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Tim und Socke

Weihnachtschallenge 2007

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Inhaltsverzeichnis

Beitrag zur Weihnachtschallenge 2007

Tim erzählt

Brrr. Kalt. Zitternd schloss ich die Wohnungstür. Winter... einfach nicht meine Jahreszeit. Überall dieser Schnee, die hektischen Menschen in der Stadt, die panisch versuchen, ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen... und habe ich den Schnee und die Kälte erwähnt? Es war der 23.12., also quasi fünf vor zwölf...

Ich brauchte dringend noch Geschenke. Wieso kommt Weihnachten eigentlich immer so plötzlich? Wir, die armen Schüler, hatten da doch absolut keine Zeit, irgendwelche Geschenke nach der Schule zu besorgen. Vor Weihnachten war die verdammt heiße Phase, Klausuren, Klausuren, Klausuren... Nach Neujahr hatten wir dann zwar mehr oder weniger Ruhe, aber trotzdem war die Klausurzeit in der Schule verdammt stressig, da konnte man nicht mal eben nach der Schule in die Stadt spazieren und stundenlang nach Geschenken suchen. Und nun? Nun waren Winterferien und die Geschäfte hatten heute nur noch zehn Stunden geöffnet. Das hört sich im ersten Moment vielleicht gut an, aber wart Ihr schon mal am 23.12. Geschenke kaufen? Das ist der absolute Horror.

Es wimmelte nur so von Frauen in der Stadt, ob Hausfrau, Putzfrau, Eisfrau, große Frau, kleine Frau, dicke Frau, dünne Frau, alles war voller Frauen!!! Das konnte ja heiter werden. Also nicht, dass Ihr jetzt denkt, ich habe was gegen Frauen, nein ganz bestimmt nicht, nur beim Einkaufen habe ich was gegen sie. Ich war einmal mit einer Freundin eine Hose kaufen, danach war ich froh, dass Wochenende war, denn das Laufen am nächsten Tag fiel mir verdammt schwer. Wie schafft Ihr Frauen das eigentlich immer? Ihr könnt stundenlang durch die Geschäfte laufen, schaut Euch alles, wirklich alles an, bis Ihr merkt, dass es dieses Kleidungsstück nicht mehr in Eurer Größe gibt. Dann zieht Ihr beleidigt zum nächsten Geschäft. Und der absolute Hammer ist ja, wenn das nächste Geschäft dieses besagte Kleidungsstück auch nicht in Eurer Größe hat, dann kauft Ihr einfach ne Nummer kleiner mit der Begründung „Vielleicht nehme ich ja noch was ab“. Nee, ist klar... Frauen sind verdammt kompliziert. Bin ich froh, dass ich schwul bin. Männer gehen das ganz locker an. Wie sagte Mario Barth doch gleich? Wenn Männer eine Hose kaufen, haben sie nur das Wort Hose im Kopf. Wir gehen in ein Geschäft, sagen zu der Verkäuferin „Hose“, sie hält uns eine Hose hin, und wenn sie uns gefällt, halten wir diese ins Licht. Ist die Hose zu klein, lassen wir den Knopf offen, ist sie zu groß, kaufen wir uns einen Gürtel. So sieht das aus, meine lieben Frauen! Nehmt Euch mal ein Beispiel an uns. 

Ich hasse Shoppen. Aber irgendwo musste ich ja noch was Gescheites herkriegen. Zwar brauchte ich nur drei Geschenke, aber die erstmal finden! Sie dürfen nicht zu teuer sein, als Jugendlicher hat man nicht so die finanziellen Mittel, um große Geschenke zu kaufen. Da ich 16 war, fiel ich genau in dieses Raster. Ich war nicht arm, nein, aber ich war auch nicht stinkreich. Dabei fällt mir ein, ich könnte ja kurz was über mich erzählen. Ich bin also 16 Jahre alt, wohne mit meinen Eltern etwas außerhalb von Köln, gehe auf die Realschule, bin etwa 1,80 m groß, habe dunkelblonde, kurze Haare und bin recht sportlich gebaut. Also weder zu dick noch zu dünn, allerdings habe ich auch nicht so sonderlich viele Muskeln, aber das stört mich nicht weiter. Den Sixpackansatz am Bauch kann man erkennen, das reicht mir. Ach so, mein Name ist übrigens Tim.

