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Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

Ich versuche immer mir einzureden, dass du es nicht gewollt hast.

Dass es eine Kurzschlussreaktion war.

Von mir aus auch, dass es ein Unfall war.

Manchmal glaube ich tatsächlich ein paar Sekunden daran.

Aber dann holt die Realität mich wieder ein, und es trifft mich jedes Mal wie ein Hammerschlag, wenn mir erneut klar wird, dass es Absicht war. Und dass du wirklich sicher gehen wolltest. Das war kein Hilfeschrei, das war Selbstmord.

Wenn man zuerst Unmengen von Tabletten schluckt und sich dann noch die Pulsadern aufschneidet, dann will man sicher gehen, nicht mehr aufzuwachen.

Auf deiner Beerdigung waren viele Leute. Keiner konnte fassen, was passiert war, keiner konnte und wollte es verstehen. Viele machen sich Vorwürfe. Im Nachhinein könnte man sagen, dass es einige Anzeichen gab. Wir hätten merken müssen das du am Ende warst.

Du hast es oft genug gesagt.

Wortwörtlich sagtest du, dass das Leben keinen Sinn für dich hätte, dass du keinen Bock mehr hättest, dass du dich jetzt einfach aus dem Fenster werfen würdest.

Natürlich haben wir alle gelacht, du hattest ja auch diesen ironischen Unterton in deiner Stimme.

Wir glaubten dir alle, als du uns erzähltest, dass die Narben auf deinen Armen von deiner irren Katze stammen, die wir nie gesehen haben.

Keiner wusste, dass du so ein guter Schauspieler warst, dass hinter deiner Fassade alles kaputt war.

Kein Ton kam über deine Lippen, der uns gezeigt hätte, dass du Hilfe brauchst.

Ich erinnere mich daran, dass du dauernd zu spät in die Schule gekommen bist, und wenn ein Lehrer dich deswegen blöd angemacht hat, hast du immer mit einer lässigen Antwort gekontert.

Du warst manchmal ganz schön unverschämt, und jeder andere hätte verdammten Stress mit der gesamten Lehrerschaft bekommen.

Aber du hast es irgendwie immer wieder geschafft, die Wogen zu glätten und die Lehrer versöhnlich zu stimmen. Das hat mich ziemlich beeindruckt.

Man hatte den Eindruck, dass du immer genau wusstest, wie du wann mit wem umzugehen hattest, um das zu erreichen, was du wolltest.

Wenn ich so darüber nachdenke hattest du uns alle mehr oder weniger unter Kontrolle. Du hast so gut wie immer bekommen was du wolltest, manchmal mit Gewalt und sehr direkt, manchmal ohne, dass es jemand so richtig mitbekam.

Vielleicht haben wir dich alle nie gekannt.

Vielleicht warst du ein Blender.

Vielleicht hast du uns alle nur benutzt.

Vielleicht hieltest du dich für etwas Besseres, für anders.

Trotzdem bist du jetzt tot.

Trotz alledem warst du unglücklich, und wir werden alle niemals erfahren, wie du wirklich warst, oder ob wir dir hätten helfen können.

Nicht einmal für einen Abschiedsbrief hat es bei dir gereicht.

Waren wir dir alle wirklich nichts wert?

Deine Tagebücher sind voll mit sinnlosem Zeug, das keiner versteht.

Es geht um Tod, um Dunkelheit, um Blut und ausgedachte Welten.

Man hat auch Hasch bei dir gefunden.

Es ist, als hättest du aus zwei verschiedenen Personen bestanden.

Der einen, die wir kannten. Dem Menschen der selbstbewusst war, dem alles am Arsch vorbei ging und von dem jeder sagte, das aus ihm entweder nichts oder etwas Großartiges werden würde.

Und dann gab es noch die Person, die unter Drogen irgendwelchen Mist in ihr Tagebuch kritzelte, das von salzigen Tränen ganz verwölbt ist.

Die Person, die unter ihren Bett eine Plastiktüte voll blutiger Taschentüchern hatte.

Die Person, die gar keine Katze hatte.

Ich hasse dich irgendwie, und das tut mir leid.

Tut mir leid, dass du so kaputt warst und dass du niemanden an dich ranlassen konntest.

Zu gern hätte ich gewusst, wer dieser Junge war, von dem du ein Foto auf dem Schreibtisch stehen hattest, und der auf der Beerdigung abseits stand und sich hinkniete, weil er nicht mehr die Kraft hatte zu stehen.

Ich traue mich nicht, den Gedanken zuzulassen, der sich unweigerlich in meinen Kopf drängt. Weil dann alles einen Sinn ergeben würde.

Und weil es bedeuten würde, dass wir, deine Freunde, die keine waren, schuld sind.

Weil wir gelacht haben, weil wir dumme Witze gerissen haben, weil wir Dinge nicht zugelassen haben. Weil wir nicht nachgedacht haben.

Ich wünschte, du könntest mir verzeihen, und ich wünschte, ich könnte mir selbst jemals dafür vergeben.

Es ist die gerechte Strafe, dass wir alle mit dieser Schuld leben müssen.

Aber glaub mir, ich würde alles dafür geben, die Zeit zurückdrehen zu können.

Ich würde mein Leben geben für deins.

Weil ich es nicht verdient habe zu leben. Weil ich ein Mörder bin und weil wir nicht sehen wollten, wer und wie du wirklich warst.

Letztes Jahr, an deinem sechzehnten Geburtstag, war es schon warm genug, um am See zu grillen. Wir haben Bier getrunken, und auch wenn es an diesem Abend Streit gab denke ich immer gerne daran zurück.

Wir dachten, vielleicht würde die Welt, wie wir sie kennen, zumindest noch für ein paar Jahre dieselbe bleiben. Bevor wir erwachsen werden und sich alles ändert. Wir, die Welt, das Leben.

Jetzt, ein Jahr später, ist es zu kalt um ohne Jacke nach draußen zu gehen. Und wir sind alle erwachsen geworden, und wir haben uns alle geändert. Und das Leben ist ein bisschen weniger geworden.

Nachwort der Redaktion

Selbsttötung ist nie eine Lösung!

Wenn du vor Problemen stehst, die dir zu groß scheinen, wenn dir jeder Schritt weiter sinnlos erscheint - auch dann gibt es Leute, an die du dich wenden kannst. Vielleicht gerade auch diejenigen, von denen du es nicht erwartet hättest.

Und wenn du in deiner Umgebung doch niemanden findest, dann wende dich an Hilfe-Einrichtungen wie die Telefonseelsorge (Deutschland: 0800-1110111, Österreich: 142, Schweiz: 143) oder z.B. den SOS-Service von http://www.SeiDu.de.

Das gilt auch, wenn du bei Menschen in deiner Umgebung ein Problem vermutest, dir jedoch nicht sicher bist, wie du damit umgehen sollst.

Friss nicht in dich 'rein, was dir auf der Seele liegt. Reden hilft. Auch per Mail oder Telefon.

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