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Der Cellist

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Fast unbemerkt war es Nacht geworden, als Richard das Fenster öffnete um noch etwas Luft in sein Zimmer zu lassen. Nachdenklich und müde blickte er aus dem ersten Stock hinunter auf die Straße, wo keine Menschenseele zu sehen war. Aus dem Erdgeschoß fiel etwas Licht auf die Straße und er konnte leise die Stimmen seiner Eltern vernehmen. Er ging zurück, setzte sich und dachte: „Also gut, einmal noch durch das Ganze!“

Er griff nach seinem Cello, dass er bereits die letzten 4 Stunden `bearbeitet´ hatte und übte nochmals das neue Stück, das ihm seine Musiklehrerin gegeben hatte. Es war nicht einfach, selbst für einen, der seit dem achten Lebensjahr dieses Instrument spielte. Seine Finger schmerzten, tanzten aber dennoch federleicht über die Saiten. Er musste das Stück unbedingt solange proben, bis es wirklich saß. Schließlich musste er seine Eltern zufrieden stellen, die das Stück  vier Wochen später bei der Schulaufführung sicher kritisch beurteilen würden. Nebenbei hatte er auch noch ein anderes Stück zu proben, das bis zum folgenden Mittwoch einstudiert werden musste. Auch hier würden seine Eltern genau aufpassen, dass sich ja kein Fehler in sein Spiel einschleicht.  Vor allem sein  Vater, der es nicht gewohnt war, von Richard enttäuscht zu werden.

Richard war in seiner Heimatstadt – in der noch nie irgendetwas Außergewöhnliches passiert war – so etwas wie ein Star geworden. Seine Eltern erkannten früh sein musikalisches Talent: Mit fünf sang er im Kinderchor und begann mit dem Flötenspiel und mit acht fing er schließlich, an Cello zu spielen. Zu den Feiertagen musste er zumeist in der Kirche vorspielen, genauso, wenn sich Besuch aus der deutschen Partnerstadt ansagte. Gab es eine Familienfeier: Richard auf das Podium. Gab sein Vater einen Empfang in seinem Autohaus: Richard vor den Vorhang. Und in der Schule setzte sich das fort: Frühjahrs- und Weihnachtskonzerte wechselten sich im Rhythmus der Jahreszeiten ab, sodass Richard immer irgendetwas zu üben hatte. Er durfte sein Publikum schließlich nicht enttäuschen.

Es war nicht so, als ob er das Spielen nicht gemocht hätte, doch in letzter Zeit kostete es ihn immer mehr Überwindung zu üben. Er war vor kurzem 17 geworden und stand ein Jahr vor der Matura (Abitur). Richard machte sich keinerlei Sorgen über den Ausgang dieser Prüfungen – wohl eher um das, was nachher kommen sollte. Außerdem kam er immer öfters drauf, etwas versäumt zu haben. Schon früh musste sich Richard an die Regeln seines Vaters gewöhnen:

Du willst mit den anderen Jungs Fußball spielen? Geht nicht. Willst du dir etwa die Finger brechen?

Du willst mit den anderen zum Schwimmen? Geht nicht. Davon wird die Haut an deinen Fingern zu weich.

Du willst auf eine Party? Denk an deinen nächsten Auftritt. Sitzt das Stück wirklich schon perfekt? Enttäusche uns nicht, klar?

Richard konnte sich nicht mehr daran zurück erinnern, wann das alles begonnen hatte. Er wusste nur, dass er bei jedem Auftritt höllisch nervös war, vor Sorge, seinen Vater enttäuschen zu können. Einmal, er musste 12 gewesen sein, verschwieg er aus Furcht vor seinem Vater eine Magengrippe – er hatte es nach dem Auftritt gerade noch von der Bühne geschafft, ehe er sich ankotzte. Warum er sich vor seinem Vater fürchtete wusste er noch nicht einmal – er wurde nie von ihm geschlagen und jeder materielle Wunsch wurde ihm von den Lippen abgelesen. Eines fehlte ihm dennoch: Geborgenheit. Immer mehr kam er drauf, dass er es nur seinen Eltern recht machen musste – und dass er selbst dabei auf der Strecke blieb. Ihm fehlte es an Geborgenheit, ihm fehlte es an Freunden.

