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Intoleranz II

Einen Winter lang

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»Wenn wir uns berühren, ist es jedes mal eine Explosion! Mit dir will ich ewig leben, unsere Liebe macht uns frei ... Ich liebe dich!«, sagte Chris mit leuchtenden Augen zu mir. Ich sah ihn an, in seine haselnussbraunen Augen. Wir waren auf unserem Jagdstuhl inmitten einer grünen Wiese! Der Mond schien klar auf die Erde.

»Der Mond spiegelt sich in deinen Augen, Kleiner, du strahlst mich an!«, fügte Chris in leisen Worten hinzu, nahm meine Hände und küsste mich. Jetzt wusste ich, was er mit Explosion meinte, mir wurde warm und kalt. Ich fühlte mich wohl in seinen Armen, sehr wohl. Gemeinsam schauten wir in die Sterne.

»Siehst du den großen Wagen, Kleiner?« Ich sah nach oben und suchte, doch fand ihn nicht.

»Wo ist er?«

»Na da! Siehst du die drei Sterne, die eine Art Stiel bilden, unten an denen hängt er!« Er zeigte mit seinem Finger ins Himmelszelt. Ich folgte ihm und nun erkannte ich ihn auch. Wir nahmen uns nochmals fest in die Arme, dann wandte er sich von mir ab. Ich weiß nicht, was er machen wollte, doch er beugte sich gegen das Holzgeländer des Jagdstuhls.

»Sei vorsichtig, nicht dass du da noch den Abgang machst und ich dich ins Krankenhaus fahren darf!«

»Keine Angst mir passiert schon nichts!«, erwiderte er und beugte sich noch weiter rüber. Ich hörte nur noch ein Knacken und Chris konnte sein Gleichgewicht nicht halten. Er fiel kopfüber hinunter. Ich rannte bis zum zerbrochenen Geländer. Es begann zu regnen, zu donnern, zu stürmen. Es war keine Wiese mehr unter uns. Chris stürzte in ein großes dunkles Loch. Ich konnte nur noch schreien ...

»Chris ... Chris ... Chris ... !«

»Martin ... Martin ... Martin ... Martin ... !«, hörte ich es nach oben klingen.

»Martin ... Martin ... Martin ... !« Ich wachte schweißgebadet auf.

»Martin ... Martin ... Hey ... Martin ... !« Ich setze mich auf. Es war nur ein Traum. Ich musste erst mal kurz durchatmen.

»Martin ... hallo ... Martin ... !«, stürmisch ging meine Zimmertür auf und André kam herein!

»Mensch Martin. Hörst du schwer? Komm mal mit, das wird dir bestimmt gefallen!« Er schaute mich genauer an ...

»Sag mal weinst du?«

Ich wischte die Träne weg, die über meine Wange lief. »Nein, kommt daher, weil ich bis eben geschlafen habe!« Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich von Chris geträumt habe. Es war mindestens genau so schwer für ihn, über Chris's damaligem Tod hinwegzukommen.

»Ja dann komm mal mit ... ich will dir was zeigen!« Mühsam legte ich meine Bettdecke zur Seite und stand auf. André führte mich die beiden Treppen hinunter und öffnete die Gartentür.

»Geil wa?« sagte er, wobei er beide Hände in die Hüfte stützte und mich ansah. Ich schaute erst ihn an, dann sah ich in den Garten! Mit großen Augen betrachtete ich das leise Schneien. Es war wunderschön, noch dazu, weil der Garten an einen Wald mündete. Die Bäume, das Gras, alles weiß und es schneite weiter.

»Ich wusste doch, dass es dir gefallen würde. Ist mir nicht entgangen, dass du Schnee toll findest!«, sagte André und ging ein paar Schritte im Garten spazieren. Bei jedem seiner Schritte, mit seinen Mega Skaterschuhen, hörte ich das Knacken des Schnees, das ich so sehr mochte. Ich war so in Gedanken versunken, dass mich erst ein Schneeball weckte, den André mir an den Kopf warf, wobei der Rest des Schneeballes in den Flur flog und ein paar kleine Pfützen hinterließ.

»Na warte, das bekommst du zurück!« Ich rannte in den Garten und packte ihn mir.

»Heute schon geduscht?« war meine letzte Frage, bevor ich ihn zu fassen bekam und ihn kräftig einseifte. André konnte nur noch prusten und die verstümmelten Worte die wohl "Hör auf" heißen sollten, hielten mich nicht davon ab weiterzumachen. Was mich aber daran hinderte, war die Tatsache, dass ich noch in Boxershorts und T-Shirt war. Ups ... hatte ich total vergessen. Wunderte mich schon, warum ich so naß an den Beinen bin, obwohl ich ihn einseifte.

BIBBER BIBBER.

Schnell rein und nach oben in mein Zimmer, wobei ich aufpasste, nicht auf den Pfützen des Scheeballs auszurutschen.

»Das bekommst du zurück!«, vernahm ich gerade noch, bevor ich meine Zimmertür schloss und meine Klamotten für den heutigen Tag zusammenpackte. Dann erst mal ab unter die Dusche. Vorm Spiegel machte ich mir die Haare und dann runter zum Frühstücken.

»Um 10 Uhr willst du frühstücken? Vergiss es, mach dir ne Portion Cornflakes!«, waren Sandras Worte, die ich nach meiner Idee zu hören bekam. Ich ging also in die Küche, naja, blieb mir ja nichts anderes übrig. Ich fühlte mich wirklich wohler, nachdem Sandra und ich zu Frank gezogen sind. Nur fehlt hier eine Person, die ich sehr geliebt habe.

»Was willst du denn hier?«, fragte mich André neckisch, der am Tisch saß und ebenfalls eine Portion Cornflakes aß. Seinem Gesicht war anzusehen, dass er eine wilde Schlacht hinter sich hatte.

»Das geht dich gar nichts an!«, erwiderte ich.

Das ist halt unsere normale Umgehensweise. Wir werfen uns manchmal richtig harte Worte an den Kopf, doch können wir uns nie böse sein. Er ist für mich der Bruder, den ich nie gehabt habe und ich denke mal, dass ich nun sein Chris bin. Aber so sehr ich es auch versuchte, würde ich es denn schaffen? Wollte ich es schaffen? Nein, ich bin nicht Chris und das wusste André auch. Nur ist er halt mit Bruder aufgewachsen und nun sah er mich als richtigen Bruder an.

Ich holte die Milch aus dem Kühlschrank und nahm mir einen Teller.

»Die Cornflakes sind alle. Ich habe die letzten auf meinem Teller!«, redete mein kleiner Bruder mit vollgestopftem Mund und einem breiten Grinsen.

»Denkste!« Ich ging zur Speisekammer, wo ich immer meine lieblingsflakes versteckte und krallte mir die Nesquick Schachtel.

»Wo hast du die her?«, fragte André protestierend, als er sah, was ich da in meinen Teller füllte.

»Das wiederum geht DICH gar nichts an!«, erwiderte ich diesmal.

Wütend verließ André die Küche und streckte mir die Zunge raus, bevor er in die Stube ging. Ich mein, mit seinen mittlerweile 17 Jahren ist er wirklich noch sehr kindisch. Na gut, ich denke mal, dass es auch nicht zu der Aufgabe eines 21-jährigen gehört, seinen kleinen Bruder in Boxershorts und T-Shirt in den Morgenstunden einzuseifen, aber das war ja nur Rache.

Genüsslich aß ich nun meine Cornflakes auf und schlürfte den Kakao aus dem Teller. Ich schaute zur Uhr, die über dem Kalender gleich links neben der Essecke hing. 12:45 Uhr! Ups. Um 13:00 Uhr wollte Didi mich doch abholen. Wir wollten doch heute zusammen alle Kekse für Weihnachten backen. Ich zündete mir eine Zigi an und ging in die Stube, setzte mich in den Sessel und sah mit André sein Zeichentrickprogramm an. Irgendwelche kleinen Kakteen versuchen wohl so eine Art Monsterraupe zu fangen. Sehr amüsant und pädagogisch sehr wertvoll. Ich musste schmunzeln.

»Wenn dir das Programm nicht passt, dann geh doch!« Es schien, als ob André noch immer sauer war.

»Ja, du bist mich in 10 Minuten los«, antwortete ich und sah weiterhin den Kakteen zu, die nun versuchten ein Netz über die Raupe zu werfen.

»Wo willst du denn hin?«, entnahm ich schließlich der kurzen Stille, die eingekehrt war.

»Ich fahre mit Didi zu Basti. Wir wollen Kekse backen!«

»Hey, dann kann ich doch bestimmt mitkommen, oder?«

»Das muss ich mir noch reichlich überlegen.«

»Oh, los. Ja?«

Ich versuchte ihm einzureden, dass Didis Auto einen Platten hat und somit nur zwei Personen in diesem Auto mitfahren können, da sonst den anderen Reifen auch noch die Luft ausging, doch ich stieß auf Granit.

»Du spinnst doch! Diese Ausrede ist selten dämlich!«

Als André und ich uns anschaute,n mussten wir beide anfangen, laut loszulachen. Anscheinend hatte er es sich auch bildlich vorgestellt, wie so was aussehen konnte.

»Ich frage Didi, OK?« sagte ich schließlich und André nickte mit dem Kopf.

»Jetzt bring deinen Teller in die Küche, wir werden jeden Moment abgeholt!«

André stürzte auf, nahm seinen Teller und rannte in die Küche. Ich schaute erneut zum Fernseher. Irgendwie verstand ich die ganze Story mit den Kakteen und der Raupe nicht. Jetzt hatten sie sie gefangen und dann ließen sie sie wieder frei? Komisches Spiel. Ich tippte mir an die Stirn, schaltete den Fernseher aus und ging zur Garderobe im Flur, als es auch schon bimmelte. Nein, die Klingel wurde, auch nicht nach meinem dringlichsten Wunsch, erneuert. Nachwievor hört sie sich an, als ob ein ganzes Regiment angreifen würde. Aber man gewöhnt sich dran. André sprang von der Küche zur Haustür und öffnete.

»Oh, ist das kalt draußen!«, sagte Didi, indem sie mit hochroten Wangen und roter Nase den Flur betrat. Von ihrem "Gruftie-Trip" ist sie immer noch nicht runter. Es hat sich aber schon gebessert. Das Kleid oder der Umhang von damals landete bereits in der Altkleidersammlung.

»Bist du startklar oder was?«, fragte sie mich.

»Klar bin ich! Nur noch Jacke an, dann kanns losgehen.«

André tippte mir auf die Schulter.

»Ach Didi! Kann André auch mitkommen?«

»Klar, aber nur wenn du die Backsachen reinträgst!«, sagte Didi zu André, der auch den Reifen des Saturn geklaut hätte, um mitzukommen. Es war immer etwas Tolles für ihn mit Älteren zusammenzusein. Und er gehörte ja nun auch bald schon zur Clique. Allerdings war er der einzige Hipp Hopper, der in unserer Runde war. Alle anderen waren Technohörer, naja außer Didi, die hörte ihr Gothikkram. Aber irgendwie schafften wir es immer die richtige Musik zu hören, so dass jeder was davon hatte.

»Können wir?« Didis Worte waren eindeutig, was auch André bemerkte. Schnell zog er seine Jacke an und ging schon mal zum Fiesta. Ich nahm meine vom Haken der Garderobe und zog sie an. Didi lehnte sich etwas zu mir und sprach mit leisen Worten: »Junge, was sich Basti gestern wieder geleistet hat ... !«

»Was hat er sich denn mal wieder geleistet?«, fragte ich nun mehr oder weniger verwundert, denn wer Didi kannte wusste, dass es jetzt um Sex oder Männer gehen würde. Na ja in diesem Falle war es wohl eher Sex. Ich tippte auf eine Stellung, die die beiden mal wieder probiert haben konnten.

»Na ja gestern haben wir eine neue Stellung ausprobiert ... «

Bingo, dachte ich mir!

»... und da ist Basti abgegangen wie ein Stier. Aber erzähl ich dir später!«, sagte sie, wobei sie mit ihrer Hand unsere kurze Unterhaltung abwinkte.


Das Keksebacken verlief weniger turbulent mit der Ausnahme, dass André den Teig von Basti ins Gesicht geworfen bekam, die Küche aussah, als ob eine Bombe eingeschlagen hätte und Didi mich nun mit ihrer Stellung vollnölte. Aber ganz lustig war es doch gewesen, wobei mir immer wieder auffiel, wie sehr André auch an Basti hing. Es schien mir, als ob er in jedem älteren männlichen Wesen seinen Bruder suchen würde. Früher war er ganz anders gewesen.

Die Kekse, OK ich geb's zu, mir sind welche angebrannt, haben trotz allem sehr lecker geschmeckt. Didi und ich räumten die Küche schließlich auf und wir alle schauten noch einen Videofilm.

»Sister Act???«, fragte Basti in die Runde.

Didis Gesicht verformte sich zu einem Grinsen. Ich dachte mir im Geheimen, wie "Gruftis" und Kirchenvideos zusammenpassen konnten und gab schließlich den Gedanken ganz schnell wieder auf. André schaltete schon einmal den Fernseher an und Basti schob schließlich das Video ein.

»Wir sind ein gutes Team!«

Es war doch immer wieder lustig, wie Whoopy alias Dolores versuchte, das Mikrofon vom Halter abzubekommen.

Langsam wurde es dunkel draußen. Im Licht der Straßenlaternen sah man vom Fenster aus langsam den Schnee fallen.

Der Film war schließlich zu Ende. André und ich packten unsere Kekse in Tupperschüsseln und stopften sie in eine Tüte.

»Zeit zum Aufbrechen!«, sagte ich. André schaute traurig. Am liebsten wäre er wohl noch da geblieben, doch ich fand, dass es nun genug war.

Didi kämpfte sich mit ihrem Auto durch die Schneemassen und kam auch einige Male ins Rutschen, doch Gott sei Dank ist nichts passiert.

»So schön der Schnee auch ist, zum Autofahren ist er nicht besonders geeignet«, sagte Didi, als wir bei André und mir zu Hause angekommen waren.

»Vielleicht solltest du die Reifen durch Ski tauschen.«, sagte André scherzhaft. Didi sah grinsend auf die Rückbank.

»So jetzt aber los«, sagte ich. Mein kleiner Bruder und ich stiegen aus, umarmten Didi zum Abschied und gingen ins Haus. Wir zogen unsere Jacken aus und hängten sie an die Garderobe. Die Kekse wanderten wie von selbst von der Küche in die Stube, wobei sie auf Sandras Schoß liegenblieben.

»Die sind aber dunkel ... angebrannt?«, fragte sie.

»Das sind Andrés!«, sagte ich scherzhaft. Der versuchte sich natürlich heftigst zu verteidigen und das auch mit Erfolg, denn was schon die Mutter nicht so gut kann, kann der Sohn dann wohl auch nicht viel besser, wobei ich an Käsekuchen dacht. Sandra schaute gerade 'Wer wird Millionär'! Beim Anblick des Fernsehers fielen mir wieder die Kakteen und die Monsterraupe ein. Ich schmunzelte kurz.

»Man gut, dass ihr schon wieder da seid«, unterbrach Sandra mein Wegtreten.

»es schneit immer schlimmer. Am Ende wärt ihr gar nicht mehr hier angekommen!« Sie sah mich fordernd an, wobei sie einen weiteren angebrannten Keks in den Mund steckte.

»Dann hätten wir bei Didi und Basti gepennt«, sagte ich.

Sandra verzog das Gesicht »Junge, Junge. Wie lange hast du die denn im Ofen gelassen, Martin? Der schmeckt ja wie Steinkohle!« André lachte, und zeigte auf seine gebackenen Kekse, die natürlich die Besten waren, die es überhaupt gibt.

»Probier die mal!«, sagte er. Ich rannte zu meiner Mum und nahm ihr meine Kekse weg. »Wenn sie dir nicht schmecken, dann nehm ich sie mir mit hoch!«

»Guten Appetit!«, bekam ich zur Antwort. Wie dreist!!! Ich nahm die blaue Tupperschüssel und ging die Stufen zu meinem Zimmer empor. Der Flur des ersten Stocks war mit Fenstern ausgestattet, die mir erlaubten nach draußen hin Teile unserer Stadt zu sehen. Eine Lichterkette zierte die Fenster, durch die ich sah. Ich blieb stehen und sah nach draußen. Ich schaltete das Flurlicht aus und zog den Stecker der Lichterkette aus der Steckdose. Wie schön es doch jetzt draußen war. Im wahrsten Sinne des Liedes rieselte langsam der Schnee über Dächer, Bänke, Gärten und auf Autos, die auf ihren Parkplätzen standen. Alle Fenster waren geschmückt mit Lichterketten, wie wir sie hatten oder mit blinkenden Sternen. Das Fenster unserer Nachbarin Frau Schulze gefiel mir besonders gut. Eine Krippe und die dazugehörigen Personen zierten dieses. Irgendwie tat sie mir leid. Gerade zu Weihnachten wünscht man sich den Partner, den man liebt an seiner Seite. Sie hatte nun keinen mehr, wohnte in einem großen Haus mit zwei Stockwerken, dass ihr Mann damals gekauft hatte.

Eigentlich hätte noch locker eine Familie mit Kindern dort untergebracht werden können, dann wäre sie nicht immer so allein. Ihr Mann war vor etlichen Jahren verstorben und ihre Kinder wohnten in Dänemark. Eigentlich kein so unbedingt weiter Weg um die Mutter mal zu besuchen.

Tja mir ging es nicht unbedingt anders als ihr. Ok, ich hatte keine Kinder, doch auch ich vermisste den Mann, den ich über alles liebte. Und dann fiel mir mein Traum wieder ein. Wie Chris mit mir sprach, was er mir sagte und wie er fiel. Ich wünschte mir insgeheim, er wäre da, hätte damals nicht versucht, sich umzubringen.

Ich schüttelte mich, steckte den Stecker wieder dahin wo er hingehörte, knipste das Flurlicht ein und rannte die nächste Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Auf dem Flur angekommen, schaute ich automatisch in Richtung von Chris altem Zimmer. Ich wandte den Blick schnell ab und ging in mein Reich. Wie immer sah es hier etwa unordendlich aus. Ich wollte mich gerade auf meine blaue Couch setzen, als ich gegen einen Stapel mit Büchern kam, der auf meinem Tisch lag, wobei dieser auf den Boden fiel. Ich hob sie auf und legte sie in den Schrank. Wie sehr ich doch selbst die Unordnung hasste. Ich setzte mich wieder hin und sah erneut auf den Tisch, um zu schauen, ob nicht noch irgendwas von dem Gesetz der Erdanziehung Gebrauch machen möchte. Und dann sah ich das Buch. Mein Buch, nein Chris Buch. Das André mir kurz nach seinem Tode gab. "Martin und Chris das Traumpaar"

Ich nahm es und drückte es mir fest an meine Brust. Auf dem Weg in Chris sein Zimmer dachte ich an gar nichts. Manchmal roch ich noch sein Parfum in diesem Zimmer, obwohl das gar nicht mehr sein kann. Es steht noch alles so da, wie er es verlassen hatte. Und das war sehr schlimm für mich. Ich betrat dieses Zimmer nur äußerst selten. Ich setzte mich auf seinen Schreibtischstuhl und schlug das Buch auf.

"Martin, das hier ist ein Geschenk für dich! Ich wette, du fragst dich jetzt, warum ich dir was schenke, nicht wahr? Aus Liebe zu dir. Martin, ich kann dir gar nicht oft genug sagen, wie sehr ich dich liebe, und deshalb habe ich versucht, meine Gefühle für dich in Gedichten auszudrücken ... "

Ich hörte auf zu lesen. Es tat weh ... sehr weh. Ich schaute mit nassen Augen zum Buch zurück.

"Viel Spaß beim Lesen. Dein Chris."

