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Wie ein roher Diamant

Teil 7 - Jade

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Ich fühlte mich sterbenselend. Ein Umstand der mir bewusst machte, dass ich noch immer mit beiden Beinen im Diesseits stand. Einem Diesseits, in dem die Schmerzmittel nachgelassen hatten und jeder Muskel wehtat. Sogar solche, von denen man bis dato nicht einmal wusste, dass man jene besaß.

Vorrangig fiel mir das Atmen schwer, noch dazu war jeder einzelne Atemzug eine schmerzhafte Tortur.

Mir fiel auf, dass ich keinerlei Ahnung hatte, weshalb es mir so dreckig ging. Also öffnete ich die Augen.

Der Himmel war trüb und dicke Regentropfen trommelten leise gegen die Scheibe. Es war Tag, aber welche Uhrzeit blieb mir verborgen.

Ich wandte den Kopf zur Seite, um mir ein Bild zu machen, wie lange ich geschlafen hatte und erblickte einen Blondschopf, der auf dem Bettrand zusammengesunken war. In einer äußerst unbequemen Lage, wie mir schien.

Langsam setzte ich mich auf; machte mir in Gedanken ein Memo, dass alle überflüssigen Bewegungen eine schlechte Idee waren, und versuchte mich erneut zu erinnern, was passiert war. Doch es blieb alles nur ein schwarzes Loch.

Sanft rüttelte ich Jan wach. Wie von der Tarantel gestochen, schoss er hoch und sah mich mit weit aufgerissen Augen an. Er war blass und hatte Ringe unter den Augen. Sofort bereute ich es ihn geweckt zu haben. Denn er sah aus, als könnte er Schlaf mehr als gebrauchen. Irritiert stellte ich fest, dass wohl ich der Grund für seine Übermüdung war, und mir fiel unser Streit vor dem Kino wieder ein. Vielleicht hatte Jan die Wahrheit gesagt und er empfand tatsächlich etwas für mich.

Mir wurde ganz schwindelig und ich hielt mir den Kopf. Meine Schläfen pochten dumpf, ich schloss zur Erholung die Augen.

"Alles okay? Alex?" Jans aufgeregte Stimme drang an mein Ohr und ich schaffte es, ihm nonverbal durch ein Handzeichen zu verstehen zu geben, dass alles soweit den Umständen entsprechend okay war.

"Mir war nur etwas schwindelig." Krächzte ich schließlich und öffnete die Augen um Jan anzusehen. Ihm stand die nackte Panik ins Gesicht geschrieben. Nie hatte ich gedacht einen derart entgleisten Gesichtsausdruck an ihm zu sehen.

Ohne weitere Worte streckte ich die Arme aus. Selbst diese einfache Geste trieb mir vor Schmerz fast die Tränen in die Augen. Jan zögerte einen Moment, doch dann kroch er zu mir aufs Bett. Er legte sich neben mich, vergrub das Gesicht an meiner Halsbeuge und schwieg.

Ich suchte nach seiner Hand und verschlang meine Finger mit den seinen.

Die Verletzungen heilten relativ schnell ab. Vincent hatte zwar einen halben Infarkt bekommen, aber auch er hatte sich schnell erholt.

Ich hatte Anzeige gegen Unbekannt erstattet, bezweifelte aber dass es etwas brachte. Zumal ich es nur der Form halber getan hatte. Unter anderem, damit die anderen mich damit in Ruhe ließen.

Ich wollte es einfach nur vergessen und abhaken. Denn von gelegentlichen Alpträumen abgesehen, in denen mich gesichterlose Gestalten verfolgten, erinnerte ich mich an rein gar nichts. Es blieb eben ein schwarzes Loch.

Laut einem Kommilitonen, der Psychologie studierte, wäre es schlicht und ergreifend Verdrängung.

Ein natürlicher Schutzreflex des Körpers.

Mein eindeutiger Lieblingsreflex.

Ich hatte gar nicht vor mich zu erinnern. Schließlich war es nicht das erste Mal dass man mich verprügelte, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Darum machte ich keinen Hehl daraus. Ich legte es einfach ad acta.

Das stieß zwar bei Steffen auf Unverständnis, aber nach mehreren gescheiterten Versuchen hatte auch er aufgegeben, mich vom Gegenteil überzeugen zu wollen.

Allerdings hatte dieses einschneidende Erlebnis eine weitere Veränderung zur Folge. Die Beziehung zwischen Jan und mir nahm eine erneute Wendung: Alexander lag auf dem Bauch und war in einen Tiefschlaf gefallen, obwohl es Ohnmacht wohl besser traf.

Jan lag neben ihm, den Kopf in eine Hand gestützt und fuhr mit der Spitze seines Zeigefingers kosend über dessen Wirbelsäule. Jede einzelne Erhebung untersuchte er genau und beobachtete sich dabei, saugte jede Einzelheit förmlich auf.

