unterwegs und Lucas hatte die Villa für sich alleine. Dreimal die Woche kam die Putzfrau und die Hauswirtschafterin kam in der Woche jeden Vormittag um das Mittagessen zuzubereiten. Das konnte er dann in der Mikrowelle aufwärmen oder er ging schlicht irgendwo zum Essen.

Schon früh hatte er gelernt, für sich selbst zu sorgen und alleine auszukommen. In der Schule war er nicht gerade der Musterschüler, aber er war zufrieden mit seinen Leistungen. Solange er nicht vollkommen absackte, würden seine Eltern nichts sagen.

Er blockte auch fast alle sozialen Aktivitäten ab. Seine Klassenkameraden waren ihm schlicht zu blöd. Er interessierte sich eben nicht für Tennis, Golf oder Segeln und von den Jungs sah keiner gut genug aus, um deshalb damit anzufangen. Mit einer noch größeren Leidenschaft hasste er die Partys der blöden Hühner. Die Mädels schienen ja nur noch auf Männerfang zu sein und dafür kam er ganz bestimmt nicht in Frage.

Als Ausgleich ging er gerne zum Sport. Mannschaftssport war allerdings ebenfalls nicht sein Ding, lieber etwas, was er alleine machen konnte. Zunächst hatte er mit Geräteturnen begonnen, aber nach einigen Jahren die Lust verloren, weil er bei seiner Größe immer schlechter abschnitt als seine Konkurrenten. Mit sich selbst etwas unzufrieden, hatte er begonnen ein Fitness-Studio zu besuchen und so kam er zum langsam zum Kraftsport. Gewichtheben und als Ausgleich Konditionstraining, damit war er rundum zufrieden. Im letzten Jahr hatte er dann das Training mit dem Fahrrad im Fitness-Center mit dem auf der Straße getauscht und den gesamte Ausdauersport auf den Schwerpunkt Duathlon gelegt.

Lucas schmiss achtlos seine Sporttasche neben das Bett und sah sich suchend um. In seinem Zimmer war es nie sehr aufgeräumt und die Hauswirtschafterin, die halbtags hier war, hatte es längst aufgegeben, irgendetwas wegzuräumen. Er griff sich frische Wäsche und ging in sein Bad. Nach dem er sich ausgezogen und die Schmutzwäsche achtlos in eine Ecke geworfen hatte, sah er in den großen Spiegel neben der Tür.

Jetzt, mit Siebzehn, zeigten sich die ersten Erfolge seiner sportlichen Betätigungen. Breite Schultern und eine ausgeprägte Brustmuskulatur, darunter ein deutliches Sixpack. Leicht grinsend fuhr Lucas sich mit der Hand langsam von der Schulter über die Brust, spielte kurz mit einer Brustwarze und fuhr dann weiter hinunter bis zum Bauchnabel. Er grinste noch breiter und streckte sich dann selbst die Zunge raus. Bis dahin war er rundum zufrieden. Mit einigem Bedauern musterte er jedoch seine helle Haut. Gesicht, Schultern und teilweise der Rücken waren dicht von Sommersprossen bedeckt und die hellroten Haare hielt er ziemlich kurz. Zum einen aus praktischen Gründen, Haare waschen mit langen Haaren ist eklig, zum anderen, weil er die Haarfarbe nicht besonders mochte. Hellrot war auch der Busch Haare über den er jetzt mit seiner Hand fuhr um zu seinem Ziel zu gelangen. Wieder grinste er sich an. Auch damit brauchte er sich nicht zu verstecken.

In den letzten drei Jahren hatte er nun schon so einiges erlebt. Die meisten Jungen in seinem Alter machten bei solchen Spielen mit und verloren bald wieder das Interesse.

Lucas aber blieb dabei. Er war sich selbst schon früh darüber klar geworden, dass er schwul war, doch er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Sicherlich, die technische Seite war klar. Kondome waren ein eiserner Grundsatz und über alles andere konnte man sich im Internet informieren, nur nicht über Gefühle. Immer wieder suchte er sich einen neuen „Partner“ um dann festzustellen dass nach dem schnellen Sex nur noch gähnende Leere übrig blieb, wenn jeder eilig woanders hin strebte. Das höchste der Gefühle war ein flüchtiger Kuss zum Abschied gewesen, aber die meisten sah er nie wieder.


Während der Sommerferien war Lucas gerne nachts unterwegs. Tagsüber konnte er ausschlafen und zu später Stunde macht er sich auf in den Park. Nicht, dass dort besonders viel losgewesen wäre, aber manchmal traf er dort doch den einen oder anderen Interessierten. Scheinbar lustlos drehte er ein paar Runden um den Teich, um sich dann irgendwo auf eine der Parkbänke zu setzen. So hatte er dort schon öfter einmal jemanden getroffen. Ein oder zweimal sogar einen der jungen Marinesoldaten aus dem Stützpunkt.

Es war gegen halb Elf und die Dämmerung war schon fortgeschritten, als Lucas einen jungen Mann sah, der mit wissenden Blicken die Parkbänke absuchte. Direkt neben Lucas blieb er stehen. Irgendetwas kam ihm an dem Typ merkwürdig vor. Sicher, er war alleine, soweit man erkennen konnte und er sah auch gar nicht schlecht aus. Dennoch, da war etwas, was Lucas alarmierte.

„Na, ganz alleine hier draußen?“

Okay, der übliche Anmachspruch. Gab schon bessere.

„Siehste hier noch jemanden?“

„Wartest du auf jemanden?“

Will er sicher sein, dass ich alleine bin?

„Warte nur auf meinen Kumpel.“

Sein Gegenüber schien plötzlich zu zögern.

„Ich dachte, du suchst noch Anschluss.“

Verdammt, was soll das werden? Obwohl ich gesagt habe, ich warte noch auf jemanden, will er Kontakt?

„Such dir Mal besser jemand anderen.“

Der Typ starrte Lucas jetzt mit verkniffenem Gesicht an.

„Das brauch ich nicht. Du reichst vollkommen.“

Mit einer schnellen Bewegung griff der Mann in seine Hosentasche, holte ein Messer hervor ließ es dann mit einem leisen Geräusch aufschnappen.

Lucas war bei der ersten Bewegung schon aufgesprungen und stand dadurch dicht vor seinem Angreifer. Der wich instinktiv zurück, denn Lucas überragte ihn um gute zehn bis fünfzehn Zentimeter. Diesen Moment nutzte Lucas um sich auf die Rückenlehne der Parkbank zu stützen und auf die andere Seite zu flanken. Die sichelförmige Bewegung des Messers kam einen Sekundenbruchteil zu spät. Blitzschnell sah Lucas sich um. Hinter der nächsten Parkbank sah er einen großen abgebrochenen Ast, an dem sogar noch ein paar grüne Zweige hingen. Ohne weiter darüber nachzudenken sprintete er los.

„Verdammt, ich krieg' dich!“

Sein Verfolger war möglicherweise schneller als er, doch auf diesen zehn Metern machte das keinen Unterschied. Den ersten Fehler hatte der Angreifer bereits gemacht. Ihm war nicht klar, was Lucas bei der nächsten Bank wollte. Deshalb stach er sofort zu, als Lucas langsamer wurde, doch der hatte sich auf den Boden geworfen, den Ast gegriffen und sich zur Seite gerollt.

„Bleib' stehen, du schwule Sau. Ich stech' dich ab.“

Noch vom Boden aus führte Lucas seinen Gegenschlag. Das dicke Ende des Astes traf den Angreifer seitlich am Kopf, so dass er förmlich zur Seite geschleudert wurde und auf den Boden prallte.

„Du kleiner Arschficker!“

Lucas sprang auf und bohrte das spitze Ende des Astes in die Brust des Angreifers, direkt über dem Solar Plexus. Es ging nicht tief, nur eben so weit dass er den Schmerz spüren musste.

„Wenn du dich bewegst, mach ich dich kalt.“

Zornerfüllt funkelte der Mann Lucas an und versuchte sich zu bewegen. Doch nach den ersten Schmerzen blieb er erfolgreich am Boden festgepinnt, während Lucas nach seinem Handy fischte. Mit zitternden Fingern wählte er den Notruf.

Zehn Minuten später war alles vorbei. Die Polizei hatte den Angreifer festgenommen und Lucas hatte seine erste Aussage gemacht. Zwei Zeugen aus einem nahegelegenen Café bestätigten seine Angaben.

Auf dem Polizei-Bezirksrevier musste Lucas seine Aussage noch einmal wiederholen und dann das Protokoll unterschreiben.

„Herr Lanz-Ravensberg, zur Information, da Sie noch minderjährig sind, wird dieses Protokoll natürlich auch an Ihre Eltern geschickt.“

Lucas nickte ergeben. Vielleicht war das jetzt ja mal etwas, was seine Eltern aus ihrer Gleichgültigkeit riss.

„Des Weiteren haben Sie noch die Möglichkeit mit einem Psychologen oder einem Seelsorger zu sprechen, wenn Sie es wünschen.“

Lucas stutzte. Was sollte er mit einem Seelenklempner? Aber ein Seelsorger? Ein Pfarrer? Die predigten doch sonst immer von Liebe. Ich bin mal ehrlich gespannt, was der mir sagen wird.

„Ah, ja. Ein Seelsorger wäre jetzt vielleicht gar nicht schlecht.“

Der Polizeibeamte sah ihn an, als ob er einen doppelten Whisky bestellt hätte, blätterte aber dann in seinen Unterlagen.

„Also, ich kann Ihnen jetzt nur noch den Militärpfarrer aus dem Marinestützpunkt kommen lassen, der ist auch Polizeipfarrer im Nebenamt.“

Lucas hob erstaunt die Augenbrauen, nickte aber dann zustimmend.


Schon zwanzig Minuten später traf der Pfarrer ein. Etwas überrascht sah Lucas auf das Kollar, den weißen Kragen zu dem schwarzen Hemd, das der Pfarrer trug. Er hatte keinen katholischen Priester erwartet. Aber Moment, trugen nicht auch bestimmte evangelische Geistliche so ein Ding? Egal, er würde ja sehen, was ihn erwartete.

„Guten Abend oder besser guten Morgen. Ich bin Pfarrer Scherer, der katholische Standortpfarrer der Marine und Polizeipfarrer im Nebenamt. Du wolltest mich sehen? Oh, ich hoffe, es geht in Ordnung, wenn ich dich duze?“

Lucas musste wider Willen leicht Lächeln. Der Pfarrer war wohl knapp 1,80m groß und naja, nicht mehr so ganz schlank. Bei geschätzten 60 Jahren hatte er schneeweiße, volle Haare, einen ebenso weißen Schnauzer und er trug eine randlose Nickelbrille.

„Kein Problem, darf ich dann Hochwürden sagen? So wie im Film?“

Pfarrer Scherer lachte laut.

„Sehe ich so aus wie Don Camillo?“

Dann deutete er auf die Sitzecke. Man hatte ihnen anscheinend die Teeküche zur Verfügung gestellt.

„Fangen wir gleich mit der Kernfrage an. Ich weiß, warum du hier bist, denn der Revierleiter hat mich vorhin kurz informiert. Aber du sagst mir jetzt, warum ich hier bin.“

Lucas sah den Pfarrer prüfend an, dann seufzte er.

„Der Typ hat versucht mich umzubringen. Nur weil ich da im Park war. Was hat ihn dazu getrieben?“

Der Pfarrer überlegte eine ganze Weile. Lucas wollte beinahe schon ein zweites Mal fragen, als ihm eine Gegenfrage gestellt wurde.

„Und warum warst du dort im Park?“

Lucas wollte erst hochfahren, doch dann zuckte er nur mit den Schultern.

„Ich wollte sehen, ob ich dort jemanden treffen kann. Einen Mann. Zum Sex.“

Der Pfarrer zuckte nicht einmal mit der Wimper. Lucas ahnte, dass er mit dieser oder einer ähnlichen Antwort gerechnet hatte.

„Wie alt bist du jetzt?“

Lucas hob erstaunt den Kopf. Was will er denn jetzt?

„Siebzehn.“

„War es nur das Spiel mit dem Unbekannten oder hast du nach mehr gesucht?“

„Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht sicher. Ich meine...ach, was weiß ich!“

„Außerdem…“

Lucas straffte sich ein wenig und sah den Pfarrer direkt an

„…war es ja nicht das erste Mal.

„Aber du weißt, dass es nach der Lehre der Kirche eine Sünde ist.“

„Kann denn Liebe Sünde sein? Und was soll’s, ich bin nicht katholisch.“

Pfarrer Scherer musste trotz der ernsten Situation leicht lächeln, als ausgerechnet diese Formulierung gebraucht wurde. Zarah Leander war wohl doch eher seine Generation.

„Wenn es wahre Liebe ist, wird der Herr nichts dagegen haben. Aber so wie ich es sehe, war es wohl eher die Suche nach dem einfachen Sex. Und da steht die Heilige Mutter Kirche nicht allein da mit ihren Ansichten.“

Lucas lief rot an. Dann realisierte er, was der Pater genau gesagt hatte. Wenn es wahre Liebe ist... Wenn es doch nur einmal, ein einziges Mal wahre Liebe gewesen wäre!

„Hochwürden. Was ist Liebe?“

„Das ist eine Frage, die schon so alt ist, wie die Menschheit. Es gibt viele kluge oder auch weniger kluge Abhandlungen darüber, doch im Kern sagen sie alle nur das eine. Wenn du mit deinen eigenen Gefühlen im Einklang bist, wenn du spürst, dass du dich selbst mit jemandem teilen kannst.“

Als Lucas ihn etwas verständnislos ansah, lachte der Pfarrer leise.

„Nur zwei kurze Beispiele, die ich kürzlich gelesen habe. Es gab dort einen Jungen, dessen Nachbar gerade seine Frau verloren hatte. Als er den Mann weinen sah, ging der kleine Junge zu ihm und setzte sich einfach auf seinen Schoß. Als seine Mutter ihn später fragte, was er zu ihm gesagt hätte, sagte der kleine Junge: Gar nichts, ich habe ihm nur beim Weinen geholfen. Das andere Beispiel stammt aus einer Umfrage an Kinder mit eben der Frage, was ist Liebe. Eine Antwort lautete: Wenn du mehr Liebe lernen willst, fang am besten an mit einem Freund, den du hasst.“

Lucas senkte nachdenklich den Kopf. So saßen sich beide dann eine ganze Weile schweigend gegenüber.