Ich blätterte um und schaute mir die Gedichte rasch an. Seine Handschrift war die, wie man es sagte, die eines typischen Jungen. Halt schwer zu entziffern, aber das interessierte mich herzlich wenig.

Die Zimmertür bewegte sich.

»Martin?«, hörte ich eine leise Stimme.

Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und klappte das Buch zu.

»Darf ich reinkommen?«

Die Tür öffnete sich weiter.

»Klar André, komm rein!«, sagte ich mit zitternder Stimme.

André schaute erst mich an und dann auf das Buch, das auf meinen Schoß lag. André setzte sich auf die gelbe Couch, auf der noch immer CD's lagen, die Chris dort hingelegt hatte. Er nahm meine Hand.

Stille kehrte ein.

»Ich denke auch oft an ihn!«, sagte André schließlich mit leiser Stimme und drückte meine Hand etwas fester. Ich spürte, dass es auch ihm jedes mal wieder nahe ging, sobald er Chris's ehemaliges Zimmer betrat.

»Wo ist unsere Ewigkeit, die er mir versprach?«, fragte ich, wobei meine Augen das Wasser nicht halten konnten. Mein Magen verkrampfte sich.

»Sie ist immer um dich rum. Er ist immer bei dir und liebt dich auf ewig. Das weiß ich.«

»Manchmal, bevor ich einschlafe, denke ich, dass er neben meinem Bett steht und mich ansieht. Doch wenn ich meine Augen öffne, ist er nicht da.«

André schaute auf den Boden. »Das Gefühl habe ich auch oft. Doch ich öffne meine Augen nicht. Ich fühle, dass er da ist und auf mich aufpasst. Er passt auf uns alle auf. Er ist ständig bei uns.«

Ich nahm André fest in den Arm und fing an zu weinen.

»Er wird nicht wollen, dass wir nur in der Vergangenheit leben!«, sagte André nachdem er das Zimmer verließ. »Wir leben im Jetzt und Heute!!« Ich erhaschte noch einen Blick auf ihn und glaubte auch bei ihm eine Träne gesehen zu haben. So verspielt André für sein Alter auch war, auf der anderen Seite war er auch schon sehr erwachsen. Ich blieb noch etwas länger im Zimmer, bis ich mich dann in mein Bett legte und einschlief.


»Ja klar Frau Schulze. Warum denn auch nicht? Ich mein, dann haben sie doch auch wieder eine Aufgabe nicht wahr?«

»Ja und ich freu mich auch, dass das geklappt hat.«

Ich wachte auf. Schlaftrunken torkelte ich zu meinem Zimmerfenster, um zu sehen, wer da draußen am frühen Morgen schon so viel zu erzählen hatte. Je näher ich dem Fenster kam, hörte ich immer lauter auch das Geräusch von Schneeschiebern, die bei jedem Schieben ein lautes Kratzen hinterließen. Die Sonne schien bereits hell am Himmel. Einzelne Wolken verschönerten das Himmelszelt mit lustigen Figuren. Ich sah hinunter zur Straße und sah Sandra sich mit Frau Schulze unterhalten. Ich kippte mein Fenster, um zu hören, was sie sich so erzählten.

»Wo kommen die denn her?«

»Aus einer Kleinstadt bei Berlin in der Nähe.«

»Und warum wollen sie hierherziehen?«

»Ach, da hab ich noch nicht nachgefragt. Wissen sie, wenn man älter wird, freut man sich doch, dass man dann noch wenigstens jemanden mit im Hause hat. Immer so allein sein ist ja auch nicht das Wahre, nich wahr? Es reicht mir ja immer schon, wenn ich Schritte von oben höre. Außerdem weiß ja niemand, was so nachts durch unsere Gassen schwirrt und da habe ich es als alte Dame auch nicht leicht.«

»Ja Frau Schulze und jetzt auch gerade zur Weihnachtszeit, will man ja doch nicht allein sein.«

Ich schloss das Fenster wieder. Anscheinend kommen Frau Schulzes Kinder doch über Weihnachten runter. Freut mich für sie. Ich wandte mich vom Fenster ab und setzte mich auf meine Couch, der Tisch war noch immer mit sämtlichem Krimskrams bedeckt, und zündete mir eine Zigi an. Der Rauch bahnte sich seinen Weg zur Decke, wobei er sich auf halbem Wege in Nichts auflöste.

»Martin? Schon wach?« hörte ich es in mein Zimmer rufen.

»Also wenn ich noch nicht wach gewesen wär, dann wär ich es jetzt!«, sagte ich »Komm rein, André!«

Die Tür ging auf und er kam rein gewatschelt.

»Hast du das schon von Frau Schulze gehört?«, fragte er aufgeregt.

»Ja ihre Kinder kommen zu Weihnachten runter, oder nicht?«

»Nein, nein, nein.«

Warum war er so aufgeregt? »Nicht? Wer denn dann?«

»Wir bekommen neue Nachbarn!«, sagte er mit großen Augen.

»Ach so. Na ja, dann ist Frau Schulze auch nicht mehr so allein«, sagte ich nüchtern.

»Bist du denn gar nicht gespannt wer die sind?« Andrés Augen sahen mich groß an, sein Fragezeichen, das er über seinem Kopf trug, war unschwer zu erkennen.

»Nein, das wird man schon sehen. Bestimmt ein älteres Ehepaar oder so.«

»Nee, nee. Hab was von ner Familie gehört mit zwei Kindern. Habe gerade am Fenster gelauscht. Sandra hat sich nämlich mit Frau Schulze unterhalten.«

Also noch so ein Spion, dachte ich mir und fing an zu grinsen.

André verdrückte sich nach unten, anscheinend um Sandra nun auszuquetschen, was denn Sache sei. Ich sprang unter die Dusche und ging schließlich in die Küche. Ich machte mir diesmal gleich Cornflakes.

»Hast du schon gehört, dass wir neue Nachbarn bekommen?«, fragte mich Sandra, als ich die Milch in meinen Teller schüttete.

»Ja jetzt schon zum dritten Mal!«, sagte ich genervt.

»Sie kommen heute an. So am späteren Abend. Denke aber mal, dass sie erst die Nacht eintreffen werden. Ich mein, bei diesen Straßen ... Ist ja alles voll Schnee. Und dann von Berlin bis hierher. Dann gute Nacht. Da hätte ich kein Bock drauf.«

Ja das konnte ich mir gut vorstellen, denn wenn es um Sandras Auto ging, sah sie meist rot. Im Winter stand das gute Stück meist auf dem Parkplatz vorm Haus. Und wenn ich nur wagte zu fragen, ob ich es denn mal haben dürfte, dann konnte ich mir aber was anhören. Das hatte sie von ihrer Mutter mitbekommen, denn wenn ich bei meiner Oma fernsehen wollte, dann ging das nicht all zulange, denn der Fernseher könnte ja heiß werden und explodieren ...

»Sie sind da!!! Schaut doch mal ... !«, schrie André, der auf dem Flur stand.

»André, schrei nicht so laut, nachher hören sie dich noch«, sagte Sandra die aber ebenfalls auf den Flur lief, um zu gucken, wer die Nachbarn wohl seien. Ich indem, blieb gelassen, aß meine Flakes und genoss die Ruhe, die einkehrte, weil beide vorm Fenster standen. Hinter der Gardine versteht sich.

»Frage mich nur, warum die schon so früh da sind.«, fragte Sandra noch immer hinter der Gardine schnüffelnd.

»Die sind bestimmt gestern schon losgefahren, damit sie heute Morgen ankommen!«, erwiderte André, der sich nun wagte, die Gardine etwas zur Seite zu schieben, doch schnell klopfte Sandra ihm auf die Finger und zog den weißen Lappen wieder zu. »Wenn uns wer sieht ... «

Ich stellte den Teller in den Geschirrspüler und setzte mich schließlich an meinen PC, um mir ein paar Lieder auf diesen zu kopieren. Es dauerte nicht lange, bis ich ein Paar Schritte hörte, die in Richtung meiner Tür kamen. Es klopfte.

»Jaaaa!«, sagte ich gelangweilt.

»Ich bins nur«, sagte Sandra und kam herein. »Wird mal langsam wieder Zeit zum Aufräumen, oder?«, sagte sie nach einem durchdringlichen Blick, der durch mein gesamtes Zimmer wanderte.

Ich sah sie genervt an und sie ging nicht näher auf das Thema ein.

»Ich wollte dich fragen, ob du mal schnell zur Apotheke laufen kannst. Ich brauche ein paar Aspirin. Habe höllische Kopfschmerzen heute. Muss wohl am Wetter liegen.«

Ich hatte nicht mal den Ansatz der Lust jetzt zur Apotheke zu laufen, aber wenn ich nein sagen würde, dann ginge es wieder los mit dem typischen "Das ist also der Dank dafür, dass ich eure Wäsche wasche und den Haushalt schmeisse" und das schlimme daran war für mich ja, dass sie damit noch recht hatte.

»Ich bin gleich fertig mit der Musik, dann geh ich los, OK?«

»Ist gut. Ich lege dir das Geld auf den Küchentisch.« Sprachs und ging fort.

Es dauerte noch ein bisschen, bis Scooters Tramp auf meiner Festplatte war. Indes zündete ich mir eine Zigarette an und schnürte meine Bufallos zu. Der Song war fertig und Martin auch. Ich ging runter zur Garderobe und zog mir meine Jacke an, nahm das Geld vom Küchentisch und machte mich auf den Weg.

Ich hatte kaum die Tür geöffnet, da merkte ich schon den kalten Wind an mir vorbeiziehen. Es roch förmlich nach Winter. Genau gerade aus sah ich das Haus von Frau Schulze. Ein Möbeltransporter stand davor. Er nahm irgendwie die ganze Straße ein, denn es gab keinen Platz um an die Seite zu fahren, weil dort die ganzen Schneehucken waren. Viele Arbeiter schafften Möbelstücke und Kartons in Obergeschoss. Ich wusste nicht genau, ob die roten Wangen der Arbeiter nun von der Kälte oder von der Arbeit kamen. Ich blieb etwas stehen, in der Hoffnung, einen der neuen Nachbarn zu sehen, doch es waren immer nur die Arbeiter, die dies und jenes ins Haus brachten. Ganz in Blau gekleidet, schleppten sie Kartons und trugen Schränke in Frau Schulzes Haus. Neben mir hielt plötzlich ein Combi. Ich schaute rüber. Es war Frank. Gott sei Dank war der Weg zur Garage freigeschippt, sonst hätte er sich wieder tierisch aufgeregt, dass doch zwei gesunde Kinder im Haushalt lebten, die gerade Ferien hatten und nichts wäre gemacht ... Er stieg aus..

»Hey Martin, wundert mich ja, dass ich dich auch mal wieder zu Gesicht bekomme.«

»Na ja, wenn man Ferien hat, dann schläft man auch etwa länger als sonst. Hattest du denn nicht auch Nachtschicht?«

»Ja, hast recht. Dann hab ich wohl geschlafen, als du wach warst«, sagte er scherzhaft. »Wo willst du denn in der Kälte hin?«

»Soll für deine Lebensabschnittsgefährtin Aspirin holen.«

»Ist schon doof, wenn man so wetterfühlig ist, wie deine Mutter, oder? Warum macht André das denn nicht?«

Ich dachte nach. Stimmt eigentlich. Warum macht André das nicht? Aber nun war es mir egal. Jetzt war ich schon mal draußen, dann konnte ich auch selber gehen. Außerdem mochte ich den Schnee sowieso so sehr leiden, nur die Kälte ließ mich etwas zurückschrecken.

»Ach nun ists auch egal. Ich kann ja auch selber gehen«, sagte ich gleichgültig. »Außerdem ist André bestimmt damit beschäftigt, den neuen Nachbarn beim Auspacken zuzugucken! Der sitzt schon die ganze Zeit hinterm Fenster!«, fügte ich leise hinzu.

Frank lachte. Mal sehen, was der so treibt. Ich geh erst mal rein um nach dem Rechten zu gucken, außerdem ist mir auch arschkalt. Hoffendlich frierts die Nacht nicht.»

Er schloss die Tür auf und ließ sie nach sich ins Schloss fallen. Ich überlegte kurz, ob ich mir eine Zigi anmachen sollte, doch ich zog es vor, meine Hände in den Taschen zu verbarrikadieren. Langsam begann ich nun meine kleine Wanderung zur Apotheke. Vorbei an den ganzen Leuten, die Schnee schippten, um ihre Auffahrten oder Höfe frei zu bekommen. Es dauerte nicht lange, um festzustellen, dass es hier und da etwas rutschig auf dem Gehweg war, denn nur der Zaun von Familie Seifert ließ nicht zu, dass ich auf meinem Hosenboden landete, denn ich konnte mich gerade noch rechtzeitig an ihm festhalten. Allerdings fing ich mir dabei fast einen Sporn in den Finger ein, doch ich schaffte es, ihn schnellstens wieder rauszuziehen.

Bei der Apotheke angekommen, holte ich die Aspirin für meine Mum und trat meinen Rückweg an. Ich drehte mich noch mal kurz um und dachte darüber nach, noch mal kurz zum Rewe zu gehen, der gleich ein Stück entfernt von der Apotheke lag, um mir noch ne Packung Zigaretten zu holen, doch ich entschied mich letztendlich für den Zigiautomaten, der auf dem Weg nach Hause lag.

Schließlich überkam mich doch der Lungenschmacht und ich steckte mir ne Kippe an. Was man nicht alles aushält, nur um eine zu rauchen, dachte ich mir und sah auf meine Hand. Rot vor Kälte und nach einiger Zeit merkte ich zudem meine Finger nicht einmal mehr.

Beim Zigarettenautomaten blieb ich stehen und kramte in meinen Jackentaschen nach sechs Mark. Ich steckte einen Fünfer und eine Mark in den Automaten, drückte auf Lucky, nahm die Schachtel, tat einen Schritt gerade aus und dann war es auch schon geschehen. Auf dem Boden liegend, sah ich nun zum Himmel.

»Hey vorsichtig. Es ist ziemlich glatt draußen. Kann ich dir helfen? Nimm meine Hand!«

Wie bei einem totalen Black Out konnte ich nun nur noch an Emelys Party denken, auf der ich Chris kennenlernte. Die momentane Situation kam mir so bekannt vor, nur das es diesmal nicht Denise Fuß war, sondern die Glätte auf den Straßen, die mich zum Fallen brachte.

»Nun komm schon, sonst holst du dir noch den Tod da unten auf dem kalten Eis!«

Ich nahm die Hand und keuchte mich hoch.

»Na, ist doch gleich viel besser, sonst hättest du noch nen nassen Arsch bekommen!«

Erst jetzt bemerkte ich wer mich aus der peinlichen Situation zog. Es war ein Junge, ein gutaussehender Junge, schätzungsweise 23 Jahre alt. Nun war mir die Situation natürlich noch peinlicher. Komisch war nur, dass ich ihn nicht kannte, denn hier kannte eigentlich jeder jeden, zumindest vom Sehen.

»Passiert dir das öfter?«, grinste mich der Boy an.

»Nein, eigentlich nicht. Ich war ja auch ganz in Gedanken«, versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen.

»Dann sei das nächste Mal mit deinen Gedanken lieber bei dem was du tust! Kann ja nicht so schwer für einen Raucher sein, sich Zigis aus dem Automaten zu holen, oder?«, sagte er grinsend und ging in Richtug Rewe weiter, ohne eine Antwort zu erhoffen. Ich schaute ihm nach und ging schließlich auch weiter.

Zu Hause angekommen, legte ich meiner Mum die Aspirin auf den Stubentisch.

»Und wie ist es draußen so? Hast du jemanden getroffen?«, hörte ich Sandra aus der Küche fragen.

»Ganz schön kalt ists draußen ... und rutschig«, sagte ich lachend.

Die Küchentür öffnete sich und Sandra lehnte sich an den Türrahmen. In der Hand hielt sie einen Teigschaber ...

»Wieso lachst du dabei so? Hast du dich hingelegt oder was?«, fragte sie.

»Ja, beim Zigarettenautomaten. Na ja es war aber auch rutschig dort«, sagte ich, während ich gerade meine Jacke auszog, die ich an die Garderobe hängte.

»Dann bin ich ja gewarnt. Ich will nachher noch zu Frau Öhne«, erwiderte sie, während sie ihren Fuß gegen die Tür lehnte, damit diese nicht zufiel.

»Mal wieder zum Kaffeeklatsch oder was?«

»Klar. Mal sehen, was es wieder so Neues gibt in der Gegend.«

»Darauf kann man sich doch sowieso nicht verlassen, was so erzählt wird. Weiste noch bei Andrea Henniges. Sie hat sich das Bein gebrochen und du hast mir erzählt, dass sie mit dem Tode gerungen hat. Aber was machst du überhaupt mit diesem Teigschaber?«

»Na Martin, was macht man damit?« Sandra sah mich an, als ob ich von nichts eine Ahnung hätte. Sie schwang den Teigschaber in ihrer Hand von links nach rechts.

»Ja ja, schon klar. Teig schaben«, verteidigte ich mich gegen ihre Blicke.

»Ich mache Käsekuchen für nachher. Muss ja schließlich was mitbringen zum Kaffeetrinken«, sagte sie und beendete unsere Unterhaltung indem sie zurück in die Küche ging und die Tür schließlich hinter ihr zufiel, als auch schon André von der Treppe auf mich zugestolpert kam.

»Na, warste schön unterwegs?«, fragte er mit einem aufgesetzten Lachen.

»Ja war ich. Wenn du zu faul bist ... «

»Moment mal. Mich hat keiner gefragt. Außerdem habe ich gestern schon den Müll rausgebracht! Und wo willst du jetzt drauf los, dass du in deiner Jackentasche kramst?«

Das er aber auch immer alles bemerken musste. Ich suchter gerade verzweifelt in den Taschen meiner braunen Neoprenjacke nach meinen Luckys ...

»Ich suche nur meine Zigaretten, die ich mir gerade gekauft hab und dann verschwinde ich in mein Zimmer, bock ne Runde Monopoly mit mir zu spielen?«

Ich weiß auch nicht, wie ich darauf kam, aber ich hatte mal wieder Bock was mit André zu spielen. Ich fand es immer zu witzig, wenn er verlor. Er regte sich dann immer gleich so auf und meistens krachte er dann das gesamte Spiel in irgendeine Ecke ...

»Können wir machen.«

»Scheiße!«

»Was denn?«

Ich kramte weiter in meinen Taschen doch es waren keine Zigis zu finden.

»Ich habe meine Zigis verloren. Bestimmt als ich ausgerutscht bin.«

»Was bist du?«, fragte André lachend. Ich glaube er wollte sich nun über mich lustig machen, doch dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Ich zog die Jacke wieder an und rannte aus der Tür.

»Die sind sowieso schon weg!«, hörte ich André noch rufen, als ich mich auf den Weg zum Automaten machte. Schnellen Schrittes und doch vorsichtig ging ich unsere Straße hinunter.

»Hey?«

Ich hoffte, dass sie noch dalagen, doch ich freundete mich schon mit dem Gedanken an, mir neue kaufen zu dürfen.

»Hallo! Hey! Warte doch mal?«

Ich schaute hinter mich und lief rot an. Es war dieser Kerl, der mir vorhin half, auf die Beine zu kommen.

Ich sah ihn fragend an.

»Na endlich! Warst wohl schon wieder in Gedanken oder was?«, grinste er.

»Ja ich will zum Automaten. Ich habe ...

»... die Zigaretten verloren?« unterbrach er mich und holte aus seiner Hosentasche eine Schachtel Luckys raus.

»Genau ... «, sagte ich staunend.

»Hier hast se«, sagte er, wobei er mir die Schachtel in die Hände drückte.