Die blauen Flecken waren verblasst, die gebrochenen Rippen wieder zusammengewachsen. Äußerlich erinnerte nichts mehr an den Überfall und den Anblick der sich ihm geboten hatte, als er nach Hause gekommen war. Sauer und trotzig wie ein Kleinkind. Nicht unbegründet, aber vielleicht viel zu übertrieben und mit einem guten Schuss Selbstschuld.

Viel zu gut konnte er sich an all die Emotionen erinnern, die ihn überschwemmt hatten. Die Vorwürfe die er sich gemacht und die Schuld die er sich gegeben hatte. Und vor allem die Angst um Alexander. Die saß ihm noch immer, wie ein Herpesvirus, in den Knochen. Unvermeidbar, nicht wegzubekommen, nur hin und wieder erfolgreich versuchend sie zu verdrängen, bis sie sich erneut an die Oberfläche grub und ihn wie ein hungriges Raubtier überfiel.

Leicht beugte er sich vor und hauchte einen Kuss auf Alexanders Schulter. Er leckte sich über die Lippen und kostete abermals von der salzigen Haut.

Mit einem Stöhnen, als wäre es das letzte was Alexander ertragen konnte, wachte er wieder auf. Seine Lider fühlten sich wie Bleigewichte an, so dass er gar nicht erst den Versuch unternahm sie zu öffnen.

"Bitte. Hör auf..." flehte er mit rauer Stimme. "Wenn du damit anfängst, werde ich sterben."

"Dass du überhaupt reagierst, straft dich Lügen." Wisperte Jan unbarmherzig mit einem Lächeln auf den Lippen und bedeckte die schweißbedeckte Haut mit weiteren Küssen. Alexanders Körper überzog eine Gänsehaut, die von seinem kleinen Zeh bis in die äußersten Haarspitzen kroch.

Ein wenig steif bewegte ich mich Richtung Küche. Ich hatte mich davongestohlen. Erschöpft zwar, aber mit einem dümmlichen Grinsen auf den Lippen gesegnet. Ich befürchtete für immer mit dieser Mimik herumlaufen zu müssen. Wann immer ich meine Gesichtsmuskeln entspannen wollte, sprangen sie wie Sprungfedern in die ursprüngliche Stellung zurück.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir dass es bereits Mittag war, aber das änderte nichts daran dass ich jetzt dringend einen Kaffee brauchte.

Während die Maschine gurgelnde Geräusche von sich gab, rieb ich mir geistesabwesend mit dem Fußrücken die Wade. Zwar versperrte mir ein anderes Hochhaus eine weitläufige Aussicht, aber im Moment reichte mein Blick nicht mal bis an die nächste Fassade. Ich sah eigentlich gar nichts, starrte nur durch das Fenster. Denn mein eigentlicher Blick galt dem Film, der vor meinem geistigen Auge ablief. Mir wurde bewusst wie sehr sich mein Leben innerhalb dieser wenigen Monate verändert hatte. Es war nicht immer toll und rosarot gewesen, aber alles in allem hatte es eine äußerst positive Wendung genommen. Mir fiel ein dass ich Tom wohl mehr schuldete, als nur eine Packung ‚Merci’ in Verbindung mit einem übertriebenen Lächeln. Weniger, weil ich es nicht ernst meinte, sondern in der momentanen Situation einfach nicht anders konnte, als blöd in Gegend herumzugrinsen. In solchen Dingen konnte ‚Verliebt sein' durchaus nerven. Denn es war einfach nur peinlich. Wie gut, dass es in diesem Moment Keinen interessierte und man sich nur später dafür schämen musste, wenn die Beziehung in die Brüche ging.

Hätte ich meinen Bruder damals ungespitzt in den Boden rammen können, dass er sich eingemischt und mir diese Wohnung versorgt hatte, war ich jetzt der Meinung, ihm gebühre ein eigener Stern auf dem ‚Walk of Fame'.

Auf dem Familieninternen.

Die Arme die sich um meine Schultern schlangen und die warme Brust, die sich an meinen Rücken drückte, holten mich in die Gegenwart zurück. Ich lehnte mich ein wenig nach hinten und seufzte leise.

"Hab nur nachgedacht..." murmelte ich, als könnte ich die unausgesprochene Frage hören, die sich hinter Jans Stirn bildete.

"Schöne oder unschöne Gedanken?"

"Ich denke, schöne." Ich wandte ihm lächelnd mein Gesicht zu. Für einen kurzen Moment dachte ich etwas durch Jans Augen schwimmen zu sehen, etwas anderes als den liebevollen Ausdruck den sie sonst hatten, wenn er mich ansah. Aber vielleicht hatte ich mich auch einfach nur geirrt.

Eine optische Täuschung.

