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Alter schützt vor Liebe nicht

Weihnachtschallenge 2015

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Inhaltsverzeichnis

Alter schützt vor Liebe nicht

„Ha noi“, entfuhr es mir, als mein Blick auf den Dezember-Dienstplan fiel, „net scho wieder an Weihnachten!!“ Nicht, dass ich etwas Besonderes vorgehabt hätte, aber ich wollte einfach mal an Weihnachten meine Ruhe! Aber was kann man als 56-jähriger Junggeselle schon erwarten, wenn man Lokführer ist? Immerhin war dafür dann an Silvester frei.

Lokführer – heute heißt das übrigens ganz modern „Eisenbahnfahrzeugführer“ - bin ich aus Leidenschaft! Als normalen Job kann man das, bei den Arbeitszeiten, sicherlich nicht betrachten; tut man es dennoch, ist ein Scheitern vorprogrammiert! Dieser Beruf ist außerdem ein Beziehungskiller erster Ordnung! Welcher Partner macht es schon auf Dauer mit, dass man nie da ist, zumindest nicht zu normalen Zeiten, also abends oder am Wochenende... Nun bin ich allerdings auch ein Extremist, was das Thema Eisenbahn angeht: Sie bestimmt zweifellos mein bisheriges (und wohl auch künftiges) Leben, denn selbst in der Freizeit kann ich es nicht lassen! Da beschäftigt mich die Historie der Bahn in Form der betriebsfähigen Erhaltung von Dampfloks mit den entsprechenden Zügen.

Übrigens war, der Überlieferung nach, mein erstes Wort nicht etwa „Mama“ oder „Papa“, sondern „Zug“ - was denn sonst?

Schon als Zögling des hiesigen Gymnasiums versuchte ich meine Mitschüler einzuschläfern in dem ich ihnen die Geschichte der Eisenbahn erzählte. Und weil irgendwann keiner mehr persönlich zuhören wollte, wurden in der Folge eine nicht geringe Zahl von Artikeln aus meiner Feder in der Schülerzeitung „das Grammophon“ veröffentlicht. Zwar trieb ich meine sämtlichen Deutschlehrer mit der „Prägnanz“ meiner Aufsätze mit maximal eineinhalb DinA4-Seiten(!) an den Rand des Wahnsinns, aber im Grammophon wurde ich zur Fortsetzungsgeschichte verdonnert, weil der Hefttitel sonst in „die Schiene“ oder etwas anderes einfallsreiches hätte umbenannt werden müssen. Von Auflage und Verkauf mal ganz abgesehen. Da sich im Laufe der Jahre nie jemand beschwert hat und eben Auflage und Verkauf eher zu- als abnahmen, gehe ich davon aus, dass es den Leuten wohl gefallen hat, getreu dem schwäbischen Motto „nix g'schwätzt isch g'lobt gnua“. Freilich behaupten böse Zungen, dass sowieso „koi Sau“ meine Geschichten gelesen hätte! Banausen....

Seit etwa 1970 gibt es die „Nürtinger Dampfzugfreunde“ NDF, die sich den betriebsfähigen Erhalt einer solchen Dampflok nebst passendem Zug auf die Fahnen geschrieben hatten. Als gebürtiger Nürtinger bin ich, Sebastian Klein (doch 195cm groß) dort seit 1975 Mitglied. Fast an jedem Wochenende wurde an Lok und Wagen geschraubt, bis sich diese Dampfeisenbahn schließlich wieder aus eigener Kraft bewegte.

Ein Psychologe würde diese extreme Eisenbahn-Fixierung wohl als Flucht vor mir selbst oder Verdrängungsmechanismus meiner sehr spät entdeckten Homosexualität interpretieren. Tatsächlich dachte ich damals lange Zeit irgendwie asexuell zu sein, weil mich das Thema nicht wirklich interessierte, schon gar nicht, wenn Mädels im Spiel sein wollten. Auch war ich beileibe kein in mich gekehrter Mensch, wenngleich mir eine gewisse Verschlossenheit nicht abzusprechen war! Vielmehr jedoch war ich eher so etwas wie der Klassenclown, jedoch selten laut und nie respektlos gegenüber dem Lehrkörper. In dieser Rolle handelte ich mir, obschon in der 12.Klasse, den letzten, wohl nicht mehr ganz ernst gemeinten Eintrag ins Tagebuch unserer Klasse ein, den mir unser „Schnürle“ verpasste: „Klein würgt zuerst Mitschüler, dann Unterricht ab!“ Ja unser guter, alter „Schnürle“, eigentlich Dr. Seiler: Mathematik und Physik.

Der Ursprung seines Spitznamens wurde schon vor Urzeiten von einem Jahrgang auf den nächsten übertragen, doch war er zu jeder Zeit nachvollziehbar, denn wann immer ein Kreis an die Tafel zu malen war, zog Dr. Seiler ein „Schnürle“ (schwäbisch für ein Stückchen Schnur) aus der Tasche seines weißen Kittels, den er stets trug. Aber Vorsicht! Niemand sollte den Fehler gemacht haben Schnürle zu unterschätzen! Mit viel Humor, Einfühlungsvermögen und dem gewissen „pädagogischen Fingerspitzengefühl“ hatte er in seinen Klassen zu keinem Zeitpunkt disziplinarische Probleme, im Gegenteil: Er genoss ein hohes, uneingeschränktes Ansehen bei Schülern, Lehrern und Eltern. Er lehrte – nein er vermittelte – Werte wie „Toleranz“ ohne zu dozieren schon zu einer Zeit, als andere Teile der Lehrerschaft am liebsten noch „Zucht und Ordnung“ als oberste Prämisse verkauft hätten. Ungewöhnlicher Weise war er nicht nur während der gesamten Oberstufe, sondern bereits ab der zehnten unser Klassenlehrer. Als solcher begleitete er uns z.B. auf der seinerzeit obligatorischen, zweiwöchigen Fahrt nach Berlin, das damals noch geteilt war und von einer Mauer umgeben mitten in der DDR lag.

Auf eben dieser Berlinfahrt in der 12.Klasse wurde er von der „Orbital-Nudel“ unterstützt, unserer ebenso resoluten wie „handfesten“ Chemielehrerin (ihr Zweitfach war Bio, glaube ich, bin mir aber nicht mehr sicher).

Ihren Spitznamen hat sie sich eingehandelt, als sie versucht hat, uns die Orbitaltheorie nahe zu bringen als Modell der Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen. Ob dabei auch die ulkige Form dieser Orbital-Styropor-Modelle eine Rolle gespielt hat vermag ich heute nicht mehr zu sagen.... Unabhängig davon hat sie mindestens zweimal versucht unser altehrwürdiges Jugendstil-Schulgebäude zu sprengen.

1977 gab es in vielen Museen West-Berlins Ausstellungen unter dem Titel „Tendenzen der zwanziger Jahre“. Schnürle hat uns damals von einer Kunstausstellung in die nächste geschleppt. Für mich war das absolut faszinierend und prägend für meinen Kunst-Geschmack.

Viele Erlebnisse meines Lebens kann ich zeitlich nicht mehr richtig einordnen. Diese Klassenfahrt hingegen schon. August 1977! Während unseres Berlinaufenthalts ist nämlich Elvis Presley gestorben, was für uns Rock'n'Roll-Fans eine recht betrübliche Nachricht war.

Doch auch aus anderen Gründen ist diese Fahrt für mich unvergesslich: Ganz allmählich bemerkte ich mein Interesse am eigenen Geschlecht. Oh, ich vergaß darauf hinzuweisen, dass wir die letzte reine Knaben-Klasse an der Schule waren, was vielleicht die „Vergleichsmöglichkeit“ hat vermissen lassen... Jedenfalls erinnere ich mich an mein Bemühen, bei bestimmten Klassenkameraden einen Blick auf ihr bestes Stück erhaschen zu können. Sei es beim Duschen oder Umziehen im Schlafsaal. Es ist mir bei zweien sogar gelungen... Irgendwie spannend war auch der Umgang mit den „MoLas“ nach dem Wecken. Aber passiert ist nicht wirklich was.

In meinem Eisenbahnclub hatte ich mich inzwischen vom Souvenir-Verkäufer im Zug zum Lok-Heizer hochgearbeitet. Fast zwangsläufig stand mein Berufswunsch schon sehr früh fest: Ich würde Lokführer werden, Abi hin oder her! Meine Eltern hofften zwar bis zum Schluss, dass ihr Filius „was G'scheits“ lernen oder studieren würde, aber letztlich trugen sie meine Entscheidungen immer mit, auch wenn sie meilenweit an ihren Vorstellungen vorbei gingen.

38 Jahre später

Das Nikolaus-Wochenende stand wieder ganz im Zeichen der „Nikolaus-Dampfzüge“ wir hatten uns diesmal etwas ganz Besonderes ausgedacht: Es sollte die erste Fahrt mit unserer „neuen“ Schnellzugdampflok werden. Über drei Jahrzehnte stand die „leichte Schnellzuglok 03 188“ vor der Max-Eyth-Gewerbeschule in Kirchheim unter Teck. Vor zwei Jahren ist es der Kirchheimer Sektion der Nürtinger Dampfzugfreunde gelungen, die Verantwortlichen der Schule zu überzeugen, dass die Lok in betriebsfähiger Form eine weitaus bessere Werbung für Schule und Stadt darstellt, als nur als lebloses Objekt auf einem Denkmalsockel. Kirchheimer Firmen traten als Sponsoren an, die Lok im thüringischen Dampflokwerk Meiningen wieder flott machen zu lassen. Als „Leerfahrt“ des „Kirchheimer Morgens“ war die Fahrt mit 250 Fahrgästen ausverkauft.