Wie Ihr sicherlich mitbekommen habt, brauchte ich Geschenke, genauer gesagt drei Stück. Eins für meine Mutter, eins für meinen Vater und eins für einen Freund. Ja, einen Freund, leider nicht meinen Freund, aber was nicht ist, kann ja vielleicht noch werden, so war doch der Spruch, oder? Für meine restlichen Freunde brauchte ich nichts kaufen, da wir abgesprochen hatten uns nichts zu schenken. Erstens wussten wir eh nie, was wir den anderen kaufen sollten, und zweitens würde das eindeutig zu teuer werden. Aber für Socke, so wurde er liebevoll von mir genannt, musste ich einfach was kaufen. Socke ist, auf Deutsch gesagt, ein armes Schwein. Er kommt aus dem Heim, wo er es aber nicht lange aushielt und abhaute. Nun lebt er mal hier, mal da, wo es sich halt gerade ergibt. Sein Brot verdient er, indem er sich an andere Männer verkauft... Manchmal hasse ich ihn dafür, ich frage mich immer wieder, wieso er das macht. Seine Antwort war immer dieselbe „Weil man ohne Abschluss und Ausbildung in Deutschland nichts erreicht“. Recht hat er, aber muss er dafür seinen Arsch verkaufen? Er ist 18 und könnte locker seinen Abschluss nachholen... Das einzig Positive ist, dass er keine Drogen oder Alkohol zu sich nimmt. Wenigstens etwas. Wieso er im Heim lebte? Gute Frage, er hat leider nie über seine Eltern gesprochen. Wieso? Ich hab null Plan, leider.

Socke alias Max, ist wie schon erwähnt 18. Er sieht in meinen Augen verdammt gut aus, hat kurze, blonde Haare, blaue Augen und ist ebenfalls sportlich gebaut. Bei ihm sieht man allerdings etwas mehr Muskeln als bei mir, dafür ist er aber auch etwas kleiner als ich, nur 1,75m. Ein richtiger Schnuckel, wieso nur geht er auf den Strich? Das muss ein Ende haben, egal wie, irgendwie werde ich ihn davon wegbringen.

Nun hieß es aber erst mal, sich in die überfüllten Geschäfte zwängen und Geschenke kaufen. Ich glaube, ich wiederhole mich etwas viel, oder? Aber Ihr sollt ja den Anschluss nicht verpassen, wo kämen wir denn dann hin, also weiter im Text. Mein Dad wollte eine neue Digicam haben, da mir dazu das nötige „Kleingeld“ fehlte, hatte meine Mutter mir noch einen Teil dazu gegeben. Für das Geschenk meiner Mutter hatte ich einige Zeit gespart. Sie wollte unbedingt zu „Mario Barth“ und die Karten dafür waren nicht gerade günstig. Und da sie da ja selbstverständlich nicht alleine hinkonnte, mussten also zwei Karten her.

Ich machte mich also auf den Weg zur nächsten Ticket-Vorverkaufsstelle und reihte mich in die Schlange ein. Sie war nicht lang, aber bis jeder mal den Platz hatte, den er haben wollte, das konnte schon etwas dauern. Während vor mir eine Dame ebenfalls Karten für Mario Barth kaufte, schaute ich mir das Prospekt der Kölnarena an. Eine Aufführung von ihm war schon komplett ausverkauft, ich hoffte inständig, dass ich noch zwei Karten erhalten würde. Sonst hatte ich schließlich kein Geschenk für meine Mutter. Parfüm oder so wollte ich nicht kaufen. Erstens hat sie davon genug, und zweitens war das immer recht heikel, den richtigen Duft zu finden.

„Guten Tag, was kann ich denn für Sie tun?“

Die Dame vor mir war fertig und endlich war ich in an der Reihe.

„Ich hätte gerne zwei Tickets für Mario Barth, irgendwo hier in der Nähe, wo ist egal.“

Wo war wirklich egal, solange es in NRW war. Köln war garantiert ausverkauft, vielleicht hatte ich ja in Dortmund oder so noch Glück.

