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Trainspotting

die Geschichte

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Diese Story ist eine von sechs Stories, die im Rahmen des ersten Nickstories-Workshops 2017 in Neuss entstanden sind.

Als Vorgabe dient ein Zeitungsartikel über einen Schüler, der einem anderen Jungen mit Hilfe von WhatsApp das Leben rettet. Auf Grundlage dieser realen Geschichte haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, mit unserer Phantasie daraus eine Erzählung zu schreiben.

Die Teilnehmer des Workshops haben im Rahmen einer kleinen Challenge ihre Lieblingsstory gewählt. Das Ergebnis wird hier nicht verraten. Lest selbst die Geschichten und macht euch eure eigenen Gedanken. Wir Workshop-Autoren freuen uns auf Feedbacks und eine rege Diskussion im Nickstories-Forum.

Parallel zu dieser Geschichte habe ich ein „Making of“ geschrieben, das als „zweiter Teil“ veröffentlicht werden soll, auch wenn es keine Fortsetzung im eigentlichen Sinne ist. Doch nun:

Viel Spaß beim Lesen.

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

Züge

‚16.Mai 2017, 5:44 Uhr, Großkaro, 186 444‘ notierte ich in mein Notitzbüchlein. Also genauer gesagt in die Excel-Liste auf meinem Smartphone. So einer auffälligen Lok, wie der 186 444 war ich zwar schon öfter begegnet, aber in so wundervollem Licht der aufgehenden Sonne war es das erste Mal.

Viele meiner Klassenkameraden hielten mich für einen Idioten: „Waaas? So früh stehst du auf, nur um Züge anzuschauen?“, hieß es da regelmäßig. Ein Lehrer meinte auch einmal vor versammelter Mannschaft, dass ich schon ein „komischer Kauz“ wäre. Inzwischen fochten mich diese Hänseleien zwar nicht mehr an, aber ohne meinen Freund Dominik wäre ich wohl der totale Außenseiter und Einzelgänger!

Manchmal fühlte ich mich zwar trotzdem einsam, aber wenn ich an so einem herrlichen Morgen völlig frei auf „meiner“ Wiese stand, ein leichter Windhauch eine Gänsehaut auf meine Haut zauberte, ich den Tau auf dem Gras unter meinen nackten Füßen spürte und dann noch ein Zug durch diese Landschaft rauschte, vergaß ich alles um mich herum, denn dann gehörte die Welt mir allein! Es war einfach ein erhebendes, erregendes Gefühl.

„Quirin“, riß mich die Stimme Dominiks aus meiner Traumwelt. Keine Ahnung, was der so früh hier wollte! Plötzlich stand er vor mir und starrte mich mit offenem Mund an! Schlagartig wurde ich mir meiner Situation bewusst und ich griff blitzartig nach meinen Klamotten.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, pfiff er mich an. „Wenn da jetzt jemand anderes gekommen wäre als ich!“

„Dann wäre ich geliefert“, raunte ich nachdem ich umständlich wenigstens Hose und T-Shirt übergestreift hatte.

„Das kannst du laut sagen! Du bist schon ein Extremist, weißt du das? Ich schau ja auch nach Zügen, aber doch nicht so!“, stieß er hervor und schüttelte den Kopf.

In dem Moment kam der nächste Zug von Rosenheim herauf. Die weißen Streifen auf der Lok schienen im Streiflicht des Sonnenaufgangs extra zu leuchten und ließen sie mich sofort als die 186 443 identifizieren. Flugs notierte ich ‚16. Mai 2017, 6:09 Uhr, Großkaro, 186 443‘. Welch schöner Zufall, dass ausgerechnet die direkte Schwester der Lok von vorhin den nächsten Zug bespannte.

Ein Grinsen in Dominiks Gesicht signalisierte Entspannung. Auch er genoss nun dieses herrliche Bild eines Zuges in der Bilderbuch-Landschaft. Er hatte natürlich seine Spiegelreflex dabei und gleich eine Serie geschossen. Ich begnügte mich, wie immer, mit meinem Handy, von wo aus ich alle brauchbaren Bilder gleich hochladen konnte.

Menschen

Dominik und ich kannten uns seit dem Kindergarten und waren seither bestimmt mehr als die Hälfte unseres bisherigen Lebens gemeinsam unterwegs gewesen. Spätestens als wir vor drei oder vier Jahren unsere Vorliebe für Züge als zusätzliche Gemeinsamkeit entdeckten, waren wir eigentlich nur noch nachts getrennt. ‚Ob er wohl auch schwul ist?‘ schoss es mir einmal mehr durch den Kopf. Sonst wussten wir alles voneinander, aber intime Themen hatten wir bislang immer umschifft. Keine Ahnung wieso. Wahrscheinlich war unsere „Sozialisierung“ in diesem engen, streng katholischen Kaff der Grund dafür. Andererseits hatten wir uns nie voreinander versteckt und so manches Mal das eine oder andere elterliche Badezimmer in einer Wasserschlacht überschwemmt. So kannten wir uns auch im Adamskostüm in seinen unterschiedlichen Ausführungen. Deshalb war es für ihn vorhin nicht wirklich ein Schock oder gar ein Grund mich auszulachen.

Trotzdem nahm ich mir vor, ihm endlich reinen Wein einzuschenken, wobei ich mir sicher war, dass das unser Verhältnis nicht verändern würde. Höchstens zum noch besseren, wenn er auch … ‚So ein Quatsch‘ verwarf ich sofort wieder diese sinnlose Hoffnung.

„Quirin, du träumst schon wieder. Schau doch, was da kommt!“, holte er mich in die Realität zurück.

„Geil!“, rief ich entzückt, „die 103 245! Was macht die denn hier? Normal ist die morgens doch immer mit dem Ulmer IC unterwegs!“

„Nicht wenn ein Sonderzug ansteht. Sieh doch die Wagen! Ein beigeroter TEE, sogar der Domecar ist dabei!“

Nachdem auch dieser Zug mit Kamera und Handy festgehalten war und ich ‚16.Mai 2017, 6:28 Uhr, Großkaro, 103 245 mit historischem T(rans) E(uropa) E(xpress)‘ in meine Liste eingetragen hatte, blies Dominik auch schon zum Aufbruch: „Schick‘ di, du lahme Ente, sonst kommen wir noch zu spät zur Schule!“

„Ja, Alter, was machst du für einen Stress? Unser Meridian fährt doch erst in einer Stunde.“

„Schon, aber bis wir immer unser Geraffel zusammen haben...“

Ich lachte auf, sammelte meine restlichen Klamotten zusammen und schlüpfte in meine Sneakers. Zuhause angekommen – wir wohnten quasi Tür an Tür – zog ich mich erstmal wieder richtig an und schnappte mir meinen Rucksack mit den Schulsachen.

Seit dem überraschenden Tod meiner Mutter wohnte ich mit Paps alleine in dieser Riesenhütte, aber weder er noch ich wollten hier weg, zu sehr beherrschten uns die vielen guten und schönen Erinnerungen…

Gleich im Haus nebenan wohnte Dominik mit seiner Familie, also seine Eltern und nunmehr noch sein vier Jahre älterer Bruder. Seine noch etwas ältere Schwester war schon vor Jahren zu ihrem Ex-Freund gezogen (ihrem heutigen Mann). Ich glaube Dominik war sogar schon Onkel von zwei Neffen.

Fast gleichzeitig standen wir wieder auf der Straße und machten uns auf den Weg zum Bahnhof. Viertel nach Sieben fanden wir uns dort in einer Horde Schüler wieder, die alle nach Rosenheim wollten. Wie immer steuerten wir das Ende des Bahnsteigs an, um gegebenenfalls noch einen weiteren Zug genießen zu können. Unsere Mitschüler beachteten uns inzwischen schon gar nicht mehr.

Das war früher anders gewesen und ich weiß nicht, was ich ohne Dominik gemacht hätte. Eigentlich war ich immer ein Einzelgänger und es war mir egal, was die anderen machten oder dachten.

Als ich begann mich intensiv für Züge zu interessieren und ich jede freie Minute am Bahnhof zubrachte, war ich für die anderen plötzlich nicht nur der Einzelgänger, sondern zudem ein Sonderling, den man mit seiner Schwäche gut hänseln konnte. Zudem nannten sie mich plötzlich alle „Schwuli“ und ich fragte mich nur, woher sie das wohl wissen würden. Sie wussten es natürlich nicht. Schwul stand einfach für schwach und weil ich darauf gar nicht reagierte, war die Sache insbesondere für die größten Dumpfbacken der Klasse klar.

Das Ganze eskalierte irgendwann und plötzlich standen vier von denen um mich herum und begannen mich herumzuschubsen. Bevor sie zu schlagen begannen, ging Dominik vehement dazwischen und drohte jedem eine Tracht Prügel an, der mir auch nur etwas zu nahe kommen würde. Dominik war schon immer ein Bär von Mensch. Er war trotzdem wendig und unser Sportass, was ihm den Respekt aller einbrachte. So hatte ich fortan meine Ruhe. Danke, Dominik!

Derlei Hänseleien und Handgreiflichkeiten hatten mich etwa ein Jahr zuvor dazu bewogen, eine WhatsApp-Gruppe quasi als „virtuelle Selbsthilfegruppe“ zu gründen, damit man sich wenigstens gegenseitig etwas Mut zusprechen und im Extremfall möglichst auch praktische Hilfe organisiert werden konnte, falls die Hänseleien in handfestes Mobbing ausarten würden.

Schule

So warteten wir also auf unseren Zug und siehe da: Noch bevor der kam, rauschte noch ein Güterzug Richtung Rosenheim vorbei, der wieder mit der „Harlekin“-Lok 186 444 bespannt war. Nach dem obligatorischen Foto mit meinem Handy ergänzte ich meine Aufzeichnungen in meinem elektronischen Notizbuch.

Kurz darauf kam auch schon der „Meridian“, der uns nach Rosenheim in unsere allseits geliebte Bildungseinrichtung bringen würde. Erst zwei Stunden Deutsch, dann eine Geschichts- und eine Religionsstunde, schließlich eine Doppelstunde Mathe und nach dem Mittagessen noch Informatik und zwei Stunden Sport - soweit unser Programm für heute.

Alles in allem unspektakulär, außer dass ausgerechnet unser Religionspädagoge wieder eine abfällige und spöttische Bemerkung über meine „sinnlose und kindische“ Freizeitbeschäftigung hat fallen lassen. Anscheinend dachte gerade dieser Typ, dass er damit bei den anderen würde punkten können, indem er verbal auf den vermeintlich schwächsten eindrosch. Inzwischen bekam er aber dafür nur noch wenige müde Lacher.

Die Sportstunden zum Schluss waren an diesem Tag richtig gut: Es wurde Basketball gespielt, was mir schon immer viel Spaß machte. Erstaunlicherweise konnte ich das auch ziemlich gut (im Gegensatz zu Fußball) und ich war nicht der letzte, der bei der Mannschaftswahl „gewählt“ wurde! Der Schweiß floss in Strömen und die Stimmung war gut.

Danach strömten die allermeisten direkt nach Hause, aber ich gönnte mir, wie immer, eine entspannende Dusche. Auch nach dem Judo, was ich inzwischen zweimal in der Woche trainierte, war es für mich von Anfang an selbstverständlich zu duschen, das war für mich immer normal.

In der Schule traute sich erst seit dem letzten Schuljahr der ein oder andere unter das reinigende Nass, meist war ich jedoch allein und genoss das umso mehr, so auch diesmal. Dann bemerkte ich im Augenwinkel, dass zwei Duschen neben mir doch noch einer den Weg hierher gefunden hatte. Ich realisierte, dass dies ausgerechnet unsere Oberarschgeige war: Sepp, eben der, der mich seinerzeit so unvermittelt als Schwuli bezeichnet hatte. Auf den ersten Blick sah er gar nicht so schlecht aus, aber menschlich war er einfach eine Null. Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn, bis ich bemerkte, dass er eine ganz ordentliche Latte in den Himmel streckte. Fast zwangsläufig starrte ich in seine Richtung, was er natürlich bemerkte und mich sofort anblaffte:

„Glotz nicht so, Schwuli! Bloß weil ich hier ein Rohr schiebe, bin ich noch lang nicht schwul!“

Ich rollte nur mit den Augen und stellte das Wasser ab, da ich ohnehin fertig war. Ich schnappte mein Handtuch und verzog mich in den Umkleideraum. Ich bemerkte, dass ich mein Duschgel vergessen hatte und wollte es rasch holen. Ich vernahm jedoch eindeutige Geräusche, die mich am sofortigen Betreten des Waschraums hinderten. Kurze Zeit später erschien Sepp in der Tür und grinste mich provozierend an:

„Und? Hat dich das angemacht?“, fragte er fast ein wenig zu freundlich.

Ich schüttelte nur stirnrunzelnd den Kopf, woraufhin er sich vor mir aufbaute und wie zufällig sein Badetuch zu Boden glitt.

„Gib’s zu!“, raunte er in einem seltsamen Ton.

Zum Glück fand ich sofort meine Sprache wieder:

„Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein, Sepp! Du bist nicht mein Typ!“, entgegnete ich und prustete los als ich seinen bedröppelten Gesichtsausdruck realisierte. Doch was machte er? Er setzte ein äußerst süffisantes Lächeln auf und zischte nur:

„Naja, wenn einer schon früh morgens nackig auf einer Wiese steht und sich Eisenbahnen anschaut….!“

Wie vom Blitz getroffen drehte ich mich um und zog mich so schnell wie möglich an. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Hatte er mich etwa tatsächlich gesehen? Am Ende war er nicht der einzige? Oder war das nur ein Schuss ins Blaue? Ohne mich nochmal umzudrehen, verließ ich die Schule und rannte auf schnellstem Wege zum Bahnhof. Zum Glück fuhr mein Meridian aus Kufstein gerade ein und mir blieb eine weitere Konfrontation erspart – zumindest für heute!

Alarm

Zu Hause angekommen grübelte ich weiter darüber nach, was Sepp wirklich wusste und ob er mich am Ende zusammen mit seiner Dumpfbacken-Gang ständig beobachtete. Und dann diese seltsamen Anwandlungen heute nach dem Sport. Freilich kam ich zu keiner vernünftigen Schlussfolgerung.

Der WhatsApp-Gong riss mich aus meinen Gedanken.

Eine Nachricht von „BigBoy4014“, der in Wirklichkeit Fabian hieß:

‚Hi Quirin, heute wollte ich eigentlich gar nicht erst aufstehen! Ich ertrage kaum noch die Menschen um mich herum. Jeder will etwas von mir: Fabi mach dies, Fabi mach das! Und dann dieser Bernhard: Wenn grad niemand in der Nähe ist, droht er mir: <Ich mach dich fertig, du Opfer!>, ständig schubst er mich herum oder stellt mir ein Bein. Die, die das mitkriegen, lachen sich entweder schlapp oder schauen weg. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.