Ausnahmsweise fuhr ich heute als Heizer, denn Karl Jokisch sollte die Ehre haben, als Lokführer die Lok zu fahren, auf der er 1972 das Heizergeschäft erlernt hatte. Karl war schon lange in der Museumsbahnszene tätig und ein äußerst umsichtiger Lokführer. Zunächst ging es rückwärts bis Plochingen, dort umfuhren wir unseren aus fünf alten Eilzugwagen der 30er Jahre gebildeten Sonderzug. Wobei der Packwagen, der jetzt an erste Stelle hinter der Lok lief, ein besonderes Schmuckstück war. Er wurde 1991 dazu auserkoren, die Särge der Hohenzollern-Könige in ihm von Hechingen nach Potsdam zu bringen. Seitdem zieren Erinnerungstafeln seine Seitenwände und er wird liebevoll als „Fritzomat“ bezeichnet.

Kurz vor der Abfahrt fuhr dann ein weiterer Sonderzug durch Plochingen, der mit dem „deutschen Krokodil“, der schweren Güterzug-E-Lok E94 279 bespannt war, welch selben wir wiederum in Göppingen überholen sollten.

Als Highlight würden dann beide Sonderzüge parallel die Geislinger Steige erklimmen, wobei sie sich immer gegenseitig überholen sollten. So konnten die Fahrgäste des Stuttgarter Zugteils die schwer arbeitende 03 188 unmittelbar erleben.

Wir fuhren auf dem Regelgleis, also rechts. Der Krokodilzug zog auf dem Nachbargleis langsam an meiner Heizerseite vorbei. Ich sah nur lauter glückliche Gesichter. Die meisten waren freilich regelrecht vermummt: Mit Skibrillen, Schals, Kapuzen und dicken Jacken versuchten sie der winterlichen Kälte zu trozen.

Eine Zeitlang fuhren beide Züge mit derselben Geschwindigkeit, sodass ich mir die Jungs gegenüber, in dem Abteil auf gleicher Höhe, etwas genauer anschauen konnte. So zwischen 20 und 25 schätzte ich sie und war angenehm überrascht, dass man sich auch in solch einem Alter für alte Dampfloks interessierte. Obercool waren sie nur vergleichsweise leicht bekleidet und hielten ihre roten Nasen in den Fahrtwind.

Plötzlich blickte ich in ein paar hellblaue Augen, die mich regelrecht fixierten. Irritiert wollte ich mich diesem Blick entziehen und versuchte einen Rundblick durch die Gruppe. Zum Glück waren meine Wangen durch den Fahrtwind schon gerötet, sonst hätte dies wohl die aufsteigende Hitze getan. Der Lokführer des Krokodils schien ein Einsehen zu haben und beschleunigte seinen Zug, so dass dieser bald vollständig an uns vorbei war. Dann verringerte er seine Geschwindigkeit, während Karl den Regler noch etwas öffnete. Unsere 03 ließ sich nicht zweimal bitten und stampfte kräftig los. Da ich mich um mein Feuer kümmern musste, bekam ich nur im Augenwinkel mit, wie der Stuttgarter Zug erst zurück fiel und schließlich ganz an uns vorbei zog. In Amstetten war von ihm nichts mehr zu sehen, wurde er doch nach der Ausfahrt wieder auf unser Gleis herüber geleitet. Demzufolge hatten wir „Ausfahrt halt“ und kamen am Bahnsteig zum Stehen. Gleichmäßig „asymmetrisch“ schnaufte die Luftpumpe und sorgte für ausreichend Druck, um die Bremsen unseres Zuges wieder zu lösen. Ihr leicht asthmatischer Klang sorgte für das typische Standgeräusch einer Dampflok. Gleichzeitig klackerte die Speisepumpe, um das durch die Steigungsfahrt reduzierte Wasser im Kessel wieder zu ergänzen. Irgendwie war ich nicht mehr ganz bei der Sache, denn plötzlich öffneten die Sicherheitsventile mit einem lauten Knall und der hart erkämpfte, schöne Dampf war wieder beim Teufel. Karl runzelte indes nur die Stirn, schließlich kostete das ja die Arbeit des Heizers. Nun gut, mit Hilfe des Injektors speiste ich zusätzlich Wasser in den Kessel, wodurch die Temperatur etwas absank und die „Ackermänner“, also die Sicherheitsventile wieder schlossen. Mit möglichst unbeteiligtem Blick schaute ich aus meinem Fenster, das ja dem Bahnsteig abgewandt war. So etwas war einem alten Hasen wie mir einfach nur peinlich. Auch wenn ich insgeheim den hellblauen Augen die Schuld gab, änderte das sachlich natürlich nichts. Inzwischen waren unsere Fahrgäste wieder eingestiegen, der Zugführer hatte „abfahren“ signalisiert, nachdem das Ausfahrsignal auf „Fahrt“ gesprungen war. Etwas verhalten schob Karl den Regler in meine Richtung und die Maschine beschleunigte mit leichtem Wummern aus dem Bahnhof. Bis Ulm geht es ja im Wesentlichen bergab, von der leichten Steigung vor Westerstetten mal abgesehen. Noch einmal wiederholten wir das gegenseitige Überholen für unsere Fotografen, wobei ich angestrengt, aber möglichst unauffällig nach den hellblauen Augen Ausschau hielt. Vielleicht würde ich sie ja in der Fotomeute entdecken; zumal wenn diese Gruppe junger Leute auch außerhalb ihres Abteils gemeinsam auftrat!

Pünktlich erreichten wir unser Ziel Augsburg, wo sich für jeden Teilnehmer ein passender Programmpunkt finden sollte: Ob Weihnachtsmarkt oder der Bahnpark mit seinem „Rundhaus Europa“, in dem sich sogenannte Botschafter-Loks aus vielen europäischen Ländern bewundern ließen. Mit unserer 03 188 rückten wir jedenfalls dort ein, um erstens Wasser zu fassen und zweitens die Lager abzuschmieren. Nach der gerade abgeschlossenen Sanierung des Rundschuppens war der Bahnpark wieder jederzeit einen Besuch wert. Natürlich stellten wir uns auch zum „Schaudrehen“ auf die frisch hauptuntersuchte Drehscheibe, obwohl eine 180°- Drehung unserer Lok für die Rückfahrt gereicht hätte.

Bis Plochingen wurden die beiden Züge vereint gefahren. Von dort ging es dann in die entgegengesetzten Richtungen nach Stuttgart bzw. nach Kirchheim.

Spät, aber pünktlich, glücklich und zufrieden kamen wir wieder zuhause an.

Nach dem Abrüsten und Aufräumen fiel ich todmüde, weit nach Mitternacht, in mein Bett.

„Guten Morgen, junger Mann“, tönte es mir entgegen. Oh, wie hasse ich diese gekünstelte und in dieser Form auch verlogene Freundlichkeit! Dass ich ein Mann bin stimmt schon, aber jung? Mit 56? Klar fühlte ich mich jung, auch wenn die Nacht recht kurz war, aber ich bin es einfach nicht mehr! „Guten Morgen, Frau Quast“ antwortete ich fröhlicher, als ich war. Ein Morgenmuffel war ich zwar nie, aber zum Bäume ausreißen war es nach dieser kurzen Nacht definitiv zu früh! „Das übliche?“, fragte sie. „Ja bitte! Und wenn Sie mir bitte noch ein Butterhörnle dazu täten“

„Guten Morgen, junger Mann“, wurde schon der Nächste begrüßt, der mit geschätzten 25 Lenzen schon eher dieser Anrede entsprach. Dann traf mich beinahe der Schlag, als mich plötzlich wieder die beiden hellblauen Augen anschauten. Und das zugehörige Gesicht strahlte wie die Sonne, die in diesem Moment ihren Kampf gegen die Wolken gewonnen hatte. Völlig irritiert bezahlte ich Wecken und Hörnle und verließ den Laden. Draußen atmete ich erstmal kräftig durch und versuchte einen möglichst unauffälligen Blick zurück auf diese schlaksige 1,90m-Erscheinung. Doch auch er schaute mir nach und mir blieb nichts anderes übrig, als das Weite zu suchen, was ich auch ohne weiteres fand.

Zuhause angekommen wollte ich mein Frühstück genießen, sah aber immer nur diese hellblauen Augen vor mir. ‚Jetzt reiß Dich mal zusammen‘, schalt ich mich, ‚selbst wenn dieser Typ so wäre wie du, würde er wohl von einem, der locker sein Vater sein könnte, sicher nichts wissen wollen!‘ Es gelang mir schließlich (fast), meine Birne wieder frei zu bekommen! Spätestens mit dem „Münchner Tatort“ am Abend konnte ich mich soweit ablenken, dass ich meine Klamotten für die folgende Arbeitswoche zusammenpacken konnte.