„Es geht also um Gefühle, meine Gefühle, die Gefühle meines Gegenübers… ich habe bis jetzt immer geglaubt das Wort ‚einfühlsam' wäre so altmodisch… Wissen, wer ist er… Verstehen, warum tut er etwas…“

Lucas murmelte die ganze Zeit vor sich hin und der Pfarrer saß schweigend daneben, während er ihm zuhörte. Plötzlich ruckte Lucas hoch.

„Er hat es getan, weil er nicht wusste, was die Männer dort tun. Ich meine, er wusste schon, was sie dort tun, aber nicht, warum. Vorurteile und Ignoranz.“

Lucas lachte kurz.

„Und vielleicht auch ein bisschen unterdrücktes Ich.“

Pfarrer Scherer nickte.

„So lustig wie das jetzt klingen mag, aber der Satz von der Selbsterkenntnis und der Besserung ist immer noch aktuell.“

Der Pfarrer trommelte leicht mit seinen Fingern auf der Tischplatte. Er schien etwas zu überdenken und als er zu einer Entscheidung gekommen war, hörte das Trommeln schlagartig auf.

„Wenn ich den Revierleiter richtig verstanden habe, sind deine Eltern nicht in der Stadt. Ich nehme an, sie sind öfter Abwesend.“

Lucas beäugte den Pfarrer jetzt etwas misstrauisch, aber er antwortete dennoch.

„Sie sind auf Geschäftsreisen. Mein Vater ist Generaldirektor einer Firmenkette und meine Mutter begleitet ihn meistens. Seit ich vierzehn bin sind sie der Ansicht, ich könnte etwas mehr Selbständigkeit vertragen.“

Der letzte Satz kam etwas schärfer rüber als eigentlich beabsichtigt.

„Wie gut bist du in der Schule?“

„Huh?“

Lucas' Gesicht war gerade ebenso intelligent wie seine Äußerung.

„Einfach nur so eine Frage. Irgendwelche Schwerpunkte oder so?“

„Ach so. Nun ja, die naturwissenschaftlichen Fächer gehen eigentlich. Aber keines schlechter als sieben Punkte. Sprachen gehen schon besser. Ich hab' vier Fremdsprachen, keine schlechter als zehn Punkte.“

„Vier Fremdsprachen?“

„Ja. Englisch und Latein - meine Wahl, meine Eltern waren dagegen. Dann ist unsere Schule die einzige in der Stadt, die Japanisch anbietet und dann hab ich noch eine Arbeitsgemeinschaft in Dänisch.“

Lucas schien während seiner kurzen Ansprache lebendiger zu werden. Man konnte erkennen, dass er stolz auf seine Leistungen und Kenntnisse war.

„Erstaunlich. Dazu bedarf es viel Zeit und Begabung.“

„Na, die Zeit hab ich ja. Ich wüsste ohnehin nicht viel, was ich sonst anfangen sollte. Ich hocke nicht vor meinem Computer und zocke irgendwelche Spiele. Na gut, manchmal ein paar Stunden, aber sonst gehe ich auch noch zum Sport.“

Pfarrer Scherer hob nur fragend die Augenbrauen und Lucas redete weiter.

„Bis vor ein paar Jahren hab ich im Verein Geräteturnen gemacht, aber das klappte dann nicht mehr so gut. Ich bin etwas zu groß dafür geworden und damals wusste ich ehrlich gesagt nicht, wohin mit den langen Armen und Beinen. Dann hab ich mit Konditionstraining angefangen. Die meisten Leute verbinden Kondition irrtümlich mit dem Begriff Ausdauer. Aber sportliche Kondition besteht aus Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Beweglichkeit. Da kann man alles Mögliche machen, Joggen, Radfahren, Schwimmen, Walking, Rudern, Bergsteigen. Ich hab im letzten Jahr ein paar Mal an Duathlon- und Triathlon-Wettbewerben teilgenommen.“

„Sehr interessant. Was würdest du davon halten, deine restliche Schulzeit auf einem Internat zu verbringen?“

„Was? Weg von hier? Weg von zu Hause, meinen Freunden…“

Lucas wurde leiser.

„Ich schätze, ich habe kein Zuhause und auch nicht wirklich viele Freunde. Was ist das mit dem Internat? Worum geht es da?“

„Erst einmal, Japanisch und Dänisch wären da leider nicht mehr dabei. Aber was hältst du von einem Internat auf dem du einen guten Schulabschluss bekommst, deinen sämtlichen sportlichen Neigungen nachgehen kannst und bei dem deine Veranlagung überhaupt kein Thema ist?“

Lucas sah den Pfarrer erstaunt an, dann zögerte er.

„Das gibt es nicht. Keine private Schule nimmt gerne offen schwule Jungs. Da müssten dann ja schon alle...“

Seine Stimme erstarb, als er in das ernste Gesicht von Pfarrer Scherer blickte. Seine Gedanken rasten. Blitzschnell versuchte er die logische Kette fortzusetzen.

„Okay, wo ist der Haken?“

Jetzt lächelte der Pfarrer breit.

„Der von dir ganz klar erkannte Haken ist eine besondere Aufgabe. Ob du es glaubst, oder nicht, aber viele der schwulen Jungen, die sich in der Öffentlichkeit gezeigt haben, sind in gewisser Weise im Laufe der Zeit unauffällig überprüft worden, ob sie eine bestimmte Begabung zeigt. Wenn das der, zugegebenermaßen, äußerst seltene Fall war, wurde dem Jungen eine spezielle Ausbildung an diesem besonderen Internat angeboten.“

Lucas sah den Pfarrer erstaunt, ja fast verärgert an.

„Was heißt denn hier überprüft? Wie bei der Stasi? Oder der Inquisition? Wer macht so etwas? Verstößt das nicht gegen irgendwelche Gesetze?“

Prüfend sah sich der Pater im Raum um, dann seufzte er.

„Also, wenn es dich interessiert, kannst du heute Abend zu mir kommen und ich werde dir etwas über die Ausbildung und die damit verbundene Aufgabe erklären.“

Lucas runzelte die Stirn.

„Das hört sich einigermaßen schwachsinnig an. Spezielle Ausbildung und eine Aufgabe für schwule Jungs. Sollen die auf den Strich oder was?“

Das Gesicht von Pfarrer Scherer verdüsterte sich schlagartig.

„Was glaubst du, was wir machen. Es geht um seriöse Ausbildung und nicht um die schmutzige Fantasie kleiner Jungen.“

„Okay, okay. Ich entschuldige mich. Und was ist die Alternative?“

„Nun, deine Eltern werden eine Benachrichtigung der Polizei bekommen. Wie sie das aufnehmen, weiß ich nicht. Du wirst wahrscheinlich an deiner Schule bleiben und die restlichen zwei Jahre von den meisten deiner Mitschüler als Schwanzlutscher und Arschficker bezeichnet werden.“

„WAS?“

Wortlos legte Pfarrer Scherer sein Mobiltelefon auf den Tisch. Auf dem iPhone der neuesten Generation lief gerade ein kurzer Film, der sehr deutlich Lucas zeigte, wie er von dem Fremden mit dem Messer verfolgt wurde. Der Kommentar lautete: Wieder ein Überfall auf einen Schwulen im Park.

Lucas ruckte hoch und sah den Pfarrer sowohl wegen dessen Wortwahl, als auch wegen des kleinen Films, erstaunt an. Erst jetzt dämmerte ihm, dass er wohl durch die ganze Angelegenheit geoutet worden war. Er hatte tatsächlich nicht viele Freunde hier in der Stadt, wenn er genau war, gar keinen, nur ein paar Sexpartner, aber die zählten ja wohl nicht. Seine Mitschüler zählten definitiv nicht dazu.“

„In Ordnung. Wann und wo?“


Pünktlich um sechs bog Lucas mit seinem Rennrad zum Haus des Pfarrers ab. Es war ein Reihenhaus in einer ziemlich guten Wohngegend und Lucas wunderte sich, dass der Pfarrer nicht irgendwo bei einer Kirche oder etwas ähnlichem wohnte, doch dann fiel ihm ein, dass er ja Militärpfarrer war. Auf das Klingeln öffnete Pfarrer Scherer persönlich die Tür und begrüßte seinen Gast.

„Sehr schön, dass du Zeit gefunden hast. Komm rein.“

Zögernd trat Lucas näher und sah sich um. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber alles sah aus wie in einem normalen Haushalt, abgesehen davon, dass bei ihm zu Hause nicht über fast jeder Tür ein Kruzifix hing.

Der Pater führte Lucas ins Wohnzimmer und bot ihm etwas zu trinken an. Lucas wählte Mineralwasser und bekam es auch.

„Um das ganze Thema von heute Nacht nicht noch einmal aufzuwärmen, fangen wir mal mit etwas Praktischem an. Komm einmal bitte mit hinaus in den Garten.“

Lucas folgte neugierig dem Pater hinaus auf die Terrasse. Hinter dem Haus befand sich eine

kleine Rasenfläche und ein Gartenhäuschen, daneben ein kleiner Schuppen.

„In dem Schuppen sind ein paar Kaninchen. Sag mir wie viele.“

„Bitte? Woher soll ich das denn wissen.“

„Sieh einfach hin und konzentrier dich. Da sind Lebewesen in all dem toten Holz und Metall. Kannst du sie ahnen? Auch sie haben Gefühle, versuche, sie in Einklang mit den deinen zu bringen.“

Lucas sah den Pater verblüfft an, doch dann entschloss er sich, das Spielchen mitzuspielen, drehte sich zum Schuppen und betrachtete ihn intensiv. Nach einiger Zeit verschob sich sein Sehspektrum, als ob er eine Infrarotaufnahme sehen würde. In all dem grauen Hintergrund bewegten sich in zwei verschiedenen Höhen jeweils zwei kleine gelbe Punkte.

Lucas schüttelte verwundert den Kopf und die Punkte machten wieder dem Schuppen Platz.

„Vier, auf zwei verschiedenen Ebenen“, murmelte Lucas etwas unsicher.

„Geh rüber und sieh nach.“

Zögernd ging Lucas hinüber zu dem Schuppen und öffnete die Tür. Durch ein kleines Fenster fiel etwas Licht hinein und er erkannte an einer Längswand mehrere Kaninchenställe. Schnell kontrollierte er alle Ställe, doch es gab nur vier Kaninchen, jeweils zwei in zwei verschiedenen Höhen.

„Jedes Lebewesen hat eine sogenannte Aura, sozusagen eine Projektion seiner Lebensenergie. Wer begabt ist, kann sie sehen.“

Lucas konzentrierte sich noch einmal und jetzt sah er das gelbe Leuchten als kleinen Schatten mit jedem Kaninchen mithoppeln.

„Könnte ich…, könnte ich bitte etwas zu trinken bekommen?“, krächzte Lucas, sichtlich mitgenommen.

„Natürlich, lass uns wieder ins Haus gehen.“

Mitten auf dem Rückweg drehte sich der Pfarrer völlig überraschend herum und sah Lucas direkt in die Augen. Ein stechender Schmerz fuhr durch Lucas' Kopf und er hörte wie von Ferne die Stimme des Pfarrers.

„Zeig mir deine Erinnerungen. Zeig mir deine Erinnerungen. Zeig mir deine ...“

„NEIN!“

Mit einem lauten Schrei beendete Lucas das schmerzhafte Bohren in seinem Gehirn. Schlagartig verschwand auch wieder der Kopfschmerz, doch eine tiefe Erschöpfung machte sich breit.

„Ein Gedankenblock, eine der schwierigsten Anwendungen und du hast sie ganz ohne Anleitung geschafft. Du bist wirklich gut.“

„Was war das alles? Ist das so eine Art von Magie?“

Pfarrer Scherer lachte leise.

„Du liest definitiv zu viele schlechte Bücher. Es ist keine Art von Magie, es ist eine Begabung. Eine, in der du auf diesem Internat ausgebildet werden würdest.“

„Und die Aufgabe? Was müsste ich dann tun?“

„Die Aufgabe? Das ist ein bisschen schwieriger zu erklären. Glaubst du an Geister und Dämonen?“


Dass Lucas dann doch nicht nach den Ferien das Internat besuchte, war zwar nicht seine Schuld, doch er konnte an dem Ergebnis nichts ändern.

Lucas war mit seinem Fahrrad auf dem Weg zu Pfarrer Scherer. Wie so viele Jungen vor und wohl auch nach ihm, erfuhr er etwas über die Dämonen, die den Weg in diese Welt gefunden hatten und er erfuhr auch etwas über die Leute, die sie bekämpften. Schon mehrere Abende hatte er im Haus des Pfarrers verbracht und viel über die Geschichte dieser Kämpfer erfahren, doch wenig über die Magie die sie anwendeten.

Als Lucas spät abends nach Hause fuhr, war es noch hell. Er war etwas abgelenkt durch die letzte Unterhaltung mit dem Pfarrer und er nahm den Straßenverkehr um ihn herum nur automatisch wahr. Seine Ampel zeigte grün, doch die einmündende Straße hatte einen grünen Abbiegerpfeil. Wäre Lucas aufmerksamer gewesen, hätte er den Wagen bemerkt, doch er hörte nur noch quietschende Bremsen und dann wurde es schwarz um ihn.

Sein Aufenthalt im Krankenhaus dauerte eine Woche. Er hatte sich zwei gebrochene Rippen, einen gebrochenen Oberschenkel, ein geprelltes Handgelenk und etliche Abschürfungen eingehandelt. An einen Besuch des Internats war mit den Verletzungen nicht zu denken. Zähneknirschend besuchte Lucas für ein weiteres Jahr seine alte Schule.

Während diesen Jahres besuchte Lucas auch weiterhin Pfarrer Scherer. Immer mehr erfuhr Lucas über die Organisation, die die Dämonen bekämpfte und die auch, über Umwege, das Internat finanzierte. Das alles hätte Lucas nicht geglaubt, wenn er nicht selbst etwas mehr Einblick in seine Fähigkeit bekommen hätte. Diese Fähigkeit, die der Pfarrer als Astralmagie bezeichnete, wurde für Lucas immer komplexer. Doch je mehr er sich damit beschäftigte, desto klarer wurde ihm ihr Aufbau.