»Ich hatte mich noch mal umgedreht, um zu gucken, ob du nicht schon wieder den Boden knutscht und da habe ich sie gesehen. Du warst aber schon zu weit weg, deshalb wollte ich dir nicht hinterher schreien.«

»Das ist ja lieb ... Danke.«

Er lächelte mich an. »Geh ich recht in der Annahme, dass du ein ganz schöner Träumer bist?« Er grinste und hob seine rechte Augenbraue.

»Na ja eigentlich weniger, aber manchmal hat man halt so Sachen, mit denen man nicht fertig wird. Sag mal, ich habe dich noch nie hier gesehen. Bist du über Weihnachten zu Besuch oder was?«, fragte ich ihn schließlich.

»Hmm, so könnte mans nicht sagen. Ich wohne neuerdings im Brannteweg 3.« Ich staunte nicht schlecht, als ich das hörte, denn schließlich wohnte ich im Brannteweg 4.

»Dann wohnst du über Frau Schulze, nicht wahr?«

»Ja, wenn die Vermieterin so heißt? Eine ältere Dame mit krausen grauen Haaren. Scheint aber ganz nett zu sein.«

»Mit einer Brille auf der Nase, die ihr viel zu groß erscheint?«

»Ja genau!«

»Stimmt, das ist Frau Schulze. Dann bist du ja einer unserer neuen Nachbarn.«

Er staunte nicht schlecht, als ich ihm das sagte.

»Toller Zufall!«, sagte er und gab mir erneut seine Hand. Sie war schön warm, denn er hatte sie die ganze Zeit über in seiner Hosentasche. »Ich heiße Jessy!«

»Martin«, sagte ich schließlich. »Wo kommst du eigentlich her. Du kennst dich doch hier gar nicht aus, oder?«

»Nein, aber meine Mutter hat sich schon mit Mehreren unterhalten und da hat sie mitbekommen, dass hier in der Nähe ein Rewe Markt ist. Sie hat mich losgeschickt, um einige Sachen einzukaufen. Außerdem will ich ja meinen Kühlschrank auch etwas füllen.«

»Habt ihr denn keinen für alle?«, fragte ich verdutzt.

Jessy grinste »Doch klar, aber ich wohne ganz oben, habe da meine eigene Wohnung und auch einen eigenen Kühlschrank.«

»Ach so«, sagte ich lachend, wobei mir erst jetzt auffiel, was er für schöne blaue Augen hatte. »Willst du denn jetzt auch nach Hause? Dann können wir das Stück doch zusammen gehen.«

»Klar können wir machen.«

Und dann marschierten wir los. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart sehr wohl. Er hatte etwas, was mir sehr gefiel. Ich weiß nicht, ob es sein Aussehen war, seine Redensweise oder halt einfach seine Art sich zu präsentieren oder halt nur ein neuer Freund, aber ich fühlte, dass da etwas war, was mich beeindruckte.

»Warum seit ihr eigentlich umgezogen?«

»Mein Dad hat einen neuen Arbeitsplatz hier. Außerdem hat er schon immer Großstädte gehasst. Nur das Tolle ist ja, dass ich hier auch schon einen Platz habe, an dem ich meine Ausbildung fortsetzten kann.«

»Was machst du denn für ne Ausbildung?«, fragt ich gespannt.

»Kfz-Mechaniker. Und was machst du?«

»Ich geh noch zur Schule. Mache im April jetzt mein Abi.«

»So, da wären wir«, sagte er. »Hast du vielleicht Lust, noch mit rein zu kommen?«

Ich sah ihn verwundert an. »Ne, ich glaub nicht. Bei euch herrscht bestimmt gerade ziemlich viel Stress wegen aufbauen und so. Aber ein andermal gerne.«

Ich blickte auf die Arbeiter, die eine Schweißperle nach der anderen verloren. Wunderte mich, dass diese bei dieser Aahnsinnskälte nicht gleich zu Eis froren. Ich musste nun wirklich nicht noch darin rumlaufen.

Jessy verzog keine Miene.

»Aber wenn du Bock hast, dann komm doch noch mit zu mir.«

»Gleich gegenüber das Haus, ja?«, Jessy schaute es genau an und grinste. »Ist OK, ich bring nur schnell die Tüten rein. Bin gleich wieder da.«

Und das war er auch. Es dauerte gar nicht lange, da stand er wieder vor mir. Und wie er da stand. Irgendwie voll niedlich und süß. So gut hat mir schon lange kein Boy mehr gefallen. Irgendwie hat alles gestimmt. Sogar seine Nase passte zum Gesicht. Seinen Mund winkelte er immer so an, dass er seine Stimmung wiedergab, das hatte ich mittlerweile schon bemerkt.

Wir gingen zu meinem Heim und als ich die Tür aufschloss, bemerkte ich den seltsamen Geruch von Käsekuchen. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Käsekuchen, Kfz-Mechaniker, den Boden geküsst. War dies alles wirklich Zufall?

»Hey, wollen wir hier zwischen Tür und Angel stehen bleiben oder hast du es dir doch anders überlegt? ... Martin???«

»Ja, ich meine nein. Nein, also ich war nur gerade ... «

»... in Gedanken!«, unterbrach mich Jessy. »Es ist ziemlich leicht, dich kennenzulernen«, sagte er scherzhaft. Ich grinste ihn nur an und hoffte, dass er mich nicht irgendwie für durchgeknallt oder weltfremd oder so hielt. Wir gingen die beiden Treppen hoch in mein Zimmer.

»Schönes Haus!«, sagte Jessy und sah sich alles genau an.

»Findeste?«

»Ja klar! Das hat alles sehr viel Geschmack.«

Wir gingen in mein Zimmer.

»Da bist du ja endlich. Wo warst du so lange?« André schaute nicht schlecht, als er Jessy sah, der gleich nach mir in der Tür stand.

»So lange war ich doch gar nicht weg«, sagte ich. »Unterwegs habe ich Jessy getroffen. Er ist unser neuer Nachbar.«

Jessy musste grinsen und gab André die Hand.

»Wie ich heiße weist du ja schon ... « sagte mein neuer Hübschling.

»André mein Name!«, stotterte er mehr oder weniger vor sich hin, wobei eine seiner Hände die andere rieb.

»Einer von den Skatern oder täusch ich mich da?«

»Ne, hast recht.«, entgegnete André schüchtern, wobei er seinen Blick vom Boden nicht abwand.

»Nimm doch Platz«, sagte ich schließlich, wobei ich mit meiner Hand auf das Sofa und den Sessel hindeutete. Jessy entschied sich für den Sessel. Er setzte sich und ließ einen Arm lässig von der Lehne hängen.

»Und ihr beide versteht euch?«, fragte Jessy, um wahrscheinlich die kurzzeitige Stille zu füllen.

»Ja wieso nicht?«, fragte ich und ging zur Vitrine, die gleich rechts neben der Tür stand, um ein paar Gläser zu organisieren. »Möchtest du auch was trinken?«

»Ja gern. Ich mein ja nur, weil Skater und Raver habens ja nicht so unbedingt miteinander.«

Ich sah mich an und ich sah André an. Konnte man das nun wirklich so verallgemeinern? Ich war mir nicht ganz sicher, ob wir uns leiden könnten, wenn Chris noch da wäre, denn ich hatte das Gefühl, das sein Tod uns zusammengeschweißt hat.

»Ne ne. Wir kommen prima klar. OK, das ein oder andere Gerangel gibt es natürlich auch, aber im großem und ganzen kann ich mich nicht beschweren mit ihm.« Jessy nickte. »Er könnte mich in den Ferien nur mal länger schlafen lassen!«, fügte ich scherzhaft hinzu und sah André streng an.

Jessy lachte und zündete sich eine Zigarette an. »Oh, Sorry, hab vergessen zu fragen, ob man hier rauchen darf!«

»Ist schon in Ordnung. Der Ascher steht ja nicht zum Spaß hier«, sagte ich neckisch.

»Was ist denn nu mit Monopoly?«, fragte André. Ich wunderte mich, dass er sich nun zu Wort meldete. Normalerweise war ihm die Situation, dass ein fremder Junge in meinem Zimmer war, nicht ganz geheuer, doch er schien ihn anscheinend zu mögen.

»Das können wir doch auf morgen verlegen«, sagte ich.

»Wolltet ihr Monopoly spielen?«, fragte Jassy in den Raum. »Darauf hätte ich auch Bock.«

Ich war sichtlich überrascht, doch dann bimmelte mein Handy.

»Ja?«

»Hi ich bin's, Nicki!«

»Hi! Was gibt's?«

»Wir haben kurzfristig beschlossen, eine kleine Party zu organisieren, hast du Bock mitzumachen?«

Ich schaute zu Jessy und André hinüber, die sich mittlerweile mit dem Aufbau des Spieles beschäftigt hatten und sich bestens unterhielten. »Ich weiß nicht ... «

»Los, komm. Die Party ist bei Emely im Partykeller. Didi und Basti hab ich auch schon Bescheid gesagt.«, unterbrach mich Nicki.

»Ja, aber ich habe gerade Gäste und ... «

»Nix und! Bring die einfach mit. Je mehr wir sind, umso mehr Spaß! Männlich oder weiblich?«

»Wer?«

»Na der Gast!«

Ich schaute instinktiv zu Jessy rüber, als ob ich erst nachschauen müsste, ob er männlich oder weiblich ist. Er war gerade damit beschäftigt, mit André das Geld aufzuteilen und stellte drei Spielfiguren auf LOS.

»Männlich!«

»Na umso besser. Sieht er denn gut aus?«

»Nicki! Hände weg!«

»Ahhh, verstehe ... deine neue Flamme?«

»Nein!«, sagte ich trotzig, »Doch er ist unser neuer Nachbar und ... «

»Redet ihr über mich?« hörte ich Jessy plötzlich dazwischenrufen.

Ich schaute ihn erschrocken an. Ich merkte, wie ich leicht errötete! Hatte ich so laut gesprochen?

»Ja! Es geht um ne Party! Heute Abend. Willst du mitkommen?«

Jessy lachte. »Party sind doch die beste Möglichkeit sich näher kennenzulernen, oder?« sagte er. Ich wusste nicht genau, ob es ein Zwinkern war oder ob ich mir einbildete, dass er mir zugezwinkert hatte.

»Nicki? Hol uns um 20 Uhr ab. Wir sind 3 Personen«, sagte ich und legte auf.

Ich setzte mich zurück auf die Couch und sah das Spiel aufgebaut.

»Tja, dann wird's wohl doch nichts mit spielen!«, sagte André mehr oder weniger scherzhaft.

»Dann verlegen wir es halt doch auf morgen. Jessy ist ja nicht aus der Welt.«

»Stimmt. Ich bin gleich nebenan.«, grinste er. »Wer war denn diese Nicki?«

»Eine gute Freundin von mir. Habe sie auf ihrer eigenen Fete kennengelernt, zu der mich meine damalige beste Freundin Steffi mitnahm«, antwortet ich, wobei ich mich gleichzeitig an diese Feier erinnerte. Es war eine Helloween-Feier. Manche hatten Kostüme an, Andere kamen normal dahin. Junge war ich da voll gewesen ... »Später stellte sich raus, dass sie eine Freundin meiner Tante Heike war. Wir waren zusammen in Diskos und so. Sie ist ganz nett ... supernett eigentlich. Ich bin gern mit ihr zusammen.«

Jessy grinste. »Was zieht man denn auf so ner Party von euch an?«, fragte er in den Raum.

»Die meisten sind Raver. Schlaghose oder Raverhose, engere T-Shirts und ne Cordon oder Freeman-T-Porter Jacke aus Neopren. Buffalos oder so ... Ne Weste wär ja auch nicht schlecht ... « Ich laberte und laberte, obwohl ich gar nicht merkte, wie verwirrt Jessy mich ansah.

»Kannst du mir das aufschreiben?«, fragte er scherzhaft. »Ich werde sehen was sich machen lässt!«

»Ach ist ja auch egal. Komm einfach so, wie du dich am Wohlsten fühlst.«

»Dann geh ich schon mal rüber. Wollte noch duschen und dann komm ich wieder hierher, OK?«

»Ja ist in Ordnung! Ach so, wenn ihr schon habt, dann bring mal ne Flasche Schluck mit!«

Jessy zog sich seine Jacke an und ich begleitete ihn zur Tür.

»Ne Flasche Schluck?«, fragte er.

»Ja, na ja, ne Flasche Sekt oder Wein oder Feigling oder so was ... «

Jessy musste lachen. »Ist in Ordnung, Kleiner. Ich klingle dann. Tschü!«

Und die Tür ging zu.

Irgendwie schien mir dieser Winter nicht ganz geheuer zu sein. Ich steckte mir ne Zigi an und ging ins Wohnzimmer. Frank saß schlafend in seinen Sessel, wie er ihn immer nannte, neben ihm eine Flasche Bier und der Fernseher lief. Ich entlschloss mich dazu, ihn lieber nicht aufzuwecken und ging zu André ins Zimmer.

»Was willst du denn hier?«, bekam ich gegen den Kopf geworfen, als ich seine Zimmertür hinter mir schloss.

»Was soll das denn heißen?«, fragte ich, wobei ich mir eine ansteckte. »Wo ist denn dein Ascher?«

»Liegt unter dem Englischbuch.«

Ich nahm das Buch weg und stopfte es in sein Regal, das er eigentlich extra für Schulsachen anbauen ließ. Na ja, er hat es die ersten Wochen genutzt. Jetzt stand da so ein komischer Kopf aus Glas oder so drauf, dem gewaltig große Kopfhörer aufgesetzt wurden, neben ihm eine Lavalampe in blau. Ich wollte sie schon immer haben, doch er rückte sie nicht raus.

»Er ist ganz nett, nicht wahr?« André griff zu meiner Luckyschachtel und nahm sich eine raus. Ich gab ihm das Feuer.

»Ja ist er«, sagte ich und schaute auf das Wu-Tang Poster, das über Anrés Bett hing.

»Er sieht auch voll gut aus, oder?« Nun war der Punkt erreicht, an dem ich ihn nicht mehr für André hielt. Er hatte bisher noch nie gesagt, dass ein Junge gut aussah. Er hielt so was für schwul, wenn ein Junge fand, dass der andere gut aussah. Ich fand es nicht besonders toll, dass er es so sagte, aber dennoch haben wir uns deswegen nie gestritten. Er wusste, dass ich schwul war und er behandelte mich ganz normal. OK, ab und zu, wenn wirklich einer dieser Supertypen im Fernsehen zu sehen waren, dann sah er mich immer mit diesem neckischem Grinsen an. Aber ich schlug ihm dann immer den nächstbesten Gegenstand, den ich finden konnte, ins Gesicht. Einmal hat es mir sehr leidgetan, als die Fernbedienung neben mir lag. Das muss ganz schön gezwiebelt haben.

»Klar sieht er gut aus. Denk dran, dass du dich noch fertig machen musst oder willst du nicht mehr duschen?« Ich wollte nicht länger über Jessy reden. Musste erst mal selber überlegen, wies mit ihm weitergehen sollte, außerdem wer sagte überhaupt, dass ich ne Chance bei ihm hätte?

»Nee, Duschen geh ich nicht. War heute schon.«

Ich erinnerte mich an die Party im letztem Jahr. Als Didi mich abholte und ihr Gruftie Outfit trug, wie sie sich mit diesem einem Kerl verdünnisierte und an Denise Fuß. Oh, nein. Der Fuß. Wie dankbar ich ihm doch war. Hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber wenn er nicht gewesen wär ...

»Was ziehst du heute an?«, unterbrach André meinen Gedankengang. Vielleicht sogar zurecht, denn sonst würde ich wohl wieder melancholisch werden.

»Ich glaub meine Alu-Folien-Hose und den Smog Pulli drüber, weist du, den mit dem Stern vorne drauf. Und meine schwarze Weste nehme ich sicherheitshalber mal mit, falls Jessy ein T-Shirt an hat, das häßlich ist. Ja und meine Freeman-T-Porter Jacke.«

»Und die Haare?«

Ich schaute verdutzt. »André das ist eine normale interne Party und kein Schönheitswettbewerb.«

»Partys sind doch die beste Möglichkeit, um sich näher kennenzulenen!«

Ich schaute ihn an. »Das hat doch Jessy vorhin gesagt!«

»... und dich dabei angezwinkert!«

Also doch. Ich dachte ich hätte es mir eingebildet. Warum sollte er mich einfach so anzwinkern? Wenn ich denn nun eine Chance bei ihm hätte, will ich sie überhaupt wahrnehmen? In diesem Punkt war ich noch nicht ganz sicher. Mir schwirrte Chris noch immer im Kopf rum.

»André?«

»Was ist?« Er drückte seine Zigarette aus.

»Chris geht mir nicht aus dem Kopf.«

André drehte sich zu mir. »Martin. Wer sagt denn, dass du ihn vergessen musst, wenn du eine neue Beziehung eingehst? Wer sagt, dass du nie mehr an ihn denken darfst und wer gibt dir das Verbot, eure schönen Zeiten zu vergessen? Niemand! Nicht mal Jessy würde soetwas tun, das kann kein Mensch verlangen. Aber finde dich damit ab, dass er tot ist.« André begann zitternder zu reden. »Er kommt nicht wieder, so sehr wir es uns auch wünschen. Begreif das. Der Tod ist schrecklich für jeden, doch gibt er die Chance auf einen neuen Anfang. Ein Ende ist immer ein neuer Anfang. Du kannst dich nicht ewig verbarrikadieren, vor neuen Beziehungen schützen! Greif die Liebe, wenn sie dich anlächelt, sonst ist es zu spät. Chris hätte niemals gewollt, dass du eure gemeinsamen Stunden vergisst, er hätte aber auch nicht gewollt, dass du dich in endloses Unglück stürzt. Wer weiß? Vielleicht hat er dir Jessy geschickt? Wir wissen nicht, was nach dem Tod passiert, wir wissen nicht wohin diejenigen gehen, die wir lieben, wir wissen nur, dass nun unser Leben weitergeht. Ich glaube, nein, ich weiß, dass du Chris niemals vergessen werden wirst, doch lebe dein Leben weiter!«

Ich war baff. Es war hart, das zu hören, aber es stimmte, was André sagte, doch in diesem Moment musste ich nur noch weinen. Ich sollte André danken, aber ich nahm ihn einfach nur ganz fest in den Arm. Er drückte mich fest an sich. Ich begriff, dass da jemand war, dem ich voll und ganz vertrauen konnte, und das fühlte ich nun zum ersten Mal wieder, seit ewigen Zeiten. Freunde hier und da, doch zu Niemandem fand ich so viel Vertrauen, wie zu meinem kleinen Bruder, der doch vielleicht erwachsener war als ich. Mir kullerten die Tränen aus den Augen. Ich hörte, dass André schluchzte. Es schien, als hätte er es nicht nur für mich gesagt, ich denke auch ihm hat es geholfen. Er hatte die ganze Zeit, diese Sätze im Kopf, doch jetzt, als er sie ausgesprochen hatte, verstand er, genau wie ich, erst ihre Bedeutungen.

»Danke André!«

Er sah mich mit geröteten Augen an. »Jetzt geh duschen!«

Ich ließ ihn los, auch wenn ich es nicht gern tat, packte meine Sachen zusammen und ging duschen. Das warme Wasser floss über mein Gesicht und über meinen gesamten Körper. Mir gingen Andrés Worte nicht aus dem Kopf. Immer wieder wiederholte ich die Worte "Er hat recht." in meinem Kopf, zu nichts entschlossen.

Es klopfte an der Badezimmertür. »Martin, beeil dich mal. Nicki ist schon da und Jessy auch. Wir sind in deinem Zimmer!«

War es schon so spät? Wie lange war ich denn duschen?