Mein französischer Arbeitgeber, die TSR SA (Traction sur Rail, société anonym), erwartete mich schließlich pünktlich am Montag wieder in Strasbourg. Es war die eine Woche im Monat, die ich immer in der Zentrale verbringen „durfte“, um die Dienste unserer neuen Kollegen zu planen, damit sie möglichst schnell überall streckenkundig würden, um dann selbst fahren zu dürfen. So sehr ich meine französischen Kollegen und Freunde schätze, aber diese Wochen sind immer sehr anstrengend! Es ist einfach unendlich zäh in diesem Metier etwas zu planen: Jeder gibt seinen Senf dazu; der eine will etwas so, der andere aber anders oder gar nicht, der dritte ist beleidigt, weil dieser und jener nicht bei ihm mitfahren kann usw.

Jedes Mal bin ich froh, wenn Freitag ist und ich im TGV nach Stuttgart sitze. Manchmal darf ich schon donnerstags gehen, wenn ich nämlich gleich am Sonntag wieder auf die Piste muss. Dann aber ist es wieder mein Traumjob! Zur Zeit fahren wir viele Autozüge. Dank der guten Logistik transportieren wir deutsche Automobile nach Frankreich und französische „Voitures“ nach Deutschland. Neutral betrachtet eigentlich sinnlos, wenn jeder die einheimischen Autos kaufen und fahren würde. Ausschließlich so aber funktioniert unsere Marktwirtschaft; jedenfalls will man uns das so seit jeher weiß machen. Wahrscheinlich sind wir mit unseren Ganzzügen aus Schiebewandwagen auch an der Transportkette der berühmten Joghurt-Becher beteiligt, die erst ein paar Mal in Europa hin und her fahren, bevor sie im Kühlregal des Supermarktes Ihres Vertrauens landen!

So schlimm war es in dieser zweiten Dezemberwoche dann nicht, wie gewünscht durfte ich ausnahmsweise schon am Donnerstagabend nach Hause fahren, da ich meine vierzig Stunden bereits Donnerstagabend auf der Uhr hatte.

So konnte ich am Freitag mit helfen unsere Schnellzugdampflok wieder anzuheizen und für den samstäglichen Sonderzug alles vorzubereiten, ging es doch in mein geliebtes Frankreich, genauer nach Strasbourg zum dortigen Weihnachtsmarkt. Auch diese Fahrt war mit 290 Fahrgästen fast ausverkauft. Diesmal jedoch wollte ich die Fahrt im Speisewagen genießen. Gut, für das Stück von Kehl über den Rhein musste ich den Lotsen geben, war ich doch berufsbedingt hier strecken- und ortskundig. Da es schon um 7 Uhr in Nürtingen losging hieß es um halb sechs auf zu stehen! Oh Mann! Mitten in der Nacht! Irgendwie haben wir Eisenbahnfreunde schon was an der Klatsche, das muss wahr sein! Doch es war Sonnenschein angekündigt! Eigentlich wäre Schnee eher angesagt, oder?

Als ich aus dem Haus ging, konnte ich kaum glauben, dass es über Nacht tatsächlich geschneit hatte. So hatte ich die Ehre als erster durch den knirschenden Schnee zum Bahnhof zu stapfen. Dort war schon erstaunlich viel los: Klar: Etwas mehr als die Hälfte unserer Sonderfahrt-Teilnehmer stieg schon hier zu, allerdings war der Zug noch nicht da, sodass der Atem der Menschen, in der herrschenden Kälte, die vorerst einzigen Dampfwolken bildete. Doch pünktlich, zehn Minuten vor Abfahrt, wurde der Zug bereitgestellt. Michel, unser Halbfranzose, war heute als Zugführer eingeteilt und stand auf dem Trittbrett des letzten Wagens und dirigierte unseren Lokführer an den vollbesetzten Bahnsteig.

Der Zug stand noch nicht vollständig, schon drängten sich die Leute in die Wagen. Zum Glück hatte jeder seinen reservierten Platz. Nachdem sich das Gewusel der Menschen jetzt in den Zug verlagert hatte, schlenderte ich gelassen am Zug entlang und wurde von vielen Fahrgästen an den Fenstern erkannt und freundlich begrüßt. Ehrlicherweise muss ich gestehen, solche Momente zu genießen, auch wenn ich für gewöhnlich nicht gerne im Mittelpunkt stehe. Nach einem kurzen Plausch mit Karl, der heute außer seinem Heizer Ulli auch noch einen „Heizerstift“ namens Paul dabei hatte, begab ich mich zum Ziel meines morgendlichen Spaziergangs, nämlich dem Speisewagen; dem derzeit einzig betriebsfähigen Exemplar von nur fünf erhalten gebliebenen, sogenannten „Schürzen-Speisewagen“, Baujahr 1940, also exakt 75 Jahre alt, was auch durch goldene Aufkleber mit Lorbeerkranz, auf beiden Seiten angebracht, erkennbar war.

Erst im letzten Jahr konnte dieses Fahrzeug, mit seinem traumhaft erhaltenen Innenraum, von einer Privatbahn übernommen werden. Dort hatte der Wagen im Verborgenen überlebt, nachdem er in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts von der Bundesbahn gekauft wurde und knappe 20 Jahre als Salonwagen für Kunden und besondere Gäste gedient hatte. Dann war das Fahrzeug in Vergessenheit geraten, bis diese Bahn einen neue „Flottenmanager“ bekam und dieser uns die „Schürze“ überließ.

Ich wünschte unserem Personal und den wenigen Gästen einen „guten Morgen“ und setzte mich auf meinen Stammplatz am Wagenende, von wo aus ich das Geschehen im Blick hatte. Unaufgefordert brachte mir Paul II (Paul I lernte ja gerade das Heizen) einen Kaffee und ein Croissant. Es ist einfach schön, wenn man so vom Nachwuchs respektiert und geachtet wird. Fast fühlte ich mich wie eine graue Eminenz. Wobei es „grau“ durchaus auf den Punkt brachte.

Längst hatten wir den Bahnhof verlassen und strebten Plochingen entgegen, wo der nächste Schwung überwiegend fröhlicher Menschen den Zug enterte. Esslingen und Untertürkheim waren die nächsten Stationen. Dann musste sich unsere 03 188 ganz ordentlich ins Zeug legen, denn die dreihundert Tonnen zerrten ordentlich am Zughaken. Die Dampfschwaden zogen am Fenster vorbei und gerade rechtzeitig, als wir den König-Wilhelm-Viadukt befuhren, ging von rechts die Sonne auf. Eisenbahnromatik pur!

„Ist hier noch frei?“ Mit dieser Frage wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, doch war sie wohl nur rhetorischer Natur, denn der Fragesteller setzte sich einfach an meinen Zweiertisch. Musste das jetzt sein? Etwas gequält sah ich auf und schon wieder direkt in zwei auffallend hellblaue Augen. Wie elektrisiert und starr vor Schreck tat ich genau das: Ich starrte mein Gegenüber an und der schenkte mir ein breites Grinsen – von einem Ohr zum anderen ungefähr. Ich spürte das Blut, das mir ins Gesicht schoss und drehte mich unweigerlich zum Fenster, in der Hoffnung, dass die noch tiefstehende Sonne ein etwas ausgleichendes Licht auf meine roten Wangen werfen würde. Keine Ahnung, ob das funktionierte. Sogleich plapperte mein neuer Tischnachbar munter drauflos: „Du bist doch Lokführer oder Heizer, oder so?“ Aha, dachte ich, sind wir schon beim „du“, das geht aber schnell, ohne ein Wort gewechselt zu haben. Ich war versucht seine Frage zu verneinen, also seine erste nach dem freien Platz. Doch ich entsann mich meiner Kinderstube und antwortete einsilbig aber wahrheitsgemäß:

„Ja ist es und ja, bin ich!“ Er quittierte meine knappe Antwort mit einem herzlichen Lachen.

„Du bist mir nämlich am letzten Wochenende auf der Geislinger Steige schon aufgefallen und außerdem beim Bäcker am Sonntag!“

Aha, aufgefallen bin ich ihm! Was will der Typ von mir? Man Junge, ich bin ein alter Esel!

„So?“ fragte ich rhetorisch nach.

„Ja genau, aber du warst dann am Sonntag so schnell weg. Du wohnst aber in der gleichen Gegend wie ich, oder?“ Dieser Mensch macht mich ganz kirre! Was weiß denn ich, wo du wohnst? „Weiß nicht.“, sagte ich kurz angebunden.

„Was machst du denn?“, wollte er nach einer kurzen Pause plötzlich wissen.

„Nichts“, antwortete ich, „Ich sitze hier“ schob ich nach.

„Warum sitzt du da?“, fragte er mit einem schiefen Grinsen.

„Weil es mir Spaß macht!“ Dass ich im Moment etwas Mühe hatte, wollte ich ihm dann doch nicht auf die Nase binden.

„Ich muss dann mal los“, log ich, ohne eine weitere Frage von ihm abzuwarten, aber eigentlich wollte ich nur in Ruhe hier sitzen, einfach nur da sitzen...

Bedächtig erhob ich mich und musterte ihn im Vorübergehen so unauffällig wie eben möglich. Seine schlaksige Figur war mir ja schon letzte Woche aufgefallen und er hatte ein ausgesprochen liebes Gesicht. Eigentlich genau mein Typ. „Vergiss es!“, ermahnte ich mich selbst und verließ diesen Ort, von dem ich mir vergeblich etwas Entspannung erhofft hatte. Vielleicht würde ich einfach später noch mal meinen Platz im Speisewagen aufsuchen. So aber steuerte ich das 1.Klasse-Abteil an, das immer für Knilche wie mich reserviert ist und machte mich dort breit. Die Kollegen waren wohl alle unterwegs und so grübelte ich vor mich hin.