„Es geht also einerseits um das Mana, das eine Art Kraft ist, andererseits um die Seele oder das was einen Menschen ausmacht. Sind denn beide miteinander verbunden?“

„In gewisser Weise schon. Das eine ist die unsterbliche Seele, wie sie zum Beispiel die Lehre der katholischen Kirche sieht. Das andere ist eine Kraft, die diese Seele belebt und fast hätte ich gesagt, ernährt. Du hast mit einer deiner Magiefähigkeiten Leben erkannt. Das wäre nicht möglich, wenn nicht beides aufeinander reagieren würde. Es gibt sogar einen Spruch, den man als Waffe bezeichnen könnte. Mit ihm wird das Bewusstsein des Opfers ausgelöscht. Es bleibt nur eine leere Hülle zurück. Um diesen Spruch anzuwenden, bedarf es großen Verantwortungsbewusstseins. Es ist das Auslöschen der Seele.“

Lucas erschauerte. Er konnte sich nicht vorstellen, in welcher Situation er so einen Spruch würde anwenden wollen.

So kam auch der nächste Sommer. Sehr oft war Lucas zu Besuch bei dem Militärpfarrer. Im vergangenen Herbst war der Pfarrer unterwegs gewesen auf einer der Fregatten und Lucas hatte sich auf seinen Sport konzentriert. Nun aber, auch im Hinblick auf den Internatsbesuch, erklärte Pfarrer Scherer immer mehr Hintergründe der Magie, der Erstellung von Zaubersprüchen und auch einer zusätzlichen Fertigkeit, die von Nutzen sein konnte.

„Du hast doch gesehen, dass Mana rings um uns existiert und man es benutzen kann, in dem man es in sich aufnimmt, sozusagen sammelt, um es dann konzentriert als Spruch abzugeben?“

Lucas nickte. Sein einfachster Spruch war das Astralgespür, das Sehen in der Welt, in der Mana und Seele sich manifestierten.

„Sehr gut. Es gibt, wie ich bereits erklärt habe, noch andere Magieschulen, die völlig anders geartete Sprüche besitzen. Einen davon, den Spruch ‚Halten' kannst du mit einem Bannmagier gemeinsam benutzen. Zusammen mit ‚Magie erkennen' könnt ihr einen beliebigen Spruch eines Bannmagiers oder eines Astralmagiers in einen ansonsten leblosen Gegenstand übertragen. Der Gegenstand bewahrt den Spruch so lange auf, bis ein magisch Begabter, egal welcher Schule, ihn dann frei lässt.“

Lucas machte, wie schon so oft bei seinen Unterrichtungen, ein nicht gerade intelligentes Gesicht.

„Und wie äußert sich das?“

Wortlos nahm der Pfarrer ein kleines Kruzifix von seinem Schreibtisch. Lucas erkannte sofort ein leichtes orangefarbenes Glühen um das Kreuz.

„Das ist ein Zauberspeicher. Konzentrier dich auf die Magie darin.“

„Es ist anders, als das, was ich kenne.“

„Ja, es ist der Spruch eines Bannmagiers. Versuch einmal, dich auf den Spruch zu konzentrieren und dabei ähhh… den hier als Ziel zu nehmen.“

Damit deutete der Pfarrer auf einen ebenfalls auf dem Schreibtisch befindlichen Locher.

Lucas spürte, wie der Zauberspruch ohne Energie von ihm zu verbrauchen, auf den Locher übersprang. Dort war jetzt eine kleine, leicht orangefarben schimmernde Kuppel über dem Büroutensil erschienen.

„Aha? Was ist das denn?“

„Eine Barriere. Versuch einmal, den Locher zu greifen.“

Lucas verbrachte eine ganze Zeit damit, an den Locher heranzukommen. Die Barriere war undurchdringlich. Er versuchte es mit Greifen, schieben, schlagen, stach sogar mit dem Brieföffner zu. Nichts wirkte. Erst nach zwei oder drei Minuten wurde das Glühen schwächer, dann verschwand die Barriere schlagartig.

„Das war eine physische Barriere. Sie kann mit anderen physischen Mitteln nicht durchdrungen werden, wohl aber mit Energie oder Manakräften. Wie gesagt, es ist nur ein Beispiel, aber die zusätzliche Fähigkeit der Astralmagier ist die Herstellung von Zauberspeichern. Wie das genau funktioniert, wird man dir dann noch beibringen.“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2014

Die Weihnachtsferien waren fast vorüber und das neue Jahr hatte begonnen. Alle Schüler hatten ihr Zwischenziel erreicht. Sogar Alexander hatte eine vier in seiner ersten Lateinarbeit geschafft. Kevin war auch nicht sehr viel besser, doch er zeigte einen Ehrgeiz, der Lucas mehr als einmal verblüffte.

Die meisten der Schüler waren über die Ferien nach Hause gefahren, einige waren alleine im Winterurlaub und nur ein paar waren im Internat geblieben. Auch Kevin und Lucas verbrachten noch die letzten Ferientage nach ihrer Reise im Internat.

Dorian Müller und Alexander Sarutin waren geblieben um Latein zu lernen und Michael Lehrke war einfach dageblieben weil er ‚eh nirgends hin konnte', wie er es formulierte.

Die Cafeteria war zu den Essenszeiten angenehm leer, besonders jetzt zum Abendessen. Kevin stand mit seinem Tablett neben der Ausgabe und wartete auf Lucas, als ihm etwas auffiel. Kurz stieß er Lucas an und nickte in Richtung eines Tisches.

„Komm mit.“

An dem Vierertisch saß einsam Michael Lehrke in seinem blauen T-Shirt und stocherte lustlos im Essen.

„Dürfen wir?“

Michael sah auf und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Gerne.“

Kevin und Lucas setzten sich und fingen an zu essen. Michael schaute ihnen interessiert zu.

„Ihr habt euch schon gefunden?“

„Sieht man das?“

Kevin grinste mit einem Seitenblick zu Lucas.

„Es war schon ziemlich am Anfang. Wir haben zwar eine Weile gebraucht, bis wir uns wirklich entschlossen haben, aber jetzt ist es endgültig. Was ist mit dir?“

Michael seufzte und sein Gesicht bekam wieder einen angespannten Ausdruck.

„Deine Kameraden sind ganz schön zickig.“

Damit deutete er auf Kevins rotes T-Shirt und dieser lachte leise.

„Oh, ja. Einige übertreiben es allerdings auch.“

Lucas schüttelte nur den Kopf, sah dann aber Michael direkt an.

„Was macht eigentlich ein Bannmagier genau?“

„Oh, das ist ziemlich umfangreich. Unsere Hauptaufgabe ist das Schließen der Portale. Aber das ist rituelle Magie, die kommt erst im fortgeschrittenen Teil dran. Dazu brauchen wir übrigens auch einen Astralmagier.“

Lucas grinste Michael an.

„Ich weiß. Was noch?“

Kevin unterbrach die beiden.

„Wollt ihr das hier fortsetzen? Lasst uns zu mir auf die Bude gehen, ich hab sogar noch ein paar Bier im Kühlschrank.“

„Meinst du wirklich? Ich wollte euch beide nicht stören.“

„Ach was, es ist immer interessant, die Leute kennenzulernen. Wir sind jetzt vier Monate zusammen in einer Klasse und wir wissen verdammt wenig voneinander.“

In Stube 401 plünderte Kevin den Kühlschrank und fand tatsächlich noch drei Flaschen Bier, ein Überbleibsel von einer kleinen Feier vor vier Wochen.

Lucas platzierte Michael in einem der beiden Drehstühle vor dem Schreibtisch, er selbst legte sich auf das Bett. Als Kevin die Flaschen verteilt hatte legte er sich neben Lucas.

„Wieso hast du ein riesiges Doppelbett und ich nur ein einzelnes?“

Kevin grinste breit.

„Ganz einfach. Geh zur Verwaltung und sag, du willst eines haben. Die fragen nicht einmal, warum.“

Lucas grinste jetzt ebenfalls.

„Genau, ich hab nämlich jetzt auch eins. Aber nun erzähl mal. Was macht ihr Bannmagier sonst noch so?“

„Barrieren erstellen, Anwender ärgern, solche Sachen.“

„Hä? Anwender ärgern?“

Michael lachte laut auf.

„Ja, wir können zum Beispiel einen Anwender von seiner Anwendung trennen oder ihn daran festfrieren. Oder sogar seine Anwendung auf ihn zurückwerfen.“

„Oh, oh.“

„Jep. Besonders beliebt bei Feuerbällen oder Energieblitzen.“

„Kann ich mir vorstellen.“

Kevin nahm sich vor, seine Ausbilder speziell zu diesen Sachen zu befragen, als Lucas sich meldete.

„Sag mal, wie bist du eigentlich zu diesem Verein gekommen?“

Michael erbleichte sichtlich. Kevin stieß Lucas seinen Ellenbogen in die Rippen.

„Spinnst du? Das ist doch jedem seine eigene Sache.“

„Du brauchst nichts zu erzählen, wir können auch ein bisschen Musik hören oder so.“

Michael hatte sich etwas entspannt und sah die beiden auf dem Bett nachdenklich an.

„Ist schon gut, irgendwann muss ich es ja doch jemandem erzählen und wenn ich es jetzt tue, krieg ich ja vielleicht beim nächsten Mal die Klappe eher auf.“

Kevin konnte sich dunkel daran erinnern, dass Christoph während des Magieunterrichtes einmal erwähnt hatte, dass der große blonde Bannmagier ein ganz schön verklemmtes Arschloch war. Da es nur vier Bannmagier gab, Manuel kleiner als Christoph war, Lucien dunkelrote Haare hatte und André rotblond war, blieb ja nur Michael übrig.

Aber Christoph war nicht das Maß der Dinge, der jagte hinter allem her was kein rotes Hemd trug.

Kevins Aufmerksamkeit wurde wieder auf Michael gelenkt, als dieser sich räusperte und mit leiser Stimme zu erzählen begann.

„Wie ihr vielleicht wisst oder auch nicht, komme ich aus Berlin. Ich hatte da einen kleinen Nebenerwerb…“

Michaels Stimme wurde leiser und er beugte sich vor, um seine ersten Tränen zu verbergen. Doch plötzlich straffte er sich, wischte sich mit der linken Hand über das Gesicht und sah die beiden vor sich herausfordernd an.

„Ich bin dort auf den Strich gegangen.“

Kevin sah Lucas mit völlig ausdruckslosem Gesicht an und dann zurück zu Michael.

„Ja, okay. Was hat das mit deiner Geschichte zu tun?“

„Ihr werdet schon sehen.“

Berlin, Deutschland, Anno Domini 2013

Langsam und mit schmerzendem Schädel erwachte Michael. Noch völlig vernebelt, versuchte er sich zu orientieren. Er spürte, dass er relativ weich lag, also vermutlich auf einem Bett. Als er die Arme bewegen wollte, bemerkte er das Hindernis. Die Arme waren über den Kopf gestreckt und leicht gespreizt. An den Handgelenken waren Metallfesseln angelegt und je eine massive Kette führte zu den Bettpfosten. Michael schloss die Augen. Es hatte ja irgendwann einmal so weit kommen müssen.

„Scheiße!“

Seine Stimme klang laut durch den Raum, aber nichts rührte sich. Der Typ, mit dem er gestern Abend mitgegangen war, hatte doch eigentlich ganz harmlos ausgesehen. So Anfang 40, etwas schüchtern, mit Brille, hatte er Michael am Bahnhof angesprochen.

„Suchst du was?“

Michael hatte nicht gerade ausgesehen als ob er etwas suchen würde, aber er verstand die Frage. Der Typ schien neu hier zu sein. Vielleicht das erste Mal hier.

„Ein wenig Gesellschaft vielleicht?“

Man, konnte der rumeiern. Aber mal sehen.

„Vielleicht? Aber doch nicht hier?“

„Nein, nein! Wir könnten zu mir gehen.“

Michael war baff. So einfach und offensichtlich war das ja noch nie zugegangen. Normalerweise würde jetzt ja die Frage nach dem Preis...

„Und wie viel?“

Aha, wollen wir doch mal sehen ob der wirklich so naiv ist.

„Hundert für alles. Die ganze Nacht zweihundert.“

Michael war leicht amüsiert, aber auch etwas verärgert. Wenn der Typ ihn verarschen wollte würde er das gleich sehen. Der Preis war natürlich utopisch für einen Freizeit-Stricher vom Bahnhof.

„Okay, zweihundert ist in Ordnung.“

Michael fiel beinahe die Kinnlade herunter. Irgendetwas stimmte hier nicht. Aber das Geld konnte er weiß Gott gut gebrauchen. Deshalb nickte er nur wortlos und folgte dem Mann, von dem er nicht einmal den Namen wusste.

Die Fahrt im Auto verlief völlig schweigsam. Merkwürdigerweise versuchte der Mann nicht einmal, sich Michael zu nähern. Keine Kommentare, kein langsames Betatschen oder unauffälliges Streicheln. Michael hatte immer mehr ein unheimliches Gefühl.

Als der Wagen hielt, standen sie vor einem Mehrfamilienhaus mitten in der Stadt. Hm, zumindest keine einsame Villa oder so. Ohne weitere Kommentare führte der Mann Michael die Treppe hinauf, schloss eine Wohnungstür auf und sie gingen ins Wohnzimmer.

„Möchtest du was trinken?“

Der erste Satz seit dem kurzen Gespräch am Bahnhof. Michael nickte. Der Mann ging hinüber zum Schrank und öffnete ein Barfach. Michael sah sich kurz um. Irgendwie war die Einrichtung spießig. Sofa und Schrank sahen ziemlich alt aus, von der Decke hing eine Lampe mit gelben Gläsern. Sein Kumpel Pieter hätte so etwas wahrscheinlich als „Gelsenkirchener Barock“ betitelt.

Das Glas das Michael jetzt bekam, enthielt Cola und nur Cola wie er nach kurzem Probieren bemerkte. Auch gut. Wenn ich jetzt schon anfange zu saufen, krieg ich nachher keinen mehr hoch und das kommt bestimmt nicht gut.

Der Mann hatte sich auf das Sofa gesetzt und neben sich auf das Kissen geklopft. Michael verstand die Aufforderung und ging hinüber. Kaum, dass er auf dem Sofa saß, wurde er müde, zwei Sekunden später war er fest eingeschlafen.


Das Ruckeln an den Fesseln nutzte natürlich gar nichts. Verzweifelt sah sich Michael im Zimmer um. Ein kleiner Raum mit einem Bett, einem Nachttisch, einem Schrank und einer Kommode. Auf der Kommode lagen fein säuberlich seine Sachen gestapelt. Erst jetzt bemerkte Michael, dass er splitternackt war. Die Temperatur war so hoch, das er nicht einmal fror. Als er sich erschöpft zurücklehnte, fiel sein Blick auf den riesigen Spiegel an der Decke. Na, toll. Wenn die hier einen Porno drehen wollten oder so, brauchten sie ihn doch nicht unbedingt zu fesseln. Auf SM hatte Michael allerdings definitiv keinen Bock. Das eine Mal hatte ihm gereicht, als ein Freier seine Peitsche rausgeholt hatte und er nicht mehr rechtzeitig abhauen konnte.