»Ist OK, ich beeil mich.«

Der Spiegel war voll beschlagen, ich machte ihn mit dem Handtuch trocken, doch nach wenigen Sekunden sah er wieder aus wie vorher. Ich zog meine Hose an und hüllte mich in mein T-Shirt. Der Pulli lag in meinem Zimmer. Ich schloss die Badezimmertür auf und ging den Flur entlang zu meinem Reich. Bereits auf dem relativ breitem Flur hörte ich schon ein einziges Gelache und Gelaber. Ich machte auf und war wie vom Blitz getroffen, als sich Nicki gleich um meinen Hals schlang.

»Hi Süßer! Wie geht's?«

Ich sah sie überrascht an. Schwarze Raverhose von ATO, weißes Top und ne schwarze Weste drüber. Ihre langen gewellten Haare hielt sie auf dem Kopf mit kleinen bunten Klemmen zusammen.

»Ganz gut. Schick siehste aus!«

»Danke ... du aber auch.«

Ich grinste. »Klar und wie. Meine Haare noch nicht gemacht und alles ... ich geh erst mal zum Spiegel.«

»Aber mach Lack jetzt!«, schrie mir André hinterher, der sich, wie ich bemerkt hatte, mit Jessy unterhielt.

Ein bisschen Haarspray hier und Haarlack dort und den Kamm richtig angesetzt und fertig war ich schon. Verzweifelt suchte ich nach meinem speziellem Haarspray, dass im Schwarzlicht leuchtete, doch ich konnte es nirgends finden. Als ich jedoch meine Kippen aus Andrés Zimmer holte sah ich es unter einem seiner T-Shirts liegen.

In meinem Zimmer angekommen, waren schon alle startklar.

»Geht's jetzt ab?«, fragte Nicki, die vor lauter Eifer auf Party kaum mehr zu halten war.

»Fährst du wieder zurück?«, fragte ich sie.

»Ne, wir schlafen doch bei Emely!«

Ich schaute zu Jessy. War es ihm recht? Er nickte mir zu, als ob er meine Gedankenfrage verstanden hätte und ich grinste.

Wir stiegen in Nickis Renault ein, OK, etwas eng war's schon, weil das Auto halt so klein war, doch ich konnte gar nicht eng genug bei Jessy sitzen. Deshalb lehnte ich meinen Anspruch vorne sitzen zu dürfen auch herzlichst ab. Was uns alle etwas nervte war, dass Nickis Auto kein Radio hat. Musste natürlich kaputt gehen, als ich eine Kassette mal zu doll einwarf, doch auf Nicki war Verlass.

»Ramal lam ... «, fordernd hielt sie ihre rechte Hand an ihr Ohr.

»Ding dong!«, sangen wir, ja sogar Jessy machte mit. Ich muss sagen, wenn ich in seiner Situation gewesen wäre, hätte ich wohl kein Wort rausbekommen. Ich bin nämlich ziemlich schüchtern, wenn ich keinen kenne, doch er war anders.

Nach 'Rama lama ding dong' stimmte Nicki noch weitere Lieder an, die wir alle gut kannten, bei dem ein oder anderem machte Jessy ne Pause, weil die in Berlin wohl nicht so stark vertreten waren, wie er sich versuchte rauszureden.

Die Fahrt dauerte nicht all zulange. Es kam mir vor wie ein paar Sekunden und schon waren wir da. Ich war mir nicht sicher, ob ich neben Jessy nun schon die Zeit vergaß oder ob es Nickis Schuld war, die uns mit ihren Ohrwürmern so sehr einheizte.

»Hey, da seid ihr ja endlich!«, sprang Emely auf uns zu, wobei sie Jessy verwundert anschaute.

»Hi du bist Emely? Ich bin Jessy!«, sagte er und gab ihr die Hand. Ich war erstaunt über sein Selbstbewusstsein.

»Hi, ja ich bin Emely. Aber mit wem hast du denn was zu tun?«

»Ich bin ein Kumpel von Martin.« Er lächelte mich an und ich zurück. »Ich bin sein neuer Nachbar.«

Nun war Emelys Wissensdurst gelöscht und sie begleitete uns in ihren Partykeller. Es sollte eigentlich nur ne kleine privat Party werden, hatte ich gehört, doch was hier los war, war echt erstaunlich. So viele Leute. OK, die Meisten kannte ich, aber es waren auch jedes Mal neue Gesichter dabei. Ich musste fürchterlich zu lachen anfangen, als ich Denise sah. Warum? Keine Ahnung! Oder war es mit der Begründung getan, dass sie halt einfach nur Denise war?

Wir setzten uns an einen freien Tisch. Emely sprang hier und da rum und holte Getränke und Gläser.

»Mir gefällts hier!«, sagte Jessy.

»Freut mich. Ist auch immer ganz lustig hier, wenn Party ist.«

»Sag mal, kennst du die Blonde dahinten?«

»Ja wieso? Das ist Sabine, meine Ex!«

Er sah mich verdutzt an ...

»Die sieht ja hammergeil aus!«

Ich schaute ihn an wie ein Auto, nur nicht so schnell, aber dafür um einiges geschockter ...

»Kannst du sie mir vorstellen?«

Ich überlegte kurz, sie vor ihm total schlecht zu machen, aber welches Recht hatte ich dazu? In meiner ganzen Wut, die ich momentan im Bauch hatte, war es schwer sich einzugestehen, dass sie doch eigentlich eine ganz Nette war. Doch momentan war sie für mich eine Schlampe, die größte aller Schlampen die hier rumläuft.

»Hey Sabine!«

Sie schaute zu mir rüber und kam angerannt.

»Martin! Hi! Ich habe schon auf dich gewartet. Dachte schon, du kommst nicht oder irgendwer hat vergessen, dir Bescheid zu sagen ... «

Sie nahm mich fest in ihre Arme, so das ich fast erdrückt wurde. Mir ging ihre übertrieben höfliche Art dermaßen auf den Sack, dass ich am liebsten mein Glas gegen ihren Brumpfkopf zerschlagen hätte, doch ich beherrschte mich ... der gute Sekt ...

»Ne ne. Nicki hat mir Bescheid gesagt. Darf ich dir jemanden vorstellen? Das ist Jessy, mein neuer Nachbar.«

Sabine schaute Jessy an, als ob er bereits nackt vor ihr stehen würde. Und ich hasste diesen Blick! So hatte sie mich bei unserem ersten Treffen damals auch angesehen. Was den Sex anging, war sie noch schlimmer als Didi.

»Sabine. Freut mich. Wollen wir was trinken gehen?«

»Klar!«

Und dann verschwand Jessy mit ihr. Das super Lächeln, dass er mir noch zuwarf, hätte er sich auch sparen können. Ich konnte es noch nicht so ganz fassen, dass er mich hier einfach sitzen ließ.

Ich stand auf und ging zu Nicki herüber. Hatte erst gar net bemerkt, dass Nine und Co auch bereits da waren.

Nine hatte ich vor ca. 3 Monaten in der Disko durch Nicki kennengelernt und mich auf Anhieb gut mit ihr verstanden. Es artete sogar so aus, dass sie einen gesamten Monat bei mir übernachtete, weil wir uns halt so gut verstanden. Ich hatte noch nie einen Menschen in so kurzer Zeit so gut kennengelernt und zudem hatten wir auch voll die Gemeinsamkeiten.

»Hey Nine!«

Sie sah mich an und umarmte mich gleich so heftig, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam, wodurch ich wieder an Sabine erinnert wurde.

»Martin, wie geht's?«

Natürlich wollte ich ihr die Stimmung wegen Jessy nicht verderben, also sagte ich, daSs es mir fabelhaft ging, was nun ganz und gar nicht zutraf.

»Ja, im Glauben geht's dir vielleicht fabelhaft. Was ist los mit dir?«

Und ich merkte wieder, wie genau sie mich kannte. Sie musste wohl ein Gespür dafür haben, wie es mir geht.

»Hey Nine, nicht heute nicht jetzt und nicht hier, OK? Ich will heute Spaß haben. Wo ist der Alkohol?«

Nine sah mich schräg an. Aber sie wusste, dass ich nicht übertreiben würde mit dem guten Zeug! Sie gab mir ein Desperados in die Hand und stieß mit mir an.

»Wohl bekommt's!«

»Dir auch!«, grinste ich sie an.

Wir setzten die Flasche an den Mund und nahmen einen großen Schluck.

»Ach so, das ist Eva!«, sagte Nine.

Dass sie mir die Leute immer ohne Vorwarnung vorstellen musste ... Ich versuchte gerade bitterlich die Zitrone in die Flasche zu bekommen und wunderte mich, wer die Scheiben so dick geschnitten hatte, als mir eine Hand entgegen kam, in die ich die Zitrone legte, weil es mir zu doof war, diese da nun reinzupoppeln. Ich nahm schließlich noch einen Schluck und als ich aufsah, sah ich zwei Augen, die mich voller Entsetzen anschauten und daneben eine lachende Nine. Oh Gott war das peinlich. Natürlich nahm ich die Scheibe sofort wieder an mich und gab Eva die Hand.

»Martin, freut mich!«

»Hallo ich bin die Eva ne?«

»Ja kann sein!«, antwortet ich.

Uns beiden war die Sache wohl etwas peinlich, obwohl ich sie im Nachhinein eigentlich total lustig fand.

Wir schauten uns kurz an und mussten schließlich beide voll anfangen zu lachen.

»Hey, komm mal mit! Wir gehen mal gucken, wer noch alles da ist!«, sagte sie zu mir, nahm meine Hand und zog mich mit.

Ich blickte durch die ganzen Leute und sah viele, die mir zuwinkten und grüßten.

»Hey Martin, ich muss dir jemanden vorstellen. Das ist mein Freund Christian!«

Ich sah ihn an und er sah mich an.

»Hi, Christian!«, sagte er mit einem leichten Händedruck.

»Martin!«

Er schien wohl einer von der schüchternen Sorte zu sein, denn er wusste wohl nicht so richtig, was er denn noch sagen sollte, er starrte mich halt an und ich ihn.

Niedlich, dachte ich mir und wieder mal vergeben. Wie soll's anders sein? Blonde Haare, seitlich abstehend ein bisschen kleiner als ich und doch schon so erwachsen. Wie ich später erfuhr, war er 17 und machte eine Ausbildung zum Koch in einem Dorf nicht weit von mir.

Wir standen schon wieder bei Nine, als ich plötzlich wieder an Chris denken musste. Ich steckte meine Zigaretten, die auf dem Tresen neben mir lagen, ein und begab mich nach draußen, wo ich mich auf die Bank setzte, auf der ich vor eineinhalb Jahren ganz enttäuscht gesessen hatte. Meine Hose weichte unter dem kalten Schnee durch und es wurde etwas nass am Pöter, doch das störte mich in meinem momentanen Zustand keineswegs. Ich blickte auf zu den Sternen. Es wär blöd zu sagen, dass sie ausgerechnet heute dieselbe Konstellation haben wie damals, aber für mich war es so.

Ich schaute noch einmal zurück:

»Didi, lass mich bitte in Ruhe!«

»Wie viel Namen willst du mir denn noch geben?«

Ich schloss die Augen, drehte mich um und lächelte.

Ich nahm Chris in den Arm und küsste ihn.

Ich öffnete die Augen, niemand zu sehen.

Eine Zigi hatte ich jetzt nötig. Der Rauch verflog an der Luft, die Zeit brauchte ich jetzt einfach noch mal für mich - für mich allein. Ich war nicht traurig, was mich selbst wunderte, nein ich war glücklich, denn ich dachte an Chris und somit auch an André und seine Worte, die er mir heute gesagt hatte.

»War es hier?« hörte ich plötzlich eine Stimme sagen.

Ich drehte mich erneut um.

»André? Was machst du denn hier?«

»N bisschen frische Luft schnappen! War es hier?«, fragte er mich erneut und legte seine beiden Hände auf meine Schultern.

»Ja es war hier, genau hier. Unser erster Kuss. Es ist komisch, aber ich spüre noch ein kleines bisschen die Sehnsucht die ich empfand, als ich hier mit ihm stand - die Sehnsucht nach ihm und seinen Lippen.«

»Ich sag doch, dass er bei uns ist!«, und er lehnte seine Arme nun auf meine Schultern. Wir beide sagten kein Wort, sahen einfach dem Schnee zu, wie er fiel.

»Denk an deine Frisur, Martin!«

Ich grinste. André legte seinen Arm um mich und wir gingen wieder rein. Ein letzter Blick zur Bank, ein kurzer Seufzer und wir standen vorm Tresen.

Nicht weit entfernt standen Jessy und Sabine Hand in Hand voreinander und grinsten sich an, flüsterten mit leisen Worten sich irgendwas zu. Es war mir egal. Es gibt so viele Mütter mit hübschen Jungs ... wobei mein Blick auf Christian fiel, dem Freund von Eva, der mich auch gerade ansah und grinste. Ich grinste zurück und drehte mich zu Nine um.

»Na und geht's gut?«

»Ja, mir geht's gut, sehr gut!«

Es war wirklich so und Nine machte diesmal auch keine Anstalten, mir das Gegenteil zu erklären.

»Sag mal, kann es sein, dass Christian etwas bi ist oder so??«, fragte ich sie.

»Nein, Quatsch. Der ist nun schon 5 Monate mit Evchen zusammen. Wenn es einer nicht ist, dann Christian.«

Plötzlich kam Didi auf mich zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Also erstens ist es ganz schön warm hier und zweitens läuft hier super Musik, wozu man einfach tanzen muss.«

Ich gab ihr eine Dose Cola.

»Danke Schatz!«

Sie drehte sich zur Seite und schaute durch die Menge, wobei sie mit ihrem Fuß zum Takt der Musik wippte. Als sie Basti sah, gab sie ihm einen Luftkuss und bekam einen zurück. Die beiden, gesucht und gefunden.

Nine tippte mir auf die Schulter. Ich sah sie und Christian und Eva neben ihr.

»Ich fahr die beiden jetzt nach Hause, meinste ich kann heute mal wieder bei dir pennen?«

»Klar kannst du das tun, aber ich dachte, wir wollten hier schlafen?«

»Ich kann auch fahren. Habe nur ein Desperados getrunken. Ach labern wir nachher drüber, ich muss die beiden erst mal Heime fahren und dann komm ich wieder.«

»Ja OK.«

Eva umarmte mich zum Abschluss und Christian gab mir die Hand.

Komisch, irgendwie hatte ich die beiden gleich lieb, obwohl ich sie gar nicht kannte. Na ja gut, es gab nur wenige Leute, die ich nun überhaupt nicht abkonnte, aber diese beiden, blieben mir im Kopf.

Ein paar Unterhaltungen mit Emely und Denise, später kam Nine wieder auf mich zu.

»Na Schnitte?« grinste sie mich an. Ihr Lächeln überzog ihr ganzes Gesicht.

»Was grinst du denn so? Hast du ner Oma den Stock aufgehoben?«

Jetzt begann sie laut loszulachen. Wenn jemand eine schöne Lache hatte, dann Nine. Ich hörte sie gern lachen, denn wie so ein kleines Schulmädchen hielt sie sich dabei immer die Hände vors Gesicht. Ich musste automatisch mitlachen.

»Nein, nein, ist einfach ... ich weiss auch n... n... n ... !«, sagte sie wobei sie mit der rechten Hand im Kreis winkte, weil ihr das Wort nun nicht einzufallen schien.

»Gegen Gottes Plan?«, fragte ich sie scherzhaft.

»Nein es ist wunderbar ... wunderbar!«, sagte sie und gab mir einen Schmatzer auf die Wange.

Emely und Denise schauten mit komischem Blick zu Nine rüber, sahen sich selbst an und zuckten mit den Schultern.

»Und du willst mir erzählen, dass du nur ein Desperados getrunken hast?«, fragte ich neckisch.

»Ja und ich habe super Laune.«

Das war schön zu hören, doch neigte sich die Party nun dem Ende zu. Es ging so aus, dass Nine mich, André und Jessy mit nach Hause nahm. Wir verabschiedeten uns von Jessy, der sofort in sein neues Reich lief, und gingen schließlich auch rein. André war voll und hundskaputt, ich brachte ihn in sein Zimmer, zog ihm die Schuhe aus öffnete den Knopf seiner Jeans und deckte ihn zu. Ich glaub nicht das er es mitbekommen hat, denn er war im Auto bereits eingeschlafen. Nine und ich gingen in mein Zimmer. Wir klappten meine Couch aus, legten ne Decke drauf und machten es uns mit leiser Musik gemütlich, indem wir uns noch ne Zigarette anzündeten.

»War schön heute!«, begann sie zu reden, wobei sie sich zu mir umdrehte.

»Ja war nicht schlecht.«

»Warum hattest du vorhin eigentlich so schlechte Laune gehabt?«

»Ach Nine. Ich hab halt gedacht, dass mit Jessy etwas mehr laufen würde. Stattdessen ... «

»Stattdessen geht der mit deiner Ex ab. Na super. Ist er denn schwul oder so?«

Ich mummelte mich in meine Decke ein und zog sie bis zum Hals.

»Weiß ich nicht, glaub aber schon. Es sind immer so Anzeichen von ihm, die ich anscheinend falsch interpretiert habe, oder sagen wir's so, die ich nach meinen Wünschen interpretiert hab.«

»Was sind das denn für Anzeichen?«

»Ach es reicht schon, wenn mich ein Typ anschaut und grinst, den ich süß finde. Gleich bilden sich in meinem Kopf die wildesten Gedanken.«

Nine begann zu lachen.

»Nein!«, sagte ich grinsend »Nicht solche Gedanken. Eher die, dass er mich auch toll findet und mich dann ansprechen wird oder wir mal zusammenkommen. So was halt, genau wie bei Christian. Er hat mich von hinten nur angegrinst und schon dachte ich sonst was. Ich denke mal, es ist der Wunsch, wieder eine neue Partnerschaft eingehen zu wollen. Ich denk, ich bin nun soweit, aber ich mache mir immer zu viel vor!«

Nine legte ihren Kopf auf ihre Hand.

»Aber das mit Christian hat gestimmt!«

»Was hat gestimmt?«, fragte ich.

»Ich habe die beiden doch nach Hause gefahren. Er saß vorne bei mir und Eva saß hinten. Wir hatten laute Musik an und er fragte mich, ob wir zusammen wären, also du und ich.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt, dass ich mal was von dir wollte, aber wir nie zusammen waren und auch nicht sind. Jedenfalls hat er dann gesagt, dass du schweinegeil aussehen würdest!«

Ich musste kurz tief Luft holen und einmal schlucken.

»Stimmt das?«

»Klar, denkst du, ich würde dich damit verarschen, Martin?«

»Aber du hast doch gesagt, er wär nicht so.«

»Das hätte ich auch nie im Leben gedacht. Jedenfalls habe ich ihn dann noch gefragt, ob es sein kann, dass er ein bisschen bi ist.«

»Und was hat er gesagt?«, fragte ich wie aus der Pistole geschossen.

»Kann sein ... glaub schon!«

»Das hat er gesagt?«

»Ja das hat er gesagt. Aber ich denke, du kommst an ihn nicht ran. Dafür liebt er Eva viel zu sehr.«

»Nicht mal n Kuss?«, fragte ich Nine mit Hundeblick.

»Ach, keine Ahnung und deinen Hundeblick heb dir lieber für ihn auf. Ich will jetzt schlafen!«

Sie drehte sich um, nahm noch einen Schluck O-Saft, der auf meinem Tisch stand, und schlief ein. Sie ließ mich einfach stehen mit meinen ganzen Gedanken, die ich momentan hatte, und irgendwie auch nicht wagte, an meine Gedanken zu denken. Ich wollte mir nicht schon wieder was vormachen. Nicht wieder irgendwelche Situationen ausmalen, die passieren könnten, doch es half nichts, sie waren da. Schließlich schaffte ich es doch einzuschlafen ...