„Da haben Sie aber Glück, wir haben noch einige Restkarten für Mario Barth am 05. April in Dortmund. Zwei Stück sagten Sie?“

„Ja genau, zwei Karten.“

„Das macht dann 53 Euro, junger Mann.“

Heilige Maria, 53 Euro für zwei Karten. Wieso verlangen die eigentlich immer so viel Kohle dafür? In so eine Halle passen doch tausende Menschen rein, die müssen sich doch doof daran verdienen. Aber meckern brachte mich ja auch nicht weiter, also legte ich der Dame das Geld auf den Tisch, bekam die Karten und verschwand aus dem Geschäft.

Ein Geschenk wäre erledigt, fehlten nur noch zwei. Wobei, was schenke ich Socke eigentlich? Ich hatte mir da noch keine wirklichen Gedanken drüber gemacht, nun war es ja schon fast zu spät.

Ich hatte noch gut neun Stunden, dann würden die Geschäfte schließen. Neun Stunden für ein Geschenk.

Aber was schenkt man jemandem, der mehr oder weniger auf der Straße lebt? Da es kurz vor zwölf am Mittag war, machte ich mich auf den Weg, um etwas Nahrung in mich aufzunehmen, schließlich hatte ich das Frühstück ausfallen lassen, um auch ja genug Zeit zu haben. Da sich aber nun mein Magen so langsam meldete, musste erstmal dieser versorgt werden.

Ich sag Euch, es gibt nichts besseres als Pizza zum Frühstück in der Mittagszeit. Während ich die Pizza verzehrte, überlegte ich, was ich Socke wohl schenken könnte. Klamotten? Nein. Schmuck? Also so ne Halskette oder so was? Nee, auch nicht gut. Das war schwerer als gedacht... Ich wusste ja nicht wirklich viel über Socke. Außer, dass er mal hier, mal da lebte. Von seinen Eltern wusste ich ja gar nichts...

Wir hatten uns vor einem Jahr an einem Bahnhof kennen gelernt, ich hatte durch den Bus meinen Zug verpasst und musste auf den nächsten warten. Ich saß mehr schlecht als recht auf einer der Bänke am Bahnhof, als Socke auf mich zukam und mich ansprach:

„Hallo, ganz alleine hier?“

„Nein, du bist ja da.“

Wie du mir, so ich dir. Er hatte ja schließlich gesehen, dass ich alleine auf der Bank saß.

„Okay, da hast du Recht. Wartest du auf jemanden?“

„Nein, ich hab grad den Zug verpasst, und nun muss ich auf den nächsten warten. Und was machst du hier?“

Er erzählte mir, dass er gerade von einem Kunden kommen würde. Im ersten Moment dachte ich mir nichts dabei, schließlich hätte er ja sonst was vom Beruf her sein können, dass er 17 war, sah man ihm da nicht wirklich an.

„Sag mal, wohnst du alleine?“

„Nein, ich wohne bei meinen Eltern, mit 15 ist es recht schwer, eine eigene Wohnung zu finden.“

„Oh, du bist erst 15? Du siehst etwas älter aus. Aber schade.“

„Was ist schade? Dass ich erst 15 bin? Dass ich nicht alleine wohne?“

„Ja, genau das. Na ja... ist auch egal, wäre ja zu schön gewesen, mal einen jüngeren Kunden zu haben als sonst.“

Dieser Satz ließ mich erstmal schlucken, versuchte er mich hier zu bezahltem Sex rumzukriegen? Ich glaub', der hat sie nicht mehr alle. Geht ja mal gar nicht!

„Bitte was? Du willst jetzt nicht das, was ich gerade denke, was du willst, oder?“

„Woher soll ich wissen, was du denkst, obwohl, ich war ja sehr eindeutig... Doch genau das wollte ich und nein, du hättest nichts zahlen müssen.“

Krass... der wollte wirklich mit mir ins Bett. Ein Stricher wollte mit mir ins Bett!!! Unglaublich.

Ein Knall, ein fragendes Gesicht und nun auch eine rote Wange.