Rasend schnell verging die Zeit, fast hätte ich versäumt in Kehl auf die Lok zu klettern und meine Kollegen nach Frankreich zu lotsen. Nach zehn Minuten war dieses Vergnügen dann auch schon wieder Geschichte. Im Strasbourger Bahnhof angekommen verließen unsere Fahrgäste fast fluchtartig den Zug, vermutlich hatten sie Hunger und wollten sich die elsässische Küche nicht entgehen lassen.

Nachdem wir unseren Zug samt Lok abgestellt hatten, verabschiedete ich mich für ein paar Stunden, um allein durch die vorweihnachtliche Stadt zum Münster zu schlendern.

Irgendwie wollte ich die aufwühlende Rastlosigkeit wieder loswerden.

Wo immer es eine alte Kirche gab, ob Kapelle oder Kathedrale, besuchte ich diese, setzte mich irgendwo an die Seite und ließ den Raum auf mich wirken, vielleicht hoffte ich auch, dass mich die Erleuchtung anspringt, aber dafür war ich wohl nicht religiös genug. Dennoch entzündete ich, wie immer, drei Kerzen für meine Liebsten zuhause. Ich lauschte eine Weile dem Orgelspiel, um schließlich doch meinem knurrenden Magen klein bei zu geben und ein mir bekanntes Lokal aufzusuchen.

Mann, war das hier voll! In der hintersten Ecke fand ich aber noch ein freies Plätzchen.

„Einen Flammkuchen und einen halben Liter Cidre doux“, lautete meine Bestellung, die auch prompt ausgeführt wurde. Ja ich weiß schon, Cidre gehört eigentlich in die Normandie, aber die wissen hier eben auch, was gut ist! Klar, dass ich mir zum Nachtisch noch einen Nougat-Crêpes gönnte und einen Kaffee. Ich hatte eben meinen Flammkuchen verdrückt, als eine mir inzwischen bekannte Stimme ertönte:

„Hey, du bist ja auch hier! Schöner Zufall!“ Zufall? Wer's glaubt wird selig. Er muss wohl meine rollenden Augen bemerkt haben, denn er meinte mit fast schmollendem Unterton:

„Ach Mensch, jetzt sei doch nicht so abweisend!“ Was will der Kerl von mir? Diese Frage stellte sich mir aufs Neue. Wie als wenn er meine Gedanken hätte lesen können, begann er zu erzählen:

„Ich bin neu in Nürtingen, weißt du? Eigentlich komme ich ursprünglich aus dem tiefsten Schwarzwald und wollte unbedingt in die große Stadt, weshalb ich zuerst nach Stuttgart gezogen bin. Aber was erwartet dort einen jungen, unbedarften und unschuldigen Knaben vom Lande? Alle wollen von so einem immer nur das eine: Seinen Körper!“ Dabei schaute er mich halb fragend, halb provozierend an.

„Und von mir wollen auch alle immer nur dasselbe: Konversation!“

„Nicht unbedingt“, kam es nach kurzem Zögern. Dabei schauten mir seine hellblauen Augen offen und ehrlich in die meinen. Diesmal zeigte er kein breites Grinsen, sondern eine ernste, etwas verunsicherte Miene. Ich konnte mich nicht mehr von seinen Augen lösen, in meinem Bauch begann es zu kribbeln und als seine Hand die meine berührte war es, als würde er mich elektrisieren. Verschreckt zog ich meine Hand zurück, aber er setzte nach und ergriff sie. Mir schien es, als wollte er mich nicht mehr loslassen. Keine Ahnung, wie lange wir so da saßen. Irgendwann musste ich blinzeln und konnte so den intensiven Blickkontakt unterbrechen.

„Ich heiße Nicolas“, kam es schüchtern von ihm, „passend zur Jahreszeit“, ergänzte er noch mit einem Lächeln, für das man eigentlich einen Waffenschein benötigt.

„Sebastian“, lächelte ich zurück.

„Freut mich sehr!“, meinte er noch und fuhr fort zu erzählen.

Etliche Tassen Kaffee später (und den ein oder anderen Crêpes) schaute ich beiläufig auf meine Taschenuhr und erschrak!

„Mensch Nicolas, wir müssen uns beeilen, sonst fahren die ohne uns!“

„Ich denke ohne Dich kann er nicht fahren?“

„Naja, sollte er nicht, aber verlassen würde ich mich nicht darauf!“, schmunzelte ich.

„Na dann los, beeilen wir uns!“

„ Lass stecken!“, meinte ich noch und bezahlte unsere Zeche mit einem satten Trinkgeld.

„Das ist mir jetzt aber unangenehm!“, ließ Nicolas verlauten.

„Braucht es nicht! Kannst mich ja zum Abendessen einladen!“

Am Bahnhof angekommen sagte ich zu ihm:

„Wir halten planmäßig erst wieder in Karlsruhe. Setz' Dich schon mal in den Speisewagen! Ich komme dann!“

Michel ließ seine Schaffnerpfeife ertönen und mit einem sonoren Abschiedspfiff unserer Lokomotive setzte sich unser Dampfsonderzug in Bewegung. So verließen wir das abendliche Strasbourg. In Deutschland standen alle Signale erwartungsgemäß auf Fahrt und wir jagten mit satten 120 Sachen am Rhein entlang. Ich dachte noch, dass wir eigentlich unsere alte Dame nicht so hetzen sollten. Natürlich brächte sie es sogar auf 130 km/h, aber muss das mit einem so seltenen Museumsstück wirklich sein? Zur Schonung des Materials sollten eigentlich 100 km/h genug sein. Meine Gedanken schweiften in die Ferne und blieben bei Nicolas hängen. Ob er wohl schon einen Platz im Speisewagen gefunden hatte? Nicolas! Beim bloßen Gedanken an ihn wurde mir warm ums Herz und im Gesicht. Zum Glück war es dunkel und so konnte niemand mein wohl etwas dümmliches Dauergrinsen sehen. Ich konnte es schier nicht erwarten in Karlsruhe von der Maschine zu steigen. Was für eine verkehrte Welt! Ich, Sebastian Klein konnte es nicht erwarten von einer Dampflok abzusteigen! Dass ich das noch erleben durfte, vor knapp vier Stunden war das noch undenkbar!

Wir erreichten Karlsruhe etwa 10 Minuten vor Plan. Kaum dass der Zug stand, stand auch Nicolas schon an der Lok und strahlte wie ein kleines Kind, dem gerade ein Herzenswunsch erfüllt worden war. Er hatte sogar drei Flaschen Wasser für das Lokpersonal mitgebracht. Ich verabschiedete mich schon Mal von Karl, Ulli und Paul I, nicht ohne Ihnen vorsorglich frohe Weihnachten zu wünschen, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich in Nürtingen ganz schnell verschwinden würde.

Im Speisewagen fand ich meinen Stammplatz leer und auch der Sitz gegenüber, auf den sich Nicolas schon heute Morgen einfach niedergelassen hatte, war frei. So saßen wir wieder fast genauso da wie heute in der Früh! Paul II brachte wiederum unaufgefordert einen Teller mit Maultaschen und ein Traubensaftschorle. War ich echt so ein Gewohnheitstier?

„Das hätte ich auch gerne“, meldete sich Nicolas zu Wort. Keine fünf Minuten später stellte Paul II Teller und Glas vor Nicolas auf den Tisch, wofür sich dieser artig bedankte und gleich noch anfügte: „Ich zahl dann beides!“ und deutete zwischen sich und mir hin und her. Paul II schaute irritiert zu mir. Erst als ich ihm zunickte, trollte er sich Richtung Küche. Schweigend verzehrten wir des Schwaben liebste Speise. Etwa gleichzeitig hatten wir unsere Teller leer gegessen und Nicolas strahlte mich mit seinen schönen Augen an, dass ich direkt wieder in sie versank. Da waren eine unbeschreibliche Wärme und eine Vertrautheit, als würden wir uns schon Jahre kennen! Kann man so ein Glück haben? Irgendwie verstanden wir uns ohne auch nur ein Wort zu wechseln. In Mühlacker gab es einen längeren Halt, währenddessen die Freiwillige Feuerwehr unser Dampfroß mit gut 25 Kubikmeter Wasser versorgte. Da fiel mir wieder eine Geschichte aus dem Jahr 1985 ein, die ich prompt Nicolas erzählte:

„Damals war es zum 150-jährigen Jubiläum der Deutschen Eisenbahn, erstmals nach acht Jahren, wieder möglich mit Dampfloks über DB-Gleise zu fahren. Natürlich hatten die örtlichen Mitarbeiter keine Erfahrung mehr mit dieser alten Technik. Ich fuhr damals für meinen damaligen Arbeitgeber aushilfsweise auch auf den extra wieder hergerichteten Dampfloks der DB. Es gab zunächst nur zwei ausgesuchte Strecken ab Nürnberg, trotzdem gab es findige Reiseveranstalter, die auch Sonderfahrten mit mehreren Dampfzügen gleichzeitig anboten. Bei einer davon tat ich Dienst auf der Lok, die 1959 als letzte Dampflok bei der DB in Dienst gestellt wurde, der leichten Personenzug-Lok 23 105.