Gedankenverloren betrachtete er sich im Spiegel. Nackter Blödmann auf 191 cm. Bei dem Gedanken musste er doch ein bisschen Grinsen. Braun gebraten im Solarium, das erwartet die Kundschaft und naturblonde Haare, überall. Und natürlich sein Handwerkszeug, das bei der jetzigen Situation allerdings im Normalzustand zwischen den Oberschenkeln ruhte. Prüfend fuhr sein Blick wieder nach oben zu dem noch neuen Tattoo auf der linken Brust. Im besoffenen Kopp war er in dieses kleine Tattoo-Studio im Bahnhofsviertel gewankt und hatte völlig fasziniert auf die Aushänge gestarrt. Der alte Mann hinter dem Tresen sah ihn erwartungsvoll an.

„Wie teu..teuer issn so was?“

„So von 20 bis 500 Euro, je nach Größe“

„So 'n Drachn is' toll. Kannich den ham?“

Der alte Mann musterte ihn genauer. Dann schien er zu einer Entscheidung zu kommen.

„Wenn du wieder nüchtern bist, kannst du vorbeikommen. Ich zeig dir dann auch noch ein paar andere Motive.“

„Was? Aber ich wollte... iss ja auch egal“

Am nächsten Tag war Michael wieder nüchtern, aber die Drachen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Und tatsächlich fand er das kleine Studio wieder.

„Aha, der Drachenjunge!“

„Ja, äh, ich wollte noch mal nach den Motiven fragen.“

Der alte Mann nickte wissend. Er legte Michael ein großes Buch vor, in dem eine Vielzahl von Drachen abgebildet waren, aber irgendwie war nicht das richtige Motiv dabei. Michael seufzte traurig. Da sah ihn der alte Mann scharf an. Seine Augen erfassten die Gestalt des Jungen vor ihm und es schien fast, als ob ein helles orangefarbiges Glühen von ihnen ausgehen würde. Dann nickte der Mann, als ob er eine Entscheidung getroffen hätte.

„Wie heißt du eigentlich?“

„Michael, warum?“

„Nun, weil ich hier noch ein Motiv habe, aber das ist etwas ungewöhnlich.“

Damit bekam der Junge jetzt ein großes Blatt vorgelegt auf dem ein farbiges, gut 15 cm hohes Motiv zu sehen war. Tatsächlich war der gewünschte Drachen nicht der Hauptdarsteller. Das Bild zeigte einen Engel mit einem Schwert, der einen unter seinen Füßen befindlichen hässlichen Drachen erschlägt.

Michael starrte auf das Blatt. Langsam nahm er die Einzelheiten in sich auf. Den strahlenden Engel mit den hellblonden Haaren, das riesige Schwert und den schwarzen, sich windenden Drachen zu seinen Füßen.

„Was... wer ist das?“

„Der Heilige Michael erschlägt das Böse in Form eines Drachen.“

Um Michael schien sich alles zu drehen. Das musste er haben. Unbedingt.

„Wie viel?“

„Nun, eigentlich 300 Euro, aber da du Michael heißt, sagen wir 100.“

Jetzt starrte Michael den alten Mann an. Er glaubte, sich verhört zu haben.

„Allerdings gibt es da eine kleine Bedingung, natürlich nur, wenn du einverstanden bist.“

Aha, also doch. Wahrscheinlich auf den Schwanz gepinselt.

„Nun, die ideale Stelle für so einen Heiligen wäre natürlich auf der Brust, direkt über dem Herzen.“

Michael versuchte sich vorzustellen, wie das aussehen würde. Instinktiv fuhr er mit seinen Fingern über die linke Brustwarze. Der alte Mann lachte.

„Die lassen wir natürlich aus.“

Und jetzt lag er hier in einem unbekannten Zimmer splitterfasernackt auf ein Bett gefesselt. Tja, der Heilige Michael hatte ihm in dieser Situation auch nicht helfen können.

Erschöpft sank Michael in eine Art Dämmerschlaf hinüber.

Das Geräusch einer Tür ließ Michael schlagartig wieder wach werden. Draußen vor dem Schlafzimmer unterhielten sich zwei Männer, aber es war nur dumpfes Gemurmel zu verstehen. Da öffnete sich die Tür und der Typ vom Bahnhof, von dem Michael noch immer nicht den Namen wusste, sah herein.

„Er ist wach.“

„Dann schläfre ihn wieder ein. Er braucht nicht zu wissen, wohin es geht.“

Michael geriet in Panik. Hektisch zerrte er an den Fesseln.

„He, was soll das! Lasst mich sofort hier raus!“

Doch der Typ zog eine kleine Sprayflasche aus seiner Jackentasche und hielt sie Michael direkt vor das Gesicht. Kurz nach einem leisen Zischen versank Michael wieder im Land der Träume.


Das nächste Mal als er erwachte, wusste er sofort, dass sich etwas grundlegend geändert hatte. Die Unterlage auf der er jetzt lag war steinhart und er fror erbärmlich. Er war immer noch an Händen und Füßen gefesselt, doch diesmal mit gespreizten Armen und Beinen, so dass die Ketten zu den vier Ecken seiner Unterlage zeigten.

Hektisch warf sich Michael hin und her um etwas von seiner Umgebung erkennen zu können. Augenscheinlich war dies hier irgendwo unterhalb der Erdoberfläche denn ringsum gab es nur nackte Felswände. Wenn er nach links blickte, konnte er eine große Doppeltür, fast ein Tor, erkennen, die jetzt aber geschlossen war.

Auf der rechten Seite endete der Stollen oder Tunnel vor einer Felswand wie eine Sackgasse. Auf Grund seines Sichtwinkels vermutete Michael, dass seine Unterlage (ein Steinblock?) quer zur Längsachse des Tunnels stand.

An den Wänden des Tunnels waren in unregelmäßigen Abständen Ringe eingelassen in denen jetzt ein paar mickrige Fackeln vor sich hin flackerten. Michael überdachte kurz seine Lage. Tunnel… Steinblock… Fesseln… Panikartig begann er an den Ketten zu reißen.

Mit lautem Krachen öffneten sich die Türflügel und Michael drehte seinen Kopf so gut er konnte nach links. Langsam und bedächtig schritten eine Anzahl Männer durch den Torbogen und bauten sich in einem Halbkreis vor Michael auf. Er zählte zwölf Männer in langen, weißen wallenden Gewändern mit hohen spitzen Kapuzen. Jeder von ihnen trug eine große schwarze Kerze die er jetzt vor sich abstellte. Eisige Kälte durchfuhr Michael und es war nicht nur die gefallene Temperatur. In genau diesem Moment hatte er mit seinem Leben abgeschlossen. Aus den Augenwinkeln konnte Michael eine Bewegung erkennen, dann wurde es dunkel um ihn, als jemand ein riesiges schwarzes Tuch über ihn breitete.

Als das Tuch entfernt wurde, verfluchte Michael zum wiederholten Mal sein Schicksal und zerrte verzweifelter denn je an den Ketten, mit denen er auf dem kalten Stein gefesselt war. Die zwölf Männer in den langen weißen Gewändern und den spitzen Kapuzen murmelten ausdauernd irgendwelche lateinischen Sprüche. Bei dem, was Michael mitbekam, wünschte er auf einmal, er hätte statt Latein lieber Französisch gewählt.

Die Höhle, oder der Tunnel, oder was auch immer, war jetzt von einer Unzahl Kerzen beleuchtet und an der Wand rechts des Steines auf dem Michael lag – wieso schoss ihm gerade der Begriff Opferaltar durch den Kopf – hatte jemand mit roter Farbe ein riesiges Pentagramm angemalt. Michael war sich auf einmal nicht mehr so sicher, dass es wirklich rote Farbe war.

Das Gemurmel hatte sich zu einem einzelnen Ruf verdichtet „Erscheine!“ - „Erscheine!“ - „Erscheine!“

Michael starrte entsetzt an die gegenüberliegende Wand, als vor dem Pentagramm ein helles Licht erschien. Das Licht breitete sich ringförmig aus und wurde immer größer. Innerhalb des Ringes schienen Schatten hin und her zu wandern. Immer größer wurde der Ring und die Schatten verdichteten sich immer mehr.

Plötzlich schien sich der Ring nach innen zu wölben und ein Wesen trat hervor, das Michael sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte. Gut zwei Meter hoch, mit zwei Armen und zwei Beinen und mit blauer Haut. Ein Kopf war nicht zu erkennen. Wo bei einem Menschen der Hals gewesen wäre, gähnte von einer Schulter zur anderen ein riesiges Maul mit langen, nadelscharfen Zähnen. Die Arme mit zwei Gelenken endeten in dicken Klauen, die wie die Scheren eines Hummers klickten. Hinter diesem Wesen trat noch ein zweites aus dem Ring und die beiden postierten sich links und rechts davon, als ob sie einen Durchgang bewachen wollten. Dann verdichtete sich das Feld wieder und es war schon an dem Schatten zu erkennen, dass dieses Mal irgendetwas anderes aus dem Tor treten würde.

Michael starrte mit immer größer werdendem Entsetzen auf das Wesen, das sich jetzt verdichtete. Es war gut zweieinhalb Meter groß und mit dichtem, dunkelrotem Fell bedeckt. Es lief auf zwei Beinen mit großen Hufen. Zwei Arme endeten in Händen mit langen, offensichtlich scharfen Krallen. Doch der Kopf war das Schlimmste. Ähnlich wie der Kopf einer Ziege hatte er ein vorspringendes Maul, das allerdings hier mit handlangen, nadelspitzen Zähnen bestückt war. Auf dem Kopf waren zwei wie bei einem Widder eingerollte Hörner.

Mit einem Aufschrei schloss Michael die Augen. Wenn das der Teufel war, dann wollte er nichts mehr hören oder sehen. Sollten diese ganzen Geschichten, die die Kirche verbreitete, am Ende vielleicht doch wahr sein? Die Neugier war stärker als die Furcht und Michael öffnete die Augen. Der rote Teufel stand zögernd vor dem Tor und schien sich lauernd umzusehen. Die zwölf Männer in ihren Kapuzenumhängen waren auf die Knie gefallen und intonierten weiterhin ihre Gesänge.

Michael wurde von seiner Umgebung durch einen leichten Schmerz abgelenkt. Seine linke Brustseite schien zu brennen und als er seinen Kopf verrenkte, konnte er seine Tätowierung erkennen, die in leichtem violett schimmerte. Voller Panik begann er an seinen Ketten zu zerren und das Geräusch ließ das große rote Wesen herumfahren. Ein scharfer Schmerz traf Michael auf den Bauch, als sein linker Arm herumfuhr und die Kette mit sich nahm. Anscheinend hatte er tatsächlich den Befestigungsring aus der Verankerung gerissen. Das rote Wesen stieß ein hohles Tuten aus, ähnlich dem einer Schiffssirene und näherte sich dem Altar. Michael zerrte stärker an seinen restlichen Ketten, seine Panik breitete sich weiter aus und er war jetzt nur noch auf diesen roten Schädel mit den Hörnern fixiert. Dabei bemerkte er nicht, dass sich das violette Leuchten langsam auf seinen ganzen Körper ausbreitete. Ebenso entgingen ihm die lauten Geräusche vor der großen Doppeltür.

Das rote Wesen streckte seine rechte Klaue nach Michael aus und in einem letzten Anfall von Panik schlug er mit der losen Kette danach. Danach überstürzten sich die Ereignisse. Das Wesen tutete wieder laut, nicht erkennbar, ob vor Schmerz oder Überraschung. In diesem Moment brach die Doppeltür auseinander, die beiden Flügelhälften schlugen krachend an die Wand und eine ganze Gruppe von schwarz gekleideten Personen stürzte in den Raum.

Michael indessen hatte nur Augen für die lose Kette, die jetzt das rote Wesen berührt hatte. Das violette Leuchten seines eigenen Körpers hatte sich auch auf die Kette übertragen und nun zuckte ein kleiner violetter Blitz hinüber in den großen roten Körper. Das Wesen schrie auf, nun deutlich vor Schmerzen und dann zuckte ein viel stärkerer violetter Blitz von diesem Wesen hinüber zu dem leuchtenden Tor. Das Tor nahm die Farbe auf, flackerte kurz und verlosch.

Sämtliche Bewegungen in der Höhle schienen mit einem Male zu erstarren und nur einen Sekundenbruchteil später waren das rote Wesen und die beiden blauen Wächter spurlos verschwunden. Michael sackte erschöpft auf den Altar zurück. Die zwölf Männer in ihren Kapuzenumhängen schienen wie aus einer Trance zu erwachen, doch bevor sich einer richtig bewegen konnte, schossen rote Blitze aus den Händen der neuen Eindringlinge und die zwölf sanken lautlos zu Boden.

Michael schloss ergeben die Augen. Es war alles viel zu viel gewesen für ihn. Er wollte nur noch schlafen und dann erwachen, um festzustellen, dass alles ein böser Traum gewesen war.

„Da sind wir ja noch einmal rechtzeitig gekommen.“

Die angenehm tiefe Stimme veranlasste Michael die Augen wieder zu öffnen. Und dann riss er die Augen ganz auf. Die schwarzen Gestalten hatten ihre Sturmhauben abgenommen und standen in kleinen Gruppen herum. Gut die Hälfte von ihnen war bestimmt nicht viel älter als Michael selbst. Direkt neben ihm am Opferaltar standen zwei Männer die, wie Michael zugeben musste, richtig gut aussahen. Der größere der beiden war blond, hatte blaue Augen und ein strahlendes Lächeln. Der deutlich kleinere hatte etwas dunklere Haare und anscheinend graue Augen.

Michael traute seinen Augen kaum. Die vier Männer trugen einen Körperpanzer ohne Helm, den Michael als alter Batman-Fan sofort erkannte. In ‚Batman und Robin' hatte der Robin einen fast genau gleichen Anzug, sogar die farblichen Markierungen waren an den gleichen Stellen, Die Panzerung der beiden Männer vor ihm hatte unterschiedliche Farbmarkierungen, bei dem Blonden waren sie violett, bei dem Kleinen rot.