Nur wenn ich auf der Fußgängerbrücke über unseren Rangierbahnhof stehe und die Züge unter mir durchrauschen, fühle ich mich wohl und seltsam frei. In letzter Zeit verspüre ich den Drang, mich dann auszuziehen, komisch was? Natürlich mach ich das nicht. Du, neulich hab ich zum ersten Mal die preußische T18 gesehen, weißt du, die 78 468 von der Eisenbahn-Tradition. Die haben Dampfsonderfahrten hier bei uns angeboten.‘

Zum zweiten Mal heute wurde mir sehr heiß, als ich las was Fabian für Gefühle entwickelte. Irgendwie fühlte ich mich abermals ertappt. Ohne darauf einzugehen, schrieb ich zurück:

‚Mensch BigBoy4014, vergiss diese Ignoranten! Du weißt, dass du mit deinem Hobby nicht alleine bist auf dieser Welt. Ich habe heute mal völlig unerwartet die 103 245 erwischt! Hast das Bild wahrscheinlich schon gesehen! Ich muss jetzt doch Mal nach Koblenz kommen, dann schau ich mir mit dir das DB-Museum an, da gibt es ja ganz viele tolle Loks!‘

Postwendend konnte ich lesen:

‚Hey ‚Mister 15000 Volt‘ (das war mein Pseudonym bei WhatsApp), das wäre schön! Was machst du denn in den Ferien?‘

‚Oje, da ist alles schon verplant! Da muss ich wieder mit zu meiner Oma. Weißt du, der geht es nicht besonders gut und Paps sagt dann immer ‚das ist vielleicht das letzte Mal und wenn du dann nicht dabei gewesen bist, machst du dir dein Leben lang Vorwürfe‘. Das glaube ich zwar nicht, trotzdem gelingt es ihm mir damit ein schlechtes Gewissen zu machen! Aber in den Herbstferien vielleicht!‘

‚Och Mann! Das ist ja noch ewig hin! Aber gut, darauf freue ich mich! Jetzt mach‘s gut, cu!‘

‚Danke Fabi, schlaf gut!‘

Offenbarungen

Als ich kurz darauf in meinem Bett lag, kam mir nochmals Sepp, die Arschgeige in den Sinn. Was hatte das wohl zu bedeuten? Und vor allem: Was sollte das werden? Was, wenn er mich tatsächlich beim Trainspotting beobachtet hatte? Aber wieso hätte er das tun sollen? Und dann diese Show in der Dusche. Mir wäre es super peinlich, mir in der Schuldusche einen runterzuholen, wobei ich nie auf diese Idee kommen würde. Also entweder hat er ein ausgesprochen großes Selbstbewusstsein und er glaubt sich alles erlauben zu können oder er hat es irgendwie auf mich abgesehen. Wie ich es auch drehte und wendete, ich kam auf keinen grünen Zweig und schlief schließlich ein.

Im Traum erschien mir noch einmal die Szene von heute Nachmittag nach dem Sport in der Dusche. Nur kam Sepp diesmal auf mich zu und griff wie selbstverständlich nach Klein-Quirin und ich bemerkte, dass sein kleiner Freund dastand wie eine eins.

Ich fuhr hoch, erwachte und saß senkrecht im Bett. Genau das war es: Sepp war schwul! Konnte das sein? Auf keinen Fall würde er das je zugeben, weder seinen Freunden, ja noch nicht einmal sich selbst gegenüber! Ich beschloss ihn daraufhin etwas genauer zu beobachten, obwohl er mich eigentlich gar nicht so interessierte.

Sehr viel ruhiger schlief ich erneut ein, bis mich diesmal der Wecker aus dem traumlosen Tiefschlaf riss. Heute würde ich mir ausnahmsweise Mal keine Züge anschauen, zu sehr saß mir noch der Schreck in den Knochen, dass Sepp mich – möglicherweise – dabei gesehen hatte.

Ich klingelte bei Dominik, um ihn für die Schule abzuholen.

„Hi Q, wo warst du vorhin? Hast echt was verpasst! Nicht nur, dass heut‘ ein Güterzug mit dem Krokodil *) vorbei kam, mir ist dabei auch noch der Sepp über den Weg gelaufen und der hat ganz interessiert nach dieser Lok gefragt und sich so nebenbei erkundigt, ob du heute nicht kommen würdest. War irgendwie seltsam. Aber die E 94 279 *) hat schon phantastisch ausgeschaut, da hat man sich in München nicht lumpen lassen, dass man die als Traditionslok hat aufarbeiten lassen!“

Flugs antwortete ich ihm, dass ich heute keine Lust gehabt hätte, was ihn ungläubig die Augenbraue hochziehen ließ. Aber dass sich der Sepp tatsächlich auf unserer Fotowiese herumtrieb, bereitete mir schon ein größeres Unbehagen.

Schweigend erreichten wir den Bahnhof, wo auch schon fast der ganze Rest unserer Mitschüler aus Großkaro auf den Transport nach Rosenheim wartete. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Sepp mich seinerseits taxierte.

„Mensch Q, was ist denn mit dir los? Du redest heut‘ gar nix.“ Hörte ich Dominiks Stimme dumpf und weit entfernt. Als er keine Reaktion erhielt, stupste er mich an:

„Hallo, jemand zuhause?“

„Äh.. sorry Domi, was hast du gesagt?“

Er verdrehte nur die Augen: „Du bist heute ganz schön durch den Wind. Magst du mir nicht erzählen, was los ist?“

„Nix, was soll los sein?“ – zu mehr war ich wohl grade nicht fähig und spürte zugleich, dass mich mein Freund jetzt am liebsten schütteln würde. „Erzähl‘ ich dir später, okay?“, schob ich deshalb noch rasch hinterher. Wenig zufrieden mit dieser Aussage nickte Dominik.

Obwohl der Meridian mit einer doppelten Fünfer-Einheit daherkam, war er an diesem Vormittag so brechend voll wie noch nie.

Ich beschloss das Grübeln vorerst einzustellen und konzentrierte mich in Rosenheim drauf einen Blick auf den Meridian-Ersatzzug zu erhaschen, der jeden Augenblick von Kufstein herkommen musste: Das waren klassische Nahverkehrswagen, die von einer Lokomotion-Lok gezogen wurden und die bei dem schweren Zugunglück von Bad Aibling zerstörten Triebwagen vorübergehend ersetzten. Ha! Heute war die „Triple-Seven“, die 193 777 vorgespannt, die letzte der acht Siemens-Vectrons, die Lokomotion heuer geliefert bekommen hat. In diesem beigen Grundton wirkte diese Lok irgendwie düster und die roten Streifen der einen, wie die blauen Streifen der anderen Lokseite machten diesen Eindruck auch nicht besser. ‚17.Mai 2017, 6:59 Uhr, Rosenheim, notierte ich ergänzend. Es war schon faszinierend, wie pünktlich diese Ersatzzüge fuhren. Irgendwie Schade, dass dies nur noch bis zum Jahresende gehen würde. Dann würden die neuen Triebzüge ausgeliefert sein.

„Wo warst du denn heute?“, Sepps Organ riss mich aus meinen Tagträumen, obwohl er diese Frage eher hauchte als plärrte.

„Wieso, ich bin doch da“, tat ich naiv.

„Du weißt genau, was ich gemeint hab‘“, raunte er.

„Sepp, was willst du von mir?“, raunte ich zurück.

„Dich!“, zischte er kaum hörbar und nicht nur deshalb traute ich meinen Ohren nicht.

Ohne eine weitere Äußerung meinerseits abzuwarten, ließ er mich stehen.

Wie angewurzelt und mit offenem Maul starrte ich ihm nach.

„Mach‘ den Mund zu, es zieht!“, kam es prompt von Domi und er ergänzte noch, „Hast du ein Gespenst gesehen?“

„So ähnlich“, berappelte ich mich und machte auf dem Absatz kehrt.

„Quirin! Stop! Verdammt nochmal! Bleib stehen, Mann! Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen, Quiriiin!“, rief mir Dominik hinterher und packte mich unsanft am Arm.

„Jetzt reicht’s, raus mit der Sprache und zwar unverzüglich!“, blökte er und blitzte mich böse an.

„Okay“, resignierte ich, „komm mit, lass uns ins Café Moser setzen.“

Domi folgte mir wortlos. Ich bestellte uns zwei Cappuccini und setzte jetzt alles auf eine Karte: „Domi…. ich bin schwul“, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus und starrte in meine Tasse. Vorsichtig schielte ich in seine Richtung und sah nur das aufmunternd blinzelnde Augenpaar meines ältesten Freundes.

„Ja und?“, grinste er mich an.

„Sonst fällt dir nichts ein?“, versuchte ich ihn aus der Reserve zu locken.

„Man Q, das weiß ich doch längst, hast du nichts Neues?“

„Hä? Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Überhaupt, wie kommst du da drauf? Wirke ich so tuntig oder was? Ich fass es nicht. Ich brech‘ mir bald seit Jahren einen ab, wie ich dir das am besten verklickern soll und du tust so, als ob du das schon wüsstest! Das kann doch alles nicht wahr sein!“

„Doch, Quirin, das kann es. Und nein, du wirkst überhaupt nicht so. Aber Mann ich kenn dich seit 14 Jahren! Wir haben zwar noch nie über allzu persönliches gesprochen, was ich übrigens immer sehr bedauert habe, aber ich wollte dir nicht auf die Pelle rücken und habe gehofft, dass du irgendwann über deinen Schatten springen würdest. Das hast du jetzt getan und ich freue mich darüber! Wer weiß es denn schon alles?“

„Niemand!“, entgegnete ich kleinlaut.

Daraufhin nahm mich Dominik wortlos in den Arm. So saßen wir erstmal da und sortierten unsere Gedanken und Gefühle. Als er mich wieder losließ nickte er mir nur zu und nippte an seinem Cappu.

„Und der Sepp ist es glaub‘ auch!“, sprudelte es aus mir heraus.

„Wie, was jetzt? Die Arschgeige? Ach Quatsch! Niemals, das bildest du dir ein!“

Ich musste unweigerlich grinsen, weil mein langjähriger Freund denselben Titel für Sepp parat hatte wie ich.

„Ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde!“, und erzählte nunmehr alles, was sich seit gestern abgespielt hatte. Als ich endete, sah mich Dominik lange an und sagte schließlich: „Das glaube ich trotzdem nicht, der will dich nur fertigmachen, sobald du drauf anspringst! Sei bitte, bitte vorsichtig und lass dich nicht provozieren! Der ist eine ganz linke Bazille! Ich habe zufällig mal mitgekriegt, was der für Hasstiraden gegen Schwule raushaut.“

„Oh Mann!“, stöhnte ich, „aber das schlimmste ist, dass er mich wohl beim Spotten beobachtet hat!“

„Ja und?“, fragte Domi arglos, doch gleich darauf ließ er ein, „Sch…. ! Bist du sicher?“, vernehmen.

„Zumindest hat er mich direkt und hämisch darauf angesprochen.“

„Und jetzt?“, Domi sah mich ratlos an.

„Keine Ahnung. Ich fürchte, ich muss abwarten, was passiert! Lass uns in den Unterricht gehen.“

Übergriff

Rasch beglich ich unsere Zeche und wir wechselten die Straßenseite in unser ausgezeichnetes Bildungsinstitut. Rechtzeitig zur zweiten Stunde fanden wir uns in den Mathematikunterricht von Dr. Line ein. Da es „Fips“, unser Geschichtslehrer Herr Fiebig, in der ersten Stunde mit der Anwesenheitskontrolle nicht so ernst nahm, wurde unsere Abwesenheit vom Lehrkörper noch nicht einmal bemerkt; sehr wohl aber von Sepp, der Arschgeige, der uns argwöhnisch musterte.

Erstaunlicherweise verlief die folgende Zeit ohne weitere Vorkommnisse. Bis zur Sportstunde der folgenden Woche:

Zwar hatte ich die Ereignisse nicht vergessen, aber doch weitgehend verdrängt, als ich nach schweißtreibenden sechzig Minuten Volleyball wiedermal alleine unter der Dusche unserer Sporthalle stand. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Sepp stürmte herein, er packte mich und fixierte mich, indem er mir meinen Kopf unter die freien Rohrleitungen der mittig im Raum stehende Waschbeckenreihe klemmte. Einen Arm hatte er mir brutal auf den Rücken gedreht. Da ich ihm körperlich unterlegen war, hatte ich so keine Chance, mich zu bewegen oder gar zu wehren. Schlagartig wurde mir bewusst, was er vorhatte.

„Bitte nicht“, flehte ich, aber er grunzte nur:

„Was hast du denn? Das ist doch das, was ihr ekligen Schwanzlutscher immer wollt!“

Ich merkte, wie er seinen harten Schwanz in Position brachte.

Ich schrie so laut ich konnte.

Abermals wurde die Tür aufgerissen, aber diesmal stand Herr Baric im Waschraum und brüllte: „Was ist denn hier los?“

Sepp schaltete schnell, ließ mich los und rief: „Die schwule Sau wollte, dass ich es ihm mal richtig besorge!“ Mit einer verächtlichen Bewegung wollte er sich schon davon machen. Unbändige Wut kochte in mir hoch und mit aller Kraft flog meine Faust in sein Gesicht. Einem klassischen k.o. gleich, legte sich Sepp der Länge nach auf den Boden.

Fast meinte ich einen bewundernden Blick in Herrn Barics Augen festgestellt zu haben, bevor er mich anherrschte:

„Quirin, was soll das? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

Erst jetzt realisiert ich meine unvorteilhafte Bekleidung einer Lehrkraft gegenüber und drehte mich blitzschnell nach meinem Handtuch um, mit dem ich meine Blöße bedecken wollte. Doch wie auf einer Eisbahn zog es mir die Beine weg und in hohem Bogen knallte ich neben Sepp auf den Boden. Zwar merkte ich noch, wie Herr Baric versuchte mich zu halten, aber das misslang und das Licht ging aus.

Eine schier unendliche Ruhe breitete sich aus; alles wurde ganz leicht und gleißend hell – ich schwebte „Quirin! Quirin, mein Schatz!“, hörte ich meine Mama rufen. „Was machst du denn hier?“

Gerade wollte ich ihr antworten, als sich alles um mich herum wieder verdunkelte.

Ich versuchte meine Augen zu öffnen und schaute in ein grelles Licht.

„Dr. Scheuring, er kommt zu sich!“, vernahm ich, wie in Watte gepackt.

„Ah! Gut. Hallo Quirin, schön, dass Sie wieder da sind“, hörte ich eine jugendliche Stimme aus einer nicht zu definierenden Richtung sagen.

Ich wollte antworten und fragen zugleich, aber es ging nicht.

„Immer langsam. Nicht sprechen!“, ermahnte mich die Stimme. „Sie haben möglicherweise eine Gehirnerschütterung. Sie sind ziemlich unsanft gestürzt, aber Dank Ihres Sportlehrers ging das einigermaßen glimpflich aus. Jetzt erholen Sie sich erstmal, dann sehen wir weiter.“

Was er wohl damit meinte, dachte ich mir noch als meine Erinnerung schlagartig wieder da war. Sepp! Dann dämmerte ich wieder weg.

Als ich das nächste Mal wieder aufwachte, schaute ich in das Gesicht von Domi, der mich mit einer Mischung aus Sorge und Zuversicht etwas schief anlächelte.