Jedenfalls sollten an diesem Tag alle Loks an einem zentralen Punkt ihre Wasservorräte ergänzen. Ganz aufgeregt kam der Bahnhofsvorstand zu mir an die Lok. 'Ja wieviel Liter braucht Ihr denn?' wollte er wissen. '70.000' war meine knappe Antwort, was meinen Gegenüber kreideweiß werden und seinen Unterkiefer nach unten klappen ließ. Mein Heizer feixte schelmisch zu mir herüber. Nach einigen genussvollen Sekunden ob des Schreckens, den ich dem armen, ahnungslosen Bahnhofschef wohl eingejagt hatte, beruhigte ich ihn mit den Worten: 'Keine Sorge, die Feuerwehr weiß Bescheid'. Erleichtert zog er von dannen. Trotz Wasser aus allen Rohren dauerte es fast zwei Stunden, bis die Tender der vier anwesenden Loks wieder voll waren.“

Nicolas und einige der Fahrgäste, die meine Geschichte mitgehört hatten, kringelten sich vor Lachen. Ich verschwieg, dass die erwähnte 23 105 exakt so alt war wie ich, wurde sie doch am gleichen Tage abgeliefert, wie ich, nämlich am 2.Dezember 1959.

Nach wie vor grenzt das Wasserfassen mit Dampfloks an eine Herausforderung. Es wird immer schwieriger, freiwillige Feuerwehren zu engagieren. Und wenn es schließlich gelingt, kommt in etwa die Frage, die der besagte Bahnhofschef vor dreißig Jahren schon gestellt hat. Hier in Mühlacker kennt man uns freilich schon und ist darauf vorbereitet 25 Kubik in 15 Minuten zu liefern. Gegen eine Spende für die Jugendfeuerwehr geht hier noch ziemlich viel.

Pünktlich konnten wir unsere Fahrt fortsetzen und erreichten unseren Heimatbahnhof sogar eine viertel Stunde vor Plan um 20:45 Uhr.

Da ich seit Karlsruhe wieder ein normaler Fahrgast war, konnte ich mich in Nürtingen ohne schlechtes Gewissen von meinen Vereinskameraden verabschieden. Wenn es auch sonst gewiss nicht meine Art ist, die Jungs und Mädels den Zug alleine aufräumen zu lassen, so hatte ich heute das Gefühl, etwas anderes, wichtigeres tun zu müssen.

Nicolas hatte geduldig gewartet, bis ich meine Abschiedsgespräche überall geführt hatte. Die nächste Sonderfahrt sollte erst im Neuen Jahr stattfinden: Wir wollten einen „D 188 Schneewalzer“ durchs Allgäu nach Oberstdorf fahren. Jetzt kam erst einmal Weihnachten.

Das heißt heute war Samstagabend, der 12.Dezember und zum ersten Mal seit vielen Jahren war ich nicht allein! Fast überschlug sich meine Phantasie, was wohl heute noch so alles passieren würde! Darüber war ich wohl etwas weggetreten, jedenfalls zog mich Nicolas am Ärmel

„An was denkst du? Du machst so einen abwesenden Eindruck!“ Anstatt mit der Wahrheit raus zu rücken gab ich ihm nur die Standard-Antwort für solche Fälle:

„Ach nichts weiter! Wollen wir noch was trinken gehen?“

„Ja gerne!“, war die kaum überraschende Antwort. Obwohl ich gerade wieder darüber ins Grübeln kam, was wohl dieser junge Hüpfer an mir so toll fand. Mit meinem Selbstbewusstsein ist es nämlich nicht sehr weit her, wenn es um persönliches von mir selbst geht. Davon schien allerdings Nicolas mehr als genug zu haben!

„Lass uns ins 'Asterix' gehen“, forderte er mich auf „da gibt es ein paar ruhige Ecken und...“

er machte eine Künstlerpause, strahlte bis über beide Ohren

„... da hängt eine kleine Regenbogenflagge über dem Tresen!“

„Echt jetzt?“, entfuhr es mir überrascht. Wir hatten den ganzen Tag nicht einmal über unsere zwischenmenschliche Orientierung gesprochen, jedenfalls nicht direkt. Aber das war irgendwie auch nichts Besonderes, es war einfach klar. Niemals hätte ich so etwas für möglich gehalten.

Das Gute am „Asterix“ war auch, dass sich diese Kneipe praktisch bei mir um die Ecke befand, von der wirklich guten Atmosphäre mal abgesehen. Nach einem kurzen Fußweg von etwa fünf Minuten standen wir vor einer verschlossenen Tür, auch die Rollläden waren herunter gelassen. Ich wollte schon enttäuscht wieder abreisen, da las ich einen kleinen Zettel an der Tür:

„Heute Unterhosen-Party. Eingang über den Hof!“

Wie jetzt, dachte ich verwirrt und es entfleuchte mir ein „Ach du Scheiße“, was wiederum Nicolas zu einem betörenden Grinsen animierte.

„Aber Fasching ist doch erst in sechs Wochen!“, bemerkte ich noch.

„Na ja schon, aber die fünfte Jahreszeit beginnt doch am 11.11.!“, stellte Nicolas fest.

„Du hast das gewusst!“, beschuldigte ich ihn

„Nein! Wirklich... echt nicht“, beteuerte er und schaute mich mit seinen hellblauen Augen erstaunt an! Ich zog eine Augenbraue nach oben und versuchte aus seinem Blick schlau zu werden.

„Echt, Mr. Spock, ich wußte es nicht“, giggelte er. „Können diese Augen lügen?“, setzte er noch nach. Unweigerlich musste ich grinsen und schüttelte meinen Kopf.

„Und da willst du jetzt rein?“, fragte ich ihn direkt. Er zögerte und wirkte plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher wie noch vor einer Minute.

„Hm“, brummte er „Warum eigentlich nicht?“ Und es flammte so etwas wie ein Feuer in seinen Augen auf.

„Nicolas, ich bin sicher kein Kind von Traurigkeit, aber sieh mich an! Ich hatte heute Dienst auf einer Dampflokomotive, was meinst du wohl, was ich drunter anhabe?“

„Eine lange Unterhose?“ riet er treffsicher.

„Ist doch geil!“

„Das ist jetzt nicht Dein Ernst!“ versuchte ich ihn zu bremsen. Doch er ließ nicht locker:

„Mein voller Ernst! Schau, ich hab auch nur eine Allerwelts - Boxershorts an!“

„Oje!“, stöhnte ich. So langsam wurde ich aber neugierig und mein Blut strömte sonst wohin, unter anderem in mein Gesicht. Für meinen vergleichsweise kurzen Lotsen-Dienst hatte ich ausnahmsweise eine anthrazitfarbene Skiunterwäsche angezogen und nicht die alte, mit kleinen Brandlöchern übersäte „Dampf-Unterwäsche“, die auch mehr grau war, als weiß, wie ursprünglich mal. Insoweit wäre es nicht ganz so schlimm gewesen, wie ich vorgab.

„Was is jetzt?“, drängelte er, „mir ist kalt hier draußen!“

Ich warf ihm einen prüfenden Blick zu und folgte ihm durch den Hinterhof. An der rückwärtigen Tür wurden wir freundlich empfangen, wie immer in diesem Laden und auch sogleich mit den „Spielregeln“ vertraut gemacht: Jeder erhielt einen großen Stoffbeutel, in den wir unsere Klamotten stopfen sollten. Also alles bis auf die Unterhosen! Und, wer wollte, konnte auch seine Socken anbehalten. Ansonsten dudelte uns schon der Rock'n'Roll der Sechziger entgegen. Nicht zu laut, aber fetzig.

„Hey cool“, quiekte Nicolas, als er mich nur noch mit meiner Skiunterhose bekleidet vorfand. So wie seine Augen über meinen Körper huschten, war ich mir nicht sicher, ob er damit meine starke Brustbehaarung, oder doch mein anthrazitfarbenes Beinkleid meinte.

„Danke, gleichfalls!“, konnte ich grade noch so von mir geben, bevor sich ein Kloß in meinem Hals bildete. Nicolas sah einfach umwerfend aus! Er hatte nur noch eine rote (meine Lieblingsfarbe!) Boxershorts an. Im Gegensatz zu meinem Pelz, zierten nur ein paar feine Härchen seine Brust. Er hatte übrigens blonde, leicht lockige Haare, einen äußerst schlanken, fast zarten Körper, der jedoch keinesfalls mager zu nennen wäre. Zwar ließ seine Boxer keine eindeutige Kontur entdecken, aber eine leichte Erregung war erkennbar, was auch die Farbe in seinem Gesicht verriet. Ein Kerl zum Anbeißen. All die gängigen Klischees und kitschigen Beschreibungen fielen mir zwar ein, aber sie würden nicht ausreichen um Nicolas gerecht zu werden. Ich schwebte im siebten Himmel und nur mein relativ enger Slip, den ich unter der relativ weiten Skiwäsche trug verhinderte, dass das Blut in meiner unteren Region allzu peinliche Wirkung zeigen konnte. Plötzlich wurde mir ganz heiß, denn Nicolas umarmte mich unvermittelt.

„Man, was bin ich froh, Dich kennengelernt zu haben!“, flüsterte er mir leise ins Ohr.

Wiederum brachte ich nur ein „Danke, gleichfalls!“ zustande. Er umschloss mich immer fester und begann zu zittern. Da es feucht auf meinen Schultern wurde, merkte ich, dass er weinte!