Gegen ein Uhr legte Richard den Bogen zur Seite und verstaute sein Cello. Er betrachtete sich eine Weile im Spiegel und dachte: „Da stehst du nun – 17 Jahre und was hast du bis jetzt erlebt? Nichts! Was kannst du eigentlich sonst noch, außer auf diesem Cello herum zu fummeln?“

Er legte sich ins Bett und dachte an die Party, die gerade zu diesem Zeitpunkt ein paar Straßen weiter stattfand. Einer seiner Klassenkollegen feierte Geburtstag – natürlich hatte er auch Richard eingeladen.

„Nö, geht leider nicht“, antwortete dieser lachend, „ich muss mich auf den Auftritt nächste Woche im Rathaus vorbereiten! Aber das nächste Mal bestimmt!“ Doch irgendetwas kam immer dazwischen. Er lachte bei der Antwort, aber am liebsten hätte er geheult. Doch als `Star´ durfte er das nicht.

Dabei wurde Richard relativ oft zu Partys eingeladen – seine Mitschüler mochten ihn, vor allem für seine ruhige, manchmal zu ruhige Art. Er hatte kurze schwarze Haare, auffallend lange Augenwimpern und helle Haut, die nicht ein Pickel verunzierte. Mit 1,75m gehörte er nicht zu den Größten, allerdings auch nicht zu den Kleinsten.  Die Mädchen empfanden ihn als echten Blickfang – unnahbar allerdings, da er nie Zeit für jemanden hatte. Unnahbar allerdings waren Mädchen auch für Richard, der schon früh bemerkte, dass ihn Jungs mehr anzogen.

Gesprochen hatte er darüber allerdings mit niemandem. Mit wem auch? Richtige Freunde hatte er nicht und seine Eltern würden solchen jugendlichen Firlefanz ohnedies nicht ernst nehmen. Schon geübt heute, Richard?

Mit kummervollen Gedanken schlief er also ein – wenigstens konnte er am Tag darauf mal wieder ausschlafen, da es ein Sonntag war.

„Und denk daran, dass du nach der Schule gleich nach Hause kommst, ok? Am Mittwoch ist schließlich der Auftritt im Rathaus, könnte nicht schaden, noch etwas zu üben“, verabschiedete ihn sein Vater am darauffolgenden Montag zur Schule.

Nie kam ein aufmunternder Spruch von ihm, wie etwa `Viel Erfolg´ oder `Viel Spaß´, immer fielen nur Sätze wie diese und irgendwie schien es, als wäre eine Woche wie die andere. In die Schule gehen, Unterricht, heimfahren, üben, üben, üben, schlafen gehen usw.

Bis zum Gymnasium waren es an die drei Kilometer, die Richard meistens mit dem Rad zurücklegte. Meistens summte er dabei das jeweilige Musikstück, das er gerade zu üben hatte.

Am Montag stand in der ersten Stunde – richtig – Musik an, was allerdings nicht wirklich ein Muntermacher war, da der Lehrer kurz vor der Pension stand, halb taub war und sein Engagement daher überwiegend der Notenlehre widmete. Als etwa die Hälfte der Stunde vergangen war, kam der Direktor in die Klasse – und mit ihm ein Junge in einer Lederjacke.

„Guten Morgen meine Damen und Herren. Darf ich euch Daniel vorstellen? Er ist seit kurzem mit seiner Familie aus Wien hierher gezogen und ist ab heute Bestandteil eurer Klasse. Ich hoffe ihr kümmert euch in den ersten Wochen um ihn!“, sprach er und war auch schon wieder verschwunden. Richard war noch ziemlich müde und registrierte den Neuen erst, als er am Tisch vor ihm Platz nahm.

Doch spätestens da fühlte er sich wie vom Blitz getroffen. Daniel war zierlich gebaut und einen guten Kopf kleiner als er. Seine blonden Haare waren seitlich fast abgeschoren, auf der Schädeldecke allerdings mit viel Gel zu einem leichten Irokesenschnitt geformt.  Des Öfteren blickte er nervös zur Seite, sodass Richard sein Gesicht sehen konnte – er musste natürlich in seinem Alter sein, wäre aber auch als 15 durchgegangen.

Einmal drehte er auch kurz seinen Kopf in seine Richtung und Richard blickte in stahlblaue Augen. Als ihn Daniel kurz anlächelte, blickte Richard zur Seite – sein Kopf lief knallrot an. „Hoffentlich hat er es nicht bemerkt“, dachte er, doch als er wieder hinsah hatte Daniel seinen Kopf schon in eine andere Richtung gedreht.