»Mensch nun wach schon endlich auf, die Sonne scheint es ist ein herrlicher Tag!«

»Hmmm, lass mich in Ruhe!«

»Nun steh auf Martin! Du hast genug gepennt!«

»Oh, es ist viel zu früh!«

»Sag mal spinnst du? Wir habens viertel 12. Aufstehen jetzt!«

Und dann merkte ich nur noch die Decke, nein ich merkte sie nicht mehr, denn sie war weg. Es war eindeutig, manchmal gab es Zeiten, in denen Nine mir auf den Geist ging.

»Mensch, wir können doch heute Christian besuchen!«

»Wer ist ... CHRISTIAN??? Ja das können wir machen. Meinste, der hat nichts dagegen, wenn ich mitkomme?«

»Ach Quatsch. Der hat dich gern!«

»Der kennt mich doch gar nicht.«

»Aber trotzdem. Das hat er mir im Auto auch gesagt.«

»Das er mich nicht kennt?«

»Quatsch, dass er dich gern hat. Mensch du hast ja noch das Kopfkissen im Gesicht, jetzt spring unter die Dusche. Wenn Christian dich so sieht, dann ändert er wohl seine Meinung noch.«

Dieser Satz reichte, um der Müdigkeit keine Chance zu geben. Ich sprang auf, nahm mir frische Klamotten aus dem Schrank, ab unter die Dusche, denn wenn ich etwas nicht wollte, dann war es Christian nicht mehr zu gefallen. Und wieder fiel mir auf, dass das alles wieder nur Vorstellungen waren, an denen ich festhielt. Wer weiß schon, ob das was werden würde und ich glaube kaum, dass man eine 5-monatige Beziehung einfach so wegwirft. OK, fünf Monate sind nicht gerade lang, aber auch nicht unbedingt kurz – schließlich fast ein halbes Jahr.

Nach dem Duschen machte ich mir die Haare zurecht und schlüpfte in meine Schuhe.

»Ich habe gerade mit Christian telefoniert«, sagte Nine mit einem Grinsen auf den Wangen.

»Und?«, fragte ich, wobei ich mir die Schuhe zuband.

»Er würde dich auch küssen!«

Ich schaute auf zu ihr, ließ die Schnürsenkel fallen, lehnte meine Arme auf meine Knie und schaute sie fragend an.

»Na ja, du hast doch gefragt, ob wenigstens ein Kuss bei rumkommt. Und ich habe ihn gerade am Telefon gefragt, ob er das machen würde.«

Ganz verwirrt schaute ich sie an. Ich wusste nicht, ob ich nun auf sie wütend oder ob ich ihr zu ewigem Dank verpflichtet sein sollte.

»Erzähl!!!«, forderte ich sie auf.

»Also ich habe gesagt, dass du ihn gern mal küssen würdest und da hat er sich voll gefreut und gesagt, dass er das auch gern machen würde. Dann hab ich noch gesagt, dass du die ganze Zeit von ihm redest, und das fand er voll süß von dir.«

»Nine, sei froh, dass das gut ausgegangen ist, sonst hätte ich dich getötet.«

Sie grinste und wir fuhren los Richtung Christian. Ich wusste gar nicht, wie ich ihm nun gegenüberstehen sollte. Sollte ich ihm nur die Hand zur Begrüßung geben oder sollte ich ihn in den Arm nehmen? Sollte ich die ganze Zeit ganz normal zu ihm sein, oder sollte ich so mit ihm sprechen, als ob wir verliebt wären? Ich entschloss mich dazu, erst einmal abzuwarten. Wird sich schon noch alles ergeben.

»Wir sind gleich da!«

Nines Satz war nicht zu überhören. Auf einmal war alles, was ich mir vornahm, wie weggeblasen. Wie sollte ich mich verhalten? Was sollte ich sagen? Mensch Martin, reiß dich zusammen. Er ist ein stinknormaler Junge, der auch noch ne Freundin hat und dich nur einmal küssen möchte. Andererseits, ist er ein stinknormaler voll niedlicher Junge, der zwar ne Freundin hat, sie aber mit mir betrügen würde. Noch dazu bin ich der erste Junge, bei dem er den Gedanken gehabt hatte! Ich glaube ich sollte die letzteren Gedanken schnellstens wieder aufgeben.

»Willst du nicht aussteigen?«

Erschrocken sah ich zu Nine. Sie stand vor meiner Autotür, die Hände in den Hüften gestützt und den Kopf leicht schief angewinkelt.

»Ich bin schon so weit, bin schon so gut wie draußen.«

Zusammen gingen wir vom Parkplatz bis zum nächstgelegenden Gebäude, das eine Art Restaurant und Hotel zugleich war.

»Haben seine Eltern ein Hotel?«

»Nein, er macht hier seine Ausbildung zum Koch, zusammen mit nem Kumpel. Die teilen sich hier ein Zimmer.«

Nine klopfte an dem linken von den zwei Fenstern, die genau auf ihr Auto gerichtet waren.

»Ich komme!«

Ich schaute erschrocken, ich weiß nicht, ob ich rot wurde oder nicht, jedenfalls strich mir Nine über die Schulter.

Links neben den Fenstern war ein Tor aus Holz. Sie ging auf und Christian kam zum Vorschein.

»Hey, wie denn? Wie denn?«, sagte er und nahm Janine in den Arm. Er gab mir die Hand und bat uns herein. Ein kleines Stück über einen Hof, dann gleich rechts in die nächste Tür. In der Waschküche wieder rechts. Ein mittelgroßes Zimmer. Auf der rechten Seite standen zwei Betten hintereinander, die die gesamte Länge des Zimmers einnahmen. Geradeaus ein Fernseher auf einem Fernsehtisch aus Holz, davor eine Play Station. Auf der linken Seite ein großer Kleiderschrank, daneben ein kleinerer Schrank und daneben ein weißer Tisch, der den Platz zwischen dem kleinen Schrank und dem Fernsehtisch füllte. Daneben noch ein Sessel, der mehr als im Arsch war.

»Setzt euch!«, forderte Christian uns auf. Nine, die ja nicht das erste mal hier war, setzte sich auf, wie ich später erfuhr, sein Bett und ich daneben. Christian schob den Sessel etwas zurecht und setzte sich vor uns. Er griff nach seinen Zigaretten, die auf einem kleinen Nachtschrank gleich neben seinem Bett lagen. Auch ich holte meine raus und steckte mir eine an. So hatte man wenigstens etwas zu tun und saß nicht wie blöde da.

Ich merkte, dass auch für Christian die Situation etwas unberechenbar war, er zitterte ein bisschen mit den Händen. Und von Kälte konnte in dem Augenblick nicht die Rede sein.

Nine begann das Gespräch mit »Und wie geht's?«. Ich schaute Christian die ganze Zeit an und lauschte seinen Worten. Er gefiel mir immer besser. Er hatte so eine tolle Art zu reden und auch seine Gestikulation wirkte auf mich äußerst positiv. Ab und an machte er immer so süße Gestiken mit seinem Gesicht; wenn er etwas nicht glauben konnte, hob er die Augenbrauen und schaute immer so geschockt, wenn er nachdachte, dann immer mit dem Blick nach oben. Ich bekam immer mehr mit, was für eine tolle Einstellung er doch hatte. Ich war, auch wenn ich es nicht sagte, immer seiner Meinung. Man kann aber trotzdem nicht sagen, dass er wie ich ist. Nein eigentlich ist er überhaupt nicht wie ich. Er ist immer voll ruhig und ich bin meistens immer so - ja, unruhig. Dennoch war es ganz spaßig, hier bei ihm zu sitzen und mit ihm und Nine über tausend Dinge zu reden. Es kam vor, dass er mich ansah und angrinste, aber zu dem ersehnten Kuss kam es dann doch nicht.

Es war schon reichlich spät, als Nine und ich zu mir nach Hause kamen. Wir gingen gleich hoch zu mir ins Zimmer, wo André und Sandra saßen, eine rauchten und sich ein Video anschauten. Ich staunte nicht schlecht, als ich das sah, denn so was kam höchst selten vor.

»Na wo kommen wir denn jetzt erst her?«, fragte Sandra, die es sich auf meinem Bett bequem gemacht hatte.

»Na, was macht ihr beide denn hier?«, fragte ich neckisch zurück.

André hatte es sich auf meiner Couch bequem gemacht, doch er rückte ein Stück, als sich Nine zu ihm niederließ nachdem sie Sandra die Hand gegeben hatte.

»Wir gucken einen Video. Irgendwas mit dem Tod, der einen neuen Plan für die Leute hat ... « sie stockte kurz. »Ach frag mich nicht worum es geht, ich komme da nicht so ganz mit. André wollte den gucken.« Ich setzte mich zu Sandra mit aufs Bett und schaute zum Fernseher. Als ich Devon Sawa sah, wusste ich gleich, dass es 'Final Destination' war, den die beiden schauten, denn das war der einzige Film, in dem er mitwirkte und den ich in meinem Besitz hatte.

Ich versuchte einige Zeit meiner Mutter diesen Film zu erklären. Er war nicht gerade gruselig oder brutal oder so, nein, ich fand ihn so "schlimm", weil er halt diesen Realitätsgedanken mit sich bringt, der dazu auch noch über den Tod handelt.

»Wieso schaut ihr nicht in der Stube?«, fragte ich in den Raum, nachdem ich es aufgab, Sandra den Film zu erklären.

»Ach, Frank guckt unten Fußsball. Nicht gerade interessant!«

Ich beschloss dieser Frage, warum die beiden ausgerechnet heute diesen Film bei mir im Zimmer gucken mussten, nicht weiter nachzugehen. Sonst häkelte Sandra immer, wenn Fußball lief oder las ihre geliebte Tina oder Laura Zeitschrift, in denen ich immer die Psychotests machte und grundsätzlich bei der Auswertung immer die goldene Mitte erwischte.

Sandra setzte sich an den Rand meines Bettes, so dass sie den Tisch erreichen konnte, der vor meiner blauen Couch stand. Sie nahm ihre Zigaretten vom diesem und zündete sich erneut eine an. Ich ging zu meinem Fenster und kippte es an, denn es gab nichts Schlimmeres als Nikotinnebel im Zimmer. André regte sich immer so auf, wenn ich das sagte, da ich ja selber rauche, aber das geht mir halt voll auf den Kranz. Eigentlich wartete ich ja auf ein blödes Kommentar von ihm, aber das blieb aus, bis ich mich wieder aufs Bett setzte.

»Na, stört dich wieder der Nikotinnebel?«, fragte er zynisch.

»Ja er stört mich! Denn ... «

Und dann begann eine unaufhaltsame Diskussion, die vom Rauchen über Schule (dieses Thema hasste ich besonders) bis hin zu Beziehungskisten ging. Eigentlich bekam nun keiner mehr so genau was vom Film mit, denn alle waren heftigst am diskutieren. Am lustigsten fand ich Nine, die sich mit André über das Thema "Fremdgehen in der Beziehung" unterhielt und dabei so in Rage geriet, dass sie wie eine Wilde mit ihren Armen und Beinen ihre Sätze zu unterstreichen schien. Ich hatte schon lange nicht mehr so unbeschwert und herzlichst lachen können wie diesen Abend.

Am nächsten Morgen, es war ein Freitag, planten Nine und ich den heutigen Abend. Na ja, was heißt planen, wir beschlossen halt, wie jeden Freitag und Samstag, in unsere Stammdisko zu fahren. Also konnte wohl von planen nicht so richtig die Rede sein.

Der Tag verlief weniger turbulent, ich musste mich nur sehr mit Lachen zurückhalten, als André Nine das Wort "Fremdgeherin" vor den Kopf knallte und sie wie eine Bekloppte hinter ihm her rannte, während dann mein Handy klingelte.

»Ja?«

»Hi Klener, ich bins Nicki!« Junge, die Frau hatte ein Organ. Die könnte man auch ohne Telefon hören, würde sie Kosten sparen. Ich grinste.

»Hi Nicki, was geht?«

»Ja heute Disko oder was?«

»Ja klar heute Disko.«

»Sag mal, kannst du probieren Nine irgendwie zu erreichen? Sie geht nicht ans Handy.«

»Ach so, ne! Die ist bei mir. Das Handy liegt bestimmt noch im Auto. Aber sie kommt auf jeden Fall mit.«

»Ach die ist bei dir? Wusste ich gar nicht. OK, dann hat sich das ja erledigt. Soll ich euch abholen?«

»Ja das wär supi. Wann biste denn da?«

»Ja denke mal, dass ich so um 11 bei euch sein werde.«

»Also halb 12?«, fragte ich neckisch.

»Wieso halb 12? Um 11, Junge!«

»Mensch Nicki, wenn du sagst, du bist um 11 hier, dann wird's sowieso immer halb 12!«

»Ha ha. Scherzkeks! Hast wohl nen Caspar gefrühstückt! Ne bin um elf da.«

»Alles klar«, sprach ich in das Telefon. »Kommt Basti auch mit?«

»Ja, der muss morgen erst um 10 anfangen mit Arbeiten. Der kommt mit. OK, sehen uns dann Klener.«

»Yau. Hau rin!«

»Ja ja, du mich auch«, sagte Nicki lachend, bevor sie auflegte.

Auch ich lachte, wobei ich auf mein Handy sah und wollte Nine Bescheid sagen, als mir auffiel, dass sie gar nicht in Reichweite war. Ich konnte mir schon denken, wo ich sie fand. Bestimmt bei André. Ich ging die Treppe runter und da stand sie auch schon, wild klopfend vor Andrés Zimmertür.

»Lass mich jetzt rein André! Ich bin keine Fremdgeherin! Du feiger Idiot, mach die Tür auf.«, hörte ich sie schreien. André stichelte sie weiter, bis sie schließlich zur Besinnung kam und mit mir in die Küche ging, wo wir uns ne Pizza machten. André lief ihr, Gott sei Dank, nun nicht mehr über den Weg.

»Ach, bevor ichs vergesse. Nicki hat angerufen. Sie nimmt uns heute mit inne Disko!«

»Echt? Super! Wann hat se denn angerufen?«

»Während du Andrés Zimmertür eingeschlagen hast!«, sagte ich, wobei ich sie anschaute und meine Augenbrauen hochzog.

»Ich wollte mich nur verteidigen!«, bekam ich zur Antwort, wobei sie gerade einen weiteren Bissen von der Salami Pizza nahm. »Wann isse denn hier?«

Ich überlegte kurz. »Halb 12 isse da!«

»Also um 12?«, fragte Nine.

»Ne, ne! Hab schon hochgerechnet.«

Wir sahen uns an und fingen zu lachen an.

Der Tag neigte sich dem Ende zu und um halb 11 fingen wir an, uns diskofertig zu machen. Eine Stunde reichte meist für uns beide. Das Schlimmste war immer die Frage 'WAS ZIEH ICH AN?'. Als das geklärt war, kam für mich die große Frage 'WELCHE FRISUR?'. Nine trug ihre schulterlangen braunen Haare meist offen oder befestigte kleine Spangen in verschiedenen Formen, wie Blümchen oder Schmetterlinge, seitlich an ihren Haaren. Ich kämmte meist meine Haare alle nach vorn und wuschelte den Pony etwas oder zog ihn gerade lang. Oder ich ließ die Haare seitlich abstehen. Die Seiten hochzugelen hatte ich schon lange aufgegeben, denn es sah immer so aus, als habe man ein Vogelnest auf dem Kopf. Ich entschied mich fürs Erstere, ich fand, das stand mir auch am besten. OK, viertel 12! Letzter Rundumcheck. Ich sah Nine an. Rote Freeman-T-Porter Hose, weises Top und eine rot-weiße Jacke drüber. Einverstanden. Haare OK.

»Super!«, sagte ich und sie grinste. »Und ich?«

Sie schaute auf meine blauglänzende Rockhose von Cordon weiter hoch zu meinem schwarzen T-Shirt mit der Flamme drauf bis zu meiner Freeman-T-Porter Neoprenjacke.

»Alles bestens. Aber warte mal«, sagte sie, als sie in ihrem Schminkkoffer wühlte.

»Komm jetzt bloß nicht auf den Gedanken, mich schminken zu wollen. Puder oder Make-Up sind ja ok gegen Pickel und so, doch das reicht«, sagte ich.

»Mensch vertrau mir«, sagte sie und kam mit einem kleinen schwarzen Stift mit silberner Kappe an.

»So, Augen auf und schau nach oben.« OK, ich tat es und war sehr gespannt auf das Ergebnis. Ich mein, wenns Scheiße aussieht, dann kann man es doch immer noch weg machen.

Sie zog etwas unter meinen beiden Augen und malte mir fast im Auge herum.

»So jetzt schau mal in den Spiegel«, sagte sie, wobei sie die eine Hand in ihre Hüfte stützte und mit der anderen den Stift hielt, auf dem sie ein bisschen herumbiss und mich fachmännisch ansah. Ich schaute in den Spiegel und war auch gar nicht so abgeneigt.

»Der Kajal betont deine Augen mehr. Sieht besser aus und fällt auch nicht unbedingt gleich Jeden auf.«

Ich musste zugeben, es sah wirklich nicht schlecht aus.

Wir hatten uns gerade eine Zigi angemacht, als es auch schon klingelte und Nicki vor der Tür stand. Wir hatten es punkt halb 12!

Wir gingen die Treppen runter, umarmten Nicki zur Begrüßung, grüßten Basti und stiegen mit einem fetten Grinsen ins Auto ein.

»Ja ja ich weiß, wir habens halb 12!«

»Was kann ich denn dafür, wenn es länger dauert?«, sagte Nicki, wobei sie von mir und Nine begleitet wurde. Denn diesen Spruch kannten wir bereits mehr als gut. Nicki begann zu lachen. »Ihr seid doof.«

In der Disko angekommen, trafen wir überraschenderweise Emely, die normalerweise äußerst selten hier anzutreffen war. Wir stellten uns zu ihr.

»Mit wem bist du denn da?«, fragte ich sie, wobei ich sehr laut sprechen musste um die Musik (Es lief gerade "The Night" von Jan Wayne) zu übertönen.

»Bin mit Denise hier. Einer ihrer Kumpel hat uns mitgenommen.«

Ein paar Zigaretten und Unterhaltungen später beschloss ich meinerseits mal ne Runde zu gehen. Man sah die üblichen Gesichter genau wie jedes Wochenende und wieder waren auch die Eisernen Jungfrauen da. Wir nannten sie so, weil sie immer pünktlich um 21 Uhr hier sind und bis fast zum Schluss immer an der gleichen Stelle stehen, es sei denn, sie müssen mal aufs Klo. Komischerweise tragen sie auch immer dasselbe und ziehen immer dasselbe mürrische Gesicht. Mir war klar, dass sie mich auch vom Sehen her kannten und so machte ich mir meine Gedanken, wie sie mich vielleicht nannten.

»HEY!«

Steif vor Schreck drehte ich mich langsam um.

»Na wie geht's dir?«

»Christian! Hi! Ja es geht gut und selbst?«

Vor mir stand Christian und neben ihm stand Eva. Sie grinste mich an und nahm mich zur Begrüßung in den Arm. Anscheinend hatten die beiden gerade Stress, denn sie sprachen nicht gerade oft miteinander, geschweige denn, dass Eva Christian mal NETT ansah!

»Hey, kommste mit und stellst dich zu uns? Ich will dir n paar Leute vorstellen!«

Wie konnte ich das Angebot nun noch ablehnen? Noch dazu, wo es doch von Christian kam.

Ich ging hinter ihnen her. Sie standen also bei dem Eingang zum großen Podest, auf dem die zwei Käfige standen.

»Hey, das ist Marco!«

»Hi!«, sagte ich und schaute etwas hinauf, denn trotz meiner Bufallos war ich bei Weitem noch nicht groß genug, um Marco in die Augen sehen zu können.

»Er ist mein Zimmernachbar!«, fügte Christian hinzu.

»Ach du bist derjenige welche?«, fragte ich Marco.