„Hi“, brachte ich klar und deutlich hervor.

„Hi Quirin“, ließ er vernehmen und sogleich sprudelte es aus ihm heraus:

„Dem hast du es aber so richtig gegeben!“

„Wem hab ich was gegeben?“

„Na der Arschgeige! Den haste bilderbuchmäßig ausgeknockt!“, dann stockte er und fuhr leise fort: „Sie sagen, der hätte versucht, dich zu vergewaltigen…?“

Ich seufzte:

„Domi, ich weiß es nicht, aber wahrscheinlich schon. Was passiert jetzt?“

„Hm, hängt wohl von dir ab. Wenn du ihn anzeigst, wandert er wohl in den Knast, auch wenn er erst siebzehn ist. Auf alle Fälle fliegt er von der Schule.“

„So ein Arsch! Aber ich glaube, ich werde keine Anzeige erstatten!“

„Waas?“, schrie Dominik überrascht „Hey, wenn der Baric nicht zufällig noch da gewesen wäre, hätte der weiß was mit dir angestellt, vielleicht hätte er dich umgebracht, um die Spuren zu verwischen! Dann hätte der Arsch dich jetzt auf dem Gewissen.“

„Jetzt mach Mal halblang“, hielt ich fast schon etwas amüsiert dagegen, ob der Phantasie meines besten Freundes. „Du schaust zu viel schlechte Krimis!“

Dominik rollte nur mit den Augen.

„Ich will mit Sepp reden!“

„Was willst du? Spinnst du jetzt vollends? Was willst du dem sagen? Überhaupt, was soll das bringen?“

„Keine Ahnung!“, jetzt rollte ich mit den Augen, „ich will von ihm selbst hören, was er dazu zu sagen hat!“

„Aber das bringt doch nix! Diese Arschgeige ist ein homophobes Arschloch, das außerdem noch gewalttätig ist!“

„Das mag ja alles sein!“, fuhr ich fort und war plötzlich ganz ruhig und meiner Sache ziemlich sicher: „Ich glaube, der ist auch schwul und hasst sich deshalb selbst am meisten. Wenn der verknackt wird, bringt der sich um!“

„Ja und? Soll er doch!“

„Dominik!“, fassungslos schrie ich meinen Freund an, dass er zusammenzuckte. Ich erschrak selbst und fuhr wieder etwas ruhiger fort: „Domi, wenn ich Recht habe, ist der ein Gefangener seiner selbst! Überleg doch Mal in welchen Kreisen der verkehrt! Der weiß im Grunde weder ein noch aus!“

„Ich fass‘ es nicht! Erst vergewaltigt der dich und du nimmst ihn in Schutz! Hey, du bist kein heiliger Samariter.“

„Nein, bin ich nicht. Außerdem hat er mich nicht vergewaltigt. Ich will mit ihm reden! Fertig!“, sagte ich trotzig, Dominiks Antwort war nicht weniger trotzig:

„Naja, Q, morgen will eh die Polizei mit dir reden. Dann kannste ja denen den Schwachsinn nochmal erzählen! Ich muss jetzt nach Hause. Gute Besserung weiterhin!“

Es stimmte mich sehr traurig, dass mein alter Freund Dominik so selbstherrlich urteilte.

Eskalation

Der WhatsApp-Gong unterbrach meine Gedanken.

„Hi Mr.15000V, heute hatten wir in Physik die Dampfmaschine und ich sollte sie erklären. Als ich dann an der Tafel stand, hörte ich plötzlich Bernhard sagen: ‚Oh, unser Schwuli hat wohl mächtig Druck auf dem Kolben‘ und alle, einschließlich unseres Lehrers, fingen an zu grölen. Ich habe dann wieder den Fehler gemacht und bin einfach davon gerannt. Quirin, ich ertrage das nicht mehr! Ich glaube ich häng‘ mich auf. Die Welt braucht mich nicht und ich brauch‘ die Welt nicht!“

Sofort schrieb ich zurück:

„Hey BigBoy4014, mach‘ das bitte nicht! Geh‘ unbedingt zu deinem Vertrauenslehrer! Mit wem soll ich denn schreiben, wenn du nicht mehr da bist?“ Ich überlegte noch, ob ich ihm meine aktuelle Geschichte erzählen sollte, aber irgendwas in mir sträubte sich dagegen.

Schon gongte es wieder:

„Haha! Welcher Vertauenslehrer? Das ist genau unser Physiklehrer! Das kannst du ja wohl vergessen!“

Oh Scheiße, dachte ich und entschloss mich, ihm jetzt doch meine Geschichte zu erzählen. Das dauerte natürlich, weshalb ich ihm immer wieder Teilnachrichten schickte, damit er beschäftigt war.

Am Ende hatte er mir mit mindestens zwanzig Mal „Oh krass, Alter“, geantwortet.

Schließlich schrieb er, als wäre nichts geschehen, dass er morgen dann wieder in die Schule gehen würde.

Zwar war ich mir nicht ganz sicher, aber mein Eindruck war schon, dass er sich wieder etwas gefangen hatte, wenn auch die Sache nicht wirklich ausgestanden war.

Gefangen

Wie schon von Dominik angekündigt, bekam ich am nächsten Tag Besuch von unserem Dorfpolizisten POM Winklscherer. Das stellte insofern kein Problem dar, weil Sebastian Winklscherer ein guter Freund der Familie war, das heißt er und Paps kannten sich schon seit Sandkastenzeiten, ähnlich wie Dominik und ich. Aber das war freilich trotzdem nicht so selbstverständlich, war er doch auch ein Ex meiner Mutter. Dorf halt! Aber sie hatten sich seinerzeit im Guten getrennt.

Dr. Scheuring wollte sich jedoch zuvor ausführlich mit mir unterhalten.

„Quirin, fühlen Sie sich bestimmt in der Lage mit der Polizei zu sprechen?“

„Ja sicher, warum sollte ich nicht?“

„Naja...?“, eierte er plötzlich unsicher herum.

„Ich weiß, dass er mich vergewaltigen wollte!“, kam ich ihm zuvor

„Oookaay...“, kam langgezogen zurück. „Und, was werden Sie jetzt tun?“, wollte er neugierig wissen.

„Ich werde versuchen zuerst ein Gespräch mit Sepp, also Josef Hofbauer, zu führen!“, meinte ich zielsicher, worauf mich Dr.Scheuring musterte, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte.

„Wie Sie meinen, aber nur unter Aufsicht!“, bestimmte er.

„Schau‘n mer mal! Wann kommt denn der Bastian, ich meine Herr Winklscherer?“

„Der wartet schon draußen!“, überraschte mich Dr.Scheuring und wandte sich zur Tür. Dort drehte er sich nochmals um und ermahnte mich: „Überfordern Sie sich nicht! Ihr Nervenkostüm ist nicht so stabil, wie Sie es vielleicht empfinden!“

„Ja, ja“, beschwichtigte ich, bemerkte aber sofort meinen Lapsus und entschuldigte mich wortreich mit immer rötlicher werdendem Gesicht. Dr. Scheuring meinte schließlich lachend:

„Nun ist‘s aber gut“, und verließ kopfschüttelnd den Raum.

Kaum war er draußen, klopfte es auch schon und ohne eine Antwort abzuwarten stand Basti mitten im Zimmer.

„Hübsch häßlich hast du‘s hier“, flachste er.

„Ja, ja“, brummte ich wieder, nur dass es diesmal kein Problem war, denn Basti kannte mich ja lange genug.

„Scherzkeks“, grinste er, um ernsthaft fortzufahren: „Also, was war das jetzt zwischen dem Sepp und dir?“

„Tja, gute Frage! Ich will mit ihm reden!“

„Hm, Quirin, dann hat er also recht mit dem was er sagt!“

„Wie? Was sagt er denn?“, schaute ich Basti etwas irritiert an. Der runzelte nur die Stirn und fuhr fort:

„Er behauptet, dass du ihn aufgefordert hättest, ‚es dir mal richtig zu besorgen‘!“

Entgeistert sah ich ihm in die Augen: „Und das glaubst du ihm?“

„Naja, nach deiner Aussage grad! Allerdings hat er sich nicht gerade zurückgehalten und dich als schwulen Abschaum usw. beschimpft. Und letztendlich ist da ja noch die Aussage von eurem Lehrer, wie hieß er noch gleich?“

„Baric“

„Ja richtig! Der meinte, dass dich Sepp wohl vergewaltigen wollte. Willst du ihn anzeigen?“

„Eigentlich will ich zuerst mit ihm reden!“, bekräftigte ich, was mir einmal mehr einen Blick einbrachte, der verhieß, dass der Betrachter ganz offensichtlich an meinem Verstand zweifelte.

„Meinst du, du kannst das arrangieren?“, sah ich Basti fragend an. Damit schien ich den Guten etwas überrumpelt zu haben, denn er überlegte eine ganze Weile ehe er erwiderte:

„Also, wenn du keine Anzeige erstattest... Ich werde versuchen, ihn nachdrücklich zu einem Gespräch mit dir zu bewegen. Für den Erfolg kann ich allerdings nicht garantieren!“

„Gut, Danke!“

„Das wär‘s dann wohl erstmal! Mach‘s gut Quirin und gute Besserung! Ach hier meine Karte, falls irgendwas ist“, verabschiedete er sich.

Ich döste und sinnierte vor mich hin, als Dominik unvermittelt zur Tür hereinrumpelte.

„Guten Morgen Q. Wie geht‘s dir heut‘?“, erkundigte er sich ohne Luft zu holen.

„Danke, ganz ordentlich“, brummte ich, „glaub‘ ich jedenfalls“

„Aha“, meinte der nur.

„Wann komm(st) du/ich eigentlich raus?“, fragten wir gleichzeitig und mussten lachen. Etwas ratlos sahen wir uns an, als Hannes, der Bufdi, wie gerufen hereinschaute.

„Hannes, weißt du, wann ich entlassen werde?“

„Äh… naa, darüber wurde noch nicht gesprochen. Aber ich erkundige mich Mal!“, versprach er und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.

Ich erklärte Dominik, dass sich Basti, unser Dorfpolizist, bemühen würde ein Gespräch zwischen mir und Sepp zu arrangieren; worauf der wiederum nur seinen Kopf schüttelte und meinte:

„Q, Du bist ein unverbesserlicher Optimist und viel zu gut für diese Welt.“

„Quatsch“, wehrte ich ab, „ich glaube nur, dass der Sepp im Grunde ein armes Schwein ist, das selbst nicht ein und aus weiß.“

Dominik verdrehte wieder die Augen und sah mich fast mitleidig an.

Das straffe Programm des Krankenhausalltags sah jetzt das Mittagessen vor. Heute gab es Lasagne mit einem kleinen Salat, was eigentlich ganz lecker war, aber auch – sagen wir mal – ziemlich übersichtlich. Ich hätte locker das doppelte verdrücken können. Als Hannes das leere Geschirr holen kam und routinemäßig fragte, ob es denn geschmeckt hätte, antwortete ich ihm:

„Ja, schon, aber wer soll denn davon satt werden?“

Er lachte nur und erwiderte: „Du hast Glück, da ist eine Portion übrig. Warte...“ und schon hatte er mir das gleiche nochmal auf den Tisch gestellt. Ich schlüpfte wieder aus meinem Bett und erntete ein süffisantes Grinsen von Dominik.

„Was?“, fragte ich scheinheilig, denn ich wusste, dass er sich wieder über das „rückenfreie“ Krankenhausnachthemd amüsierte, welches ich immer noch trug. Ich wackelte ein wenig mit meinem Hintern und Dominik prustete los.

„Also wenn ich auch schwul wäre, würde mich das jetzt wohl ziemlich anmachen“, meinte er mit einem etwas hilflosen und schiefen Grinsen. Etwas nachdenklich schaute ich meinem besten Freund in die Augen. Dann brachte ich ein ehrliches Lächeln zustande und sagte: „Schade, Domi, aber was durfte ich auch anderes erwarten? Solche Zufälle gibt es halt doch nicht.“

Ruckzuck hatte die Extra-Portion ihren Aufenthaltsort gewechselt: Vom Teller in meinen Bauch, welcher sich nunmehr zufrieden, aber nicht überfüllt anfühlte. Kaum hatte Hannes das Tablett abgeräumt, klopfte es.

„Ja, bitte.“

Basti steckte seinen Kopf herein.

„Dürfen wir reinkommen?“ - eine rhetorische Frage, denn schon schob er Sepp und sich durch die Tür. Sepp sah fürchterlich fertig aus, nicht nur wegen seines Veilchens. Dominik und er funkelten sich böse an.

„Bis später Q. Ich bin dann mal weg“, verkündete er und stob förmlich davon. Das enttäuschte mich; er hätte ja wenigstens fragen können, ob er vielleicht bleiben sollte. Nun denn. Ich suchte Sepps Augenkontakt, doch er wich mir aus. Zwar meinte ich ein Blitzen zu bemerken, als er meines Outfits gewahr wurde. Schnell schlüpfte ich in mein Bett.

„Kann ich euch alleine lassen?“, fragte Basti, wohl ahnend, dass ich ihn genau darum hatte bitten wollen, gleichzeitig schob er Sepp einen Stuhl hin – in gebührendem Abstand zu mir.

„Ich denke schon“, meinte ich, wobei ich Sepp genau beobachtete.

Dann wandte sich Basti zu mir:

„Und du nimmst jetzt den den Rufknopf in die Hand!“, befahl er mit scharfem Ton.

„Und bei der kleinsten Kleinigkeit läutest du! Ich warte draußen vor deiner Tür!“

„Ja ist gut!“, bestätigte ich ihm etwas unsicher.

Sepp war bei den etwas laut und forsch gesprochenen Worten leicht zusammengezuckt. Er vermied noch immer jeden Blickkontakt, während ich ihn regelrecht fixierte. Eine halbe Ewigkeit schwiegen wir uns an. Ich bemerkte, wie ich immer ruhiger wurde, während Sepp einen immer hibbeligeren Eindruck machte. Dann hielt er es wohl nicht mehr aus:

„Quirin“, begann er zögerlich, „Quirin, ich weiß nicht was ich sagen soll… Es ist …. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“ Plötzlich schaute er mich mit glasigen Augen an. Ich musste sehr an mich halten, um nicht plötzlich Mitleid mit meinem Gegenüber zu entwickeln.

„Sag doch was…. Bitte“, ließ er kleinlaut vernehmen. Seine ganze Großspurigkeit mit der er immer auftrat, war wie weggeblasen. Ich beschloss in die Offensive zu gehen:

„Sepp. Alle erwarten, dass ich dich jetzt anzeige.“ Angst und Panik standen ihm nun im Gesicht. So hatte ich ihn noch gar nie wahrgenommen und setzte alles auf eine Karte:

„Aber so wie ich dich in letzter Zeit erlebt habe, erweckst du bei mir den Eindruck, dass du schwul bist, was du aber offensichtlich niemandem, wirklich niemandem erzählen kannst, noch nicht einmal dir selbst. Du bist quasi ein Gefangener deiner selbst.“ Wieder flammte Angst in ihm auf, dann sackte er förmlich in sich zusammen. Zum Glück saß er schon, sonst wäre er wohl auf den Boden geknallt.