„Sag mal, spinnst du? Wieso knallst du mir eine?“

„Das fragst du noch? Du sprichst mich an, weil du mit mir ins Bett willst, gut, ich brauchte dafür nichts zahlen, aber ... Oh man, nein, das geht mal gar nicht. Junge du bist doch verrückt, wieso tust du das?“

So fing das mit uns an, damals... Seitdem ist ein Jahr vergangen, ich hatte natürlich versucht, Socke von der Straße zu kriegen, aber das war alles andere als einfach. Da meine Eltern ein Haus hatten, somit auch ein Gästezimmer, hätte er locker bei mir wohnen können, doch als ich ihm das erzählte... oh je. Der Schuss ging mächtig nach hinten los...!

Ich machte mich nach dem Essen auf, um noch ein Geschenk für Socke zu kaufen. Wie gesagt, es war nicht einfach. Ich war schon auf dem Weg in ein Klamottengeschäft, als mir ein anderes ins Auge fiel. Ein Ramschladen, ja, ein anderes Wort fand ich dafür irgendwie nicht, da gab es alles und nichts. Ich schaute mich um und nach einigen Minuten Stöbern fand ich was Passendes. Ein schwarz/silbernes Armband, es sah nicht sehr elegant aus, aber es war genau das richtige für Socke. An dem Armband war noch ein Zettel befestigt, auf dem stand: „Gravur an der Kasse“. Das war ideal. Ich nahm das Armband und ging zur Kasse, erzählte dem Herrn, was drauf sollte, und zwanzig Minuten später hatte ich auch mein Geschenk für Socke.

Zufrieden, die Einkäufe noch rechtzeitig geschafft und sogar noch übermäßig viel Zeit zu haben, machte ich mich auf den Weg zu Socke, schließlich würde ich ihn morgen nicht sehen, also würde er sein Geschenk heute schon bekommen.

Ich versuchte es erst am Bahnhof, dort war er allerdings nicht. Also konnte er nur in der Kneipe sein... Nein, falsch gedacht, dort war er auch nicht. Ich nahm mein Handy und wählte seine Nummer. Nach kurzem hin und her sagte er mir die Adresse und ich machte mich auf den Weg quer durch die Stadt.

Es dämmerte bereits, als ich die Wohnung erreichte. Schrecklich, dass es im Winter immer so früh dunkel wird! Was hatte Socke gesagt? 1. Stock, Klingel rechts. Ich drückte den besagten Klingelknopf und kurze Zeit später war der Türsummer zu hören. Ich öffnete die Tür und ging nach oben.

In der Wohnung angekommen fand ich Socke im Wohnzimmer vor dem PC. Er schrieb irgendwas, ne Mail, wie es aussah.

„Hey Tim, kleinen Moment, bin gleich fertig.“

„Hey Socke, kein Problem, ich wollte dir auch nur kurz dein Weihnachtsgeschenk vorbeibringen“

Er drehte sich zu mir, sah mich verwundert an:

„Mein Weihnachtsgeschenk? Na, da bin ich ja mal gespannt.“

„Na ja, es ist nichts wertvolles oder so, aber ich will dir halt auch eine Kleinigkeit schenken, immerhin sind wir ja Freunde.“

Ich reichte ihm das eingepackte Armband. Er öffnete das Geschenkpapier, nahm das Armband aus der Schachtel und sah sich die Gravur an.

„Wow. Danke, damit hätte ich nicht gerechnet. Nun werde ich den Spitznamen endgültig nicht mehr los, oder?“

Ich hatte auf das Armband „Socke“ eingravieren lassen, denn „Freunde“ oder sonst irgendwas würde in seinem „Beruf“ wohl nicht ganz gut ankommen.

„Wie gesagt, es ist nur ne Kleinigkeit, und nein, den Spitznamen wirst du nicht mehr los. Was hast du denn gerade für ne Mail geschrieben?“

„ Ach, nichts weiter, mir war grad nur so danach, ist jetzt egal.“

Ich stand auf und umarmte den Kleinen, er hatte das Armband bereits angelegt.