»Ja genau der bin ich, Mann! Warst wohl schon bei uns wa?«

»Ja mit Janine. Wir haben Christian besucht!«

»Ach alles klar, der Martin bist du!«

Der Martin bin ich also. Wüsste gern mal, was Christian schon so über mich erzählt hat. Doch bevor ich darüber lange nachdenken konnte, wurden mir noch Charly (der Bruder von Eva, mit dem Nine mal zusammengewesen war, wie ich diesen Abend erfuhr), Maike, Thomas, Kathrin, Jessica und noch son paar vorgestellt. Ich freute mich voll, so viel neue Leute auf einmal kennenzulernen, nur das Komische war, dass ich diese hier noch nie gesehen hatte, obwohl sich rausstellte, dass sie auch fast jeden Freitag oder Samstag da seien.

»Hey Martin, kommst du mal mit ne Runde?« Eva sah mich mit einem merkwürdigen Blick an. Es wunderte mich, dass sie, obwohl sie mich fast nicht kannte, gleich mit mir ne Runde gehen wollte.

Wir suchten uns ein ruhiges Plätzchen.

»Ganz schön voll heut wa?«, begann Eva.

»Ja, normalerweise ists leerer.«

»Ja, das kotzt mich sowieso hier alles an momentan.«

Wir sahen uns an und lehnten uns seitlich zueinanderschauend an die Wand, vor der wir standen. Sie machte ihren Zopf raus, der hinten einfach zusammengebunden war, und schüttelte ihre blonden Haare. Ich weiß nicht genau ob die langen blonden Haare der Auslöser war, aber erst jetzt bemerkte ich, wie niedlich sie eigentlich war. Sie hatte ein total hübsches Gesicht, OK man kann sagen, dass sie ein oder zwei Kilo zu viel drauf hat, doch es steht ihr, wenn man das so sagen kann.

»Voll Scheiße alles!«, begann sie weiterzureden, nachdem sie ihren Zopf neu gebunden hatte.

»Mensch Eva, ich kenn dich zwar noch nicht lange, aber ich dachte du wärst ein Partymensch. Wassn los?«, fragte ich sie.

»Ach hör mir auf. Christian ey, der kann mich mal.«

Ich schaute verdutzt drein. Also doch Stress!

»Was ist denn mit Christian?«

»Ach habe heute erfahren, dass er sich mit ner anderen rumgeleckt hat und das nun schon zum zweiten Mal. Ich habe kein Bock mehr darauf!«

Jetzt stand ich wie ne Kuh vorm Scheunentor. Was sollte ich jetzt sagen? Ich kannte die beiden viel zu wenig, um mein Statement dazu abzugeben, noch dazu kam hinzu, dass Christian und ich ja nun auch irgendwie am Anbahnen waren, von wegen küssen und so, und ich wollte mir das - Eva in allen Ehren - mit ihm nun wirklich nicht entgehen lassen.

»Sowas ist natürlich hart. Aber mehr war doch nicht oder?«, versuchte ich mich nun zu retten.

»Ach weiß ich nicht. Weiß nur, dass die beiden sich rumgeleckt haben. Aber das reicht ja eigentlich schon oder nicht?«

»Ja irgendwie schon. Wär auch sauer wenn sich mein Freund ... « Eva sah mich an. »Freundin meinst du wohl?«

Ich fasste mir an den Kopf. »Klar, Freundin, mit nem anderen rumlecken würde.«

Eva sah mich an. »Du würdest so was bestimmt nicht tun!«

Ich lachte. »Wie kommst du denn darauf?«

»Du hast so treue Augen. Das ist mir schon aufgefallen, als wir uns kennenlernten. Ich glaube nicht, dass du jemals ein Mädchen betrügen könntest. Bist bestimmt ein ganz Lieber.«

»Da irrst du dich aber gewaltig. Ich hatte mal ne Freundin, die habe ich 7 mal betrogen.« Ich dachte zurück an Carmen, die ich schon fast vergessen hatte. Ich war damals mit ihr zusammen, um von meiner, ich nenne es mal, "Neigung" abzulenken. Ich habe schon lange nicht mehr von ihr geredet oder an sie gedacht, erst jetzt viel sie mir plötzlich wieder ein. Und mir fiel auch ein, dass ich damals vielleicht wirklich so etwas wie "Liebe" zu ihr gespürt hatte.

»7 mal???«, fragte Eva verwirrt?

»Ja aber nur, weil ich von ihr nicht mehr bekommen habe, was ich brauchte.«

Eva sah mich mit großen Augen an und band ihren Zopf nun schon zum zweiten Mal neu.

»Nein, das hat mit Sex jetzt nichts zu tun. Es war die Nähe und das Gefühl begehrt zu werden, was sie mir nicht mehr gab. Ich habe mit den 7 Mädels nicht geschlafen, halt auch nur rumgeleckt.«

»Ach so. Aber das kann bei Christian nicht der Grund sein, warum er mir das schon wieder antat. Erst gestern kam er zu mir und ich habe vorher Kerzen im ganzen Zimmer verteilt und Kuschelmusik reingemacht, um ihn zu überraschen und was macht er?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ja er hat das Licht angemacht und ne Schranz CD in den Player geworfen. Fand ich wirklich toll!«

»Echt? Ey ich würd das voll toll finden, wenn meine Freundin das für mich machen würde.«

»Ja ich dachte ja auch, dass ers mag, aber wenn er meint ... du Martin, lass uns mal wieder zu den anderen gehen, ja?«

»Kein Problem.«

Sie nahm meine Hand und wir gingen zu den anderen zurück. Ich sah, dass Nine nun auch bei uns stand, schließlich kannte sie die ja alle. Ich ging zu ihr und machte mir ne Zigi an.

»Scheinst dich mit Evchen wohl gut zu verstehen oder?«

»Ja, ich mag sie ganz gern. Sie hat Probleme mit Christian.«

»Ja, hab schon gehört, von wegen rumlecken und so. Du, ich hab Christian den Autoschlüssel von Nicki gegeben. Ich hab zu ihm gesagt, dass er dich ansprechen soll, wenn ihr beide mal kurz weg wollt. Du weist was ich meine!«

Nine grinste und boxte mir leicht gegen die Schulter. Ich grinste und war höllisch froh, dass sie nicht mir den Schlüssel gab. Ich hätte mich garantiert nicht getraut, irgendwelche Anstalten zu machen.

'Babadeng' von Re-flex? Hey jetzt muss ich auch aufs Podest. Ich betrat gerade mal die erste Stufe, als mich jemand rief. Ich drehte mich um und sah ein Mädel, mit langen braunen Haaren mich angrinsen. Ein sehr süßes Grinsen, wie ich feststellen musste, denn ich liebte es, wenn man beim Lachen Grübchen hat. Ich ging wieder runter.

Ich überlegte kurz, wie sie noch gleich hieß, denn sie wurde mir vorhin schon von Christian vorgestellt.

»Jessica?«

»Richtig. Hier stimmt das, dass du dich mit Christian rumlecken willst?«

Ohhh, Scheiße! Eigentlich wollte ich ja gar nicht, dass die das wissen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Nine so was weitertratschen würde, aber was brachte es, das abzustreiten, wenn sies eh irgendwann rausbekamen.

»Na ja, das kam ja nicht von mir allein, er will das ja auch!«

»Ja, ja ich weiß. Er hat es mir ja erzählt. Ich find das so was von süß!«, sagte sie und strich mir über die Schulter.

»Er hats dir erzählt?« Das konnte ich nur als positiv werten, denn wenn es ihm peinlich wär, dann hätte er es bestimmt nicht gleich erzählt. Also musste er ja auch auf irgendeine Art stolz darauf sein, dass er sich mit mir rumlecken würde.

»Evchen weiß es auch schon!«

Ich schaute Jessica ernst an, wobei ich mir auf die Lippen biss.

»Keine Angst. Sie ist nicht sauer auf dich. Liegt daran, dass du n Junge bist. Das findet sie nicht so schlimm«, sagte sie und ging zu Marco, dem Zimmernachbarn von Christian.

Ich schaute noch etwas verwirrt umher, bis ich auf Christian stieß. Er sah mich an und grinste. Ich grinste zurück. Er kam zu mir.

»Na alles klar?«

»J...Ja. Alles im grünen Bereich.«

Wir standen nebeneinander ohne das nun noch irgendwer von uns beiden auch nur ein Ton sagte. Ich nehme an, wir dachten beide das Gleiche: Wollen wir?? Aber keiner traute sich zu fragen. Nine kam dazu.

»Mensch nun haut schon ab. Ab mit euch ins Auto und viel Spaß!«

Das war mir jetzt höllisch peinlich. Christian genauso, denn auch er tat so, als hätte er es überhört.

Ich meinerseits ging nun erst mal wieder zu Emely, die immernoch da stand, wo ich sie verlassen hatte.

»Auch mal wieder da?«

»Ja, ich habe Christian und Eva getroffen. Die haben mir n paar Leute vorgestellt.«

»Ach wirklich?«

»Ja auf jeden Fall! Voll die supernetten Leute, OK, ich kenne sie erst seit heute, aber ... «

»Stimmt!« Emely nahm ihr Water Joe vom Tisch, kippte den Verschluss nach oben und trank zwei Schlücke. »Zu Anfang sind se alle nett und dann ... ja dann kommt das große Erwachen«, sagte sie, stellte den Water Joe wieder auf den Tisch und tanzte auf der Stelle.

Darüber hatte ich kein Bock nachzudenken, nicht heute. Ich ging zurück zu Nine. Christian stand immer noch da, als ich kam, grinste er mich an.

»Na alles klar?«

»Bestens, bestens.«

Ich schaute ihn an.

»Sag mal, Nine pennt heute bei mir. Willst du denn nicht auch mit zu mir kommen?« schoss es wie aus der Pistole aus mir heraus ohne nachzudenken.

»Klar. Gern! Wird bestimmt lustig!«

Und das hoffte ich auch. Ich fragte Nicki, ob sie ihn noch mitnehmen kann. Natürlich war das kein Prob, so wie sie es nannte. Ich sagte Nine Bescheid, die mir nur ein Zwinkern zuwarf. Ich konnte es kaum erwarten, endlich zu Hause zu sein, mit Christian.

Den restlichen Abend, ich sollte wohl besser Nacht oder auch Morgen sagen, war dann noch voll geil gewesen. Party bis zum bitteren Ende, immer den Gedanken an später gerichtet, tanzte ich sogar auf der Box. Christian staunte nicht schlecht, als er das sah. Hatte schon was eine Go Go Tänzerin in seiner Klasse zu haben, die einem im Bio Unterricht gewisse Tanztechniken beibringen kann. Nicki kam hoch zu mir und zusammen ließen wir die Sau raus. Wir beide sind auch schon so ein eingespieltes Team, wenn es ums Tanzen geht.

Später schickte Nicki all ihre Mitfahrer zum Ausgang. Als wir vollzählig waren, gings nun ab nach Hause. Nine und Christian mit zu mir und sie und ihr Basti zu ihm. Wir verabschiedeten uns von den beiden und gingen rein.

»Hier wohnst du?«, fragte Christian staunend.

»Ja schon seit anderthalb Jahren«, sagte ich und erinnerte mich, wie ich damals dieses Haus angesehen habe, als ich mit Sandra das erste Mal hier war. Auch ich war ganz hin und weg. Es ist nun mal schön und macht auch ganz schön was her.

Wir gingen die beiden Treppen hoch in mein Zimmer.

»So, das ist mein Reich«, sagte ich zu Christian. Nine setzte sich gleich aufs Bett. Schön, dass sie für mich und meinen Kleinen die Couch übrig ließ.

»Gefällt gefällt«, sagte er.

»Setz dich doch. Was trinken?«

Er setzte sich auf die Couch. »Klar, wär toll!«

Ich holte eine Packung O-Saft und goß ihm, Nine und mir was ein.

»Was machen wir denn jetzt noch?«, fragte ich und zündete mir eine an.

»Also ich mache nicht mehr viel. Ich lege mich ins Bett und werde erst morgen ... « Sie schaute auf die Uhr. »Sorry ... nachher wieder aufstehen. Aber ich rauch mit dir noch eine.« Auch Christian machte sich noch eine an. Ich schüttete uns den O-Saft ein und öffnete mein Fenster auf Kippe. Christian zog sich die Schuhe aus und setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa. Ich setzte mich neben ihn.

»War ganz gut heute, wa?«, fragte Nine in den Raum und trank einen Schluck.

»Ich fands auch ganz gut«, sagte ich und lehnte mich gegen die Lehne.

»Ja war nicht schlecht. Aber du warst heute gar nicht tanzen, Nine«, sagte der Kleine.

»Ach, hatte kein Bock heute. Aber die Musik war gut aufgelegt ... «

So laberten wir noch ne Zeit, bis sich Nine schließlich zudeckte, uns einen guten Morgen wünschte und einschlief. Christian und ich klappten die Couch aus, legten ne Decke drauf und machten es uns gemütlich.

»Wollen wa noch n Video schaun?«, fragte ich ihn. Ich fands sehr doof, dass er von 'Harte Jungs' nicht abzubringen war, denn diesen Film kannte ich schon beinahe auswendig. Aber gut. Ich legte ihn rein und kroch zurück unter die Decke zu ihm. Da lagen wir dann, keiner sagte ein Wort. Gelegendlich rauchten wir mal eine oder tranken einen Schluck. Ich wusste, dass er es wollte und ich wusste auch, dass er wusste, dass ich es will, nur es traute sich keiner. Es hört sich bestimmt bescheuert an, dass sich keiner traute, obwohl wir wussten, dass wir es wollen, doch da ist immer dieser Zweifel, der nicht aus dem Weg zu räumen ist. Noch dazu hatte er ja noch nie einen Jungen geküsst. Wenn ich es jetzt einfach machen würde, was würde dann passieren?

Der Film war zu Ende und es ist nichts passiert. Wir schauten den zweiten Film, nicht um ihn zu gucken, sondern um die Zeit zu überbrücken, bis es endlich so weit war. Schließlich begann ich mich aufzuraffen und ihm einen Text ins Handy zu schreiben.

»Traust du dich auch nicht?«

Er nahm das Handy und las die Nachricht. Er verzog keine Miene und schrieb einfach zurück.

»Nein, es ist auch nicht gerade einfach!«

Das konnte ich ihm gut glauben. So ungefähr wusste ich noch, wie es ist, kurz davor zu stehen, einen Jungen zum ersten Mal zu küssen. Es ist wirklich nicht einfach, auch wenn man weiß, dass er es will. Ich denke mal, es kommt immernoch daher, dass es noch immer als "unnormal" gilt. Doch so stellt man sich doch die Frage, was daran schlimm ist, wenn sich zwei Menschen lieben? OK, es war keine Liebe, die uns verband, von ihm aus war es Neugierde und von mir aus ... ja was war es von mir aus? War es Liebe? Oder war es gute Freundschaft oder war es einfach das Verlangen, dass mich zu dieser Tat trieb. Ich glaub, es war eindeutig das Gefühl begehrt zu werden, dass er mir vermittelte.

»Ich kann das gut verstehen. Hast du Angst?«, schrieb ich schließlich zurück.

»Ja irgendwie schon. Schließlich hab ich ja noch nie, du weist schon.«

Unsere Unterhaltung per Text Nachricht zog sich noch etwas in die Länge. Er fragte mich, woher man weiß, ob es einem gefällt und wie es bei mir war. Ich merkte deutlich, dass er sehr neugierig war und das er bereits wusste, dass es ihm gefallen würde. Aber er wollte es nicht zugeben, halt weil es "unnormal" ist.

»Wollen wir?«, fragte dann ausgerechnet er.

»OK, soll ich anfangen?«

»Wär nett. Du hast schon Erfahrung. Aber habe keine Angst vor meiner Reaktion!«

»Wieso? Willst du mir eine klatschen?«

»Nein, ich könnte dir nie weh tun! Wollen wir jetzt?«

Dieser Satz gab mir nun das Gefühl von Sicherheit. Nicht das ich wirklich glaubte, er wollte mir wirklich eine klatschen, aber dieser Satz gab mir Mut.

»OK, dann leg das Handy auf den Tisch.«

Er legte es auf den Tisch. Ich sah ihm tief in seine blauen Augen. Sie strahlten geradezu vor Neugier und Verlangen. Ein kleines bisschen Angst war drin zu sehen, doch das verschwand, als ich ihn anlächelte und immre näher kam. Ich schloss meine Augen, unsere Lippen berührten sich. Ganz gefühlvoll strich er mir mit seiner Hand über meinen Kopf. Wenn Elefanten fliegen könnten, dann hätte ich die im Bauch gehabt, denn ihn zu küssen;, es war einfach wunderschön.

Er umkreiste meine Zunge mit seiner, erst langsam und dann immer schneller. Ich wünschte dieser Moment würde ewig halten, doch er verflog einfach. Ich schaute ihn an.

»Was ist denn?«, fragt er.

»Das wollte ich dich gerade fragen. Wie wars?«

»Es war wunderschön. Echt!«

Ich grinste ihn an und wir rauchten eine. Arm in Arm schliefen wir ein.

Die Zimmertür flog knallend auf.

»Aufstehen!!!«, sprachs.

Schlaftrunken schaute ich zum Ruhestörer, der sich als André entpuppte.

»Halt die Schnauze André!«, sagte Nine und stülpte sich das Kopfkissen über ihre Ohren. Christian drehte sich von mir zur Wandseite um und mummelte sich in die Decke ein.

»Was los ihr Diskofreaks? Zu viel gesoffen oder was?«

Ich setzte mich auf, deckte Christian zu und machte mir ne Zigarette an.

»Gesoffen? Wir haben gar nicht gesoffen. Ist halt noch zu früh, Mensch!«, sagte ich genervt.

»Zu früh ja? Wir habens viertel drei!«

Ich schaute geradeaus zur Uhr, die über meinem Schreibtisch hing.

»Oh, stimmt ja.«

André stand immer noch wie angewurzelt an der aufgeschlagenen Tür.

»Mensch André, jetzt setzt dich her oder mach die Tür von außen zu, du machst mich ja ganz blöd im Kopf!«

»Ja ja schon klar.«

Er setzte sich zu mir aufs Sofa.

»Wer ist denn das neben dir?«

Ich drehte mich um. »Das ist Christian!«

»Neuer Freund?«, fragte André mit einem Ich-freu-mich-für-dich-Lächeln.

»Nein ... nein ... nein«, sagte ich vor mich hin.

»Hättest ihn aber gern oder? Komm schon! Das seh ich dir doch an«, sagte mein kleiner Bruder und stieß mich mit seiner Schulter an.

»Ach keine Ahnung! Irgendwie schon aber auch irgendwie nein«, antwortete ich. Natürlich wollte ich ihn nun haben, aber ich wusste ja, daas er in die Eva verliebt ist oder war oder, ach ich wusste momentan gar nichts mehr.

»Dich soll mal einer verstehen!«

Das dachte ich mir auch. André ärgerte Nine, die eigentlich noch schlafen wollte, indem er ihr andauernd die Decke wegzog. Nine, wie eine hysterische Milchkuh, sprang auf. André suchte das Weite und dann waren sie beide auf einmal weg. André vorweg und Nine hinterher. Oh oh, ob das gut gehen könnte, dachte ich mir, als mein Handy anfing zu klingeln. Da fiel mir gerade ein, dass das schon ein paar Mal geklingelt hatte, doch ich war zu müde und auch zu faul, um aufzustehen.

»Hi!«

»Hi ich bins! Na wie geht's?«

»Wer ist ich?«, fragte ich skeptisch.

»Die Eva!«

Na das war eine Überraschung.

»Eva? Woher hast du denn meine Nummer?«

»Nine hat sie mir gestern oder eher gesagt heute Morgen in der Disko gegeben.«

»Aja ... freut mich, dass du anrufst. Was gibt's denn?«

»Wollte nur mal fragen, ob du nicht Bock hast mal vorbeizukommen? Jessica ist auch hier!«

Nun war ich aber verdutzt. Wie kam sie denn auf den Trichter?