„Ja“, fiepste er und ich traute meinen Ohren nicht.

„Und wieso hast du davor so eine Wahnsinns-Angst? Wer glaubst du, würde sich mit einem Bären wie dir anlegen wollen, nur weil du schwul bist?“ Erstaunt blickte er auf und ich fuhr fort: „Wieso denkt ihr Machos immer, dass sich alle Welt gegen euch verschwören würde, wenn ihr einmal Gefühle zeigen würdet? Hm? Das ist doch krank!“, langsam redete ich mich in Rage. Sepp schlug seine Augen nieder; er war nur noch das berühmte Häuflein Elend.

Frei

„Sepp schau mich an!“, pflaumte ich ihn an. Erschrocken hob er den Kopf. „Ich denke nicht, dass ich deine Tat entschuldigen kann, aber wenn du dich zumindest in unserer Klasse outen würdest, könnten wir die Geschichte vielleicht geordnet zu Ende bringen.“

„Wie soll das gehen? Wenn ich das irgend jemand sagen würde, ginge das doch sofort `rum wie ein Lauffeuer!“, sprudelte es förmlich aus ihm heraus. Jetzt war ich erstaunt und überlegte:

„Tja, mit dem Risiko, dass wir zwangsgeoutet werden müssen wir wohl leben. Das beschäftigt mich auch schon sehr lange“, gab ich zu.

„Ha! Das heißt du bist tatsächlich schwul!“, triumphierte er plötzlich. Selbstbewusst und scharf schaute ich ihn an „Soviel oder sowenig wie du!“, griente ich ihn zähnefletschend an. Wieder zuckte er zusammen.

„Okay, du hast ja Recht. Heißt das, dass du dich auch vor der Klasse outen wirst?“ Er taxierte mich mit zusammengekniffenen Augen. Da stand sie nun im Raum: Die Frage aller Fragen. Je mehr ich mich nun aktiv damit auseinander setzte, je sicherer wurde ich mir:

„Ich denke schon. Allerdings sollten wir uns NICHT vor die Klasse stellen und sowas wie eine Erklärung abgeben. Das machen ja die Heteros auch nicht. Wir sollten das in unseren Freundeskreisen und Familien möglichst unspektakulär rüberbringen. Wenn wir ehrlich sind, gibt es dazu hunderte Gelegenheiten!“

„Ja spinnst du jetzt vollkommen! Wenn ich das zu Hause erzähle, schlägt mich mein Vater windelweich!“

„Sepp! Übertreib‘ nicht! Du bist fast achtzehn Jahre alt, glaubst du ernsthaft, dass dich dein Vater da noch verprügelt?“, fast etwas belustigt stellte ich diese Frage. Sepp lächelte mich plötzlich an:

„Hm. Naja. Eigentlich nicht. Trotzdem: Du kennst ihn nicht! Er ist unberechenbar. Zumindest schmeißt er mich hochkantig raus!“ Das klang am Ende doch wieder ziemlich deprimiert.

„Eine andere Möglichkeit gibt es wohl nicht!?“, fragte er schließlich hin und her gerissen.

„Siehst du denn eine?“, versuchte ich ihn aus der Reserve zu locken.

„Nein, aber was ganz anderes: Nimmst du mich nächstes Mal zum Züge spotten mit?“, ob dieses überraschenden Themenwechsels hatte ich ihn wohl etwas entgeistert angeschaut, weshalb er mich vorwitzig angrinste. Jetzt kniff ich die Augen zusammen und musterte ihn von der Seite:

„Wie das denn auf einmal?“, wiewohl mir seine lüsternen Gedanken in diesem Zusammenhang schon klar waren.

„Och, so halt!“, feixte er Unschuld heuchelnd.

„Jaa, jaa!“, grunzte ich langgezogen

Schließlich prusteten wir beide los und kriegten uns schier nicht mehr ein.

Polternd öffnete sich die Zimmertür und Dr.Scheuring gefolgt von Sebastian Winklscherer stürmten herein. Verblüfft hielten sie inne. Der Doc fand seine Sprache als erstes wieder und erkundigte sich durchaus skeptisch:

„Was für ein Theater wird denn hier gespielt?“

„Ein Drama mit einigermaßen versöhnlichem Ausgang. Hoffe ich jedenfalls!“, gab ich zu Protokoll, allerdings spürte ich jetzt zum ersten Mal seit vorgestern schmerzhaft meinen Hintern. Auf Grund meiner Bewegungen erstarb jegliche Unterhaltung, sowohl Sepp, als auch Dr.Scheuring wussten wohl Bescheid. Mit einem barschen „Raus jetzt“ schickte Letzterer alle anderen aus dem Zimmer.

„Umdrehen“, befahl er mir kurz und knapp. Widerwillig tat ich wie mir geheißen.

Er begann mich unangenehm zu befummeln.

„Aber da kann doch nichts sein!“, stellte ich halb wütend, halb unsicher fest.

„Tja Quirin, was Ihren Hintern angeht ist das schon richtig, aber Ihr Steißbein wird Sie noch ein paar Tage quälen. Länger jedenfalls als den Herrn Hofbauer sein blaues Auge.“

„Hm“, grummelte ich, „wann darf ich eigentlich nach Hause?“

„Oh, ich dachte schon...“, frotzelte er, „Sie würden nie fragen! Nein Blödsinn, nach dem es doch keine Gehirnerschütterung war, spricht nichts dagegen, dass wir Sie morgen früh springen lassen!“

„Na, das klingt doch Mal gut!“

„Jetzt ruhen Sie sich aber noch etwas aus, ich habe den Eindruck, dass die letzten Stunden nicht so ganz spurlos an Ihnen vorüber gegangen sind!“

Sowie er das sagte, merkte ich, dass er Recht hatte und drückte mich in mein Kissen. Im Hinausgehen ermahnte Dr.Scheuring die draußen Wartenden, sich kurz zu fassen und mich alsbald alleine zu lassen. Inzwischen war auch Dominik wieder aufgetaucht und die drei standen da, wie bestellt, aber nicht abgeholt. Sepp schielte reumütig zu mir, jedenfalls kam es mir so vor. Auch Dominik war nicht mehr so feindselig drauf, wie noch vor drei Stunden.

„Was ist jetzt?“, fragte Basti etwas nervös.

„Nichts, was soll sein?“, entgegnete ich fast provozierend und schob ein „Alles in Ordnung!“, nach, obwohl man das sicher noch nicht behaupten konnte.

„Danke, Quirin!“, kam es ehrlich von Sepp.

Basti und Dominik schauten ausgesprochen skeptisch, aber sie hielten sich erfreulicherweise zurück.

„Morgen früh komm‘ ich hier raus“, brachte ich gerade noch so hervor, bevor mir die Augen zufielen.

„Dann schlaf gut! Servus Quirin“, hörte ich die anderen gerade noch sagen.

Paps

Als ich nach einem tiefen Schlaf wieder aufwachte, brauchte es eine Weile um festzustellen, wo ich war und, dass ich wohl das Abendessen verpennt hatte. Freundlicherweise hatte man aber das Tablett auf dem Tisch stehen lassen, an dem inzwischen Paps Platz genommen hatte. Er war in meinen Tablet-PC vertieft.

Als mir einfiel, was er da wohl zu lesen fand, stieg mir das Blut in die Birne.

„Hallo mein Sohn, du hast ja richtig fest geschlafen. Ich sitz‘ hier schon seit einer Stunde und es war hier keineswegs leise. Aber es hat dich nichts geweckt. Interessante Website hast du da!“ Meine Birne war nun mehr eine Tomate. Paps musste lachen.

„Mensch Quirin, so verlegen hab‘ ich dich schon lange nicht mehr erlebt!“

„Ähh …“, mehr als ein Krächzton war grad nicht drin.

„Nickstories“, las mein Dad vor, wohl um mir Zeit zu verschaffen. „Trainspotting – was ist das denn“, tat er verwundert.

„Das sind Eisenbahnfans, die sich stundenlang Züge anschauen und das manchmal auch dokumentieren!“, erläuterte ich und ergänzte: „So wie ich!“

„Aha“, brummte Paps, „und das andere ist auch so wie du?“

„Öhm, ja. Paps...“, plötzlich schossen mir die Tränen in die Augen.

„Scht, Quirin, Bua. Kein Grund zur Beunruhigung. Ich bin auch nicht auf der Brennsupp‘n daher geschwommen, obwohl ich dreißig Jahre älter bin als du. Seit wir nur noch zu zweit sind, habe ich dich noch genauer beobachtet! Nicht kontrolliert oder so, versteh‘ das nicht falsch. Es war mir einfach wichtig, immer zu wissen, wie es dir geht. Und da fällt einem Vater dann vieles auf, was sonst vielleicht nur die Mama bemerkt hätte. Aber ich habe mich mit ihr intensiv über dich unterhalten, vor allem seit sie ihre Diagnose hatte. Sie hat schon sehr früh gewusst, dass wir von dir wohl keine Enkelkinder erwarten durften. Aber es war nie eine Enttäuschung oder so. Sie hat immer wieder gesagt: ‚Wenn er nur glücklich wird‘. Und im Sterbebett waren ihre letzten Worte: ‚Pass‘ mir gut auf unseren Buam auf. Du musst genau hinschauen, der ist nicht so taff, wie er immer tut.‘“

Das war zuviel: Wir heulten beide wie die Schlosshunde. Paps war inzwischen herüber gekommen und wir hielten uns einfach eine Weile fest. Plötzlich lachte er richtig fies:

„Als ihr fünfzehn oder so wart, hat sie dich und Domi mal bei einer eurer Badeschlachten erwischt. Ihr hattet vergessen abzuschließen und sie hat was aus dem Bad gebraucht. Ein offenes Bad war ja bei uns früher immer normal. Jedenfalls ist sie zwar erschrocken, aber ein kurzer Blick auf ihren Sohn hat genügt, um dessen Stimmungslage genau einzuschätzen...“

Gibt es etwas röteres als eine Tomate?

„Das kann nicht sein“, verteidigte ich mich, „mit dem Domi war nie was, der ist nicht schwul...“

Oops, jetzt war es raus. „Außerdem bin ich mir selbst da erst vor etwa einem Jahr klar drüber geworden!“

„Das glaub‘ ich dir, aber deine Mama hat es schon vorher gewusst. Und auch mir ist das schon länger klar!“

„Wieso seid ihr alle immer so cool bei dem Thema? Ich zermarter‘ mir mein Gehirn mit der Frage ‚warum ich‘ und ‚was mach ich jetzt‘ und dann tut ihr alle, als wär‘ es das normalste von der Welt.“

„Wieso, wer denn noch?“ - mein Vater wieder!

„Na Domi, er war der erste, dem ich es mir vor ein paar Tagen getraut hab‘ zu sagen!“

„Achso?! Und ich? Wann hättest du die Güte gehabt, mich einzuweihen?“, tat er übertrieben beleidigt.

„Ach Paps“, stöhnte ich.

„Ach Quirin. Alles bestens. Das ist doch normal, dass du zuerst zu deinem besten Freund gehst. Schön, dass er es auch so gelassen nimmt. Weißt du, das ist, denke ich, keine Frage von ‚normal‘ oder ‚abnormal‘, sondern vor allem von Toleranz und Akzeptanz. Und zwar ohne wenn und aber! Da muss jeder einzelne mit seinem Leben zurechtkommen und sein Glück finden. Keiner hat da das Recht von außen Einfluss zu nehmen! Wie schwer das immer noch ist, zeigt deine Reaktion: Du schämst dich, machst dich innerlich selber fertig. Das kann es nicht sein. Quirin, wenn du da irgendwann Unterstützung brauchst, komm bitte künftig sofort zu mir!“ Jetzt wurde Paps sehr ernst und bestimmt:

„Das was dir vorgestern passiert ist, darf nie wieder vorkommen, hörst du! Nie wieder. Gab es da denn keine Vorwarnung?“ Bitterkeit lag in seiner Stimme.

Ich überlegte, denn darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.

„Ich weiß nicht, hinterher kann man viel hinein interpretieren.“

„Wieso? Wie meinst du das?“

„Naja, der Sepp war mir gegenüber schon komisch, aber dass er zu sowas fähig wäre, hätte ich niemals gedacht. Ich hatte übrigens heute ein langes Gespräch mit ihm.“

„Du hattest was? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, fuhr mich mein Paps an.

„Mensch, was habt ihr denn immer alle?“, fauchte ich zurück, „da sucht man das Naheliegendste, nämlich das Gespräch, und ihr tut alle so, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte.“

„Quirin! Was gibt es da zum Reden? So jemand gehört weg gesperrt, so einfach ist das!“

Ich sah meinen Vater völlig entgeistert an, schüttelte nur mit dem Kopf und sagte betont leise:

„Nein, Paps, ist es nicht. Eigentlich hatte ich mit Sepp vereinbart, dass er es selbst sagt, also nur unter uns, okay?“ Paps reagierte nicht.

„Nur unter uns, okay?“, und schaute ihm tief in die Augen.

„Ja, sicher!“, antwortete er verdattert.

„Also, Sepp ist auch schwul und hat damit ein riesiges Problem. Er konnte es bis jetzt nicht einmal sich selbst eingestehen, geschweige denn seinem Umfeld.“

„Wie? Der und schwul? Dann hat er allerdings ein Problem. Bist du sicher?“

„Naja, das waren eben solche Anzeichen. Jedenfalls hab‘ ich ihm heute auf den Kopf zu gesagt, dass ich denke, dass er schwul sei. Da ist er fast zusammengebrochen und hat es ohne Diskussion zugegeben. Diskutiert haben wir dann genau über das, was du vorhin als so selbstverständlich hingestellt hast. Und dass das eben in seinem gesamten Umfeld ein Problem ist. Jedenfalls haben wir fest vereinbart, dass wir uns jetzt sukzessive outen, das heißt wir plakatieren das nicht, sondern nutzen die vielen kleinen Möglichkeiten, die sich eigentlich ständig bieten. Wenn ich ihn anzeigen würde, hätte er keine Chance. Bitte lassen wir das jetzt auf sich beruhen. Danke!“

„Bua, du bist der Betroffene. Ich hoffe nur, es funktioniert, wie du dir das so vorstellst!“

Inzwischen knurrte mein Magen so laut, dass es auch Paps nicht verborgen blieb. So schlüpfte ich aus dem Bett und setzte mich an den Tisch. Auch Paps grinste unverhohlen, als er mich in diesem Aufzug sah; er setzte sogar noch einen drauf, indem er sagte:

„Bist schon ein hübscher Bursch‘, Quirin.“

Bei einem solchen Kompliment aus seines Vaters Mund, muss man doch dunkelrot anlaufen oder etwa nicht? Seufzend verzehrte ich in Rekordzeit das Abendessen, das irgendeine gute Seele wohl etwas aufgestockt haben musste. Eine normale Krankenhausration war das jedenfalls nicht. Bevor ich wieder in mein Bett kraxeln konnte, umarmte mich Vater noch einmal und verabschiedete sich mit den Worten:

„Gute Nacht, Kleiner, schlaf gut. Morgen früh hol ich dich ab.“ In der Tür stehend ergänzte er leise: „Ich bin stolz auf dich!“

„Danke Paps, bis Morgen. Gute Nacht!“

BigBoy

Diesmal konnte ich nicht gleich schlafen, sondern dachte über die Gespräche von heute nach. Alles erschien mir auf einem guten Weg, trotzdem fragte ich mich, ob das alles zwangsläufig so hatte kommen müssen. Immerhin hatte mich Dominik gewarnt.