„Ich muss jetzt aber los, sonst kriegt Ma die Krise. Sie will noch den Baum schmücken und so ein Zeugs. Wir sehen uns dann nach den Feiertagen.“

„Klar, da habe ich dann auch noch ein kleines Geschenk für dich. Dann mal los mit dir, ich will hier eben noch was fertig schreiben. Ich wünsche dir tolle Tage.“

Mit diesen Worten setzte er sich wieder an den PC. Unschlüssig stand ich noch eine kleine Weile herum, herrjeh, es war Weihnachten, und er würde wieder auf die Straße gehen, sollte ich nicht doch…? Aber ich wusste ja, dass es keinen Sinn hatte. Meine Eltern würden einen Anfall bekommen, abgesehen davon, dass Socke sich überhaupt nicht wohlfühlen würde, also dann… Wir leben halt in zwei verschiedenen Welten.

„Tschüss Socke, alles Gute, bis bald dann mal.“

Socke erzählt

Brrr. Kalt. Zitternd schloss ich die Wohnungstür. Winter... einfach nicht meine Jahreszeit. Überall dieser Schnee, die hektischen Menschen in der Stadt, die panisch versuchen, ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen... und habe ich den Schnee und die Kälte erwähnt? Es war der 23.12., also quasi fünf vor zwölf.............

Hier in der Wohnung war es nicht sonderlich warm, da der Besitzer nach Thailand in Urlaub gefahren war. Die Heizung stand nur auf „1“, aber immer noch besser als draußen.

Es wurde schon dunkel, also schaltete ich die kleine Schreibtischlampe ein, holte den Apfelsaft aus meinem Rucksack, ein Glas aus dem Küchenschrank, den Rest der Salzstangen, die ich gestern hier liegen gelassen hatte, und machte es mir am Schreibtisch gemütlich.

Computer hochfahren, Adresse eintippen: www.nickstories.de, Name und Passwort, fertig.

Ich grinste. Bei meinem ersten Besuch hier in der Wohnung hatte ich den Zettel mit den Angaben neben dem PC entdeckt und mich da mal eingeloggt. Nette Seite, gute Stories, einige hatte ich ausgedruckt und sie abends meinen Kumpels vorgelesen.

Okay, also dann mal los:

Hallo Leute von Nickstories, der Absender, unter dem das Geschreibsel hier erscheint, das bin ich nicht. Mein Name ist unwichtig, wir werden uns nie wieder sehen, nennt mich doch einfach „Socke“, irgendwie ist mir heute nach dem Namen.

Den Typ, dem diese Wohnung gehört, lernte ich an meinem Arbeitsplatz kennen, eine ziemlich heruntergekommene Kneipe, sie hat halt einen gewissen Ruf. Er ist klein, dicklich, schütteres Haar, total schüchtern… halt so ein Beamtentyp, der am Leben vorbei geht. Er schlich jedenfalls in die Kneipe, stand verloren am Eingang rum und wusste wohl irgendwie nicht weiter. Ich entdeckte ihn als Erster und sprach ihn an, okay, solche Typen widern mich an, aber ich weiß aus Erfahrung, dass sie vor lauter Verlegenheit sehr viel dafür zahlen.

Zuerst versuchte er es mit dem typisch dämlichen Gequatsche: „Was macht ein Junge wie du hier?“

Aber nach der Gegenfrage: „Was macht ein Typ wie du hier?“, sind die Leute dann schnell wieder still und widmen sich dem, weswegen sie gekommen sind. Alles Erfahrungssache.

Er kam noch ein paar Mal in die Kneipe, wollte immer nur mich. Nicht, dass ich darauf stolz bin, aber solche Typen sind gesicherte Einnahmequellen.

Vor einer Woche meinte er, wir würden uns eine Weile nicht sehen, er fliegt über Weihnachten nach Thailand. Von mir aus.

In der Weihnachtszeit habe ich ohnehin mehr als genug zu tun, die Einsamen sind noch einsamer, da gibt es jede Menge Kundschaft.

Ein Kumpel von mir, also der Edi, der hat ihm am Flughafen auf meine Bitte hin den Schlüssel geklaut, irgendwie bin ich zu ungeschickt zu so was, ich würde bestimmt erwischt werden.

Meine Stärken liegen auf einem anderen Gebiet, und darin bin ich richtig gut.