„Halt mal bitte ganz still.“

Michael wusste nicht, was er davon halten sollte, aber er fasste Vertrauen zu dem Blonden mit der tiefen Stimme.

Der kleinere nahm jetzt Michaels rechten Arm mit seiner linken Hand hoch und hielt seine Rechte kurz über die Stahlkette. Ein kleiner grüner Blitz leuchtete wie ein Lichtbogen auf und die Kette fiel abgetrennt zurück. Das ganze wiederholte er mit dem anderen Arm und dann mit den Fußfesseln.

„Meinst du, du kannst laufen?“

Michael richtete sich langsam auf und bemerkte die Blicke der beiden vor ihm. Erst jetzt wurde ihm wieder klar, dass er ja splitternackt war. Leichte Röte überzog sein Gesicht. Eigentlich war er es gewohnt, jemandem nackt gegenüber zu treten, aber bei den beiden war es ihm irgendwie peinlich.

Ein anderer junger Mann mit blondierten Haaren kam hüftenschwingend auf die drei zu. Dann legte er Michael eine mitgebrachte Decke um die Schultern und wickelte ihn ein.

„So“, flötete er, „damit sich unser Schnuckelchen nicht verkühlt.“

Michael starrte ihn völlig verblüfft an. Was war denn das jetzt? Die beiden vor ihm brachen in schallendes Gelächter aus. Dann beugte sich der Blonde vor und küsste den Kleinen direkt auf den Mund. Ein Kuss mit viel Liebe und Zärtlichkeit. Michael starrte schon wieder.

„Können wir?“

Die beiden hatten sich voneinander gelöst und Michael erwachte auch allmählich aus seiner Trance.

„Gerne!“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2014

Auf den Gesichtern von Kevin und Lucas wechselte im Laufe der Geschichte der Gesichtsausdruck von Erstaunen über Unglauben zu Abneigung und Entsetzen immer mal wieder hin und zurück. Als Michael schwieg, blieb es eine ganze Weile still im Raum. Langsam stand Kevin auf und ging hinüber zu Michael der mit unbeweglichem Gesicht auf dem Drehstuhl saß und die beiden auf dem Bett beobachtet hatte.

Sanft berührte Kevin Michael an der Hand.

„Und das ist der Grund, warum du dich nicht traust, mit jemandem über deine Vergangenheit zu sprechen?“

Michael seufzte tief und sah Kevin in die Augen.

„Was glaubst du? Ich bin nicht reich. Der einzige Grund, warum ich auf eine höhere Schule gehen konnte, war die Tatsache, dass meine Mutter für alles bezahlte. Sie kaufte mir buchstäblich alles, was ich für die Schule benötigte, aber auch nicht mehr. Sie wollte unbedingt, dass etwas Besseres aus mir wird. Doch als gehorsamer Sohn folgte ich natürlich auch ihrem Beruf.“

Michael stieß ein kurzes, hartes Lachen aus.

„Der Sohn einer Nutte geht aufs Gymnasium? Was glaubt ihr, wie lange es gedauert hat, bis die anderen es herausgefunden hatten? Wie oft ich mit einem Veilchen oder noch schlimmer zugerichtet nach Hause gekommen bin? Nein, Freunde hatte ich keine. Und Geld – nun, ja – das konnte man sich schnell verdienen, wenn man die Augen zumachte und gut verdrängen konnte.“

Michael sah jetzt auch hinüber zu Lucas.

„Ihr beiden seid die ersten, denen ich meine Geschichte erzählt habe. Macht damit, was ihr wollt. Ich werde schon damit klar kommen.“

„Wir werden nichts weitererzählen, wenn du es nicht willst. Es freut uns nur, dass du uns so persönliche Dinge anvertraut hast.“

Michael seufzte schon wieder, dann sah er auf seine Armbanduhr.

„Was? Schon halb zwölf? Ich werd' mich mal besser rüber auf meine Bude machen.“

„Du kannst auch bei uns übernachten.“

Michael sah Lucas erstaunt an und so entging ihm auch der genauso erstaunte Blick von Kevin, den dieser seinem Freund zuwarf.

„Was? Nein. Ich will euch nicht stören. Ist ja nicht weit und ich hab auch keine Klamotten mit.“

„Ha, du störst nicht. Und ein T-Shirt und ein paar Boxer kannst du von mir haben. Ich hab immer ein paar Sachen hier bei Kevin und er hat welche drüben bei mir.“

Michael zögerte sichtlich. Kevin kam die Erleuchtung.

„Hey, wir wollen dich nicht vernaschen. Du brauchst nur ein paar Kuscheleinheiten und wir sind in der glücklichen Lage, ein paar davon abgeben zu können.“

Michael lächelte unsicher.

„Na, ja. Okay, meinetwegen.“

Lucas sprang vom Bett auf und kramte in einem der Wandschränke. Sekunden später flogen zwei kleine Bündel in Michaels Richtung.

„Hmmm, na ja.“

Michael hielt knallrote Boxershorts mit gelben Smileys hoch, danach ein gelbes T-Shirt.

„No way! Ich trag doch kein gelb!“

„Oh, sorry. Das war das falsche.“

Ein weiteres Bündel flog in Michaels Richtung, diesmal war das T-Shirt weiß.

„Du kannst als erster ins Bad.“

Michael nickte und verschwand im Badezimmer während Lucas langsam auf Kevin zuging.

„Tut mir leid, dass ich dich so überfahren habe, aber ich hatte das Gefühl, dass Michael noch etwas mehr braucht, als nur gute Zuhörer. Bist du mir böse oder hast du ein Problem damit?“

Kevin sah Lucas in die Augen.

„Nein, überhaupt nicht, denn du bist mir wohl nur ein paar Sekunden zuvorgekommen. Michael braucht wirklich etwas Zuneigung. Ich werde bei uns mal vorsichtig nachhaken, ob sich jemand ernsthaft für ihn interessiert. Außerdem – er ist doch eigentlich richtig niedlich oder?“

Lucas bemerkte Kevins schelmisches Grinsen und piekte ihn mit beiden Zeigefingern in die Seiten, so dass Kevin laut aufquiekte.

„Was glaubst du, was er hat, was ich nicht habe?“

„Hmmm? Ein Tattoo vielleicht?“

„Ah, richtig. Da wollte ich ihn ohnehin noch nach etwas fragen.“

In diesem Moment trat Michael aus dem Bad. Gekleidet in die roten Boxershorts hielt er das T-Shirt in der Hand und sah die beiden vor sich fragend an.

„Ist ein bisschen warm für die Nacht. Wenn es euch nichts ausmacht…“

„Kein Problem. Eigentlich tragen wir noch viel weniger, aber das wollen wir dir heute nicht antun. Außerdem hab ich sowieso noch eine Frage dazu.“

Damit deutete Lucas auf das gut sichtbare Tattoo auf Michaels linker Brustseite.

„Was ist damit?“

„Weißt du eigentlich was das ist? Ich meine abgesehen von einem Tattoo?“

Irritiert sah Michael an sich herunter.

„Wieso, was denn noch?“

„Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass es etwas magisches sein könnte, so wie du es in deiner Geschichte erzählt hast?“

„Ich dachte, wenn es was damit zu tun hätte, würden sie es mir hier erzählen.“

Lucas grinste und stellte sich vor Michael hin. Sie waren bis auf wenige Zentimeter gleich groß, nur Lucas war etwas muskulöser und breiter in den Schultern. Während Michaels Haut von Sonne und Solarium gebräunt war, war die von Lucas hell und an Kopf und Schultern von Sommersprossen bedeckt.

„Darf ich dich anfassen?“

„Huh?“

„Ich meine das Tattoo. Darf ich es berühren?“

Michael nickte wortlos, während Kevin den beiden erstaunt zusah.

Lucas streckte seine rechte Hand aus und fuhr mit der Handfläche langsam über das Tattoo. Seine Hand umgab dabei ein sanftes, orangefarbiges Leuchten.

„Wie ich es mir gedacht habe. Es ist ein Zauberspeicher.“

„Was!? Tatsächlich?“

„Ein Zauberspeicher. Ich erklär dir das gleich. Bin nur eben im Bad.“

Schnell nahm Lucas ein kleines Bündel vom Tisch und verzog sich ins Badezimmer während Kevin sich auf dem Bett niederließ und mit der Hand neben sich auf die Matratze klopfte. Zögernd kam Michael näher und setzte sich neben Kevin.

„Und ich störe euch wirklich nicht?“

„Nein, natürlich nicht. Lucas und ich sind so oft zusammen, da ist es kein Problem wenn wir noch einen Freund einladen.“

„Einen Freund… Ich hatte noch nie jemanden, der mich so bezeichnet hätte…“

„Ja, und deshalb bist du ja jetzt bei uns.“

Kevin sprang auf und kramte wieder in seinem Wandschrank.

„Hier, wirst du brauchen.“

Michael wurde mit einer Bettdecke und einem Kopfkissen beworfen.

„Habt ihr so was immer auf Vorrat?“

„Nee, das sind die Reste von unserer Pyjama-Party letzten Monat.“

„Pyjama-Party? Bist du nicht aus dem Alter raus?“

„Na ja, es gab ja auch keine Pyjamas mehr und die Party verlief ziemlich, nun wie soll ich sagen…“

„Freizügig“, kam es von der Tür zum Bad und Lucas grinste. Er trug jetzt ebenfalls nicht mehr als ein Paar grasgrüne Boxershorts.

Kevin zischte an ihm vorbei ins Bad. Flüchtig dachte er beim Duschen an Lucas, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Michaels Geschichte und seine Probleme verstanden hatte und mit ihm umging.

Nur mit schwarzen Retroshorts bekleidet kam Kevin aus dem Bad. Michael lag in der Mitte des Bettes auf dem Rücken lang ausgestreckt auf seiner Bettdecke. Seine Arme hatte er hinter dem Kopf gefaltet. Lucas lag auf der rechten Seite neben ihm auf der Bettdecke auf seinen linken Arm gestützt. Langsam fuhr er mit der freien rechten Hand über das Tattoo das jetzt sanft violett leuchtete.

Kevin zögerte näher zu kommen, doch Lucas meinte ohne aufzublicken

„Du kannst dich ruhig hinlegen. Aber wenn es geht, Michael bitte erst mal nicht berühren.“

Kevin hob die Augenbrauen, sagte nichts und legte sich vorsichtig auf die freie Seite neben Michael. Lucas hob jetzt langsam seine Hand und zog vorsichtig seinen Arm zurück.

„So jetzt kommt der interessante Teil. Kannst du die Magie spüren?“

Michael brummte. Seine Antwort kam etwas zögernd.

„Doch, ich glaube ja. Ich weiß jetzt auch, was es für ein Zauber ist, obwohl wir den noch nie praktisch anwenden durften.“

„Sehr gut. Du brauchst dich nicht auf den Zauber zu konzentrieren, denn der ist ja bereits fixiert. Du brauchst nur etwas von deiner Energie in dem Zauberspeicher abzulegen. Meinst du, du kannst das?“

Ohne zu Antworten schloss Michael die Augen und entspannte sich. Langsam aber stetig nahm das violette Glühen über seinem Tattoo ab, bis es ganz verschwunden war.

„Sehr gut. Du hast es geschafft. Du hast jetzt einen voll aufgeladenen Zauberspeicher zur Verfügung, der einen Spruch gespeichert hat, den du nur abzurufen brauchst ohne Energie zu investieren.“

„Woher weißt du das alles?“

Die Antwort kam mit einem kleinen Lachen von der anderen Seite.

„Astralmagier sind auch Verzauberer. Sie können magische Gegenstände herstellen und wissen, wie sie funktionieren. Hat man uns bis jetzt auch noch nicht erzählt, aber es ist hilfreich wenn man schon vor diesem Institut einen Astralmagier kennengelernt hat.“

Lucas hatte sich auf den Rücken gelegt und sah zur Decke.

„Für einen Zauberspeicher braucht man übrigens einen Bannmagier, der den Spruch mit ‚Halten' so lange aufrechterhält, bis er im Gegenstand fixiert ist. Ich dachte, ihr wüsstet das inzwischen.“

Michael richtete sich erstaunt auf.

„Nein. Über Verzauberung hat bis jetzt noch niemand gesprochen. Aber wir sind ja auch erst am Anfang.“

Mit einem kleinen Seufzer ließ Michael sich wieder zurückfallen.

„Bei euch ist das echt spannend, wir müssen Magietheorie lernen. Wir müssen die Spruchzauber aller fünf Schulen kennen, auch wenn wir sie nicht anwenden können.“

„Wozu soll das denn gut sein?“

„Weil wir danach die Barrieren berechnen müssen und für Reflexion müssen wir jeden strukturellen Aufbau kennen, sonst funktioniert er nicht.“

„Na, besser du als ich. Kommt, lasst uns noch ein wenig schlafen.“

Damit schlüpfte Lucas nun unter die Bettdecke auf der er gelegen hatte und Kevin und Michael folgten.

Michael drehte sich nach rechts und sah etwas zögernd Lucas an. Dann beugte er sich vor und gab ihm sanft einen Kuss auf die Wange.

„Danke.“

Dann drehte er sich auf die andere Seite. Kevin bekam ebenfalls einen schüchternen Kuss.

„Danke, dass ich bei euch sein darf.“

Kevin erhob sich halb und beugte sich über Michael hinweg um Lucas einen Kuss zu geben.

„Gute Nacht, Lucas.“

„Gute Nacht, Kevin.“

Eine Sekunde später kam es aus der Mitte:

„Gute Nacht, John-Boy.“

Prustendes Gelächter bis Kevin den Schalter fand und das Licht löschte.

Michael hatte sich auf seine rechte Seite in seine Schlafposition gedreht, als er spürte wie Lucas ihm einen sanften Kuss auf die Stirn gab und nur kurze Zeit später spürte er einen ebenso sanften Kuss von Kevin in seinem Nacken.


Nach den Ferien hatte die Schüler wieder das harte und langweilige Alltagsleben eingeholt. Doch das Zusammenleben in der Gemeinschaft schien sich immer schwieriger zu gestalten.

Kevin war ganz in seine Gedanken versunken auf dem Weg zum Magieunterricht, als er hinter sich Stimmen hörte. Als er sich umsah, erkannte er Alexander und Dorian in ein Gespräch vertieft an ihm vorbeilaufen. Kevin erstarrte in seiner Bewegung, als ihm bewusst wurde, dass die beiden sich in Latein unterhielten. Als er ihnen hinterher sah, kam er ins Grübeln. Das würde noch schwierig werden, nicht wegen Latein, sondern wegen der engen Beziehung der beiden. Sie wußten doch genau, dass sie nach der Schule getrennt werden würden.