War ich zu leichtsinnig?

Meine Gedanken blieben bei „meiner“ WhatsApp-Gruppe hängen. Eigentlich sollte die genau so etwas verhindern helfen, was mir passiert war. Da ich aber Fabian erst hinterher alles erzählt habe und sonst mit niemandem vorher geschrieben hatte, war natürlich aus dieser Ecke keine Hilfe zu erwarten gewesen. Fabian!

Mir fiel die Nachricht ein, in der er von seinem Drang schrieb, sich zum trainspotten seiner Klamotten zu entledigen. Mir wurde seltsam warm. Schon der Gedanke daran erregte mich. Doch wollte ich mich dem jetzt nicht hingeben, denn in der gleichen Nachricht berichtete Fabian im Prinzip von ähnlichen Drohungen, wie sie Sepp mir gegenüber ausgesprochen hatte. Zwar konnte ich ihn beruhigen, indem ich ihm meine Geschichte erzählt hatte, aber war das ausreichend? Mir kamen langsam, aber sicher diverse Zweifel.

Dann musste ich wieder grinsen, weil mir eine Nachricht von Fabian in Erinnerung kam, in der er völlig aus dem Häuschen war und mir berichtete, dass die Union Pacific, eine große Eisenbahngesellschaft in den USA jetzt doch wieder einen „BigBoy“, also die größte Dampflok der Welt, betriebsfähig aufarbeiten will.

Dazu hätten die Ingenieure alle acht in verschiedenen Museen noch vorhandenen Maschinen genau untersucht und festgestellt, dass die, die am weitesten von der zentralen Werkstätte der UP in Cheyenne weg war, die am geeignetsten wäre. Zwar hätten sie ja die Lok 4004 direkt vor der Tür in einem Park. Allerdings stand diese Maschine etliche Male bei Überschwemmungen bis über das Triebwerk im Wasser. Deshalb vermutete man dort zu viele verdeckte Schäden, vor allem an den Lagern, sodass man von deren Aufarbeitung absah. Schließlich hatte die Lok 4014 im milden Klima Kaliforniens ihre über fünfzigjährige Abstellzeit am besten überstanden. Mit einem medialen Großaufgebot holte man diese Lok dann 2014 in mehreren Etappen über die Schiene zurück nach Cheyenne.

2019, zum 150-jährigen Jubiläum der ersten transkontinentalen Eisenbahnverbindung soll sie wieder fahren. Da würde er unbedingt dabei sein wollen.

Deshalb nannte er sich ja in unserer WhatsApp-Gruppe „BigBoy4014“.

Mit den Gedanken an BigBoy4014 alias Fabian wurde ich ins Land der Träume getragen. Ich sah ihn auf „seiner“ Eisenbahnbrücke über dem Rangierbahnhof stehen. Fein säuberlich stellte er zuerst seine Schuhe ab, dann legte er seine Socken und alle weiteren Kleidungsstücke darüber. Er schaute dann wie immer nach den Zügen und kletterte schließlich auf das Geländer und ließ sich nach vorne fallen.

Ich fuhr hoch und saß schweißgebadet im Bett.

Katastrophe

Just in diesem Augenblick ertönte der WhatsApp-Gong meines Handys.

„Quirin, gerade haben sie mir zu fünft aufgelauert, mich durch den Park gehetzt und schließlich auf mich eingeschlagen, auch als ich schon am Boden lag. Zum Glück kam eine Streife und sie sind getürmt. Aber vorher hat mir Bernhard noch zugerufen, dass sie mich beim nächsten Mal pfählen und alle machen würden. Ich werde jetzt zu meinen Zügen gehen. Leb wohl Mr.15000V.“

Mir stockte das Blut in den Adern. Sofort schrieb ich zurück:

„Hi Fabi, das ist ja grausam. Hat man dich nicht erstmal ins Krankenhaus gebracht?“

Normalerweise müßte innerhalb einer Minute wieder eine Nachricht kommen. Aber Fabian antwortete nicht.

„Hallo Fabian, melde dich bitte!“

Wieder verstrichen bange Minuten ohne ein Lebenszeichen.

Dann versuchte ich mit ihm zu telefonieren. Es kam der Freiton und nach etwa zehnmal die Ansage, dass der Angerufene sich nicht meldet.

„Das merke ich auch!“, schrie ich verzweifelt in mein Handy.

Ein Blick auf die Uhr zeigte 2:12 Uhr.

‚Scheiße, scheiße, scheiße, was mach‘ ich jetzt?‘

Basti! Der schien mir der einzige, der vielleicht was machen könnte.

Leider hatte ich seine Nummer noch nicht eingespeichert.

‚Scheiße, wo hab ich die verdammte Karte hin?‘ und wühlte in der kleinen Schublade,

‚das gibt‘s doch net! Herrschaftsseit‘n‘

Nochmal durchwühlte ich genauso fahrig wie eben den kleinen Stapel Papier, aus dem das gesuchte Stück jetzt herausfiel. Ich griff sie mir und tippte mit zittrigen Fingern.

‚Oh Scheiße, Mann‘ - dauernd vertippte ich mich. Endlich hatte ich die verdammte Zahl auf meinem Display stehen und tippte auf wählen.

‚Hoffentlich ist der noch wach‘ - ‚so ein Schwachsinn, Quirin, es ist Mitten in der Nacht‘, verwarf ich den Gedanken gleich wieder. Nach nur zweimaligem Klingeln meldete er sich:

„Wache Großkaro Winklscherer.“

„Basti, ich bin‘s Quirin. Du musst mir helfen!“

„Quirin, Mann, es ist halb drei in der Nacht. Was ist denn los um Himmelswillen? Ist das mit Sepp doch schief gegangen?“

„Sepp? Achso, nein Quatsch. Wie kann man verhindern, wenn sich jemand umbringen will?“

Pause.

„Basti, bist du noch da?“

„Ja, sicher. Jetzt Mal langsam. Was ist los?“

Dann versuchte ich ihm möglichst klar und konzentriert zu erklären, dass ich vor etwa einem Jahr diese WhatsApp-Gruppe gegründet hatte gegen die ständigen Hänseleien und das Mobbing gegen uns Trainspotter.

„Train – was?“, blökte er ins Telefon

„Trainspotter, Basti. Das sind Leute, die sich einfach nur gerne Züge anschauen!”, vielleicht klappte es ja mit der Kurzform…

„So was gibt‘s?“, fragte er begriffsstutzig nach.

„Ja so was gibt‘s! Ich bin auch einer!“

„Echt jetzt?“

Ich war am Verzweifeln.

„Basti, da ist einer, er heißt Fabian. Der wohnt in Koblenz oder so. Der wurde heute zusammengeschlagen und jetzt will er sich das Leben nehmen! Das hat er schon mal angedeutet und ich konnte ihn aber immer irgendwie zurückhalten. Aber heute erreiche ich ihn gar nicht mehr! Es läutet, aber er geht nicht mehr ran.“

„Quirin, beruhige dich. Wenn das einer sagt, heißt das noch lange nicht, dass er das auch macht. Vor allem nicht mit Ankündigung!“

„Basti, ich weiß, dass er es diesmal ernst meint! Erstens hat er es eben nicht mehr direkt geschrieben sondern sich einfach nur verabschiedet! Ja genau, er hat nur „leb wohl“ geschrieben, das hat er sonst nie gemacht. Und außerdem, Basti...“ ich war mir zwar nicht mehr sicher, ob ich das erwähnen sollte; tat es aber letztlich doch: „Basti, ich hab kurz vor seiner WhatsApp davon geträumt, wie er sich umbringt. Bitte du musst ihm helfen, wenn es nicht schon zu spät ist.“

„Scheiße, Quirin. Warte, du sagtest, es läutet, wenn man ihn anruft? Dann hat er sein Handy an, gib mir schnell seine Nummer. Wir versuchen ihn zu orten!“ Ich nannte ihm die Zahlen und hörte, wie er telefonierte und mit oberster Dringlichkeit den Ortungsauftrag erteilte.

„Quirin, bleib dran, das dauert einen Moment. Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“

„Ja sicher! Er hat immer von einer Brücke über einen Rangierbahnhof erzählt.“

„Okay, sonst noch…. - ja Ralph ich höre... ja, Rangierbahnhof Koblenz? Ja das haut hin. Danke! So, Quirin, also das mit dem Rangierbahnhof scheint zu stimmen. Du hast ein saumäßiges Glück, in Koblenz ist ein alter Schulfreund von mir im höheren Dienst mit dem ich regelmäßig Kontakt habe und der hat grade auch Dienst. Ich alarmiere den Mal und bin gleich wieder bei dir!“

„Warte! Sag ihm, sie sollen gleich im dortigen Stellwerk anrufen, damit der Fahrdienstleiter über Notruf alle Zugbewegungen anhält!“

„Okay, Quirin, mach‘ ich!“

Ich hörte, wie er im Hintergrund seinen Kollegen in Koblenz anrief und ihn offensichtlich ohne große Erklärungen zu sofortigem Handeln bewegen konnte. Es schien mir, als ob die Wortwahl wie ein Code für bestimmte Handlungen wirkte. Auch mein Tipp mit dem Fahrdienstleiter schien keine Neuigkeit zu sein.

„Quirin, pass‘ Obacht! Die schicken jetzt einen Psychologen zu dieser Brücke! Die wollen, dass du mit dem – wie war nochmal sein Name?“

„Fabian!“

„Ja, die wollen, dass du mit diesem Fabian sprichst! Ich geb‘ denen jetzt deine Telefonnummer. Halte dich bereit, in Ordnung?“

„Ja klar! Und, Basti, - vielen Dank!“

„Kein Ding, dafür sind wir da! Servus Quirin!“, mit diesem etwas platten Satz verabschiedete er sich von mir. Nun begann eine schier endlose Zeit des Wartens. Schließlich fiepte mein Telefon.

„Quirin Silberschmid.“

„Ähm, hier Dr. Ilzheimer. Spreche ich mit Quentin?“

„Quirin“, wiederholte ich, „Quirin ist mein Name!“

„Ähm, ja, wie auch immer. Sie sind ein Freund dieses Fabian Rotschmied, richtig?“

Geschwind musste ich schlucken, denn bislang kannte ich Fabians Nachnamen nicht.

„Ja, bin ich.“

„Gut, Quentin, -”

„Quirin!“, unterbrach ich ihn und dachte nur, ‚was für ein Idiot.‘

„Ähm, Entschuldigung, Quirin, also Ihr Freund steht offensichtlich nackt auf dem Geländer dieser Eisenbahnbrücke hier. Wir werden uns ihm jetzt vorsichtig nähern und versuchen ihn zu beruhigen, dazu bitten wir Sie uns zu helfen. Wir werden ihm sagen, dass Sie ihn sprechen wollen, einverstanden?“

„Ja klar!“

„Gut dann los ….“

Der Bahnbetrieb schien tatsächlich zu ruhen, denn es war mucksmäuschenstill. Ich atmete tief durch, denn es waren trotzdem etwa 6m Höhe, außerdem war da noch die Fahrleitung mit 15.000 V. Fabian war immer noch in tödlicher Gefahr. Ich vernahm, wie sich Dr. Ilzheimer auf den Weg machte. Er schien ziemlich kurzatmig…

„Fabian! Ich komme jetzt zu Ihnen!“ - Ich wähnte mich in einem schlechten Film. Fabian antwortete nicht. „Fabian, ich habe hier Ihren Freund Quirin am Telefon!“ - Immerhin konnte er sich jetzt meinen Namen merken. „Fabian, ich bin gleich bei Ihnen! Quentin, ähm Quirin hat Ihnen etwas wichtiges zu sagen!“ - ‚Was für ein Arsch‘, dachte ich

„So! Hier ist das T ...tut...tut….tut….tut

Was war das jetzt? Blitzschnell tippte ich auf „angenommene Anrufe“ und die angezeigte Nummer. Der Freiton ertönte zweimal und dann: Ich konnte es nicht glauben, der Arsch drückte mich einfach weg! Ich versuchte es nochmals, da kam nur noch die Ansage, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei.

Fassungslos starrte ich auf mein Smartphone. Was mich am meisten aufregte, war meine Hilflosigkeit in diesem Moment: Ich konnte nichts, aber auch gar nichts tun. In meiner Verzweiflung wählte ich wieder Bastis Nummer.

„Wache Großkaro Winklscherer!“

„Basti, ich bin‘s nochmal.“

„Hi Quirin, wusste ich doch, dass mir die Nummer bekannt vorkommt! Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte er ein bißchen genervt. Worauf ich ihm die Story mit Dr. Ilzheimer in Kurzform erzählte.

„Hm, Quirin, ich fürchte, da kann ich jetzt um diese Uhrzeit nichts mehr für dich tun! Lass uns morgen, also heute nachmittag nochmal telefonieren. Um vier hab ich üblicherweise ausgeschlafen, auch wenn es heute, also gestern ein langer Tag war! Okay?“

„Ja, gut“, gab ich mich vorerst geschlagen. Ich wollte seine Nerven jetzt nicht unnötig strapazieren, schließlich war er für mich der Schlüssel um da weiter zu kommen, soviel war mir klar. Also legte ich mich wieder in mein Bett und ich merkte, dass ich trotz Wonnemonat ziemlich durchgefroren war. Immer wieder tauchte dieses Bild in meinem Kopf auf, wie Fabian auf dem Geländer der Brücke steht und sich nach vorne fallen lässt. Irgendwann bin ich wohl trotzdem darüber eingeschlafen und die Gedanken wurden zum Traum.

Entlassung

Als um 6:30 Uhr die Vorhänge und Fenster aufgerissen wurden, fühlte ich mich wie gerädert. Zum Glück hatte wieder Hannes Dienst und nicht so eine Matrone von Krankenschwester.

„Guten Morgen Quirin!“, sagte er in einigermaßen verträglicher Lautstärke.

„Guten Morgen Hannes! Meinst du ich könnte noch einen Moment Ruhe haben, heute Nacht war hier der Teufel los.“

„Hm, die Nachtschwester hat ‚keine Besonderheiten‘ übergeben!“, wunderte er sich.

„Das mag für die Station ja schon stimmen! Aber hier, bei mir ging‘s rund! Ich erzähl‘s dir nachher, okay?“, ich versuchte so leidend, wie möglich auszuschauen. Tatsächlich schloß Hannes Fenster und Vorhänge wieder und sagte im Hinausgehen:

„Beschwer‘ dich aber nicht, wenn du jetzt später hier rauskommst!“

Daraufhin quälte ich mich aus dem Bett und bewegte mich Richtung Bad. Unter der Dusche fiel mir ein, dass ich ja rein gar nichts zum Anziehen hatte. Ich war ja auf direktem Wege aus der Sporthallendusche hier eingeliefert worden. Allein bei dem Gedanken lief ich schon wieder rot an, weil ich mich im Nachhinein genierte. Wohl oder übel musste ich in diesem seltsamen Krankenhaus-Gewand auf meinen Vater und vorher noch auf das Frühstück warten. Das gab mir wieder die Gelegenheiten nachzudenken.