„Hey!“, flüsterte ich und drückte ihn fest an mich. „Was ist denn auf einmal los?“

„Ich weiß auch nicht!“, sagte er mit bebender Stimme „Ich bin einfach so glücklich!“

„Aber da weint man doch nicht“, versuchte ich den Rationalen heraus zu hängen.

„Doch! Vor Glück!“ Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden. Auch ich bekam plötzlich feuchte Augen, ob vor Rührung über die Äußerungen meines neuen Freundes, oder weil ich selbst ein unbeschreibliches Glück empfand, kann ich nicht mehr sagen. Doch eigentlich kannten wir uns überhaupt nicht! Wir sprachen ja erst seit einem halben Tag überhaupt mit einander. Zu Beginn war ich sogar eher genervt! Welch ein Wandel in so kurzer Zeit! Nein, ich wollte Nicolas nie wieder loslassen, schon gar nicht wo er gerade so verletzlich und zerbrechlich wirkte!

„Komm, lass uns tanzen!“, forderte er mich wie ausgewechselt auf und zog mich Richtung Tanzfläche. Tja, was soll ich sagen: Das ist einfach ein Rhythmus, bei dem jeder mit muss! Wenn ich etwas tanzen konnte, dann Rock'n'Roll! Die anderen staunten nicht schlecht, wie ich mit meinem „Kleinen“ herumwirbelte. Es tat gut, die anerkennenden Blicke zu spüren, dass sich ein so alter Knacker noch so bewegen konnte. Auch Nicolas war sehr angetan und wir tanzten und tanzten und tanzten...

Der Ventilator an der Decke drehte sich so langsam, wie jener im “Blauen Papagei“ im Film „Casablanca“ mit ähnlich zweckloser Wirkung. Längst war der DJ beim Stehblues angekommen, zu dem wir uns eng umschlungen im Kreise drehten. Was wir fühlten, kann ich nicht beschreiben. Ich fühlte mich sauwohl, wenn ich das so sagen darf! Eine kurze Unterbrechung der Musik machte uns bewusst, dass wir fast am Verdursten waren. So begaben wir uns an die Bar und leerten ein jeder etwa einen Liter Traubensaftschorle in uns hinein. Ich schaute mich daraufhin zum ersten Mal richtig um, hatte ich doch bis dato nur Augen für Nicolas und er für mich. Es war nicht übermäßig voll. Ein wirklich angenehmes Publikum, so schien es. Wohlwollende Blicke.

„Lass uns in so eine Nische sitzen!“, forderte ich Nicolas auf, der mir dankbar folgte.

„Ich will Dich nicht mehr hergeben!“, flüsterte Nicolas kaum hörbar, „Das musst du auch nicht. Ich Dich übrigens auch nicht!“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, das plötzlich erstarrte!

„Da bist du also, du schwule Sau!“ Und schon sauste eine Faust in Nicolas' erschrecktes Gesicht. „Was zum Henker soll das?“, schrie ich den Unbekannten an, der etwa in meinem Alter war.

„Halt du dich da raus, Arschficker!“, tönte der Unbekannte und stürmte mit seiner Faust diesmal auf mich los. Blitzschnell wich ich zur Seite und er krachte mit voller Wucht auf die Holzwand hinter mir. Er schrie auf, fing sich aber wieder und ging erneut auf mich los. Inzwischen stand ich mitten im Raum, ließ in kommen, packte ihn an dem Arm, den er gegen mich richtete und zog ihn weiter in die Richtung in die er stürmte. Allerdings war ich erneut ausgewichen und er donnerte mit dem Schädel gegen die einzige Säule im Raum und ging zu Boden.

Kaum konnte ich mich wieder orientieren, sprang ich auf Nicolas zu, der regungslos in der Sitzecke hing und relativ stark blutete: Einmal aus der Nase, zum anderen aus der aufgeplatzten Augenbraue über seinem rechten Auge. Auch „Asterix“, der Inhaber, der freilich Mike hieß, war herbei geeilt und leistete fachmännisch erste Hilfe.

„Den anderen hast Du aber gekonnt ausgeknockt!“, bemerkte er fast bewundernd.

„Naja, so wie der daher kam... Wie ist der überhaupt da rein gekommen?“ Ich stand auf und wollte mal nach ihm sehen: Er saß benebelt an die Säule gelehnt, mit der er so unsanft in Berührung gekommen war und glotzte mich hasserfüllt an. Er wäre mir wohl am liebsten an die Gurgel gegangen, was aber wohl sein brummender Schädel verhinderte.

„Polizei?“, fragte mich Pit, Mikes Freund und Kompagnon.

„Hm“, knurrte ich, „besser ist das wohl, oder?“

„Ja, ich glaube schon! Außerdem hat er sich hier gewaltsam Zutritt verschafft!“, meinte Mike bestimmt.

Kurze Zeit später standen zwei Polizisten im Raum, die sich zwar über die leicht bekleidete Gesellschaft wunderten, aber weiter offensichtlich keine ablehnende Haltung hatten.

Zeitgleich trafen vier Sanis ein, von denen sich zwei den Unbekannten schnappten und erst mal mitnahmen, denn der hatte sich wohl eine satte Gehirnerschütterung eingehandelt.

Die beiden anderen kümmerten sich um Nicolas, der immer noch ohne Bewusstsein war. Es störte mich zwar, dass denen fast der Sabber herauslief, aber was konnte ich schon tun. Letztlich erledigten sie ihren Job dann doch vollkommen professionell und routiniert und fuhren mit Nicolas ins Krankenhaus. Als ich den Jungen so daliegen sah mit dem Sauerstoffbeutel, schossen mir plötzlich die Tränen in die Augen. Die beiden Beamten ließen mich erst zur Ruhe kommen und nahmen meine Aussage des Hergangs auf.

„Tja, Herr Klein, der Schläger ist Nicolas' Vater; wer weiß, was passiert wäre, wenn Sie nicht dazwischen gegangen wären.“

“Nicolas ist bewusstlos!“, bemerkte ich wütend, „reicht das nicht?“

„Herr Klein, darf ich Sie fragen, wie lange Sie Nicolas kennen?“, fragte seufzend der Kleinere der beiden.

„Seit heute!“, antwortete ich genervt, „warum?“

„Hm, dann kennen sie die Geschichte wohl noch nicht! Es ist nicht das erste Mal, dass er seinen Sohn verprügelt, nur weil er..... ist, na sie wissen schon!“

„Was?“, stöhnte ich „ nur weil er schwul ist? In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?“

„Herr Klein, ausnahmsweise scheinen hier unsere Gesetze weiter zu sein, als die Bürger!“

Ich muss wohl etwas dröge geglotzt haben, denn der Polizist fuhr fort:

„Na ja, Toleranz ist das eine, aber Akzeptanz das andere!“

„Da haben sie wohl recht, Herr Wachtmeister“, mischte sich Mike ein.

„Tuller“, stellte sich dieser vor.

„Okay, Herr Tuller, wie geht das jetzt weiter?“, fragte ich.

„Die Sachlage ist zum Glück klar, so dass Sie nichts zu befürchten haben!“, antwortete er.

Wieder muss ich wohl ein dummes Gesicht gemacht haben, so dass Herr Tuller sofort ergänzte:

„ Na ja, unter Umständen könnte sie Herr Morlaix wegen Körperverletzung anzeigen!“

„Das ist jetzt nicht ihr Ernst, oder?“, fragte ich unsicher nach.

„Nicht bei der Vorgeschichte!“, beruhigte er mich.

Die Stimmung war jetzt natürlich im Arsch, um es der Situation angepasst auszudrücken.

Ich war inzwischen der Letzte, der sich wieder anzog. Ich mag zwar keinen Alkohol, aber jetzt brauchte ich einen Asbach-Cola.

„Entschuldigt, Leute!“, warf ich in die Runde und es tat gut, wiederum nur in freundliche Gesichter zu schauen.

„Trotzdem gute Nacht!“, rief mir Pit zu.

„Ja, danke, gleichfalls, Euch auch“, rief ich in die Runde und machte mich auf den Nachhauseweg.

Dort angekommen, schälte ich mich aus den Klamotten. Zum Duschen war ich zu müde, konnte aber natürlich nicht schlafen. Tausend Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Vor allem dachte ich daran, wie es wohl Nicolas gehen würde. Freilich kam ich zu keinem Ergebnis. Immer wieder drehte ich mich mit diesen Gedanken im Kreis. Ich beschloss im Krankenhaus anzurufen.

„Wie geht es Nicolas Morlaix?“, fragte ich hoffnungsvoll, als man mich mit der entsprechenden Station verbunden hatte.

„Ich darf Ihnen keine Auskunft geben“, hieß es nur ebenso lapidar wie erwartet.

„Bitte sagen Sie mir nur, ob er wieder bei Bewusstsein ist; ich bin sein Freund!“, flehte ich.

„Ja, ist er!“, war die kurze Antwort der Nachtschwester „Jetzt gehen Sie aber schlafen“, schob sie noch hinterher.

„Gut, vielen Dank!“

Natürlich war daran nicht zu denken, ich wälzte mich von einer Seite auf die andere. Schließlich war ich dann doch eingenickt und wachte, wie gerädert, zwei Stunden später, kurz vor acht Uhr wieder auf. Ich quälte mich unter die Dusche, was meine Lebensgeister immerhin teilweise aufweckte.