Man hat mich mal in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche gesteckt, stellt euch das vor! „Schwer erziehbar“… zum Donnerwetter, ich wollte aber nicht erzogen werden, ich weiß selber, was gut für mich ist, die sollen mich doch alle in Ruhe lassen. Also bin ich abgehauen. Als ich planlos auf der Straße stand, machte mich so ein Typ an… wedelte mir mit einem Schein vor der Nase rum, da bin ich irgendwie ausgerastet. Wegen schwerer Körperverletzung haben die mich dann für zwei Jahre in den Jugendknast gesteckt, und da habe ich alles gelernt, was ich vorher noch nicht wusste.

Nach meiner Entlassung war ich fit.

Von der Kneipe und dem gewissen Hinterzimmer hörte ich am Bahnhof. Der Wirt und ich wurden uns schnell einig, er taxierte mich von oben bis unten und meinte nur: „Lecker! Wenn du dich gut anstellst, könntest du hier eine Menge Geld verdienen. Nimm noch einen Rat von mir an: verkaufe dich nie unter Wert und lass die Finger von Drogen, sonst landest du in der Gosse.“

Beides beherzige ich bis heute und komme gut damit klar.

Alkohol trinke ich auch nicht, das überlasse ich unserem Johannes. Der Gute war früher mal Lehrer, ist dann irgendwann mal ausgetickt, auf der Straße gelandet und auch dort geblieben. Seine Hauptbeschäftigung besteht aus Trinken, aber er ist harmlos, und da er in seinen wenigen klaren Momenten sich Mühe gibt, etwas für unser Allgemeinwissen zu tun, kann er bleiben und wird quasi von uns mitversorgt. Vielleicht sind wir später auch mal froh, wenn uns jemand aufnimmt.

Die Marlies ist da aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie muss so zwischen 40 und 90 sein, einfach nicht zu bestimmen, und sie führt bei uns das Regiment. Freundliche Worte darf man von ihr nicht erwarten, dafür sorgt sie bei uns für Ordnung, das heißt: wenn sich einer mal hängen lässt und meint, er könnte mal nicht arbeiten gehen oder so, dann sorgt ihre keifende Stimme schon dafür, dass derjenige sich schnellstens aus dem Staube macht und abends was vorzuweisen hat.

Sie selbst ist für die Mülleimer zuständig. Ihr werdet nicht glauben, was die Leute alles so wegwerfen! Neulich erst hat sie eine Digicam gefunden, die hat wohl jemand aus Versehen entsorgt. Sie hat da jemanden, bei dem sie die Sachen dann in Bares umtauschen kann, und ich kann euch sagen, da kommt manchmal ganz schön was zusammen.

Den Edi habe ich schon mal erwähnt, er ist derjenige mit den flinken Fingern, der Bursche ist echt genial, vor dem ist nichts sicher.

Dann ist da noch der Thore, das ist ein direkter Kollege von mir. Aber wir sind keine Konkurrenten, denn er arbeitet in einem anderen Stadtteil in einer Sauna. Manchmal beneide ich ihn ein bisschen, er arbeitet einfach in der besseren Umgebung, aber gut, ich bin ja auch noch nicht so lange dabei und durchaus bereit, die Karriereleiter langsam ganz nach oben zu steigen, da gibt es nämlich sehr gute Möglichkeiten.

Zwischen Thore und mir läuft privat nichts. Anfangs hatte ich das mal gehofft, weil, also, da war mal so eine Nacht… aber nee, ging irgendwie nicht, war einfach mal nur so. Aber Freunde sind wir, und darauf bin ich stolz, wir sind nämlich so richtig gute Freunde.

Vor ein paar Wochen haben wir noch einen Neuzugang bekommen, den „Kleinen“. Das Kerlchen ist erst 15 Jahre, auch aus einem Heim entwischt. Er muss sich noch bedeckt halten, denn er wird sicherlich gesucht. Aber nicht mehr lange, ich kenne das. Wenn einer von uns aus dem Heim abhaut, haben die Behörden nicht sehr lange Interesse daran, uns auch zu finden.

Welchen Beruf er mal ergreifen soll, ist uns noch nicht so ganz klar. Der Edi meinte, er wolle es mal mit einer Ausbildung versuchen, und der Kleine scheint sich da recht geschickt anzustellen. Momentan hängt der Kleine etwas durch, es ist sein erstes Weihnachten auf der Straße. Wir versuchen ihm immer klar zu machen, dass es hätte schlimmer kommen können. Erstens leben wir nicht direkt auf der Straße, sondern hausen in der alten Garage beim Abbruchhaus am Stadtrand, zweitens haben wir uns.