Natürlich landete ich dabei wieder bei Fabian. Und je mehr ich an ihn dachte, umso klarer wurde mir, dass ich unbedingt zu ihm wollte. Nein! Ich musste zu ihm, ganz eindeutig! Aber wie? Gerade mal, dass ich seit vorhin seinen Nachnamen wusste. Das war alles, ich wusste nicht, wo er wohnte, auch nicht wie alt er überhaupt war, noch nicht einmal ein Bild von ihm hatte ich. ‚Beste Voraussetzungen‘ also. Als ich so vor mich hin seufzte, kam Hannes mit dem Frühstück, das heißt eigentlich kam er mit zwei Frühstücks – oder heißt es Frühstücken?.

„Hey, was ist denn los? Du schaust, wie zehn Tage Regenwetter.“

Da er etwas Zeit zu haben schien, erzählte ich ihm eine Schnellfassung der vergangenen Nacht.

„Boa ey, ganz schön heftig“, meinte er nur und ergänzte: „Ich denke die haben Fabian in die Geschlossene gebracht.“

„Geschlossene?“, ich war an dem Morgen etwas naiv

„Psychiatrie!“

„Meinst du wirklich?“

„Ich denke schon. Das macht man zunächst zum Selbstschutz für diese Menschen. Solange sich die Ärzte kein vollständiges Bild machen können, was heut‘ Nacht garantiert nicht mehr möglich war. Führ‘ es dir doch bloß vor die Augen: Da steht einer nackt auf dem Geländer einer Brücke, ist nicht ansprechbar und die Ärzte wurden mit dringendem Suizidverdacht alarmiert.“

„Das muss ich mir nicht vor Augen führen! Davon habe ich die ganze Nacht geträumt!“, murrte ich müde.

„Entschuldige bitte. Aber du verstehst, was ich meine.“

Ich nickte nur und widmete mich dem servierten Frühstück, denn hungrig war ich, keine Frage.

Es klopfte und Dr. Scheuring betrat das Zimmer mit Paps im Schlepptau.

„Guten Morgen Quirin. Also viel ist im Moment nicht mehr zu sagen. Einmal das hier“, er fuchtelte mit einer Tubenschachtel herum, „die ist für deinen Allerwertesten.“ Ich verzog das Gesicht, „jetzt schau nicht so, diese Salbe hilft dir auf jeden Fall, auch wenn sie etwas fettig ist. Dann das hier: Das ist eine Überweisung zu einem Psychologen; wenn du also irgendwie Probleme bekommst, Flashbacks oder schlaflose Nächte, dann melde dich umgehend bei Dr. Filsthaler. Den kenn ich recht gut und glaube, dass du einen guten Draht zu ihm finden könntest. Ansonsten wünsche ich dir alles Gute und auf Wiedersehen, allerdings nicht unbedingt hier herinnen!“, sprach‘s und rauschte von dannen.

„Guten Morgen Quirin!“, begrüßte mich nun auch mein Vater. „Hier hab ich dir

ein paar Klamotten mitgebracht, damit du nicht nackt auf die Straße musst!“

Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu; war das jetzt eine Anspielung? Aber DAS konnte er doch gar nicht wissen! Eher vielleicht deshalb, weil Nacktheit bei uns nie ein Problem war: Wir nutzen zum Beispiel regelmäßig unsere kleine Familien-Sauna im Garten.

Schnell war ich endlich wieder gesellschaftsfähig gekleidet und wir konnten diesen Ort verlassen.

Ungewissheit

Zuhause setzten wir uns erstmal ins Wohnzimmer.

„Papa, ich hab da ein Problem!“ Paps horchte auf, denn wenn ich ihn ‚Papa‘ nannte, wusste er, das etwas im Busch war. Ich erzählte ihm also die ganze Geschichte. Von den Schwierigkeiten, die mein Hobby mit sich brachte, den Hänseleien und der daraus resultierenden Gründung der WhatsApp-Gruppe; schließlich von Fabian und der Geschichte heute Nacht.

„Oh mein Gott, Quirin, das ist ja eine Hammer-Geschichte!“

„Papa, ich muss da hin! Ich muss zu Fabian!“

„Ich hab‘s befürchtet. In Kenntnis deiner Person ist mir das klar. Nur glaub‘ ich halt, dass das nicht möglich sein wird. Obwohl, so stur, wie du sein kannst...“, diesmal bemerkte ich das Wohlwollen in seiner Stimme. „Vielleicht kann dir der Basti da tatsächlich weiterhelfen. Soweit ich weiß, hat er da oben recht viele Bekannte. Ich meine auch, dass er Mal was von einem Psychologen erzählt hat, der mit ihm früher aufs Gymi gegangen ist und den es nach dem Studium dorthin verschlagen hat. Muss ein guter Freund von ihm gewesen sein.“

Ich konnte es kaum abwarten, bis es endlich vier Uhr am Nachmittag war.

Keine Minute zu früh rief ich ihn an, Paps hatte ja seine private Nummer bei uns eingespeichert.

„Hallo Quirin“, meldete er sich gleich, „hab deinen Anruf schon erwartet. Ich hab inzwischen meine Fühler ausgestreckt. Horch zu: Die Kollegen vor Ort wissen nur, dass dein Fabian...“

„Das ist nicht MEIN Fabian“, unterbrach ich ihn beleidigt.

„Ja, natürlich nicht, entschuldige. Er wurde jedenfalls ins Johanniter-Zentrum für Kinder-und Jugendpsychiatrie gebracht. Und jetzt halt dich fest: Genau da arbeitet mein Freund, Sebastian Leidbichl, als Jugendpsychiater. Du hast schon ein Glück, mein Lieber!“

Sofort war ich Feuer und Flamme.

„Basti, ich muss da hin! Zwar kenn ich den Fabi ja eigentlich nicht richtig. Nur halt über WhatsApp, aber irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass er mich jetzt braucht!“

Basti schlug daraufhin folgendes vor:

„Quirin, ich versuch‘ jetzt den Wastl zu erreichen, werde ihm den Fall schildern mit den ganzen Infos, die ich von dir hab und werde ihm auch sagen, dass du Fabian gerne helfen würdest. Dann schau‘n mer Mal was er dazu meint! Ist das okay für dich?“

„Ja freilich, Basti vielen herzlichen Dank schon Mal!“ bedankte ich mich euphorisch bei Bastian.

„Jetzt wart‘s erst Mal ab! Ich meld‘ mich!“

„Paps, Paps!“, aufgeregt lief ich zu ihm in die Küche. „Der Freund von Basti, den du erwähnt hast, arbeitet doch tatsächlich in der Klinik, in die sie Fabian gebracht haben!“

„Hört sich doch ganz vielversprechend an!“, meinte der nur. „Jetzt komm‘ setz dich! Essen ist gleich fertig!“ Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Vater einfach da war:

„Musst du nicht arbeiten?“, fragte ich vorsichtig.

„Mein Sohn...“, oha, jetzt wird es ernst, „ natürlich müsste ich arbeiten, aber was denkst du wohl? Da hat man unseren Jungen beinahe vergewaltigt, dabei hat er sich noch den Kopf angeschlagen und heute wurde er entlassen. Meinst du nicht, dass sich ein Vater da ein paar Tage frei nehmen könnte? Dass es dir so schnell wieder gut geht, ist für mich ein Wunder! Das heißt eigentlich auch wieder nicht. Denn nur weil du noch sturer bist, als es deine Mutter war und eine so gute Seele hast wie sie eine hatte, nur deswegen sitzt du hier!“

Als ich seine glasigen Augen bemerkte, senkte ich meinen Blick und kämpfte wieder mit den Tränen. Man, was war ich plötzlich für eine Heulsuse geworden, als ob er meine Gedanken lesen könnte, setzte sich mein alter Herr zu mir und sagte leise:

„Quirin, du bist keine mimosige Heulsuse, auch wenn du das jetzt wahrscheinlich denkst, du bist einfach nur ein ganz toller Mensch, auf den jeder Vater nur mächtig stolz sein kann!“

„Ach Paps!“, schluchzte ich, „soo toll bin ich auch wieder nicht!“

„Doch, Quirin, doch. Nimm es einfach so, wie ich es gesagt habe!“ Dabei wuschelte er mir seit langer Zeit wieder einmal durch die Haare, was ich sehr genoss.

„Das kannst du ruhig wieder öfters machen!“, blinzelte ich ihn an.

„Äh… Was?“, es schien ihm gar nicht bewusst zu sein.

„Na das!“, und wuschelte mir selbst durch die Haare. Da lachte er:

„Nichts leichter als das!“, kam auf mich zu und das Ganze endete in einer schier endlosen Wuschel- und Kitzelattacke. Dabei war ich immer gnadenlos verloren, so kitzelig, wie ich nunmal war. Er aber war genau das Gegenteil: Jeglichen Versuch ihn zu kitzeln, quittierte er allenfalls mit einem Schmunzeln. Ich hab‘ nie herausgefunden, ob Paps wirklich nicht kitzelig war oder ob er sich einfach nur super gut beherrschen konnte. Da lag ich nun wie ein Maikäfer auf dem Rücken und unserem Küchenboden und japste nach Luft. Paps stand wieder am Herd und lachte sich kringelig.

„So, Kleiner, Essen ist fertig!“, früher konnte ich es nicht leiden, wenn mich Paps so nannte, aber heute kann ich schon an seiner Wortwahl die Stimmung oder Wichtigkeit seiner Aussage bereits im Ansatz erkennen. Nennt er mich ‚Kleiner‘, ist es ein Ausdruck tiefster Verbundenheit. Zur Feier des Tages gab es ‚Boeuf Bourguignon‘, welches Paps schon am Tag zuvor angesetzt hatte. Nach zweimaligem Nachschlag lehnte ich mich zufrieden zurück. Wieder kam mir Fabian in den Sinn. Was er wohl gerade machte?

Es läutete an der Tür. Paps und ich schauten uns fragend an; wer das wohl sein mochte.

Ich erhob mich und ging an die Tür.

„Oh hallo Basti! Was führt dich hierher? Hast du Hunger? Es gibt Boeuf Bourguignon!“, stellte ich ihm in Aussicht.

„Hi Quirin! Nein danke, hab grad gegessen. Ich bin auf dem Weg zum Dienst und wollte nur geschwind berichten!“

„Komm doch rasch rein. Magst einen Kaffee?“

„Au ja, gute Idee. Hallo Markus, dein Sohn hat mir einen Kaffee angeboten!“

„So was aber auch!“, frotzelte der angesprochene „Hallo Basti, komm rein! Kaffee gibt es hier immer! Was führt dich hierher?“, fragte nun auch mein Vater.

„Setz euch erst Mal hin!“, forderte uns Basti auf. Moment, wäre das nicht unser Part als Gastgeber? Dennoch folgten wir seine Aufforderung. „Folgendes: Quirin, mein Freund Wastl arbeitet leider nicht mehr in dieser Klinik, vielmehr hat er sich selbstständig gemacht und betreut jetzt Menschen wie Fabian ambulant. Dazu müssen sie aber natürlich erst wieder aus der Geschlossenen entlassen sein. Insoweit arbeitet er mit dem Johanniter-Zentrum nach wie vor zusammen. Du sollst ihn morgen Abend anrufen. Bis dahin versucht er herauszufinden, wie es Fabian geht. Hier ist seine Nummer.“ Er schob mir einen Zettel rüber. Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte verabschiedete er sich.

Nun hieß es schon wieder: Abwarten.

Ablenkung

„Paps, sorry, aber ich halte das nicht aus hier nur rum zu sitzen! Ich geh ein bißchen Züge spotten, wenn es okay ist!“

„Ja sicher! Wann kommst du wieder?“

„Spätestens, wenn es dunkel wird, so neune/halbzehne!“

„Alles klar! Bis später.“

„Okay, Paps, bis nachher!“

Es war strahlend blauer Himmel. Ich beschloss, bei Dominik zu läuten.

„Oh, hey Quirin, wie geht es dir?“, begrüßte mich Evi, Dominiks Mutter. „Domi ist beim Sport!“

„Ach, freilich, hätte ich selbst draufkommen können, aber mein Zeitgefühl ist grad durcheinander, danke der Nachfrage es geht mir gut!“, log ich, dass mir die Sorge um Fabian den letzten Nerv raubte, wollte ich Evi nicht auf die Nase binden. „Sag ihm bitte schöne Grüße von mir, wiedersehen Evi und schönen Abend noch!“

„Dir auch Quirin, Servus!“

Ich schlenderte die Straße lang Richtung Bahndamm, als ich in einiger Entfernung eine Gruppe Jugendlicher bemerkte. Es war die Dumpfbacken-Gang. ‚Ach na‘, die brauchte ich jetzt nicht und überlegte einen Umweg zu gehen, denn sie hatten mich noch nicht bemerkt, dachte ich jedenfalls, schon kam Sepp, die A… nein, er hatte überhaupt nichts arschgeigiges mehr an sich! Mit strahlendem Gesicht kam er auf mich zu; selbst sein blaues Auge leuchtete; zwar nicht mehr in blau, vielmehr in einem gelblichen Grün oder war es doch ein grünliches Gelb? Fast zwangsläufig grinste ich ihn an.

„Sepp, du strahlst ja so, bist du Weltmeister im Bäume Ausreißen geworden?“

Mit einem schiefen Grinsen ging er darauf ein:

„So ähnlich! Heute morgen beim Frühstück mit meiner Mama hat es sich ergeben, dass ich ES ihr gesagt habe. Da ich vorsichtshalber in Deckung gegangen bin, hat sie erst komisch g‘schaut und mich dann fast ausgelacht!“, immer noch schwang ein beleidigter Unterton mit. „Dann hat sie mich zum ersten Mal seit zehn Jahren in den Arm genommen und erklärt: ‚Ach Seppi, ich glaube, das ist heutzutage kein Problem mehr. Nur kann ich dir da natürlich überhaupt nicht helfen!‘ ‚Doch, kannst du! Was soll ich mit Vater machen?‘ Da hat sie eine Weile überlegt und gesagt: ‚Seppi, lass mich machen. Das kriegen wir auch hin, versprochen!‘ Quirin, ich fühle mich jetzt fast wie ein neuer Mensch!“

„Also doch die Goldmedaille im Bäume Ausreißen?“ Er lachte nur, hob kurz die Hand zum Gruß und gesellte sich wieder zu den anderen. ‚Ob er es denen schon gesagt hat?‘, überlegte ich und ging unbehelligt an der Truppe vorbei.

Als ich an der „Abendkurve“ ankam, verspürte ich den starken Drang, mich meiner Kleider zu entledigen, aber ich widerstand, vorerst jedenfalls. „Abendkurve“ deshalb, weil hier die untergehende Sonne die Züge in ein tolles Streiflicht tauchen würde. Noch stand die Sonne relativ hoch, aber es würde einen tollen Sonnenuntergang geben.