Eine Fata Morgana durch die Lichtspiegelung der Sonnenstrahlen, die sich an der gegenüberliegenden Fensterfront brachen.

Allerdings lenkte mich das unheilvolle Glitzern, das nun Platz in Jans blauen Augen nahm, von diesem Gedankengang ab. Schnell wandte ich mich meinem Vorhaben zu. Der Kaffee war bereits seit geraumer Zeit durchgelaufen.

Als ich nach der Kanne greifen wollte, löste sich nicht nur Jan von meinem Rücken. Ein kühlender Luftzug um meinen nackten Hintern verriet mir, dass sich soeben meine Unterhose ebenfalls gelöst hatte - mit tatkräftiger Unterstützung seitens meines Freundes.

Ich schluckte und räusperte mich, während Jans Zunge die kleinen Furchen über meinen Pobacken erkundete.

"Jan..."

"Ich brauch einen Kaffee" wimmerte ich und konnte nur mit Müh und Not das wohlige Stöhnen unterdrücken, dass sich in meiner Kehle gebildet hatte und drängte gehört zu werden. "Mein Kreislauf bricht sonst zusammen..." murmelte ich nunmehr undeutlich. Allerdings versagten mir eher meine Beine ihren Dienst, als mein Herz-Kreislauf-System. Nämlich indem sie sich langsam in Pudding verwandelten. Nicht verwunderlich, da mein Körper begann sämtliche Blutreserven in meine Körpermitte zu pumpen.

Vielleicht lag es an vorheriger mangelnder sexueller Aktivität, an den Drogenresten der Medikamente oder einfach nur an den Hormonen, aber nur wenige Berührungen von Jan reichten aus, um mich vollkommen gefügig zu machen. Ich war regelrecht Wachs in seinen Händen, den er formen konnte, wie er wollte.

Wäre ich nur entfernt in der Lage gewesen zu denken, hätte es mir Angst oder sogar Panik gemacht. Aber um solch weittragende Gedanken zu hegen, benötigte man eine ausreichende Versorgung des Gehirns; und das war vollkommen vernebelt und träge, von all den Pheromonen.

"Stör ich?"

Schlagartig war ich wieder klar. Innerhalb weniger Zehntelsekunden war das Blut das mir zum denken gefehlt hatte, in doppelter Menge zurück in den Kopf geschossen. Wie aus dem Schützengraben zog ich mich langsam an der Theke nach oben und blickte in das breit grinsende Gesicht von Vincent.

Wann war der nach Hause gekommen? Warum hatte ich das nicht gehört? Warum hatte es Jan nicht gehört?

"Hi." Murmelte ich und zog mich sofort wieder zurück. Jan lag entspannt auf dem Boden und musste sich mühsam beherrschen bei meinem Anblick nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

Leise zischte ich ihm Verwünschungen zu. Wenn er Exhibitionist war, war das seine Sache. Ich allerdings war da etwas prüder und prüfte noch mal nach, ob meine Boxershorts auch wirklich sittsam saßen und richtete mich auf. Mit gestrafften Schultern, goss ich mir einen Kaffee ein.

"Willst du auch?" fragte ich Vincent, fuhr mir mit einer Hand durch die zersausten Haare um sie einigermaßen zu glätten. Ich spürte seinen Blick in meinem Nacken, als würde er Laserstrahlen auf mich richten. Ich konnte förmlich fühlen wie er grinsend die Knutschflecke und zartroten Bissmalen nachzählte.

Als ich keine Antwort erhielt, wandte ich mich um.

In der Hoffnung meine Fassung ein wenig zurück gewonnen zu haben.

Ich konnte dem frechen Blick nur kurz standhalten, überspielte es aber indem ich mich ganz auf meinen Kaffee konzentrierte.

"Nun?" hakte ich nach und versetzte Jan einen Tritt gegen die Schulter, der noch immer auf dem Boden lag und das Lachen kaum mehr unterdrücken konnte.

"Danke, nein. Ich hatte bereits drei Mal. Du auch?"

Der amüsierte Ton in seiner Frage, ließ mir erneut die Hitze zu Kopf steigen. Demonstrativ stieg ich über den am Boden liegenden und strebte ohne weitere Erwiderung mein Zimmer an. Erhaben stolzierend überbrückte ich die geringe Distanz und hatte bereits die Hand an der Türklinke, als Vincent mir noch einen Rat mitgab: "Schau mal im Spiegelschrank nach. Die Tube wirkt Wunder." Das Glucksen ließ seine Stimme fast überschlagen, und aus den Tiefen der Küchendiele erklang Gelächter, an dem sein Besitzer beinah erstickt wäre.

Nach der darauf folgenden Nacht, befolgte ich diesen weisen Ratschlag und überstand unbeschadet die anstehenden Vorlesungen des nächsten Tages.

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