Da ich nun überhaupt keine Lust auf den „jungen Mann“ hatte, machte ich einen großen Bogen um die Bäckerei mit dem Eckenmonopol und mich rasch auf dem Weg ins Krankenhaus. Am Empfang fragte ich nach Nicolas Morlaix.

„Welcher?“, war die überraschende Gegenfrage.

Offensichtlich hatte das Arschloch von seinem Vater nicht nur den selben Vornamen, sondern war auch hier gelandet. Ich seufzte:

„Der junge! Mein Name ist Sebastian Klein!“

„Oh, er hat schon nach Ihnen gefragt! Zimmer 206!“

„Vielen Dank!“, rief ich im Davoneilen und spürte, wie man hinter mir den Kopf schüttelte.

„Schön, dass du da bist!“, strahlte mich Nicolas mit müden und verquollenen Augen an.

Was für ein Gegensatz: Einerseits die ehrliche Freude und andererseits ein blutunterlaufenes, rechtes Auge. Ich konnte nicht anders, als ihn vorsichtig in den Arm zu nehmen, was sofort einen Schluchzer zur Folge hatte.

„Hey, ganz ruhig! Ich bin da.“

„Ja, vielen Dank!“, grinste er mich ziemlich schräg an.

Traurig ergänzte er: „Und alles wegen diesem Idioten!“

„Nicolas, du musst mir jetzt nichts erklären! Werde nur ganz schnell wieder gesund!“

„Und dann geht alles wieder von vorne los“, meinte er resignierend.

„Wie meinst du das?“

Statt zu antworten drehte er sich nur wortlos um und ich erkannte, was ich gestern im Überschwang und der schummrigen Beleuchtung wohl übersehen hatte: Nicolas Rücken war mit Striemen übersäht! Mehr oder weniger verheilt und verblasst. Vorsichtig strich ich darüber. Meine Berührung verursachte sofort eine Gänsehaut und ein leises Schnurren. Ich musste lächeln. Er drehte sich um und lächelte ebenfalls verträumt. Doch dann verhärtete sich seine Miene wieder und er sagte:

„Wenn ich wieder gesund bin, muss ich wieder nach Hause. Und da ist ER!“

„Du wohnst noch zu Hause?“, fragte ich etwas ungläubig,

„Weißt du: Von einem Verkäufer-Gehalt ist es schwer, einen eigenen Haushalt zu führen, wenn man so gar nichts hat!“

„Ja, aber so kann das nicht bleiben! Wie alt bist du eigentlich?“

„28.“, war die knappe Antwort, „seit heute.“ ,fügte er leise hinzu.

„Nicht wahr! Hey, Nicolas! Alles Liebe und Gute und jetzt erst Recht schnelle Genesung! Du wirst nicht mehr zu Deinem prügelnden Erzeuger zurückgehen!“, sagte ich entschlossen.

„Aber wo soll ich denn hin?“

„Nicolas, wir kennen uns jetzt erst etwas mehr als 24 Stunden und ich weiß nicht wirklich, wie sich das zwischen uns weiterentwickelt, aber meine Wohnung ist groß genug für mindestens zwei! Ich habe fünf Zimmer, da wird sich doch eines für Dich herrichten lassen! Es ist zwar schon eine Weile her, aber nach meiner Schul- und Ausbildungszeit habe ich ein paar Jahre WG - Erfahrung gesammelt! Ich denke wir könnten es so oder so miteinander aushalten!“

„Du würdest mich wirklich bei dir aufnehmen?“ Sein Selbstvertrauen schien auf ein Minimum zusammen geschrumpelt zu sein.

„Aber ja, es wäre mir eine Freude! Aber bitte keine Unterwürfigkeit! Du bist Dein eigener Herr; und das ist mir sehr wichtig!“, erwiderte ich und fügte hinzu „sonst funktioniert das nicht!“

Mit glasigen Augen sagte er: „Ich weiß nicht, wie ich dir das je wieder zurückzahlen kann!“

„Nicolas, bitte, so sollst du nicht denken! Was ist dabei, neutral betrachtet, wenn ich dir ein Zimmer untervermiete? Das kann man auch als Senkung meiner Unkosten betrachten, also was soll’s?“

„Aha!“, grinste er schon wieder spitzbübisch.

Es klopfte und ohne eine Antwort abzuwarten stürmte eine Krankenschwester herein. „Guten Morgen die Herren, gleich ist Visite! Würden Sie so freundlich sein?“, sprachs und deutete zur Tür.

„Guten Morgen, okay; ich bin dann Mal so freundlich und verdrücke mich in die Cafeteria! Halbe Stunde?“, schaute ich ihr fragend ins Auge.

„Ja, ja! Das sollte passen!“

Ich schlenderte zur Cafeteria und freute mich auf ein zwar einsames, aber genüssliches Frühstück. Von den Croissants war ich sehr angenehm überrascht: Annähernd so gut wie in Frankreich! Dennoch ging mir nicht aus dem Kopf, was Nicolas wohl schon alles hatte ertragen müssen! In solch einem Moment wird einem immer bewusst, welch unbeschwerte Kindheit man selbst erleben durfte! Und das war wirklich so: Vielleicht war meine Kindheit langweiliger und angepasster, als die anderer Jungs, aber niemals hatte auch nur ein Elternteil die Hand gegen mich erhoben! Gedankenverloren saß ich da und schlürfte meinen Kaffee, als mir plötzlich eine Hand über den Hinterkopf streichelte. Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf und ein Schauer lief mir über den Rücken. War es der Schreck oder die verursachende Person, die mich mit zwei hellblauen Augen regelrecht anstrahlte?

„Ich darf gehen! Nachdem ich erzählt habe, dass ich eine Bleibe hätte und nicht mehr zu meinem Erzeuger muss, hat der Arzt meine sofortige Entlassung befürwortet, weil außer dem dicken Auge nicht weiteres passiert ist. Also keine Gehirnerschütterung oder sowas. Die hat mein Vater davongetragen!“, bemerkte Nicolas mit einem Hauch von Genugtuung.

„Echt jetzt? So schnell?“, erkundigte ich mich überrascht und fügte hinzu: „Das freut mich sehr!“

Jetzt erst bemerkte ich, dass mir Nicolas mit so einem einfachen Krankenhaus-Nachthemd (mit freiem Gesäß) und einem ebenso dünnen Morgenrock gegenüberstand. Ja klar, er war ja nur mit seiner roten Boxer bekleidet eingeliefert worden. Er begann zu zittern.

„Hey, du frierst ja! Los komm, lass uns wieder nach oben gehen!“

In seinem Zimmer angekommen, schlüpfte er sofort wieder ins Bett, wobei er mir zum ersten Mal, aber halt zwangsläufig sein verlängertes Rückgrat präsentierte. Er, wie ich, errötete leicht und das Blut schoss auch noch in andere Regionen.

„Schöner Anblick!“, konnte ich mir nicht verkneifen, was ihn noch etwas röter werden ließ.

Um vorerst nicht weiter auf dieses Thema einzugehen, schlug ich ihm vor, ihm den Beutel mit seinen Klamotten aus dem „Asterix“ bringen zu wollen. Dann könnten wir ja zu ihm fahren, solange sein Vater noch hier lag, und seine Sachen holen. Etwas verloren schaute er mich an, schließlich nickte er wortlos.

Kurze Zeit später war ich zurück.

Nicolas sprang förmlich aus dem Bett, entledigte sich seines Krankenhaus-Nachthemds. Als er registrierte, dass er jetzt nackt vor mir stand, wechselte die Farbe seiner Birne in Richtung Tomate. Ich konnte nicht anders, als auf ihn zu zugehen und ihn fest in meine Arme zu schließen. Alle Anspannung fiel von ihm ab und er schmiegte sich an mich. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste er sich von mir und blinzelte mich mit seinen tollen Augen an. „Ich glaube, ich habe mich in Dich verliebt“, meinte der Junge, der mein Sohn sein könnte. Lange schaute ich in seine Augen und gab zu: „Danke, ebenfalls! Ich mich auch in Dich.“ Bei ihm weithin sichtbarer als bei mir, war unser Blut wieder in Körperteile vorgedrungen, die normalerweise sehr viel kleiner waren. Schnell schlüpfte er in die rote Boxer und seine übrigen Klamotten. Nach dem die Bürokratie seiner Entlassung erledigt war, verließen wir so schnell wie möglich diesen Ort.

Ich hatte vorsichtshalber noch ein paar Umzugskartons eingeladen, als ich Nicolas‘ Kleiderbeutel bei mir geholt hatte. Bald standen wir vor dem Haus, in dem Nicolas groß geworden war. Seine Mama war gestorben, als er 13 war. Seither veränderte sich sein Vater, der mit dem Tod seiner Frau offensichtlich noch schlechter zu Recht kam, als Nicolas. Nach Nicolas Comingout, zwei Jahre später, wurde sein Vater immer unzugänglicher und begann gar damit seinen Sohn regelmäßig zu verprügeln. Nicolas schwieg und litt. Als er mir das jetzt erzählte, kam alles wieder hoch und er begann zu zittern und heulte sich seine schönen Augen aus dem Kopf. Nicolas überragte mich zwar um ein paar Zentimeter, aber er schien sehr zerbrechlich in diesem Augenblick. Ich hielt diesen großen Jungen einfach im Arm, was sollte man da auch kommentieren? Nach einiger Zeit beruhigte er sich schließlich und er sah mir in die Augen: „Danke!“, sagte er nur und ich strich im durch seine blonden Locken.