Kaum hatte ich eine kaum einsehbare Stelle im hohen Gras gefunden, von der ich die gesamte Kurve im Blick hatte, kam auch schon der erste Zug:

Der Münchner Teil des Railjets aus Budapest zog mit dem singendem Antriebsgeräusch der 1116 vorbei. In diesem Licht wirkte diese anthrazit/rote Farbgebung besonders elegant. ‚26.Mai 2017, 16:10 Uhr Großkaro 1116 xxx mit Railjet aus Budapest‘ notierte ich, nachdem ich mit meinem Handy das obligatorische Foto geschossen hatte. Die Loknummer hoffte ich später auf dem Foto erkennen zu können. Das wollte ich zu Hause in Ruhe erledigen.

Fabian! Wieder musste ich an diesen Kerl denken. Ich zog mir Schuhe und Strümpfe aus und genoss einmal mehr das Gras unter meinen Füßen.

Ein ungewöhnlicher Pfiff entfachte ein spannendes, aber geiles Gefühl. Sollte ich dieses Glück heute haben? Ich hatte:

Die E 94 279, das „deutsche Krokodil“ erklomm mit voll laufenden Motorlüftern die Steigung Richtung Ostermünchen. Die Traditionsmaschine der Lokomotion GmbH aus München hatte einen ordentlichen Zug am Haken: 24 Getreidetransportwagen, jeder mit fast 90 Tonnen Gewicht, also über 2100 Tonnen! Fast vergaß ich das Foto zu machen, weil dieser Zug an jenem Tag zu jener Uhrzeit in keinem Fahrplan stand. Nun konnte ich also auch notieren:

‚26.Mai 2017, 16:24 Uhr, Großkaro, E94 279 mit Getreidezug (2100t)‘

Ich befand mich in Hochstimmung. Es fuhren 26 weitere Züge in beiden Richtungen vorbei, die ich fein säuberlich notierte und fotografierte. Langsam ging die Sonne unter und tauchte die Landschaft in ein warmes, orangefarbenes Licht. Ein leichter Wind streifte über meine nackte Brust. Ich fühlte mich unbeschreiblich wohl. Es raschelte im Gras. Ich zuckte zusammen.

„Nicht erschrecken, Quirin, ich bin‘s bloß, der Sepp!“, leise kündigte er sein Erscheinen an. Trotzdem ergriff mich die Panik und ich meine Klamotten. Doch schon stand er neben mir und glotzte mich an, als sei ich von einem anderen Stern. Er sagte nichts mehr, sondern begann sich langsam auszuziehen. Schließlich stellte er sich etwa fünf Meter von mir weg und sagte leise, aber bestimmt:

„Quirin, hab keine Angst, ich werde dir nie wieder zu nahe treten. Aber die Stimmung hier ist einfach phantastisch.“ Langsam entspannte ich mich und schielte zu ihm hinüber. Wieder erschien mir Fabian auf dem Geländer dieser Brücke, diesmal in der Gestalt von Sepp.

„Sepp, ich kann das nicht!“, brachte ich nur hervor und schnappte mir meine Klamotten. Hose, T-Shirt und Schuhe zog ich mir an, zu mehr reichte es nicht. Den Rest stopfte ich in die Taschen meiner Cargohose.

„Sepp, es hat nix mit dir zu tun, echt nicht. Aber ich knabbere da an einer krassen Geschichte, erzähl ich dir vielleicht später! Mach‘ gut, bis demnächst wieder in der Schule!“

So ließ ich ihn enttäuscht und ratlos zurück. Seither hat er mir tatsächlich nie wieder nachgestellt, aber auch nie mehr ein Wort darüber verloren. Seine offensichtliche Wandlung vom Saulus zum Paulus war schon phänomenal. Noch vor Einbruch der Dunkelheit saß ich wieder bei Paps im Wohnzimmer.

„Quirin, was hälst du davon, wenn wir morgen zusammen einen Ausflug machen?“

„Kommt drauf an wohin!“

„Zum Brenner“, sagte er lässig, als wäre es das normalste von der Welt. „Ich kenne den Ausbildungskoordinator von Lokomotion. Mit dem hab ich vorher gesprochen, ihm erzählt, dass du ein großer Fan bist und gefragt ob wir wohl morgen eine Chance auf eine Führerstandsmitfahrt hätten. Er hat sich dann den Dienstplan angesehen und festgestellt, dass morgen ein sehr netter Kollege die Schicht von 10:45 Uhr bis 20:00 Uhr fährt. Wir sollen einfach morgen früh ins Büro kommen, damit die Mitfahrtberechtigungen ausgestellt werden können. Was hältst du davon?“

„Das ist ja phantastisch! Paps, also manchmal hast du schon auch gute Ideen!“, meinte ich gespielt überheblich. Das hätte ich besser nicht tun sollen, denn so wurde ich wieder das Opfer einer väterlichen Kitzelattacke vom Feinsten. Da ich nur noch T-Shirt und Hose anhatte – die Schuhe hatte ich nach dem Betreten des Hauses ausgezogen – hatte Paps leichtes Spiel. Ich hatte keine Chance: So schnell war ich T-Shirt und Hose noch nie los, was sonst kein Problem darstellte, denn normalerweise hatte ich noch was drunter. So lag ich also quietschend und nach Luft schnappend auf dem Teppich im Wohnzimmer, als Paps realiserte, dass er mich nackig gemacht hatte. Zuerst stutzte er, kitzelte mich aber doch noch in abgeschwächter Form weiter und grinste mich schließlich fies an und klatschte mir auf den Hintern. Kopfschüttelnd erklärte er mir seine Gedanken:

„Es ist unglaublich, Kleiner, vor ziemlich genau 16 Jahren hab ich mit dir genau hier ebenso herumgetobt, wie grade, nur dass deine Stimme heute sehr viel tiefer ist und du jetzt eben fast erwachsen bist. Aber sag, seit wann ziehst du keine Unterhosen mehr an?“

Nun wollte ich ihm ja nicht alles auf die Nase binden. Oder hieße das, sein Vertrauen zu missbrauchen? Naja, Väter müssen ja nicht alles wissen, entschied ich und brummte nur: „Das ist nur, weil es heute so heiß war!“ Paps beließ es jedenfalls dabei.


Der folgende Tag wurde zu einem einmaligen Erlebnis: Pünktlich um zehn standen wir im Büro von Lokomotion, wo wir nach einer kurzen Unfallverhütungsbelehrung eine Mitfahrberechtigung für die Züge 43129 und 43126 am heutigen Tag erhielten. Man wünschte uns viel Spaß und wir begaben uns nach München Ost Rangierbahnhof, kurz MOR. Dort erwartete uns schon Steffen, langjähriger Lokführer bei Lokomotion.

Es waren etliche Züge aufgestellt, teilweise schon mit Lok, teilweise noch nicht. Meine Frage nach der E 94 wurde mit einem lachenden und einem weinenden Auge beantwortet:

„Eigentlich hätten wir mit der bis Kufstein fahren sollen, aber die Umläufe passen heute mal wieder alle nicht. Die E 94 ist mit dem Getreidezug von gestern in Pfaffenhofen!“

„Schade!“, so ganz konnte ich meine Enttäuschung darüber nicht verbergen.

„Dafür fahren wir mit der Doppeltraktion 189 917 und 918 von hier aus durch bis zum Brenner. Die italienischen Kollegen übernehmen das Gespann interoperabel.

Wir haben also genügend Zeit für eine gemütliche Pizza am Brenner!“, strahlte mich Steffen an.

Die Fahrt wurde toll! Bereits an der Grenze vor Kufstein wurden wir in das neue „European-Train-Control-System“ ETCS aufgenommen, was dem Lokführer bei freier Fahrt die sogenannte ‚elektronische Sicht‘ auf – theoretisch – 32 Kilometer erlaubte. Angezeigt werden dabei die Geschwindigkeitswechsel, Steigungen und Gefälle und eben wie weit freie Fahrt besteht. Nach Wörgl ging es mit 120 Sachen durch den Unterinntaltunnel. Erst nach dem Umfahrungstunnel von Innsbruck kamen wir wieder ans Tageslicht, von einzelnen Überleitstellen abgesehen.

Ab da ging es dann mit bis zu 26 Promille steil und kurvig bergan. Ein tolles Schauspiel in einer atemberaubenden Landschaft. Etwas über 1400 Tonnen Zuggewicht bedeutete fast Grenzlast für unsere beiden Lokomotiven, die Steffen beide vom vorderen Führerraum aus steuerte. Über 17.000 PS! Es kamen uns so viele Züge entgegen, dass ich sie gar nicht alle aufschreiben konnte. Am Brenner erwarteten uns schon die Kollegen der RTC, die den Zug weiter nach Verona Quadrante brachten.

Wir hingegen ließen uns eine echte italienische Pizza schmecken und beendeten das Mahl mit einem sehr guten Cappuchino.

Auch unser Zug nach München war pünktlich am Brenner. Wie schon hinzu, bestand die Ladung wieder aus Containern, Wechselpritschen und LKW-Aufliegern. Diesmal musste der Zug am Brenner neu bespannt werden.

Dazu standen zwei nagelneue Vectrons bereit: Die 193 772 mit blauen Streifen und als führende Lok die „triple seven“, die ich neulich vor der Meridian-Ersatzgarnitur gesichtet hatte.

Bergab zu fahren, sei fast anspruchsvoller, als bergauf erklärte mir Steffen, denn je nach Zuggewicht muss anders gebremst werden, wobei mit der dynamischen Bremse der Loks elektrische Energie in die Fahrleitung zurückgespeist wird.

Auch in Kufstein wurden wir schon erwartet, denn dort wurde uns die bislang vorne laufende 193 777 abgenommen. Wir wechselten auf die 772 und nach einer erneuten Bremsprobe, wie sie vor jeder Fahrt durchgeführt werden muss, brachte Steffen uns und den Zug mit einer Lok sicher nach München.

Natürlich hatte ich Dominik Bescheid gegeben, wann wir etwa in Großkaro durchfahren würden. Tatsächlich passierten wir die Abendkurve um 19:14 Uhr, also im schönsten Abendlicht.

Nachdem wir uns von unserem Lokführer verabschiedet hatten, fiel mir auf, dass ich durch die vielen Eindrücke an diesem Tag bisher nicht einmal an Fabian gedacht hatte, was mir jetzt fast ein schlechtes Gewissen machte, denn im Gegensatz zu mir, ging es ihm sicher richtig dreckig!

Dennoch war ich Paps sehr dankbar, dass er dieses schöne Ablenkungsmanöver arrangiert hatte. Doch kaum zu Hause griff ich zum Telefon um Prof. Leidbichl anzurufen.

Lösungswege

„Leidbichl!“, meldete sich eine sonore Stimme.

„Guten Abend Herr Prof. Leidbichl. Quirin Silberschmid ist mein Name. Der Sebastian Winklscherer hat mir den Kontakt zu Ihnen vermittelt!“

„Ah, Quirin, guten Abend, bitte sag Wastl zu mir, dann fühl ich mich wieder zu Hause in Großkarolinenfeld. Ja, der Basti hat mir ja einiges erzählt. Wenn ich das richtig verstanden habe, hast du eine WhatsApp-Gruppe gegründet, weil ihr mit eurem Trainspotting Opfer von Spott und sogar Handgreiflichkeiten geworden seid. Er hat mir auch erzählt, was dir widerfahren ist. Wie geht es dir denn inzwischen?“

„Naja Prof. Leidbichl, also Wastl, mir geht es eigentlich gut nachdem ich mit meinem Gegner gesprochen habe. Aber seither mach ich mir einfach nur große Sorgen um Fabian. Ich habe das Gefühl, dass ich ihm helfen muss und auch helfen kann.“

„Also „Gegner“ ist schon eine sehr schmeichelhafte Bezeichnung für den, der dich letztlich beinahe vergewaltigt hat. Du bist jetzt, wie mir scheint, sehr mit der Sorge um diesen Fabian beschäftigt, so dass du möglicherweise dein eigenes Trauma im Augenblick einfach verdrängst. Deshalb meine dringende Bitte an dich: Wenn die Geschichte mit Fabian demnächst für dich abgeschlossen sein wird, sprich auf alle Fälle mit einer Person deines Vertrauens ausführlich über deine eigene Geschichte mit diesem Josef Hofbauer. Sollte dir das aus irgendeinem Grunde nicht gelingen, musst du dir professionelle Hilfe holen, okay?“

„Ja, ich denke, das wird funktionieren. Ich hatte schon immer ein gutes Verhältnis zu meinem Vater, das gerade jetzt noch enger wird, so dass ich ihm dann die ganze Geschichte erzählen werde, wenn ich ihm überhaupt noch was verschwiegen habe. Aber können wir uns jetzt bitte um Fabian kümmern?“

„Gut. Also, nachdem ich den Namen Ilzheimer gehört habe, dachte ich schon, es gibt da keine Chance. Denn so linkisch, wie er dich behandelt hat, behandelt er alle, egal ob Patient, Kollege oder Angehöriger. Der Typ ist eine klassische Fehlbesetzung. Allerdings ist er auch eine feige Flasche, das heißt wenn es für ihn schwierig wird, zieht er den Schwanz ein. Das scheint im Fall von Fabian passiert zu sein, denn dein Freund hat bisher kein einziges Sterbenswörtchen geredet – mit niemandem. Damit kann ein Typ wie Ilzheimer nicht umgehen. Unser, beziehungsweise dein Trumpf ist, dass du wohl die einzige Vertrauensperson im Leben von Fabian bist und entsprechenden Kontakt zu ihm hattest, wenn bislang auch nur über WhatsApp. Die Betreuung von Fabian liegt inzwischen bei einer sehr empathischen, jungen Kollegin, die ich sehr gut kenne, schließlich hat sie bei mir promoviert. Ich werde ihr vorschlagen, dass sie doch mit deiner Hilfe versuchen könnte, einen Zugang zu Fabian zu finden. Was hältst du davon?“

„Danke Wastl, so etwas hatte ich gehofft tun zu können!“

„Bist du mobil? Wie alt bist du eigentlich?“, fragte Wastl nach.

„Ich bin grade 17 geworden, aber ich kann schon alleine Bahnfahren“, witzelte ich.

„Ha ha“, lachte mein Gegenüber laut heraus. „Dein Humor gefällt mir! Was meint denn dein Vater zu der Geschichte?“

„Er wird mich unterstützen. Ich hab ihm alles erzählt und er war sehr betroffen.“

„Quirin, weiterer Vorschlag: Du setzt dich baldmöglichst in den Zug, ich hole dich vom Bahnhof ab, wir treffen die besagte Kollegin und besprechen alles weitere in Ruhe. Was meinst du?“

„Das klingt phantastisch!“, erwiderte ich glücklich. „Moment, ich schau grad Mal… Ja hier, ich könnte um 6:36 Uhr hier weg und wäre dann 12:11 Uhr in Koblenz! Moment, ich gebe Ihnen meinen Vater. Also bis morgen, gute Nacht Wastl“

„Silberschmid hier, hallo Herr Dr. Ich habe alles mitgehört und von mir aus kann mein Sohn morgen früh fahren. Wie lange, denken Sie soll er bleiben?“ … „Ah okay, ja drei, vier Tage, ist in Ordnung!“ … „Danke, das wünsche ich Ihnen auch!“

Paps beendete das Gespräch.