Ich will nicht behaupten, dass wir so was wie eine Familie wären, wir sind eher eine Art Zweckgemeinschaft. Jeder bringt mit, was er beschaffen kann, und davon leben wir alle. Und das gar nicht mal schlecht.

Jeder darf ein bisschen was für sich behalten, davon muss ich noch Weihnachtsgeschenke kaufen. Und da kommt etwas völlig Neues auf mich zu, denn das habe ich noch nie gemacht, bin ja erst seit Februar hier und vorher gab es niemanden, dem ich hätte was schenken wollen.

Klar gibt es nur so praktische Kleinigkeiten, die Marlies bekommt so einen kleinen Geldbeutel zum Umschnallen, die hat immer so Reservegeld im Hosenbein mit einer Stecknadel befestigt, das kann doch auf Dauer nicht gut gehen. Johannes hat versprochen, für uns alle einen Weihnachtsteller mit Plätzchen, Walnüssen und Schokolade zu kaufen.

Ach ja, ich darf den Tim nicht vergessen. Also, das ist eine merkwürdige Geschichte. Warum ich ihn damals angemacht habe, weiß ich nicht. Er saß auf dem Bahnhof und sah irgendwie so „unschuldig“ aus, so ganz „netter Junge aus heiler Familie“. Und ich fühlte mich plötzlich aggressiv, wollte ihn einfach nur schocken und habe ihn angequatscht: Er könnte es umsonst haben! Hat der blöde geschaut!

Wir haben uns dann doch nochmal getroffen, er ist wirklich ein „netter Junge aus heiler Familie“, aber da kann er ja nichts für. Seine Weichen wurden eben anders gestellt als meine.

Süß fand ich ja, wie er mir eines Tages ganz aufgeregt erzählte, er habe den Plan gefasst, mich von der Straße weg in seine Familie zu holen. Als er seinen Eltern von mir erzählte, da hat sein Vater wohl das Bier, was er gerade trank, quer über den Tisch gespuckt und seine Mama ist wohl fast am Käsebrot erstickt… will sagen, ihre Begeisterung darüber, dass ihr Sohn erstens mit einem Stricher befreundet ist und den auch noch ins Haus holen will, hielt sich deutlich in Grenzen.

Er hat sich richtig mit ihnen gestritten. Könnt ihr euch vorstellen, dass es mir ein klein wenig anders wurde? Da streitet sich jemand mit seinen Eltern wegen mir, war nicht schlecht, das Gefühl. Aber natürlich alles in allem Blödsinn. Solche Sachen habe ich schon in euren Stories gelesen, so schöne heile Welt. Die Realität sieht nun mal anders aus.

Ich will nicht in eine Familie, da passe ich gar nicht rein. Wenn ich mittags aufwache, weiß ich nie, was der Tag und die Nacht mir bringen werden. Und so will ich das. Ich habe meine eigenen Gesetze und Regeln, und so soll es bleiben.

Trotzdem möchte ich gerne mit Tim befreundet bleiben, so eine „normale“ Freundschaft, das hat schon was für unsereins, ist selten. Tja, Leute, ich sollte mich jetzt wirklich sputen. Werde hier mal meine Spuren tilgen, die Tür hinter mir schließen, den Schlüssel einfach in den Briefkasten befördern, soll der Besitzer denken, was er will. Aber als Kunden will ich ihn nicht verlieren.

Ich wollte Euch einfach nur mal so einen winzig kleinen Einblick in mein Leben geben.

Vielleicht habe ich alles ein wenig netter geschrieben als es in Wirklichkeit ist. Vielleicht habe ich mit diesem Geschreibsel mir selbst ein Weihnachtsgeschenk machen wollen, vielleicht wollte ich für einen kleinen Moment so etwas wie Zugehörigkeit spüren, vielleicht wollte ich Euch zeigen, dass man auch anders leben kann.

Vielleicht… vielleicht… wer weiß das schon.

Ich wünsche Euch frohe Weihnachten.

Socke

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