Sofort fiel ihm Michael ein, den er ja auch noch irgendwie an den Mann - oder besser, den Kampfmagier - bringen musste.

Mal sehen: Hendrik war andauernd mit diesem Lars, dem zweiten Astralmagier unterwegs, Christoph war ein Idiot, Dorian und Alexander wollte er erst mal nicht einbeziehen. Plötzlich schoss ihm eine Äußerung von Christoph durch den Kopf, die er unbedingt überprüfen musste.

Eines schönen Tages, als Christoph bereits mit dem dritten Jungen öffentlich herumknutschte, hatte Rafael ihn gefragt, ob er sich nicht lieber ein Zimmer suchen wolle.

„Ha, ich krieg wenigstens welche. Die stehen nicht so auf Nerds.“

Rafael war rot angelaufen und hatte wortlos kehrt gemacht.

Hmmm, Michael hat zumindest ebenfalls Latein gehabt und ist ja auch sonst nicht gerade dumm. Das wäre doch mal ein Ansatz.

Als Kevin im Klassenraum ankam sah er sich prüfend um.

Glück muss der Mensch haben.

Rafael war bis jetzt der einzige in Raum. Er saß an seinem Tisch und blätterte etwas lustlos in seinem Handbuch für Thaumaturgie. Trotz seiner Begabung für Sprachen schien er mit den theoretischen Grundlagen der Zauberei auf Kriegsfuß zu stehen.

„Na, immer noch Schwierigkeiten mit dem Spruchentwurf?“

Rafael sah hoch und erkannte Kevin. Vorsichtig sah er sich um.

„Du bist alleine? Ich dachte schon, dieser Schwachmat wollte mich wieder aufziehen. Ich raff's einfach nicht, dabei sollte das doch so einfach sein.“

Rafael seufzte leise.

„Du hast es gut. Du hast jemanden zum Lernen und auch, ähhh für andere Sachen. Ich hab schon ernsthaft daran gedacht, alles hinzuwerfen.“

Oh, oh.

„Hey, nu mal nich so schnell oder wie man bei uns zu Hause sagt, ‚allens mit die Ruhe'. Ich weiß zufällig aus gut unterrichteter Quelle, dass die Bannmagier Magietheorie und Spruchentwurfslehre als Hauptfächer in Thaumaturgie haben.“

„Na toll, wir haben genau vier Bannmagier. Manuel ist ein Vollpfosten, genau wie Christoph, Michael ist gesprächig wie eine Auster, André hat nur Augen für Uwe und Lucien ist mir ein bisschen zu…“

„Tuntig?“

„Nein. Ja. Doch. Ich weiß, man soll nicht nach dem Äußeren gehen, aber nee, nicht wirklich.“

Kevin überlegte kurz, ob er es wagen sollte, doch dann dachte er wieder an Michael. Wenn es funktionierte, hatten es wohl beide verdient.

„Pass auf, ich spreche in der Pause mal kurz mit Michael, deiner großen blonden Auster. Ich behaupte mal, dass er dich so akzeptiert wie du bist, wenn du bei ihm das gleiche tust. Also keine Vorurteile, keine voreiligen Kommentare und keine abfälligen Bemerkungen. Ihr sollt ja auch hauptsächlich zusammen lernen.“

Rafael sah Kevin erstaunt an, dann nickte er langsam.

„Okay, ich werde es mir merken. Sag mir Bescheid, wann und wo.“

Kevin wollte noch etwas erwidern, aber in diesem Moment stürmte der Rest ihrer Klasse herein und verteilte sich lautstark an den Tischen.

Dr. Bruckhaus ‚rollte' herein und der Lärm verstummte. Mit einem etwas missmutigen Gesicht stellte er sich hinter sein Pult.

„Einen schönen guten Nachmittag. Bevor wir mit dem Unterricht fortfahren, müssen wir ein kleines Problem besprechen, dass sie nicht direkt betrifft, aber da es ihr Zusammenleben hier berührt, sollten sie informiert sein.“

Kevin schien es als ob der Blick von Dr. Bruckhaus prüfend auf Dorian und Alexander hängen geblieben war.

„Um die Problematik besser zu verstehen und auch den möglichen Lösungsansatz, möchte ich ein kleines Kapitel der Geschichte unserer Organisation beleuchten. Es geht dabei um die Zeit, als es noch der Ritterorden von St. Gervais war.“

Paris, Frankreich, Anno Domini 1313

Der kleine kahlköpfige Mann in der weißen Kutte der Dominikaner eilte schnellen Schrittes in Richtung des Haupttores der Abtei St. Bernard. Am Tor angelangt, wurde er langsamer und seine Gestalt verlor den etwas gehetzten Ausdruck. Ruhigen und gemessenen Schrittes trat er dann vor das Tor und wandte sich nach links in Richtung der Pfarrkirche des Klosters. Auf den Stufen des Kirchenportals hockten bereits seit den Morgenstunden die Bettler; armlos, beinlos, blind, taubstumm, strecken sie ihre Holzschalen den Vorübergehenden entgegen. Es sind einheimische Bettler, versehen mit einer Lizenz. Wer ihnen spendet, weiß, dass sie nicht zu jenen Betrügern gehören, die ihre Gebrechen mit tausenden Tricks vortäuschen oder ihre Hand, ihren Fuß, ihr Augenlicht nur deshalb einbüßten, weil man sie schwerer Verbrechen wegen verstümmelt oder geblendet hatte. Mit lauten Rufen versuchten sie die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erlangen.

„Eine milde Gabe!“

Von überall her erklang der Ruf, doch der Dominikaner blickte unauffällig die Reihe entlang. Die Bettler waren in Lumpen gehüllt und glichen sich in ihrem Aussehen, dass man sie fast für eine kompakte Masse halten konnte. Etwas abseits stand ein etwa dreißig Jahre alter Mann an die Mauer gelehnt, dem man seine Behinderung deutlich ansehen konnte. Er trug am Oberkörper nur ein dünnes Hemd, dessen rechter Ärmel ausgerissen war. Der rechte Arm endete eine Handbreit unterhalb des Schultergelenkes. In der linken Hand hielt er seine Bettelschale.

Er hatte den Kopf gesenkt und seine Augen niedergeschlagen, wie es sich eigentlich für einen Bettler gehörte, doch aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er aufmerksam seine Umgebung.

Der Dominikaner kam näher.

„Eine milde Gabe für einen Invaliden des Königs!“

Der Einarmige streckte dem Mönch die Bettelschale entgegen, obwohl er eigentlich wissen sollte, das geistliche Herren keinen weltlichen Besitz hatten. Und so hob der fromme Bruder auch nur seine Hand und murmelte kurz einen Segen über der noch leeren Schale während er fast verzuglos weiterging.

„Das bringt nichts, die geben doch nie was“, kam der Kommentar von einem der „Blinden“.

Der Einarmige zuckte mit den Schultern. Kurze Zeit später löste er sich aus der Gruppe der Bettler und schlurfte langsam mit nach vorne gebeugtem Oberkörper die Straße hinab. Seine Bettelschale vor sich haltend entfernte er sich langsam von der Abtei und wanderte anscheinend ziellos durch die Straßen. Vor einer der billigen Schänken blieb er stehen. Der Schankjunge, ein strohblondes Bürschchen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, betrachtete ihn mit misstrauischem Blick.

„Was willst du?“

„Ein bisschen Bier, wenn’s beliebt.“

Der Blick des Schankjungen verdüsterte sich.

„Ich kann auch bezahlen.“

Der Einarmige drückte dem Jungen eine Kupfermünze in die Hand.

„Na gut. Aber bleib hier draußen.“

Wenig später kam der Junge mit einem halben Krug voll schalem Bier wieder. Der Einarmige trank den Krug mit einem Zug leer.

„Vergelt’s Gott.“

„Ja, ja. Nun mach, dass du weiter kommst.“

Langsam schlurfte der Mann mit seiner Bettelschale weiter die Straße hinunter.

Inzwischen war der Junge wieder in die Schänke zurückgekehrt.

„Was soll das? Kriegen jetzt schon die Bettler unser gutes Bier?“

Der Wirt schob seinen feisten Körper hinter dem Brett hervor, dass er einen Tresen nannte. Wortlos knallte der Junge die Münze auf das Brett. Der Wirt nahm sie auf, betrachtete sie kurz und knurrte etwas Unverständliches über Bettler und Geld.

„Los, geh in die Küche. Da ist noch Arbeit.“

Weiterhin wortlos verzog sich der Junge nach hinten in die Küche, wo die Frau des Wirtes in den Töpfen hantierte.

„Ich muss nur mal raus“, rief er ihr zu und lief in den Garten.

Aber anstatt das Bretterhäuschen anzusteuern lief er daran vorbei und kletterte behände wie eine Katze die kleine Mauer hinauf und sprang hinunter in die dahinter liegende kleine Gasse. Im Halbdunkel schlüpfte er an mehreren Türen vorbei, bis er stehen blieb, sich kurz umsah und dann klopfte. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, aber im Dunkel war nichts und niemand zu erkennen. Der Schankjunge reichte einen Gegenstand durch die Türöffnung und war schnell wieder auf dem Weg zurück. Lautlos schloss sich die Tür.

Der Einarmige war inzwischen weiter bettelnd durch die Straßen gewandert. Er bog in eine der kleinen Nebenstraßen ab, die in ein Gewirr von Häusern und Gässchen führte. Bald blieb er vor der Tür eines der alten Fachwerkhäuser stehen, das sich in nichts unterschied von einer ganzen Reihe weiterer windschiefer heruntergekommener Fachwerkhäuser in dieser Gasse. Ohne zu Zögern trat er ein und verschloss die Tür sorgfältig mit zwei Riegeln. Dann ging er über eine baufällige Treppe in das obere Stockwerk. In dem kleinen Raum befand sich nichts als ein Bett, ein Tisch mit einer Wasserschüssel und eine große Truhe. Über dem Tisch hing ein poliertes Stück Messing als Spiegel an der Wand.

Der Mann legte seine gesamte Kleidung ab und fing an, sich zu waschen. Als er seine Haare ausgespült hatte, war das stumpfe Grau einem dunklen mahagonirot gewichen. Aus der Truhe holte er neue Kleider und zog sich wieder an. Sein Äußeres war komplett verwandelt. Er trug jetzt tiefgraue Beinkleider und das dunkelgrüne Wams mit kleinem Pelzbesatz eines wohlhabenden Kaufmannes. Auf dem Kopf trug er einen eleganten Hut mit einer Fasanenfeder und an seiner linken Seite einen Dolch. Der leere rechte Ärmel war kunstvoll hochgesteckt. Lediglich die groben Stiefel an seinen Füssen störten den eleganten Gesamteindruck.

Während der ganzen Zeit hatte der Mann alle Arbeiten ohne zu Zögern oder ohne sichtbare Mühe nur mit der linken Hand durchgeführt. Er war offensichtlich an den Gebrauch nur einer Hand gewöhnt und schien sehr geschickt damit umzugehen.

Mit der äußeren Erscheinung des Mannes hatte sich auch die gesamte Haltung geändert. Der leicht vorgebeugte schlurfende Gang war einem aufrechten selbstbewussten Schreiten gewichen. Die niedergeschlagenen Augen erstrahlten mit einmal in leuchtendem Grün. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen ging der Mann die Treppe herunter und durch eine Hintertür in den Garten. Von dort aus betrat er durch ein kleines Tor in der Mauer den Garten eines herrschaftlichen Hauses.

„Henri, du bist wieder da!“

Ein ebenfalls etwa dreißig Jahre alter Mann sprang von einer kleinen Bank auf und umarmte Henri stürmisch. Dann streckte er sich etwas, zog Henris Kopf herab und gab ihm einen langen Kuss. Sein langes goldblondes Haar verdeckte ihre Gesichter. Als die beiden sich endlich trennten, schnappte Henri nach Luft.

„Du bist immer noch so stürmisch wie vor 15 Jahren Maurice. Aber wir müssen uns beeilen. Es ist genau das passiert, was wir befürchtet haben. Der alte Mann konnte den Mund nicht halten.“

Maurice kicherte leicht wegen der kurzen Bemerkung über die letzten 15 Jahre, wurde aber sofort wieder ernst.

"Dann müssen wir die letzten Befehle für die Abreise erteilen. Alle Vorbereitungen sind seit gestern abgeschlossen. Der Großmeister ist informiert?"

Henri nickte.

"Robert hat die Nachricht übernommen. Sie dürfte inzwischen auf dem Weg sein. Komm, lass uns den Rest packen und dann abreisen."

Beide gingen in Richtung Haus, als ihnen von dort ein jüngerer Mann eilig entgegen kam. Im Gegensatz zu den beiden Älteren trug er ein Lederwams und ein Kettenhemd mit der Kapuze auf dem Rücken. An seiner linken Seite hing ein großes Schwert.

„Wo ist Robert? Ist er nicht mitgekommen?“

„Ganz ruhig. Er kommt nach, sobald die Schänke geschlossen hat. Wir wollen ja nicht mehr auffallen als unbedingt nötig.“

„Ich hätte vielleicht doch an seiner Stelle gehen sollen.“

Henri lachte laut auf.

„Ich bitte dich Julien. Wer hätte dir denn den Schankburschen abgenommen. Sieh dich doch einmal an. “

Julien blickte verblüfft an sich herunter. Die Kleidung war in Ordnung, aber Julien wusste, was Henri meinte. Im Gegensatz zu Robert, der bei seiner schlanken Gestalt gut und gerne für einen Fünfzehnjährigen durchgehen konnte, sah Julien erheblich älter aus. Er war groß, mit breiten Schultern und starken, muskulösen Armen und sah aus wie Mitte Zwanzig, obwohl die beiden achtzehn und neunzehn Jahre alt waren.

„Wir müssen jetzt los. Du wartest hier auf Robert. Sobald er eingetroffen ist, besorgt ihr wie abgesprochen die Wagen. Und vergesst nicht, euch umzuziehen. Wir reisen schließlich als Kaufleute. Wir holen euch hier wieder ab und machen uns dann auf den Weg nach Aachen. So schwer es mir fällt das zuzugeben, aber wir haben diese Schlacht erst einmal verloren.“

Maurice schüttelte vehement seine goldblonden Haare. Zärtlich legte er einen Arm um Henris Schulter.