„Was wünschst du ihm auch?“, fragte ich neugierig und Paps grinste mich an:

„Eine gute Nacht, was denn sonst um diese Zeit? Jetzt geh schon und pack deine Sachen für vier Tage. Er hat übrigens ein Gästezimmer, das er dir zur Verfügung stellen will, falls es so lange dauert.“

„Danke, Paps!“, sagte ich nur und fiel ihm um den Hals

„Schon gut, Kleiner! Schon gut“, brummte er.

Meine sieben Sachen hatte ich gleich gepackt: Frische Wäsche, Socken, drei T-Shirts, meinen Kapuzenpulli (falls es überraschend kälter würde), Hausschuhe, Waschzeug und Handtuch. Ach ja das Ladegerät für Tablet und Handy. Ich orderte auch gleich noch mein Handyticket.

„Paps!“, rief ich durch‘s Haus.

„Was ist?“, kam es von unten zurück

„Ich wollte dir nur gute Nacht sagen!“

„Gute Nacht Quirin, schlaf gut. Ich steh morgen mit auf und mach dir Kaffee!“

„Oh vielen Dank, schlaf auch gut, Paps.“

Ich dachte an Fabian. MEINEN Fabian, wie es mir Basti in den Mund legen wollte. Plötzlich fand ich diesen Gedanken gar nicht mehr so befremdlich.

Aber außer, dass er Fabian Rotschmied heißt, wusste ich nicht viel von ihm.

Wer und was also erwartet mich da morgen? Klar er war Trainspotter, wie ich. Sein Faible waren eher die Dampfloks.

Aber was war er für ein Mensch? Ich erinnerte mich an einen Chat, in dem er schrieb, dass sein Vater starb, als Fabian noch ganz klein war. Er erinnerte sich an glückliche Jahre mit seiner Mutter, doch dann kam es immer häufiger zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden und sie begann zu trinken. Ihr Verhältnis drehte sich plötzlich um, das heißt er musste sich fortan um sie kümmern, was ihn aber bald überforderte. Die ständig wechselnden Bekanntschaften seiner Mutter machten Fabian zusätzlich das Leben schwer. Grundlos wurde er geschlagen, in seinem Zimmer eingesperrt. Eines Tages rannte er einfach davon und stand plötzlich auf dieser Eisenbahnbrücke.

Völlig fasziniert habe er das Treiben dort verfolgt. Wenn abzusehen war, dass seine Mutter wieder den Typen wechselte, zog sich Fabian auf „seine“ Brücke zurück.

Auch entdeckte er an einem Bahndamm einen alten Hochsitz, von dem aus er einen herrlichen Ausblick auf die schönsten Züge hatte, die dort vorbei rollten.

So verbrachte er viele Stunden mit Trainspotting, aber nicht nur das: Am Schulcomputer erwarb er sich ein enormes Hintergrundwissen, das er dann über WhatsApp mit mir teilte.

Über sein sonstiges Leben hatte er aber nie etwas geschrieben, außer etlichen unschönen Szenen in der Schule, wo er immer mehr zum Außenseiter und schließlich auch bedroht wurde.

Eine Freundin hat er nie erwähnt, freilich auch keinen Freund. Ich ertappte mich dabei, dass ich selbstverständlich davon ausging, dass er schwul war. Aber woher nahm ich das? Das war wieder reine Einbildung! Wunschdenken! Je mehr ich nachdachte, umso mehr drehte ich mich im Kreis.

Trotz der ganzen Aufregung schlief ich verhältnismäßig rasch ein. Der Ausflug zum Brenner hatte wohl für die nötige Bettschwere gesorgt.

Um viertel nach fünf piepte der Wecker in meinem Handy und ich stand ohne zu zögern auf. Die Dusche weckte die Lebensgeister und kurz darauf stand ich fix und fertig mit dem Rucksack in der Hand in der Küche, aus der mir schon der Kaffeeduft in die Nase stieg.

„Guten Morgen Paps.“

„Guten Morgen, Quirin. Lass es dir schmecken!“ Paps hatte extra Semmeln für mich aufgebacken.

„Wann geht dein Zug nochmal?“, erkundigte sich mein vergesslicher Herr Vater.

„Um 6:36 Uhr“, erinnerte ich ihn.

„Da hast du ja noch Zeit“, meinte Paps beiläufig.

„Mhm“, pflichtet ich ihm mit vollem Mund bei.

„Paps, mach ich auch das Richtige?“, begann ich zu zweifeln.

„Auf jeden Fall, Quirin. Schau, du bist ja nicht allein! Du machst das ja sogar auf ärztliche Anfrage hin!“

‚Stimmt eigentlich‘, dachte ich mir dann und beendete mein Frühstück.

„Möchtest du dir nichts zu essen mitnehmen?“, wollte mein Vater wissen. Ich winkte ab. „Lass gut sein. Ich werde im Bordbistro was essen, wenn es an der Loreley vorbei geht!“

„Du bist ja ein richtiger Genießer“, stellte Paps fest und ich konterte:

„Das liegt wohl in der Familie.“

Ich zog mir meine Schuhe an, verstaute die Hausschuhe noch im Rucksack und verabschiedete mich.

„Servus Quirin! Gute Fahrt! Meldest du dich Mal, wenn du in Koblenz bist?“, wollte Paps abschließend wissen.

„Ja, sicher. Sobald ich etwas mehr weiß, als jetzt. Servus Paps.“

Den zehn Minuten Fußweg zum Bahnhof fand ich inzwischen mit geschlossenen Augen. Der Meridian war pünktlich und auch der ICE fuhr planmäßig in München ab. In Mannheim hatte ich 11 Minuten Übergang. Der ICE blieb weitgehend pünktlich, so dass auch dieser Anschluss gut funktionierte. Wie geplant setzte ich mich nach Mainz ins Bordbistro und ließ es mir gutgehen, so dass ich satt und pünktlich in Koblenz ankam.

Am Ausgang stieß ich sofort auf Wastl Leidbichl, der ein Schild mit meinem Vornamen hoch hielt. Der Mann war mir auf Anhieb sympathisch, er mochte etwa gleich alt sein, wie unser Dorfpolizist, allerdings hatte der schon mehr graue Haare.

„Hallo Wastl“, begrüßte ich ihn.

„Hallo Quirin“, grüßte er zurück. „Du bist ja richtig zeitig dran! Gute Fahrt gehabt? Mein Wagen steht draußen! Dr. Busch, also Verena erwartet uns schon im Cafe Einstein.“

Mein Rucksack war schnell verstaut. Und schon nach kurzer Fahrt stellte Wastl sein Fahrzeug in einem Parkhaus ab, nicht weit entfernt von besagtem Café.

Ganz hinten aus einer Ecke winkte uns eine junge Frau zu.

„Hallo Verena“, grüßte Wastl seine Kollegin, „das ist Quirin, wir haben schon über ihn gesprochen!“

„Hallo Quirin, Wastl“, begrüßte sie erst mich und nickte ihrem Doktorvater zu.

„Guten Tag Frau Dr. Busch.“

„Oje, nein!“, unterbrach sie mich gleich, „bitte nenn mich Verena!“

Also Etikette schien hier nicht so wichtig zu sein, was mir die Sache doch sehr erleichterte.

„Setzt euch doch!“, forderte uns Verena auf.

Nach einer kurzen Pause begann Wastl, die Geschichte ins Rollen zu bringen:

„Weißt du Quirin, wir kennen hier nur zum einen die etwas konfusen Theorien des Kollegen Izheimer sowie die Schilderungen so quasi aus ‚zweiter Hand‘ von Basti und das passt nicht so ganz zusammen. Sei doch so gut und bring uns auf deinen Stand.“

Ich erzählte also, wie ich Fabian über unser Hobby kennengelernt hatte. Über seine Schwierigkeiten zu Hause und in der Schule, was mich schließlich dazu veranlasste eine WhatsApp-Gruppe „Trainspotter gegen Mobbing“ zu gründen. Ich berichtete über seine meist direkten Ansagen, Selbstmord begehen zu wollen, wie ich ihn aber immer wieder einfangen konnte. Bis er schließlich vor drei Tagen eine für mein Gefühl sehr alarmierende Nachricht geschrieben hatte und dann nicht mehr ansprechbar war. Ich schilderte die an sich gut koordinierte Aktion zur Auffindung von Fabian bis zu dem Moment, als mich dieser Dr. Ilzheimer einfach weg drückte. Daraufhin sahen sich Wastl und Verena nur an und schüttelten verständnislos die Köpfe. Ich zeigte den beiden den Chatverlauf mit Fabian, den sie sich sehr aufmerksam ansahen.

Am Ende eröffnete mir Verena ihren simplen Plan:

„Wir sehen im Moment nur eine einzige Chance an Fabian heranzukommen: Durch deine Anwesenheit und deine Verbundenheit zu ihm. Wir sollten jetzt in die Klinik fahren. Ich denke wir sehen dann gleich, ob und gegebenenfalls wie er auf dich reagiert. Ich bin mir fast sicher, dass es funktioniert.“

„Und wenn nicht?“, entgegnete ich

Verena und Wastl sahen sich an und zuckten mit den Schultern.

„Also auf geht‘s!“, ergriff Wastl die Initiative und legte 20 € für unsere Zeche auf den Tisch.

Chance

Vor der Tiefgarage der Klinik ließ er mich aussteigen und sagte:

„Hier können wir nur mit unseren Ausweisen rein, warte bitte an der Pforte auf uns!“

Dort angekommen kam unvermittelt eine finstere Gestalt auf mich zu und raunte mir mit rauchiger Stimme entgegen:

„Hier kommen Sie nicht rein, junger Mann! Falls aber doch, gibt es keinen Weg wieder heraus!“, dabei fletschte er die Zähne zu einem unheimlichen Grinsen. Ich fragte mich, wie ich nur auf die verrückte Idee kommen konnte hierher zu fahren.

Glücklicherweise tauchten Verena und Wastl wieder auf, bevor ich diesem Gorilla zum Opfer fiel. Verena wies selbigen an, mir einen Besucherausweis auszustellen, was dieser etwas widerwillig auch tat, fast glaubte ich in seinen Augen eine gewisse Enttäuschung darüber zu erkennen, dass er mich nun doch nicht zum Vesper würde verspeisen können.

„Hallo Quirin, bist du noch da?“, brummte mich Wastl etwas belustigt an. „Unser Herr Feuereisen kann schon ziemlich unheimlich sein, aber im Grunde ist er sehr gutmütig!“

Das konnte ich mir allerdings überhaupt nicht vorstellen. Ich muss wohl ein entsprechendes Gesicht gemacht haben, denn Wastl prustete los.

Dann wurde es ernst. Mit dem Aufzug fuhren wir in den vierten Stock. Dort gab es eine elektronisch gesicherte Schleuse, die wir jeweils nur hintereinander mit Hilfe unserer Ausweise passieren konnten. Auf der anderen Seite wurden wir freundlich gegrüßt. Verena führte uns zu einem Zimmer. „Zi 4.0.14 Fabian Rotschmied“, las ich amüsiert.

„Warum grinst du?“, fragte mich Verena verunsichert.

„Na die Nummer!“

Verena schaute irritiert von mir zu Wastl, der auch nur eine Augenbraue nach oben zog.

„Hallo Joe“, grüßte Verena, „darf ich dir Quirin vorstellen. Er ist der Freund von Fabian. Und? Wie sieht es aus?“, wollte sie wissen.

Joe, ein junger, kräftig gebauter Pfleger beschrieb nun die vergangenen drei Tage.

Seit Fabian eingeliefert wurde, hätte er noch kein Wort gesprochen; apathisch würde er in der Position verharren, in die man ihn bringen würde.

„Als er hier ankam, hatte er ja nichts an. Widerstandslos ließ er sich dieses Nachthemd überstreifen. Als wir ihn dann ins Bett legten, rollte er sich nur zusammen. Am anderen Morgen lag er immer noch so da. Er reagiert bisher auf keine Ansprache. Einzig wenn er zur Toilette geführt wird, erledigt er dort alles alleine. Aber schon Zähne putzen, waschen oder gar duschen tut er nicht alleine. Gleichwohl lässt er das alles mit sich machen. Wenn er dann wieder in seinem Nachthemd zum Beispiel an einem Tisch sitzt, bleibt er dort, bis man ihn wieder abholt. Auch macht er keinerlei Anstalten selbstständig zu essen oder zu trinken, aber füttern lässt er sich wiederum ohne Probleme. Am angenehmsten ist es ihm, so meine ich jedenfalls festgestellt zu habe, wenn er auf dem Rand seines Bettes sitzen kann, so wie jetzt. Man muss ihn dann bloß regelmäßig zur Toilette führen, damit da nichts passiert. Ansonsten reagiert er auf nichts; nicht auf Geschichten, nicht auf Musik, ja noch nicht einmal auf plötzliche, laute Geräusche. Lediglich, wenn man ihn fest umschlungen packt, reagiert er panisch. Sein Kopf geht dann hin und her und er versucht sich aus dem Griff heraus zu winden. Es hat eine Weile gedauert, bis wir begriffen haben, dass er alles macht, wenn man nur den Griff lockert, noch besser ihn einfach an der Hand führt. Aber wir finden einfach keinen Zugang zu ihm“, sagte er traurig.

Ich schaute durch die Scheibe auf diesen Jungen, es tat mir weh, ihn da so sitzen zu sehen. Mir kam die Nachricht in den Sinn, in der er mir voller Begeisterung von der amerikanischen Riesendampflok erzählte, deren Wiederinbetriebnahme er unbedingt miterleben wollte. Tränen stiegen mir in die Augen.

Wastl war hinter mich getreten und hatte mir vorsichtig seine Hand auf die Schulter gelegt.

„Quirin“, hörte ich leise seine tiefe Stimme, „Quirin, meinst du, wir können es Mal versuchen?“

Ich sah ihm in seine Augen, die eine ehrliche Zuversicht ausstrahlten und nickte stumm.

Erwartungsgemäß blieb mein Klopfen ohne Reaktion.

Leise drückte ich die Klinke nieder und öffnete vorsichtig die Tür.

Langsam trat ich ein und nannte seinen Namen.

„Fabian.“ Keine Reaktion. Ich trat näher heran.

„Fabian, ich bin‘s, Quirin“, flüsterte ich und ging vor ihm in die Hocke.

Langsam hob er etwas den Kopf, als ob er aus einem Schlaf erwachen würde. Unsere Blicke trafen sich, ein Blitz durchfuhr mich, so dass ich fast nach hinten umgekippt wäre.

„Quirin“, sagte Fabian leise und ließ sich nach vorne fallen; ich konnte ihn gerade noch auffangen. Er klammerte sich um meinen Hals, als wollte er mich nie wieder loslassen. Vorsichtig nahm ich ihn in meine Arme.

„Hallo BigBoy.“

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