Nach gut zwei Stunden hatten wir alles Wesentliche eingepackt. Viel war es nicht: Etliche Klamotten, Computer, Stereo-Anlage, Foto-Ausrüstung und vor allem seinen Teddy, der ihm von klein auf sein wichtigster Gefährte durch Dick und Dünn war, was man dem Plüschtier auch ansah.

Bei mir angekommen schleppten wir die fünf Kartons in das – nunmehr ehemalige – Gästezimmer.

„Willkommen daheim“, sagte ich nur und ließ ihn erstmal in Ruhe ankommen und ein paar erste Dinge auspacken. Zunächst freilich zeigte ich ihm sein neues Heim, er war ja das erste Mal überhaupt hier.

„Und, wie gefällt es dir?“, wollte ich von ihm wissen. Er schaute mich lange mit leuchtenden Augen an und antwortete „Es ist phantastisch, so hell und freundlich. Man merkt, dass es Deine Wohnung ist!“ „So! Das freut mich sehr!“, strahlte ich zurück.

„Was möchtest du eigentlich essen?“, setzte ich noch nach „Pasta oder Pizza? Gleich unten um die Ecke befindet sich das wohl beste italienische Restaurant nördlich der Alpen!“

Endlich lachte Nicolas wieder einmal so herzlich wie bei unserem ersten, etwas mühsamen Gespräch.

„Aber ich lade Dich ein!“, bestimmte er.

„Ich höre mich nicht nein sagen!“, gab ich fröhlich zurück. Es war inzwischen 19 Uhr geworden, kein Wunder, dass uns beiden der Magen knurrte. Längst waren die elektrischen Kerzen und Leuchtbilder in der Fußgängerzone angegangen, der Riesen-Weihnachtsbaum leuchtete, ebenso wie meine Lichterkette, die ich um mein Balkongeländer gewickelt hatte. So tauchten wir ein in die vorweihnachtliche Stimmung und ließen uns in aller Ruhe unser Abendessen schmecken, auch oder gerade weil zum tausendsten Male „Jingle Bells“ aus dem Radio tönte.

Noch anderthalb Wochen bis Weihnachten!

Wie jedes Jahr, ein völlig unerwartet auftretendes Ereignis. Reihenweise flatterten nun die Stornierungen vieler unserer Züge ins Haus, weil die Kunden jetzt erst gewahr wurden, dass so gut wie alle Fabriken ihre Tore über Weihnachten schließen würden. Damit gab es auch nichts mehr zu transportieren und leere Züge durch Europa zu fahren macht nicht wirklich Sinn. So kam es, dass auch meine Schicht an Heilig Abend ausfallen würde, wie ich nach erfolgter Synchronisation und dem Abruf der Emails auf meinem Tablet lesen konnte.

Endlich hatte ich auch Mal an Weihnachten meine ersehnte Ruhe und wir bereiteten uns auf einen Heiligen Abend in trauter Zweisamkeit vor. Die Tage vergingen wie im Fluge. Bei einem Stadtbummel bemerkte ich, wie Nicolas sehr lange vor einem Herrenausstatter in die Auslage starrte und ich war mir sicher, dass es der ausgestellte, aus heller Wolle gestrickte Rollkragenpulli war, der seine Augen zum Glänzen brachte.

Bingo! Dann war auch die Frage nach einem passenden Geschenk geklärt!

Tja, was soll ich sagen? Am 23. fing es früh morgens an zu schneien, aber wie! Binnen kurzer Zeit versank der Südwesten buchstäblich im Schnee! Was für die Romantiker und Kinder ein phantastisches Ereignis war, war für uns Eisenbahner eine Herausforderung! Unter der Schneelast zusammenbrechende Bäume, die auf den Schienen und in der Fahrleitung landeten, sorgten für ein heilloses Verkehrs-Chaos eben nicht nur auf den Straßen. So brauchte ich meinen PC gar nicht mehr auszuschalten, denn ich musste unseren Dispatchern helfen, den verbliebenen Verkehr in vernünftige Bahnen zu lenken. So blieb es nicht aus, dass ich auch am 24. abends vor dieser blöden Kiste hockte und Loks bzw. Lokführer hin und her schob.

Nicolas hatte sich richtig ins Zeug gelegt: So stand plötzlich ein kleiner Christbaum im Wohnzimmer, den er mit goldenen und roten Kugeln geschmückt und mit echten, roten Kerzen versehen hatte. Der Tisch war festlich gedeckt. Wir hatten uns auf ein „kleines Vesper“ verständigt, doch Nicolas hatte tausend Leckereien aufgefahren und liebevoll drapiert. Plötzlich polterte er los:

„Sebastian, mach den blöden Computer aus. Schlimm genug, dass ich wegen dir dieses Weihnachten niemand sehen kann, aber dass du dann auch noch den ganzen Abend vor dieser beschissenen Kiste sitzt, das schlägt dem Fass den Boden aus!“

Erschrocken sah ich auf und Nicolas‘ sonst so bezaubernden Augen blitzen mich böse an.

„Aber Nicolas, was ist denn in Dich gefahren?“, fragte ich ihn erstaunt und fuhr so sanft wie möglich fort: „Wen um Himmelswillen wolltest du denn unbedingt sehen; auf wen musst du verzichten, dass du plötzlich so wütend bist?“

Jetzt war es Nicolas, der zusammenzuckte, leise antwortete er: „Ich war bisher jedes Jahr an Heiligabend mit meinem Vater zusammen!“

„Was?“, entfuhr es mir lauter, als ich wollte. „Und den vermisst du immer noch, nachdem er Dich ins Krankenhaus geprügelt hat?“

„Heute vor 15 Jahren ist meine Mama ums Leben gekommen“, kam es noch leiser von ihm, als zuvor.

Ich schwieg, stand auf und nahm meinen Schatz wortlos in den Arm. „Es tut mir leid, Kleiner, verzeih‘ mir!“

Mit glasigen Augen schaute er mich an: „ Es ist gut Sebastian, du konntest das nicht wissen. Ich fühlte mich eben wieder so allein, als du vor deinem PC gesessen bist, da kam diese Geschichte wieder hoch! Lass uns essen! Außerdem hab ich noch eine kleine Überraschung für dich!“

Wortlos setzten wir uns an den wunderschön gedeckten und mit acht Kerzen beleuchteten Tisch, was ich jetzt erst richtig realisierte.

„Nicolas, du bist ein Engel!“ rutschte mir kitschig-spontan heraus, worauf der angesprochenen wie auf Kommando errötete.

„Guten Appetit“, wünschte er mir fröhlich.

„Danke, gleichfalls!“

Die vielen, leckeren Kleinigkeiten machten richtig satt!

„Uff“, stöhnte erst ich, dann Nicolas.

„Ich glaube ich brauche einen Schnaps!“

„Ich vertrage zwar keinen Alkohol, aber in diesem Fall…“

„Ist ein Rama auch okay?“

„Ja selbstverständlich!“

Mit je zwei Eiswürfel versetzt, servierte ich die beiden Ramas!

„Oh, lecker! Noch einen?“

„Kommt sofort!“

Na ja, das ging noch ein paar Mal so weiter.

„ Wasisnu mit dr Ibraschung??“, wollte ich wissen.

„Hihi, kommsofort!“, giggelte er.

„Bideschen“

Umständlich rupfte ich an dem Geschenkpapier herum, während Nicolas vor sich hin kicherte.

Schließlich hielt ich eine amerikanische Lokführermütze in Händen und freute mich, wie ein Schneekönig! Schon lange wollte ich so ein Ding haben.

„Uffsetze, uffsetze…“, skandierte Nicolas. Ich erfüllte seinen Wunsch und er grinste zufrieden.

„Habauwasfirdisch“, nuschelte ich und überreichte dem überraschten Nicolas sein Päckchen, das er etwas unkoordiniert auffetzte. Mit seligem Blick schaute er erst auf den Pulli, dann zu mir:

„Woherhassudasgewusst?“

„Hmmm“, schmunzelte ich und nahm ihn erneut in den Arm.

Immer fordernder streichelten wir uns gegenseitig und wollten uns nicht mehr loslassen. Ein Kleidungsstück nach dem anderen markierte den Weg zum Schlafzimmer.

Auch wenn ich es zum Anfang der Geschichte nicht glauben konnte, kann ich jetzt für uns beide sprechen:

Wir fühlten uns so glücklich, wie noch nie.

Es war bereits elf Uhr durch, als es unvermittelt an der Tür läutete.

„Wer mag das zu so später Stunde noch sein?“

Nicolas sah mich fragend an, doch auch ich konnte nur mit den Schultern zucken.

Liebe Leser,

ich hoffe, dass Euch mein Erstlingswerk gefällt.

Wenn Euch zwei Dialoge bekannt vorkommen, so ist dies beabsichtigt!

Sie stammen aus zwei völlig verschiedenen Quellen; versteht sie bitte als Reminiszenz gegenüber den Autoren.

Für mich muss eine Weihnachtsgeschichte ein versöhnliches Ende haben. Trotzdem endet meine Geschichte offen, so dass sich jeder den Schluss so vorstellen mag, wie er möchte.

In diesem Sinne frohe Weihnachten.

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