„Wir haben eine Schlacht verloren, aber wir kommen wieder!“


Henri und Maurice ritten in den Hof eines kleinen Landgutes. Das ganze Anwesen wirkte merkwürdig verlassen und tatsächlich waren die meisten Bewohner schon vor Tagen in Richtung Osten abgereist. Die beiden Männer stiegen ab und gingen in das Gebäude. In der großen Halle kniete ein einsamer Mann neben dem Kamin und legte eine handvoll Papiere ins Feuer. Langsam stand er auf, als die beiden näher kamen. Obwohl der Mann die Kleidung eines normalen Landedelmannes trug, sanken Henri und Maurice auf ein Knie und beugten das Haupt.

„Guten Tag, Maître.“

Der Mann sah nur kurz auf die beiden herab.

„Steht bitte auf. Ich habe es schon ein paar Mal gesagt, so lange wir auf der Flucht sind, gelten keine Regeln. Ich bin nicht mehr der Großmeister eines Ritterordens, sondern nur noch der Händler Roger. Doch nun, Henri, wie ist es ausgegangen? Ich habe die kurze Nachricht erhalten, aber gibt es genauere Informationen?“

Die beiden jüngeren Männer waren aufgestanden und der Großmeister wies auf den langen Tisch am anderen Ende des Raumes. Sie setzten sich, der Großmeister, oder besser Händler Roger, an eine Kopfseite, die beiden anderen ihm jeweils zur Seite, einander gegenüber.

„Jacques de Molay hat in seiner letzten Aussage die Bruderschaft der Ritter der Gnade erwähnt. Er hat sich bei seinen Ausführungen gegen die Sodomie verheddert und dann die Beziehungen zu den Rittern der Gnade mit eingebracht.“

Der Großmeister starrte Henri entsetzt an.

„Es hätte nicht schlimmer kommen können. Ist das irgendwie unter Verschluss zu halten?“

„Ich fürcht, nein. Ich weiß natürlich nicht, wie weit man einem alten Mann glaubt, der plötzlich von einem unbekannten Ritterorden faselt, dessen Grundlage auf sodomitische Beziehungen aufgebaut ist“, damit warf er Maurice eine Kusshand zu, was ihm einen zurechtweisenden Blick des Großmeisters einbrachte, „aber zumindest könnten wir das Protokoll verschwinden lassen. Der Bruder, der die Schreiber beaufsichtigt, ist einer unserer ehemaligen Ritter.“

Der Großmeister machte einen tiefen Atemzug und starrte auf seine Hände, die wie leblos auf dem Tisch lagen.

„Wir stecken in der Zwickmühle. Wir haben geschworen, das Böse zu bekämpfen wie so viele Generationen vor uns. Und das ist nur gelungen, weil wir so wenig wie möglich aufgefallen sind. Unser Orden hat sogar, zwar in anderer Form und das ist dokumentiert, bereits vor der Geburt des HERRN bestanden. Wir können es uns nicht erlauben an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Also gut. Wie viele Zeugen?“

„Nur der Protokollant, die Aufsicht und die drei Inquisitoren.“

„Es widerstrebt mir, jemanden umzubringen. Versucht, den Protokollanten los zu werden, ohne dass ihm viel passiert. Das Protokoll und alle Abschriften müssen vernichtet werden. Die drei Inquisitoren sind das geringste Problem. Die sind so von sich eingenommen, dass sie nur das glauben, was sie selber wollen. Eine solch abenteuerliche Geschichte von einem unbekannten Orden werden sie gar nicht in Betracht des Möglichen ziehen.“

„Das könnte funktionieren. Der Rest der Truppe geht erst mal getarnt auf verschiedenen Wegen über Aachen nach Köln. Dort sollen wir uns mit Sigismund von Hartenstein treffen. Vielleicht weiß ja dort jemand weiter. Wir brechen noch heute Nachmittag auf und holen euch hier ab. Ich muss nur noch die Anweisungen für die Zurückbleibenden treffen.“

Der Großmeister erhob sich und die beiden jüngeren Männer standen ebenfalls auf.

„Gut. Dann geht mit Gott und betet, dass wir diese Herausforderung heil überstehen.“


Der Weg bis hinter Aachen verlief völlig problemlos. Sie reisten mit zwei Frachtwagen die mit jeweils vier Pferden bespannt waren. Dazu hatten sie sogar ihre Reitpferde mit eingespannt, damit sie nicht auffallen, wenn sie zusätzlich mitgeführt werden. Die Pferde hatten sich nur widerstrebend daran gewöhnt, doch nun arbeiteten sie gut im Zuggeschirr. Die Gruppe rastete in kleinen Gasthäusern entlang der Heerstraße. Ihre beiden schweren Wagen, beladen mit den verschiedensten Handelswaren, mussten sie allerdings draußen stehen lassen und umsichtig Wache stehen.

An einem frühen Nachmittag erblickte Julien auf dem vorderen Wagen eine Stadtmauer in der Ferne.

„Dort, wieder eine Stadt. Eine kleine, würde ich meinen. Wo sind wir, Maître?“

Roger, der zwischen Julien und Robert saß, sah nur kurz auf.

„Das ist Düren. Da drüben, seht ihr? Da wird noch an der Stadtmauer gebaut. Der Kaiser selbst hat ihnen das Stadtrecht verliehen, erzählt man. Es ist noch früh, lasst uns durch die Stadt weiterfahren Richtung Köln.“

Der Plan jedoch kam schon am Stadttor zum Erliegen. Ein Wachposten schob abweisend seine Hellebarde in den Weg.

„Wer seid Ihr, woher kommt ihr und was ist Euer Begehr?“, murmelte er gelangweilt. Robert spulte ihre Tarnung ab.

„Wir sind Händler aus Artois auf dem Weg nach Frankfurt.“

Der Wachposten merkte auf und winkte einem schläfrigen Kameraden, der sich an die Stadtmauer gelehnt hatte.

„Wenn das so ist, dann müsst Ihr erst hier rasten. Unsere Stadt hat das Stapelrecht erhalten und Ihr müsst Eure Waren zwei Tage in der großen Halle auslegen.“

Maître Roger verdrehte die Augen zum Himmel, nickte aber dann. Das Stapelrecht zwang durchreisende Kaufleute zum auslegen ihrer Waren, wo dann die Kaufleute und Zunftmitglieder der Stadt ein Vorkaufsrecht hatten, bevor die Ware auf den öffentlichen Markt kam.

„Nun gut. Wo müssen wir hin?“

„Immer der Straße nach, sie führt zum Marktplatz. Dort ist auch die Markthalle. Eure Gespanne werdet ihr in der Stadt nicht unterbringen können. Aber wenn Ihr nach Süden zum Obertor hinaus fahrt, dann kommt dort der Erbforsthof. Der Pächter dort wird sicherlich eine Unterkunft für euch haben, gegen ein paar Münzen.“

Robert dankte dem Wächter und so zogen sie weiter bis zur Markthalle, wo ein erstaunter Marktbüttel ihnen den Platz für die Waren zuwies. Es kam selten vor, dass Kaufleute außerhalb der großen Märkte hier stapeln mussten.

„Ihr wisst, dass Ihr zwei Tage auslegen müsst? Und heute kommt niemand mehr. Doch wenn Ihr mir sagt, was Ihr anzubieten habt, dann kann ich schon einmal mit den Zunftmeistern reden.“

Robert musste wieder übersetzen, doch Maître Roger hatte auch so verstanden. Ein paar Münzen wechselten den Besitzer und schon wurde sichergestellt, dass die Zunftmeister informiert waren.

Mit den beiden leeren Gespannen machten sich die müden Männer jetzt auf den Weg zu dem angegeben Hof. Durch die Stadt, nach Süden hinaus, kam zunächst eine große freie Fläche mit Wiesen und Weiden. Dann, kurz bevor die Bäume dichter wurden, zeigte sich ein mit einer Mauer befestigtes Gehöft.

Robert sprang vom Wagen und fragte einen der im Hof Arbeitenden nach dem Herrn. Maître Roger war ebenfalls abgestiegen und so sahen sie einen etwa 40 bis 45 Jahre alten Mann in einem Arbeitsgewand auf sie zukommen.

„Ich bin Rainald, Lehensnehmer des Erbforsthofes. Was kann ich für Euch tun?“

Ruhig musterte der Hofbesitzer die beiden Männer vor ihm und sein Blick glitt auch prüfend über die anderen Männer auf den beiden Wagen.

„Wir sind Händler aus Artois auf dem Weg nach Frankfurt. Wir mussten dem Stapelrecht Genüge tun und brauchen nun Unterkunft für zwei bis drei Tage. Ein Wächter am Tor sagte, Ihr würdet Reisenden mit Pferd und Wagen Unterkunft gewähren. Wir würden euch natürlich entsprechend entlohnen.“

Ein weiterer prüfender Blick glitt über die Besucher, dann nickte Rainald.

„Seid mir willkommen. Ich würde euch gerne sagen, dass ich Euch auch ohne Bezahlung willkommen heißen könnte, doch die Zeiten sind schlecht. Ihr könnt die Wagen in den Hof fahren, das Tor wird bei Sonnenuntergang geschlossen. Für die Pferde ist noch Platz im Stall.“

Rainald blickte hinüber zu Maître Roger, dann wieder zu Robert.

„Euer Meister kann eine kleine Kammer bekommen, doch für die anderen ist leider nur noch Platz auf dem Heuboden.“

Nach einem kurzen Wortwechsel mit Maître Roger schüttelte Robert den Kopf.

„Der Meister möchte ebenfalls mit uns auf dem Heuboden schlafen. Es ist nicht so, dass wir zu verwöhnt wären oder es noch nie gemacht hätten. Wir schlüpfen unter wo eine Gelegenheit ist.“

„Wie ihr wollt. Wenn das Tor geschlossen wird, kommt zur Küche. Es gibt ausreichend zu essen.“

„Vielen Dank, Meister Rainald. Wir sind Euch sehr verpflichtet.“

Rainald lachte.

„Ich bin kein Meister. Doch nun sputet Euch, die Sonne wird wohl bald untergehen.“

Wie angekündigt wurde das Tor geschlossen und alle zum Haushalt gehörenden Personen versammelten sich in der Küche an einem langen Tisch mit mehreren Bänken. Der Hausherr saß am Kopfende und stellte kurz die neuen Gäste vor. Robert bedankte sich noch einmal und dann setzten sich die fünf Reisenden an den Tisch und griffen zu.

„Was meinst Du? Ob wohl jemand hier französisch spricht?“, Julien flüsterte mit Robert.

„Warum? Gibt es etwas, was niemand wissen sollte?“

„Nun ja, anscheinend hast du einen Verehrer.“

Erstaunt sah Robert hoch, während Julien unauffällig auf einen jungen Mann deutete, der ihm schräg gegenüber saß. Der Junge war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt und hatte dunkelblonde Haare. Robert bemerkte, wie der Junge ihn anschaute. Als der sah, dass Robert ihn beobachtete, senkte er schnell den Kopf. Trotzdem sah Robert, wie der Junge rot anlief.

„In der Tat. Der Junge sieht ganz niedlich aus. Vielleicht sollte ich…“

Robert spürte plötzlich einen Ellenbogen in seiner Seite.

„Untersteh dich. Erstens sollen wir um keinen Preis auffallen und zweitens - hast du mich gefragt?“

Robert grinste Julien offen an.

„Non, mon ami. Aber ich kenne dich. Du wärst doch auch nicht abgeneigt.“

„Haltet endlich die Klappe“, zischte Maurice.

„Wir wissen nicht mit Gewissheit, ob nicht doch jemand Französisch versteht.“


Die Nacht verlief friedlich und am nächsten Morgen machten sich die fünf ‚Händler' nach dem Frühstück zu Fuß auf den Weg in die Stadt.

Trotz der frühen Stunde hatte sich bereits ein Interessent an der Markthalle eingefunden.

„Guten Morgen, ich bin Meister Engelhardt, der Zunftmeister der Schmiede. Wie mir berichtet wurde, habt Ihr eine Auswahl an Metallen in Eurem Angebot.“

„Ganz richtig. Wir haben etliche Barren an Eisen, Kupfer, Zinn und sogar Silber.“

Wie Robert schnell bemerken musste, war dies hier eine junge, aufstrebende Stadt, die nach vielerlei Rohwaren verlangte. Innerhalb weniger Stunden hatte er fast den gesamten Bestand an Metallen zu einem guten Preis verkauft. Sowohl Robert, als auch der Zunftmeister waren sehr zufrieden. Nun galt es noch das Tuch zu verkaufen, welches sie bei ihrer Fahrt durch Flandern erworben hatten.

Dies war ungleich schwieriger als gedacht. Die einzelnen Meister der Gewandmacher, der Schneider, der Hutmacher und sogar der Wappensticker fingen an zu feilschen und beschuldigten sich bald gar gegenseitig des Geizes und des Neides.

Das lief dann darauf hinaus, dass der Marktbüttel den ‚Geschworenen Meister' der Schneiderzunft holen musste. Dies waren besonders sachverständige Männer, welche die Güte der zünftischen Erzeugnisse zu überwachen hatte, ohne dass sie selbst Mitglied der Zunft sein mussten.

Der Ratsherr Siegbert Fromm, seines Zeichens ‚geschworener Meister' der Schneiderzunft, war eigentlich Kaufmann der Stadt. Er hatte einen kleinen Fernhandel nach Frankfurt und neuerdings nach Hamburg.

Da nun aber schon die Dämmerung hereinbrach, war an ein besichtigen der Waren nicht mehr zu denken. Der Ratsherr vertröstete die Meister auf den nächsten Tag.

Und so machten sich auch die fünf ‚Händler' wieder auf den Rückweg zu ihrer Unterkunft. Nach dem Abendessen wandte sich Rainald an Robert.

„Würdet Ihr bitte Eurem Meister ausrichten, dass ich ihn kurz sprechen möchte, wenn es ihm nichts ausmacht.“

Robert sah den Mann erstaunt an. Er sollte doch wissen, dass er jemanden zum Übersetzen brauchte. Doch Rainald kam ihm zuvor. In leidlich gutem Französisch sprach er weiter.

„Ich denke, meine Kenntnisse werden ausreichen, mich verständlich zu machen.“

Robert nickte nur und kehrte zu Maître Roger zurück, um ihm zu berichten.

Kurze Zeit später klopfte es an der Tür der kleinen Stube, in der Rainald zwei Becher mit Wein vorbereitet hatte.