»Ja klar komm ich mal vorbei. Musst mir nur sagen, wo du wohnst. War ja noch nie bei dir!«

Eva erklärte mir mit präziser Genauigkeit wo ich denn langzufahren habe, wenn ich zu ihr gelangen will. Wir verabredeten uns für 17 Uhr. Da ich ja wusste, dass Christian eh arbeiten musste, war es ja nun kein Problem zu Eva zu fahren, ansonsten wäre ich natürlich bei ihm geblieben. Und abgesehen davon konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass er etwas dagegen hatte, wenn ich seine Freundin mal besuchen fahren würde. OK, war vielleicht ein doofer Augenblick, da die beiden gerade so im Streit waren, aber da konnte ich ja nun auch nichts zu.

Nachdem Christian wach war, Nine André verprügelt hatte und ich unter der Dusche war, fuhren wir los. Nine nahm Christian mit, denn er wohnte nicht bei Eva im Dorf.

»Danke Martin! War schön! Hab dich lieb!«, sagte Christian mir leise ins Ohr und stieg bei Nine ins Auto ein.

Meine Mundwinkel sagten den Ohren Guten Tag. Ich freute mich so dermaßen, diese Sätze von ihm zu hören, dass ich in die Luft hätte springen können. Und auf der Fahrt zu Eva ging es wieder los: Warum hat er mir so was gesagt? Will er was von mir? Hat er sich vielleicht sogar in mich verliebt? Diese Gedanken wurde ich so schnell auch nicht mehr los. Selbst als ich bei Eva ankam und vor ihrer Haustür stand, musste ich daran denken.

Die Tür ging auf.

»Hi!« Eva kam auf mich zu und umarmte mich zur Begrüßung. »Komm rein!«

Und wir gingen rein, in einen langen Flur von dem eine Treppe, die ganz rechts an der Wand angebaut war, in den ersten Stock führte. Rechts daneben eine Tür, durch die ich gelotst wurde.

Jessica sah mich von oben bis unten an.

»Hi Martin! Wie geht's?«

»Hi Jessica! Ja mir geht's soweit gut und dir?«

Sie nickte nur. Aber erst mal Zeit nehmen zum Zimmer anschauen. Ich drehte mich kurz um, Eva schloss ihre Zimmertür. Neben mir ein großer Kleiderschrank. Geradeaus ein Sofa, gleich daneben ein großes Bett. Sieht gemütlich aus. Vor dem Sofa ein kleiner Tisch, auf dem eine Minianlage steht. Eigentlich sehr gemütlich. Ich setzte mich zu Jessica aufs Bett.

»Und? Ausgeschlafen?«, fragte Eva mich.

»Na ja, wenn mein Bruder mich nicht so sanft ...« ich schmunzelte kurz »... geweckt hätte, dann vielleicht ja.«

»Wie? Du hast nen Bruder?«, fragten Jessica und Eva fast wie im Chor.

»Sieht er so gut aus wie du?« Eva schaute mich an und hob eine Augenbraue.

»Na ja, Bruder! Er ist der Sohn von dem Freund meiner Mutter. Ich weiß ja nicht, ob du auf Skater stehst?«

Eva schaute mich skeptisch an und runzelte die Stirn. »Neee, ich glaub nicht!«

Und hier fand ich wieder dieses Vorurteil. Was ist an Skatern anders als an Ravern und warum können sie sich nicht unbedingt gut leiden? Ich mein, abgesehen von der Musik und dem Klamottenstil, OK, vielleicht auch die Redensart, sind es doch genauso Jungs wie wir. Aber davon mal abgesehen, habe ich persönlich bisher nur solche Erfahrungen gemacht, dass die Skater meist mit Schwuchtelrufen den Streit beginnen. Dabei will ich gar nicht wissen, wie viele Skater schwul oder auch bi sind. Ich denke mir immer das genau die, diejenigen sind, die sich hinter einer totalen Männlichkeitsmaske verstecken und sich nicht trauen, offen zu leben.

»Martin? Hast du vielleicht noch nen Bruder? Einen der Raver ist?«, fragte Jessica, wobei ihr rechter Zeigefinger mit einer Haarsträhne von ihr spielte und sie wieder dieses niedliche Grübchen-Lächeln aufsetzte.

»Nein. Tut mir leid, dass ich dich da enttäuschen muss ... wir sind nur zwei ... «

Es traf mich wie ein Blitz. Chris! Ich habe ihn nie als Bruder gesehen. Er war mein Bruder, aber er war viel mehr für mich ... viel, viel mehr. Er war mein Freund, um genauer zu sein, meine erste große Liebe. Traurig starrte ich auf den Boden.

»Was los Martin?« Eva starrte mich an.

»Ich habe da noch nen Bruder. Chris! Er ist letztes Jahr bei einem Autounfall gestorben«, sagte ich leise vor mich hin.

»Oh, das tut mir leid! Das wusste ich nicht!«, sagte Jessica im ernsten Ton.

»Nein, wie konntest du das auch wissen? Wir kennen uns ja noch nicht lange. Schon OK. Mittlerweile hab ichs einigermaßen gut verkraftet. Aber ich denk noch sehr oft an ihn.«

»War es dein richtiger Bruder?«

»Nein. Es war auch der Sohn von dem Freund meiner Mutter. Aber er war etwas ganz Besonderes. Wenns dich beruhigt ... er trug Schlaghosen«, sagte ich mit einem aufgesetzten Lächeln.

Jessica strich mir über die Schulter.

»Schon OK«, sagte ich. »Habt ihr beiden denn ausgeschlafen?«

Und diese Frage hätte ich besser nicht stellen sollen, denn nun ging es los mit einer heftig lustigen Diskussion der beiden Mädels. Ich glaube ich werde nie erfahren, wer wen wo geweckt hat. Sie einigten sich immerhin innerhalb von einer halben Stunde darauf, dass sie beide Schuld waren. Mir solls recht sein.

»Ich glaub ich mach mich auch langsam mal wieder heime!«

»Willst du schon gehen?« Eva sah mich traurig an.

»Ja. Ich will heute nicht wieder so spät Heime kommen.«

Ich stand auf, umarmte Jessica zum Abschied.

»Ich bring dich noch raus!«, sagte Eva und öffnete ihre Zimmertür.

Wir stellten uns auf den Tritt.

»OK, dann machs gut, Großer.«

»Großer?«, grinste ich. »So groß bin ich doch gar nicht!«

Ich schaute in ihre Augen. So wunderschöne Augen, sie strahlten mich mit einem Hauch von Traurigkeit an. Ich wurde unsicher und schaute skeptisch. Ihre Augen, ihr Gesicht - wunderschön!

»Ist meine Schminke verwischt?« Eva hatte anscheinend meinen skeptischen Blick bemerkt.

»Nein nein. Da ist nichts verwischt. Alles in Ordnung ... in bester.«

»OK, Kleiner!«, sie grinste, »Dann machs gut.!«

»So klein bin ich nun auch wieder nicht!«, sagte ich und schaute sie mit meinem, wie Nine ihn immer nannte, Dackelblick an. Warum ich sie so anschaute? Kein Plan!

»Was bist du denn sonst, wenn du nicht mein Großer und nicht mein, Kleiner bist?« Eva runzelte die Stirn.

»Dein Medium?«

Wir lachten. Eva kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. Ich fühlte mich wohl in ihren Armen, wollte sie nicht wieder loslassen. Wir standen angeblich etwas länger da einfach so rum.

»Eva???« hörte man es aus ihrem Zimmer.

Sie drehte sich um. »Ich komme gleich!«, sagte sie und wandte sich nun wieder mir zu. »So, mein Medium. Ich hoffe wir sehen uns bald wieder.«

»Klar. Auf jeden Fall. Ich ruf dich an.«

Wir umarmten uns noch einmal ganz fest zum Abschied, dann fuhr ich los. Zu Hause angekommen, legte ich mich ins Bett und schlief ein.

Tosendes Handygeklingel! Mensch wer nervt denn jetzt, dachte ich mir. Nein, Mann. Wie spät ist es? Dreiviertel 12, mitten in der Nacht, zumindest in den Ferien. Ich raffte mich auf, ging zum Handy, das ich ungünstigerweise auf meinem Schreibtisch liegen lassen hatte. Es klingelte immer noch.

»Wer stört?«

»Ich störe. Hi Martin! Ich bins, Jessy!«

Ich staunte nicht schlecht. Dachte er würde jetzt die ganze Zeit mit Sabine rumhängen.

»Hey Jessy. Schön was von dir zu hören!«

Oh ja. Es war schön von ihm zu hören. Auch wenn ich mich von ihm verarscht gefühlt hatte, obwohl es dazu eigentlich keinen Grund gab. Ich hatte mich eigentlich mal wieder selber verarscht, indem ich seine Gestiken mir gegenüber falsch interpretierte. Wie konnte es anders sein?

»Du freust dich? Dachte du wärst sauer auf mich. Weil ich mit deiner Ex zusammen war!«

»Nein nein nein ... quatsch.« Stopp mal! Hatte ich richtig gehört? »Zusammen war?«

»Ja!« Jessy lachte. »Zusammen war. Hast richtig gehört. Du, kann ich mal kurz vorbeikommen? Oder biste gar nicht zu Hause?«

Ich schluckte. »Klar kannste vorbeikommen. Sehe nur etwas gerädert aus. Bin gerade aufgestanden, wenn dich das nicht stört?« brabbelte ich und lief nervös durch mein Zimmer.

»Quatsch. Bin gleich da. Tschü!«

»Ja bis gleich.«

Und nach ca. 5 Minuten klingelte es auch schon und Jessy stand bei mir in der Tür.

»Na, Klener wie schauts?«, fragte er mich und nahm mich in den Arm.

Ich stutzte. »Ja glaube es schaut gut und selbst?« antwortete ich unter Würgeerscheinungen. Er ließ mich los und setzte sich aufs Bett.

»Ja muss ja. Nein, geht gut. Wo warste denn die ganze Zeit. Bin ab und zu mal vorbeigekommen und deine Mum hat gesagt, dass du gar nicht zu Hause bist.«

»Ja war die meiste Zeit mit Nine unterwegs.«

»Ach und wo wart ihr so, wenn ich fragen darf?«

»Mal hier ... mal da. Mal bei Christian, Disko, gestern war ich bei der Eva.«

»Bist viel beschäftigt«, sagte er, dann sah er mir in die Augen. »Da bleibt ja leider nicht viel Zeit für mich!«

Also ein Flirt? Nein danke, auch wenn dus bist Jessy, aber mir wachsen diese Liebeleien über den Kopf, dachte ich mir. Christian, Eva und du Jessy? Stopp! Eva? Wie kam ich auf Eva? Ich sah sie plötzlich vor mir und es kribbelte im Bauch. Ich verstand das nicht! Ich verdrängte den Gedanken.

»Wenn du dich nicht meldest ... !«, antwortete ich schließlich.

»Na ja.« Begann Jessy. »Heute habe ich mich ja gemeldet!«

»Neja, jetzt biste ja auch hier oder nicht?«

»Hey!« Jessy runzelte die Stirn. »Ich kann ja wieder gehen wenn du willst!«, sagte er und stand auf.

Ich packte mir an den Kopf. Er ist doch nicht schuld daran, dass es auf einmal so turbulent in mir zugeht. Doch irgendwie schon. Hin und her. Erst ich (?) dann Sabine, jetzt wieder ich (?), dass kann doch nicht gutgehen. Kein Wunder, dass ich momentan so verwirrt bin und dann auch noch das mit Eva.

»Jessy, Sorry. Ich habs nicht so gemeint. Es ist nur so, dass ich momentan nicht weiß was los ist! Es tut mir leid.«

Jessy setzte sich wieder. »In welcher Beziehung? Möchtest du darüber reden?«

Reden wär nicht schlecht aber nicht mit ihm. Ich kannte ihn noch zu wenig um ihm meine Probleme auf den Hals zu drücken, noch dazu ging es ja auch irgendwie um ihn. Wenn er bei mir war, war er doch plötzlich irgendwie der Boy, den ich haben wollte, doch war Christian bei mir, sah Jessy gegen ihn keine Sonne. Und Eva? Ja Eva, wenn ich bei ihr war, war es fast so als wäre sie mehr für mich. Doch darüber wollte ich gar nicht nachdenken. Das war bestimmt nur so ein unterbewusstes Handeln um mal wieder von mir abzulenken, dass ich auf Boys stehe. Komisch eigentlich obwohl ich mich ja schon geoutet hatte ...

»Ne Jessy. Ich kenn dich zu wenig um dir von meinen Problemen zu erzählen. Nimms nicht persönlich.«

Jessy schaute mich an. »Es geht um mich nicht wahr?«

Geschockt sah ich ihn an. »Wie kommst du darauf?«

»Sabine hat mir erzählt dass du mal mit nem Jungen zusammen warst.«

OK, ich war geoutet und irgendwann musste er ja erfahren, dass ich schwul war, aber musste das nun zum ungünstigsten Zeitpunkt geschehen? Außerdem war er mir wichtig und ich hatte Angst, dass er nun mit mir nichts mehr zu tun haben wollte.

»Ja das stimmt. Was hältst du jetzt von mir?«

»Was ist das denn für ne Frage? Was soll ich denn jetzt von dir halten? Du bist mein Freund, wenn ich das so sagen darf. Ich hab dich trotzdem gern«, sagte Jessy und sah mir in die Augen. »Sehr sehr gern«, fuhr er fort und beugte sich zu mir, nahm meine Hand und küsste mich. Ich konnte es kaum glauben. Wir küssten uns. War es das Gefühl glücklich zu sein, welches ich nun empfand, oder war es das Gefühl des Sieges; ich habe es geschafft, ihn zu bekommen? Ich weiß es nicht, aber es war schön. Liebevoll streichelte er meine Hand, während wir uns küssten, drückte mich schließlich fest an sich. Mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Ich sah ihn und doch sah ich Christian. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gedacht "Hey Martin, du hast es geschafft. Wen willst du? Christian oder Jessy? Du hast freie Auswahl!", aber ich wusste, dass es nicht so war. Wie meinte es Jessy mit diesem Kuss und würde sich Christian von Eva trennen? Probleme, Verzweiflung, vielleicht zu viel Gefühl.

Die Tür schoß auf.

»Martin, sag mal hast du ... « weiter kam André nicht.

Jessy und ich sprangen erschrocken voneinander weg. Jessy lehnte seine Ellenbogen auf seine Knie und sah auf den Boden.

»Oh, Sorry. Tut mir leid. Ich wollte nicht stören«, sagte André und ging so schnell wie er auch gekommen war.

Jessy sah mich an.

»Ich glaub es ist besser wenn du jetzt gehst«, sagte ich leise.

»Schon OK. Entschuldigung, wenn ich dich überrumpelt habe, aber das wollte ich schon tun, als du auf der Straße vor dem Zigarettenautomaten lagst. Sorry.«

Ich brachte ihn zur Haustür runter.

»Ich melde mich«, sagte ich bedrückt und schloss die Tür hinter ihm und hielt mir die Hände vors Gesicht. Nach einem kurzen Schnaufen ging ich hoch zu André.

»Hey!«

»Hey, halt mir keine Predigt. Woher sollte ich denn wissen, dass du dich mit Jessy rumleckst? Tut mir leid, dass ich euch gestört habe.«

»Danke!«

»Wie jetzt? Danke?«

»Ja es war besser so!«

»Wie meinst du das denn jetzt schon wieder?«

»André, ich bin momentan etwas durch den Wind. Weist du, erst hat man niemanden, von dem man denken könnte, dass es mit ihm klappt und jetzt sind's Drei auf einmal.«

»Wieso Drei?«

»Christian, Jessy ... «

»Und wer noch?« André sah mich erwartungsvoll an.

»Eva!«

»Ich dachte, das wär ein Mädchennamen?«

Ich musste kurz grinsen. »Es ist ja auch ein Mädchen.«

André war geschockt. »Wie jetzt? Hab ich was nicht mitbekommen?«

»Das habe ich mich selbst auch schon gefragt.«

»Denkst du wirklich, du könntest mit einem Mädchen glücklich werden? Vielleicht ist es ja nur wieder so eine Art, um von dir abzulenken? Schon drüber nachgedacht?«

»Ja hab ich. Und ich habe mir auch dasselbe gedacht. Es ist bestimmt so.«

André schaute auf den Boden.

»Kennst du das Gefühl, wenn das ganze Glück in einem Augenblick liegt und du raffst das nicht? Du merkst es einfach nicht?«, fragte ich ihn.

»So wie du es sagst, kann ich verstehen was du meinst, aber das habe ich noch nie empfunden. An wen denkst du?«

»Ich denke an Jessy.«

»Jessy sieht gut aus. Er ist intelligent und sehr nett und lustig.«

»Ja und ich empfinde auch sehr viel für ihn. Aber ich werde nie das empfinden, was ich für Chris empfand.«

André schaute traurig zu mir hoch.

»Martin, du wirst für niemanden mehr empfinden, was du für Chris empfandest.«

Ich schaute ihn erschrocken an.

»Er war die Liebe für dich. Verstehst du das? Die Liebe! Jessy, Christian, für jeden von den beiden empfindest du eine andere Liebe. Es wird niemals dieselbe Liebe sein, die du für Chris empfandest.«

Ich sah André an. »Danke!« Doch ein Danke war viel zu wenig für ihn. Er half mir, wo er konnte. Ich zog meine Jacke über und verließ das Haus. Nahm meinen Autoschlüssel und fuhr los, einfach weg von zu Hause, rauf auf die Hauptstraße, einfach weg. Apathisch hielt ich neben einem Blumengeschäft an, kramte meine restlichen Euros zusammen und kaufte mir eine Rose. Ich dachte an Chris. Ich fuhr weiter zum Friedhof, zu seinem Grab. Das Herz aus Plastik, dass ich ihm vor langer Zeit auf sein Grab gelegt hatte, war noch an seinem Platz. Ich legte die Rose daneben.

»Hier Chris, für dich!«, sagte ich leise. Wie sehr ich ihn doch vermisste. In Gedanken erzählte ich ihm, was momentan gerade so los war, erzählte ihm von uns, wie wir uns kennenlernten und letztendlich raus bekam, dass wir doch eigentlich Brüder waren. Ich erzählte ihm von meiner momentanen Situation und bat ihm um Hilfe. Jedes Mal, wenn ich sein Grab sah, sah ich automatisch zurück zu seiner Beerdigung - zurück zu dem Augenblick, an dem er von mir ging. Zurück an seine Worte, die er mir sagte, bevor er starb. Mir kamen die Tränen. Was würde ich nicht alles dafür tun, wenn er wieder hier wär? Was wir wohl schon alles durch hätten, wenn er noch leben würde? Was für Hindernisse und schöne Momente hätten wir schon hinter uns? Ich sah zur Seite. Eine alte Frau verschönerte ein Grab, kniete sich schließlich davor und betete. Kalter Wind zog an mir vorbei, es wurde bereits dunkel. Ich machte mich auf dem Weg nach Hause, nur noch ein letzter Blick auf sein Grab und ein Tschüß, welches ich in Gedanken sagte, hielten mich vorerst ab, zu gehen.


›Ich glaube ich habe mich unsterblich in dich verliebt!‹

Schlafduselig starrte ich auf mein Handy, sah wieder weg und rieb mir die Augen. 10 Uhr morgens. Ich schaute erneut drauf.

›Ich glaube ich habe mich unsterblich in dich verliebt!‹ Ich schien wohl richtig gelesen zu haben. Absender Christian.

Eine kurze Zeit lang dachte ich, ich würde träumen, doch dann wusste ich, dass es wirklich so war. Dann machte sich der Gedanke "JA DU HAST ES GESCHAFFT!!!" in meinem Kopf breit, gefolgt von Zweifel, ob ich es denn nun so wollte und dann fiel mir wiederum ein das ich es wollte. Ja und ob ich es wollte, wenn mich Jessy gestern nicht geküsst hätte. Es war das erste Mal, dass ich mir wünschte, dass ein Junge hetero ist. Ja er sollte mit Sabine glücklich werden und sich nicht an mich ranmachen. Dann wär ich 100%ig sicher gewesen, dass es Christian ist, den ich will. Am liebsten hätte ich mich wieder hingelegt und hätte weitergeschlafen, doch ich wusste, dass das zwecklos war. Diese vielen Gedanken würden mich sowieso wach halten, also ging ich unter die Dusche und fuhr zu Christian, der mich mit offenen Armen empfing.

»Hi! Wie denn?? Wie denn?? Was machst du denn hier?«

»Hi, Kleiner! Dachte mir, ich schau mal vorbei.«

Er war ganz aus dem Häuschen. »Ich freu mich total, dass du hier bist«, sagte er und umarmte mich. »Komm rein.«

Und da war ich wieder, in Christians Zimmer, nur diesmal ohne Nine. Ich setzte mich auf meinen alten Platz und er diesmal neben mich.

»Hast du meine Nachricht bekommen?«, fragte er mich leise.

»Ja hab ich. Meinst du das ernst?«, ich schaute ihn erwartungsvoll an. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass mit Christian und mir heute nichts laufen sollte. Solange nicht, bis ich wusste, was ich wollte.

»Ja, das mein ich ernst«, er schaute mich an.

»Wann ist es dir aufgefallen?«

»An dem Tag als ich mit Nine von dir weggefahren bin. Ich wollte noch nicht gehen, wollte unbedingt bei dir bleiben.«

Ich grinste ihn an und nahm ihn in den Arm.

Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns unsere Lebenswege zu erzählen. Natürlich interessierte er sich sehr für mein Liebesleben. Von wegen 'Wie wars mit Markus' und 'Gabs da nochwen?'. Ich erzählte ihm von Chris. Er war sehr schockiert, als er das von ihm und mir hörte. Gegen Abend wollte ich mich dann wieder nach Hause machen. Es war bereits dunkel, als mich Christian zum Auto brachte. Wir verabschiedeten uns mit einer dicken Umarmung. Ich ließ gerade den Motor an, als Christian wie eine Furie wieder aus seinem Zimmer gesprungen kam.

»Hey warte, warte mal!«

Ich kurbelte das Fenster runter.

»Wassn?«

»Hast du vielleicht noch ne Stunde Zeit?«

Ich schaute auf die Uhr.

Christian hob seine Augenbrauen. »Für mich?«, fügte er schließlich hinzu.

»OK.«

Er sprang auf den Beifahrersitz und gab mir konkrete Anweisungen, wo ich denn nun langzufahren hatte, bis wir das Dorf hinter uns ließen. Nur noch vereinzelt standen ein paar Häuser. Er wies mich auf einen Berg.

»So und jetzt noch mal links!«

Und ich fuhr links ab.

»Jetzt sind wir da!«, sagte er.

Ich schaute mich um. »Ja und was wollen wir hier in der Pampa?« Ich schaute mich um, ein breiter Kiesweg, links von uns war ein Wald. Es war sehr dunkel hier oben.

»Mach den Motor und das Licht aus«, grinste er mich an.

Ich tat es und dann wusste ich was er hier wollte. Wir standen an einer Art Klippe. Unter uns eine hell beleuchtete Stadt, über uns der totale Sternenhimmel und der Mond mittendrin.

»Wie findest dus?«, fragte Christian.

Ich war geplättet. »Ich finds total schön hier.« Wie in Trance schaute ich runter auf die Stadt, dann wieder hoch zum Himmel, schließlich zum Mond. Christian legte seine Hand auf mein Bein. Ich sah zu ihm rüber und grinste ihn an. Er grinste zurück. Wir steckten uns eine Zigarette an, im Radio lief das Lied von Titanic. Während des ganzen Liedes sagten wir beide kein Wort. Wir schwiegen vor uns hin, mit Blick auf die wunderschöne Aussicht, die sich hier offenbarte.

»Warum eigentlich ich?«, fragte ich schließlich.

»Was du?«

Ich blieb stumm. Es war mir doch eher ein bisschen peinlich, diese Frage nun zu stellen, doch ich fasste mir ein Herz und brachte es heraus.

»Warum hast du ausgerechnet bei mir gesehen, dass du auf Jungs stehen kannst?«

Christian nahm meine Hand und streichelte sie. »Willst du das wirklich wissen?«, fragte er.

»Es würde mich schon interessieren.«

»Wenn du das wirklich wissen willst, dann schau doch mal in den Spiegel.«

Ich wollte erst fragen, was denn der Spiegel damit zu tun hat, doch ich verstand dann schließlich, was er meinte und es war sehr aufbauend so was zu hören.

»Wenn deine Seele so faszinierend ist, wie das Leuchten deiner Augen, dann verlieren alle Worte über Liebe ihren Sinn!«

Erschrocken sah ich ihn an. Ich wusste, dass er diesen Spruch bestimmt mal als SMS bekommen haben musst oder so, aber trotzdem berührte dieser Spruch, den ich auch schon oft gelesen hatte, mich noch nie so stark wie jetzt. Es ist wie mit dem "Ich liebe dich!". In manchen Beziehungen wurde das Wort so oft gesagt, doch nie haben mich diese drei Worte so berührt wie damals bei Chris.

Christian drückte meine Hand. Ich schaute ihm direkt in die Augen.

»Du bist wunderschön!«, sagte er. Jetzt war es aus. Diese süße Art, die er hatte, und sein niedliches Lächeln gewann schließlich doch gegen mein Vorhaben, dass nichts laufen sollte. Ich beugte mich zu ihm rüber und wir küssten uns.

»Sorry!«, sagte ich. Das musste jetzt sein.

»Hey schon in Ordnung. Das Gleiche wollte ich doch auch gerade machen.«

Wir saßen noch eine Weile dort oben auf der 'Plattform', wie ich sie schließlich immer nannte, da ich mir diesen Namen des Berges nicht merken konnte, dann fuhr ich Christian nach Hause und mich schließlich auch. Mit Christian in den Gedanken schlief ich ein.


Ich unterhielt mich gerade mit André über den vorigen Tag, als mein Handy klingelte.

»Hi Martin. Ich hier, Nine!«

»Hi, Kleine. Was gibt's?«

»Ich wollte dir nur sagen, dass Christian wieder mit Eva zusammen ist.«

Ich staunte nicht schlecht, als ich das hörte, aber dann fiel mir ein, dass Nine ja wieder auf der Uni war und dann mit den Infos immer etwas zurückhing.

»Hey Nine. Fehlinformation! Christian ... «

»Nene, Martin. Ich habe heute mit Christian gesprochen. Er war überglücklich. Die beiden gehören einfach zusammen. Sorry, wenn ich das jetzt so sage, aber es ist halt so.«

Ich legte auf.

Geschockt und traurig sah ich mein Handy an, als ob es etwas für diese Nachricht konnte.

»Martin, wassn los? Du kannst doch die Fremdgeherin nicht einfach wegdrücken.«

»Tja André. Wie gewonnen ...! Das war dann wohl doch nichts.«

»Wie meinst du das jetzt?« André kaute auf seinen Fingernägeln.

»Na ja, das was ich dir gerade über Christian erzählt habe, kannst du gleich wieder vergessen. Der ist wieder glücklich mit Eva zusammen.«

André schaute ernst und doch geschockt.

»Und ich freu mich so für die beiden!«, ergänzte ich ironisch.

André schluckte zweimal heftig und sprang schließlich auf.

»Hey, wenn ich den zwischen die Finger bekomme, dann setzt's was«, sagte er und klopfte mit seiner Faust gegen seine Hand.

»Ach Quatsch. Halt dich daraus. Hab doch selber Schuld, dass ich so naiv bin und alles glaube, was man mir erzählt.«

»Hey, das hat nichts mehr mit Naivität zu tun, sondern mit Vertrauen. Der kann sich warm anziehen.«

Ich muss zugeben, es war verlockend zu sehen, wie Christian welche auf die Schnauze bekam, doch was brachte das? Christian würde wehgetan und das wollte ich trotz der Verarsche nicht, Eva wäre stinksauer und ich wolle es mir mit der neu gewonnenen Clique nun nicht wirklich verderben. Sie waren alle total nett und ich mochte sie auch gern.

»Na ja, wenn Christian wieder mit Eva zusammen ist, dann wird die sich bestimmt auch nicht mehr bei mir melden«, sagte ich schließlich.

»Meinste? Aber überleg doch mal. Jetzt sind die beiden wieder zusammen.« André beruhigte sich, »Somit fallen zwei Leute, von denen du was wolltest, weg. Und wer bleibt übrig?« Das Grinsen, das nun auf seinem Gesicht lag, war nicht zu übersehen. Es schien mal wieder, als würden seine Mundwinkel den Ohren Guten Tag sagen. Fordernd schaute André mich weiterhin an.

»Oh, ja, man. Jessy!«

»Bingo! Ruf ihn an.«

»Was soll ich ihm denn sagen? Dass der eine mich verarscht hatte und ich ihn als Notfreund haben will oder was?«, sagte ich trotzig und sauer über mich selbst.

»Na das musst du ihm ja nicht gerade auf die Nase binden. Außerdem glaub ich, dass da doch mehr im Spiel ist, als ein Notfreund, oder?«

»André, verschon mich bitte wenigstens für heute mit deinen Vermutungen. Ich frag dich ja auch nicht andauernd, was deine Weiber so machen.«

»Vielleicht liegt's daran, dass ich keine habe!«

Das war André wie er leibt und lebt. Er schaffte es immer, mich zum Lachen zu bringen, genau wie Nine.

»Ach komm, ruf ihn an«, sagte er schließlich.

Damit das Nerven endlich ein Ende fand, rief ich Jessy an. OK, ich gebs zu. Er war für mich nicht nur ein Freund, doch gerade deshalb wollte ich ihn nicht anrufen, bevor ich Klarheit über mich selbst hatte. Es war halt alles momentan verzwickt bis zum geht nicht mehr. Ich stellte mir nur die Frage, was die Zukunft wohl bringen würde ... wenn sie überhaupt etwas brachte. André gab mir das Telefon.

»120781!«, sagte André. »Vorwahl brauchst du nicht, ist unser Nachbar, falls dus schon wieder vergessen hast.«

»Ich weiß die Nummer!«, sagte ich und wählte.

»Müller.«

»Hi Jessy. Ich bins!«

»Martin! Hi, wie schauts. Dachte schon, du wärst sauer auf mich oder so.«

Beim Hören seiner Stimme wurde ich ganz nervös.

»Quatsch!«, sagte ich und winkte mit der Hand ab, als ob er es sehen konnte. »Eigentich wollte ich nur fragen, ob du Bock hast, mit mir ein bisschen Video zu gucken.«

»Echt? Ist André denn auch dabei?«

»Ob André auch da ist??«

Ich schaute rüber zu ihn, er schüttelte mit dem Kopf und zwinkerte.

»Ne, der will heute früh schlafen. Der war gestern lange weg.«

»Ach so. Ne, klar. Ich komme gern rüber. Wann soll ich denn erscheinen?«

Ich schaute auf die Uhr. 17 Uhr.

»Komm doch am besten gleich rüber.«

»Bin schon unterwegs«, hörte ich es nur noch, dann wurde aufgelegt.

»Na also! Klappt doch wie am Schnürchen«, sagte André.

Ich machte mir kurz Gedanken, worauf denn dieses Sprichwort basieren würde, doch dann schickte ich André schnellstens runter in sein Zimmer, wohin er auch schnellstens verschwand. Ich wusste, dass mit Jessy heute so einiges passieren würde und ich nahm mir vor, das Ganze nicht mit einer Lüge zu beginnen. OK, Lüge wär vielleicht zu viel gesagt, aber es war halt so, dass ich ihn jetzt nur anrief, weil Christian nicht bei mir war. Ich wollte, dass er es auch weiß. Allerdings wollte ich auch nicht, dass er wirklich wie eine Notlösung dasteht.

Es klingelte an der Tür. Ich rannte runter. Frank stand vor der Haustür und redete mit Jessy.

»Hey Martin, du hast Besuch«, sagte er.

Jessy kam rein und gab Frank die Hand.

»Guten Abend«, sagte er.

»Hi Jessy. Freut mich dich mal kennenzulernen. Bisher hatten wir das Vergnügen ja noch nicht.«

»Stimmt«, sagte Jessy, »Wie geht's ihnen?«

»Ach es muss ja!«, sagte Frank scherzhaft. »Aber ich kann nicht klagen. Bei einer so reizenden Frau und so netten Kindern!« Typisch Frank. Er wollte immer, dass unsere Familie wie aus dem Bilderbuch stammt.

»Hey Jessy, kommste mit hoch?« sagte ich schließlich.

»Ja ich komme«, sagte er. »Hat mich gefreut«, sagte er zu Frank.

»Mich auch«, sagte dieser.

Wir gingen hoch in mein Zimmer. Ich schloss die Tür und Jessy setzte sich aufs Bett.

»Hey. Ich hab mich voll gefreut, dass du mich angerufen hast«, sagte er.

Ich setzte mich zu Jessy aufs Bett. »Ich freu mich, dass du da bist!«

»Du siehst so traurig aus. Wassn los?«

Und ich erzählte ihm die Story mit Christian. Ich hatte es mir vorgenommen und ich habs getan. Den Ballast war ich los. Was Jessy draus machen würde, ist seine Sache.

»Hey, das tut mir voll leid! Aber wie kann dieser Idiot so Einen wie dich einfach aufgeben?« Jessy nahm mich in den Arm. Ich lehnte mich mit meinem Kopf an seine Schulter.

»Wie kann man so Jemanden wie dich einfach gehen lassen?«, fragte er sich.

»Du siehst doch das es geht.«

»Geht es dir sehr schlecht deswegen?« Jessy nahm meine Hand.

Ich zog sie schnell wieder weg, man hatte ja gesehen, wozu das führen konnte. Jessy schaute verdutzt, ich hatte falsch reagiert. Er wollte mir doch nur helfen.

»Was heißt schlecht gehen. Sagen wirs so, ich bin nicht gerade erfreut darüber. Er hat mir sehr viel bedeutet, doch ich ahnte, dass da noch was kommen würde, wusste halt nur nicht, dass es so ausgeht. Ich dachte wirklich, dass er es einigermaßen ernst meinen würde, denn ich war ja der Erste für ihn.«

»Habt ihr miteinander geschlafen?«, fragte Jessy plump.

»Nein!«, sagte ich und schaute auf den Boden. »Nein, das haben wir nicht. Wir haben uns nur geküsst.«

Es war erstaunlich. Jessy war für mich da. Ich dachte daran zurück, als ich ihn am liebsten zum Mond geschossen hätte, als er mit Sabine zusammen kam. Apropos Sabine ...

»Hast du mit Sabine geschlafen?«

Jessy hob seine Augenbrauen. »Ja, das hab ich.«

Nun, das war nicht die Antwort, die ich hören wollte, aber er war ehrlich. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, doch wo sollte das enden? Suchte ich in ihm wirklich einen Notfreund oder war es echt, was ich empfand. Aber was empfand ich denn überhaupt für ihn? Es war ein Auf und Ab der Gefühle. Ein Heiß und Kalt, ein Hoch und Runter, oder was weiß ich wie man es noch nennen konnte.

»Schlimm?«, fragte Jessy.

»Wieso schlimm? Ich darf das nicht schlimm finden! Du warst mit ihr zusammen, ist doch das Normalste von der Welt, wenn du mit ihr schläfst!«

Jessy nahm erneut meine Hand und ich hielt sie ganz fest.

»Ich wusste es von Anfang an«, sagte er schließlich.

»Was wusstest du? Das sie nicht die Richtige war?«

»Nein, dass du was von mir willst!«

Geschockt sah ich ihn an. Es hatte keinen Sinn das jetzt abzustreiten. Warum auch?

»Woher weist du das?«

»Denkst du im Ernst, ich hätte dich geküsst, wenn ich es nicht 100pro gewusst hätte?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. »Woher wusstest du es?«

»André hat es mir erzählt!«

»André???« Ich war enttäuscht von ihm. Andererseits aber auch nicht. Er hätte mich vorher wenigstens fragen können. Zumindest hätte er mich einweihen können.

»Warum kamst du dann mit Sabine zusammen?«

»Ich hatte es ihm nicht geglaubt, erst als mir Sabine von dir und Chris erzählte, wusste ich, dass es stimmte. Deshalb habe ich mit ihr Schluss gemacht.« Jessy sah mir in die Augen. »Wegen dir!«, fügte er hinzu.

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

»Martin. Ich habe mich in dich verliebt ... Ich liebe dich!«, sagte Jessy schließlich.

Ich kuschelte mich an ihn an und er legte seinen Arm um mich. Ich strich mit meiner Hand über seinen schwarzen Pulli. Vorsichtig lehnte er seinen Kopf an meinen, er hielt mich ganz fest, als ob er mich nie wieder hergeben will. Schließlich sah ich ihm in die Augen. Tränen flossen über mein Gesicht. Es war das Gefühl geliebt zu werden – aufrichtig geliebt zu werden. Ich setzte mich auf und wandte mich ihm zu.

»Hey! Warum weinst du denn?«, fragte Jessy und strich mir meine Tränen mit seinen Daumen weg.

»Ich weiß auch nicht.« Mehr brachte ich nicht heraus.

Er sah mich an und kam näher. Er stich mit seiner Hand über mein Gesicht.

»Darf ich?«, fragte er mit einem Hundeblick, den ich vorher noch nie gesehen hatte.

»Ich kann mir momentan nichts Schöneres vorstellen«, antwortete ich.

Er grinste und schloss seine Augen. Auch ich schloss meine Augen – unsere Lippen berührten sich. Langsam spielte er mit meiner Zunge, drückte mich ganz fest an sich. Dieses Gefühl, sicher zu sein und sich geborgen zu fühlen, war wunderschön. Gefühlvoll biss er mir ganz leicht auf meine Unterlippe.

Nachwort

Und jetzt sitze ich hier und schreibe gerade diese Zeilen. Ja, ich bin noch immer mit Jessy zusammen und wir sind total glücklich. Natürlich habe ich Chris bis heute nicht vergessen und soweit wird es auch niemals kommen. Jessy hat sogar vollstes Verständnis gezeigt, als ich ihn bat, ein Foto von Chris in unserer Wohnung aufzuhängen.

André hat seit einem Jahr ne Freundin, doch zu meiner Verwunderung ist sie Raverin. Man kann sich denken, dass bei denen öfter mal die Fetzen fliegen, wenn es um Musik geht.

Sandra und Frank sind neuerdings glücklich verheiratet und das freut mich auch voll.

Von Christian habe ich nie wieder was gehört. Ich habe nur mitbekommen, dass er wieder zu seinen Eltern gezogen ist und wohl ne ganze Menge an Anzeigen wegen Körperverletzung bekommen hat. Ehrlich gesagt, kann ich mir das noch immer nicht vorstellen, denn er war doch so lieb gewesen.

Eva, ja Eva, um ehrlich zu sein, weiß ich bis heute nicht, ob ich vielleicht doch bi bin. Für Eva habe ich sehr viel empfunden. Sie ist nach Kiel gezogen. Ab und an texten wir uns mal oder schreiben uns lange Briefe.

Nine ist im 5. Semester der UNI in Fechta bei Bremen. Kann mir gar nicht vorstellen, dass sie bald Kinder unterrichten soll.

Über Emely habe ich mich erst kürzlich am meisten erschrocken. Sie hat jetzt endlich einen festen Freund, nur komisch, dass dieser Freund Denise heißt. Ich hatte es ja schon immer geahnt, doch ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.

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