„Entrez!“

Maître Roger trat ein und verbeugte sich kurz. Rainald wies auf den zweiten Stuhl, dann auf den Becher mit dem Wein. Roger setzte sich und sah den Hofbesitzer erwartungsvoll an.

„Maître Roger, ich bin kein Mann von vielen Worten. Ich weiß, dass Ihr keine Händler seid.“

„Was veranlasst Euch zu dieser Vermutung?“

Rainald lächelte leicht.

„Kleinigkeiten. Kein Händler fährt mit einer solch bunt gemischten Schar durch das halbe Reich. Wenn man Eure Begleiter betrachtet sieht man zwei jüngere und zwei ältere. Einer hat nur einen Arm. Sind es Kriegskameraden? Nein, ihr Umgang miteinander ist anders, persönlicher.“

Maître Roger nahm vorsichtig einen Schluck aus dem Becher.

„Dann gestern die Bemerkung über den Verehrer. Sorgt Euch nicht, ich bin der einzige hier, der Französisch versteht. Aber es war richtig erkannt. Mein Neffe Lenhart ist ein wenig zu sorglos mit seinen Blicken und seinen Wünschen.“

Der alte Großmeister hob fragend die Hand.

„Sagt, warum erzählt Ihr mir dies alles. Habt Ihr keine Angst, es könnte Eurem Neffen zu Schaden gereichen?“

Rainald lächelte wiederholt und sah Maître Roger lange an.

„Nein, ganz gewiss nicht. Ich sagte, Ihr seid keine Händler, denn ich weiß, wer Ihr seid. Vor über zwanzig Jahren kamen vier Männer hier vorbei und machten Rast, ähnlich wie auch Ihr. Es waren junge Männer und sie freundeten sich schnell mit meinem jüngsten Bruder Thomas an. Thomas war damals siebzehn und er war eigentlich etwas schüchtern. Doch diese Männer gaben ihm Selbstvertrauen. So viel, dass er ihnen folgte, dass sie zusammen fortritten. Niemandem außer mir hat Thomas damals verraten, dass er etwas konnte, wofür er auf den Scheiterhaufen gewandert wäre. So ist er denn fortgeritten ohne die Einwilligung meines Vaters, mit dieser Gruppe von Männern, die ihm versprochen hatten, ihn zu einem Ritter zu machen.“

Maître Roger hatte weiter an seinem Becher genippt und gespannt zugehört.

„Ich selbst bin dann in den Sold des Jülicher Grafen getreten und habe an einigen Scharmützeln teilgenommen, so auch in Flandern und in Frankreich. Irgendwann habe ich dann die Nachricht bekommen, mein älterer Bruder und seine Frau seien an den Pocken gestorben. Also bin ich hierher zurückgekehrt, habe die Erbpacht weitergeführt und habe Lenhart, ihren einzigen Sohn bei mir aufgenommen. Seit über zehn Jahren ist er nun hier und ich sehe Tag für Tag meinen jüngeren Bruder in ihm. Ich weiß, denn ich spüre es, dass Ihr ebenfalls zu diesen Männern gehört, denen sich Thomas damals angeschlossen hat. Ich möchte Euch bitten, Lenhart ebenfalls mitzunehmen.“

Maître Roger hob erstaunt die Augenbrauen.

„Selbst wenn dem so wäre, was sollte uns veranlassen, Euren Neffen mit uns zu nehmen?“

Rainald seufzte schwer.

„Heute Nachmittag habe ich ihn am Mühlenteich erwischt. Er hatte… er hatte…“

Rainald streckte seine Hand aus und drehte die Innenfläche nach oben.

„...eine Flamme“, flüsterte er.

„Als ich ihn ansprach, zuckte er zusammen und verbrannte sich etwas.“

Maître Roger sprang auf.

„Einen kleinen Moment, bitte. Ich möchte erst etwas veranlassen.“

Rainald nickte zustimmend und Roger verließ die Stube. Kurze Zeit später kehrte er mit Robert und Lenhart zurück. Die beiden jungen Männer sahen den Hausherrn erwartungsvoll an. Robert neugierig, Lenhart eher ängstlich.

„Robert, ich möchte dich bitten, kurz zu übersetzen.“

Robert nickte und Maître Roger fuhr fort.

„Lenhart, dein Onkel hat dich heute Nachmittag gesehen, wie du etwas getan hast, was nicht jedem Menschen gegeben ist. Würdest du wegen dieser Begabung deine Familie, dein Land und alles was dir Lieb und teuer ist, verlassen?“

Nach der Übersetzung sah Lenhart erst panikerfüllt zu seinem Onkel, dann zu Maître Roger.

„Du brauchst jetzt noch nicht darauf antworten. Wir werden wohl morgen weiterziehen. Bis dahin kannst du überlegen, wohin dein Weg dich führen soll.“

„Würdet Ihr uns einen Moment alleine lassen, Rainald? Es dauert nur einen Moment und ich möchte gerne mit Euch nachher noch weiter sprechen.“

Wortlos verließ Rainald die Stube. Lenharts Blicke gingen zwischen Roger und Robert hin und her.

„Er ist ein Elementar.“

„Oh, wie nett.“

Robert streckte seine Hand aus und auf seiner Handfläche erschien eine kleine Flamme.

Wie gebannt starrte Lenhart darauf, dann fing er stumm an zu weinen.

Robert umarmte ihn und sprach leise auf ihn ein. Plötzlich ertönte ein ersticktes Keuchen und Lenhart starrte Robert mit weit aufgerissenen Augen an. Roger grinste.

„Die Sache mit den Jungs?“

Robert grinste nickend zurück.

„Gut, nimm ihn mit nach oben auf den Heuboden. Ich fürchte, ich habe noch eine lange Nacht mit unserem Gastgeber vor mir.“


Das Gespräch hatte tatsächlich lange gedauert und Roger war angenehm erstaunt. Es gab offensichtlich Menschen, die sich um ihre Mitmenschen sorgten und nicht alles Fremde sofort verdammten.

Der erste Gang führte die ‚Händler' aber dann doch zu früher Stunde wieder zurück in die Markthalle.

Ratsherr Fromm hatte zu einer Lösung gefunden, die zwar nicht die Zustimmung aller traf, doch damit konnte er leben. Er hatte einfach den gesamten Bestand kontingentiert und jedem der Zunftmeister einen Teil zugewiesen. Innerhalb von zwei Tagen waren alle Waren verkauft. Das größere Problem war nun jedoch, günstig Waren kaufen zu können. In der Stadt war fast nichts vorrätig, was man mit einem entsprechenden Gewinn wieder hätte verkaufen können.

Maître Roger brach die Suche ab und sie kehrten zurück zum Erbforsthof. Im Innenhof erwartete sie Lenhart. Gegürtet und in Reisekleidung stand er neben einem der Pferde, einem kräftigen Braunen, der bereits gesattelt war.

„Oho, da hat es aber jemand eilig.“

Nun trat auch Rainald hinzu. Er sprach leise mit Maître Roger und beide nickten übereinstimmend.

Rainald erhielt als Lohn für die Unterbringung beide Wagen und die übrigen drei Zugpferde. Im Tausch gab er den Reisenden Sättel und Zaumzeug für die Reitpferde. Zu guter Letzt griff Maître Roger noch einmal in seinen Beutel und drückte Rainald etwas in die Hand.

Es war klein und leicht, doch als Rainald in seine Hand sah, weiteten sich seine Augen. Dort lagen drei kleine goldene Münzen. Es waren die neuen florentinischen Gulden, wie Rainald aus Beschreibungen der Fernhändler wußte. Eine jede so viel wert wie ein ganzes Pfund silberner Pfennige.

„Aber… aber…“

„Nichts aber. Ihr habt uns Freundlichkeit erwiesen und wir haben Eure Gastfreundschaft genossen. Ihr sollt uns immer in Erinnerung behalten. Nehmt es. Ihr werdet es wahrscheinlich nötiger brauchen als wir.“

Die Verabschiedung verlief kurz und ruhig. Rainald umarmte seinen Neffen und verabschiedete sich dann auch persönlich von jedem seiner Gäste. Es blieb nicht viel Zeit, hinter den Reitern her zu sehen, es gab Arbeit, die getan werden musste.


Die erste Rast erfolgte zu Lenharts erstaunen nach nur wenigen Minuten. Hier, direkt an der Straße nach Zülpich war ein Kreuz zu Ehren der Mutter Gottes errichtet worden. Maître Roger ließ halten und sie saßen ab.

„Ich fürchte, wir haben noch ein kleines Problem zu lösen.“

Die Stimme von Maître Roger riss alle aus ihren Gedanken.

„Gesetzt den Fall, dass unser neuer Freund uns wirklich begleiten und auch zusammen mit uns kämpfen will, haben wir ein Problem mit der Zusammenarbeit, so wie wir sie kennen und bisher immer durchgeführt haben.“

Fast alle sahen sich ratlos an. Während Robert noch übersetzte, hatte Henri sofort erfasst, was der ehemalige Großmeister meinte.

„Unsere Truppen ziehen paarweise in den Kampf. Die Paare bestehen aus einem Kampfmagier als Beschützer und einem weiteren Magier.“

Sogar Lenhart nickte nun. Die vergangene Nacht hatte er kaum geschlafen. Obwohl er sicherlich gerne etwas anderes gemacht hätte, besonders mit Robert, hatte er atemlos den Erzählungen über den Orden und die Dämonen gelauscht.

„Thomas, du bist ein Elementar, richtig?“

Thomas nickte.

„Nun, denn. Ich bin Astralmagier. Wenn wir schon den Orden auflösen müssen und auf ungewisse Zeiten zugehen, dann können wir genauso gut neue Strukturen schaffen.“

Langsam erhob sich der alte Großmeister und sah Thomas etwas spöttisch an.

„Da ich nicht annehme, dass du in feuriger Liebe zu mir entflammt bist, werde ich dir einen anderen Eid abnehmen, als deinen Kameraden. Ich werde dich als meinen Ritter akzeptieren und solltest du jemanden treffen den du liebst, einen Ritter, wenn möglich, dann werde ich dich aus diesem Eid entlassen. Bist du damit einverstanden?“

Zunächst war Thomas errötet, dann freudig erregt. Am Ende der Rede nickte er heftig.

„Gut, dann deinen vollständigen Namen auf den du getauft wurdest.“

„Thomas Adrian, Sohn des Lucas genannt der Kerner.“

„Nun denn. Thomas Adrian Kerner, Sohn des Lucas Kerner, ich frage dich, willst du mein Schild und Schwert sein im Kampf gegen das Böse?...“

Alle Umstehenden kannten die Frage nur zu gut und waren gespannt auf den zweiten Teil.

„…Willst du mir dienen im Kampf, ohne jedoch ein Band der Liebe einzugehen. Wirst du dies tun?“

Langsam sank Thomas auf sein rechtes Knie und sah dem alten Mann in die Augen.

„Ja, Herr, ich werde.“

Maître Roger trat vor, hob Thomas auf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Langsam erhob sich Thomas und die anderen konnten sehen, dass ihm erneut Tränen in den Augen standen. Auch Maître Roger seufzte schwer, aber er griff nach den Zügeln seines Pferdes.

Robert ging auf Thomas zu und gab ihm ebenfalls einen Kuss auf die Stirn. Völlig unzeremoniell gab er ihm dann einen Klaps aufs Hinterteil. Ebenso gab es auch einen Kuss und einen leichten Schlag von Julien.

„Aua. Wofür war das denn?“

„Schon mal vorweg. Damit du dich dran gewöhnst.“

Irgendwo in Bayern, Deutschland, Anno Domini 2014

Dr. Bruckhaus schien sich etwas entspannt zu haben. Dennoch musterte er weiterhin stirnrunzelnd seine Klasse.

„Um es kurz zu machen. Der Stiftungsrat hat eine Ausnahmegenehmigung erteilt für einen der seltenen Fälle, dass bereits vor der Ausbildung eng verbundene Paare nicht getrennt werden, wenn nicht einer der beiden ein Kampfmagier sein sollte. In unserer jetzigen Lage ist unser Bedarf an Heilern ohnehin schon dramatisch, abgesehen natürlich von der tragischen persönlichen Situation der beiden jungen Magier.“

Kevin wusste auf Anhieb worauf die Rede abzielte. Timo und Sven. Oh Gott, die beiden mussten die ganze Zeit in der Angst gelebt haben, getrennt zu werden.

Aber wie sie alle soeben gehört hatten, gab es einen Präzedenzfall, schon ein paar Jahre her, aber immerhin. Und der - wie war das? Der Stiftungsrat hatte die Ausnahmegenehmigung erteilt. Das bedeutete, die beiden konnten zusammenbleiben. Damit waren dann zwei Kampfmagier zum Paar bestimmt. Ruckartig blickte Kevin hinüber zu Dorian und Alexander, die immer noch Dr. Bruckhaus ratlos ansahen.

Dieser blickte prüfend die Reihen entlang.

„Wie ich sehe, haben zumindest zwei meiner Schüler den gesamten Umfang meiner Ausführungen begriffen.“

Kevin drehte sich nun auch um und sah überall Ratlosigkeit, bis auf Rafael, der mit halb offenem Mund zu Dorian und Alexander sah.

„Dddd… das gibt’s gar nicht!“

Alle Blicke ruckten herum zu Tobias.

„Was bitte, Herr Kerner, gibt es nicht?“

„Diese Geschichte, die sie gerade erzählt haben. Ist sie verbürgt?“

Dr. Bruckhaus sah jetzt etwas ungnädig auf seinen jüngsten Schüler herab. Tobias war erst siebzehn, er war der jüngste im gesamten Klassenverband und sah auch so aus. Etwas kleiner als Kevin, war er deutlich leichter. Kevin hatte seine schlanke, elegante Gestalt bereits beim Schwimmen bewundern können.

„Warum sollte sie nicht. Sie gehört zu den offiziellen Urkunden und Berichten.“

„Na ja. Ich heiße Kerner, komme aus Düren und meine Familie hatte bis vor zweihundert Jahren einen der Erbforsthöfe als Lehen.“

Dr. Bruckhaus sah Tobias über den Rand seiner Brille an.

„Wenn das so ist, dann möchte ich Sie bitten, mir nach dem Unterricht in das Archiv zu folgen.”

Tobias nickte, immer noch mit hochroten Ohren.

„Nun, denn. Fahren wir mit dem Unterricht fort. Beginnen wir mit dem einfachen Entwurf eines Betäubungsblitzes. Herr Diberg, wenn Sie bitte so freundlich wären.“

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