Wie gesagt, Richard war wie vom Blitz getroffen. So etwas hatte er noch nie gefühlt – zwar war er schon einige Male in einen Jungen verschossen, doch nie kam irgendetwas dabei raus. Erstens war er viel zu schüchtern und zweitens hätte er sowieso keine Zeit für irgendwelche Unternehmungen gehabt. Mit einem Schlag war er jedenfalls munter und beobachtete bis zum Stundenende Daniel von oben bis unten – welch ein traumhaft aussehender Junge!

In der darauffolgenden Pause bildete sich eine neugierige Schülertraube um Daniels Tisch, der die üblichen Fragen über sich ergehen lassen musste, wie es wohl jedem Neuankömmling ergeht. Er war mit seinen Eltern aus Wien weggezogen, da seine Eltern das Stadtleben satt gehabt hätten, erzählte er. Und er freue sich auf neue Bekanntschaften. Richard hatte sich ebenfalls unter die Neugierigen gemischt, war aber zu aufgeregt, um auch eine Frage zu stellen. Zumindest hatte er jetzt die Gelegenheit, Daniel auch von vorne zu Gesicht zu bekommen. Sein Herz schlug wie wild und jetzt wurden in ihm die letzten Zweifel beseitigt – er hatte sich in den Neuen verliebt.

In der zweiten Stunde war Französisch angesagt – da die Klasse relativ groß war, wurde sie in den Sprachfächern in zwei Gruppen geteilt. Richard saß bereits auf seinen Platz, als er auf einmal hörte: „Ist hier noch frei?“

Die Stimme kam von Daniel und ehe Richard antworten konnte, hatte sich dieser auch schon gesetzt.

„Und du bist…?“, wollte Daniel wissen.

„Richard“, brachte er nur kurz heraus, ehe er sich verlegen räusperte und in sein Vokabelheft starrte.

„Daniel“, gab ihm dieser als Antwort.

„Ich weiß!“

„Redest wohl nicht sehr viel, wie?“, meinte Daniel und öffnete ebenfalls sein Heft.

„Ich Idiot! Ich Vollidiot!“, war alles, was sich Richard in diesem Moment dachte. Er war wütend auf sich selbst, weil er dachte, in diesem Moment schon alles verbockt zu haben. In der drauffolgenden großen Pause zog er sich aufs stille Örtchen zurück. Er saß noch nicht lange, als er plötzlich zwei Jungs am Waschbecken hörte, die sich unterhielten.

„Wer ist eigentlich der Typ, der hinter mir sitzt?“, hörte er den einen sagen. Richard wurde es heiß – die Stimme gehörte eindeutig zu Daniel, der sich scheinbar über ihn erkundigte.

„Ach, das ist Richard“, hörte er vom zweiten. Das musste Markus sein, ebenfalls  ein Schüler aus seiner Klasse. „Ein ganz netter, aber sehr schüchterner Kerl. Der redet sehr wenig und die meisten wissen sehr wenig über ihn – außer, dass er ein begnadeter Cellist ist. Und dass sein Vater ein ziemlicher Arsch sein muss, der ihn nirgends hinlässt. Außerdem sagt man über ihn, dass…“

Mehr konnte Richard nicht mehr hören, da in diesem Moment der Händetrockner betätigt wurde. „Was, was sagt man über mich?“, dachte er sich, blieb aber sitzen und verließ das WC erst, als es bereits zur nächsten Stunde geläutet hatte.

Die letzten beiden Stunden des Tages war dem Turnunterricht gewidmet. Richards Vater hatte sich lange vergeblich darum bemüht, ihn vom Turnen zu befreien, die Verletzungsgefahr sei schließlich enorm. Genauso stellte sich dann Richard auch zumeist an – beim Handball (sein Lehrer ließ das ständig spielen) und Geräteturnen hielt er sich dezent im Hintergrund, während er bei der Leichtathletik zu den schnellsten und besten seiner Klasse zählte. Daniel hingegen war ein richtiggehendes Ass im Handball – so zierlich er sonst wirkte, hatte er mächtige Oberarme und eine Granate von einem Wurf. Als das Spiel beendet war, wurde er daher von der Siegermannschaft (in der Richard selbstverständlich nicht war) ordentlich bejubelt – und somit war er in der Klasse angekommen. Richard war etwas enttäuscht und wohl auch eifersüchtig und zog sich sofort um, um nach Hause zu fahren. Er duschte nie, immer unter dem Vorwand, dass es ja sowieso die letzten Stunden des Tages wäre und er sowieso nicht weit nach Hause hätte. In Wirklichkeit traute er sich nicht – es würde schließlich sofort auffallen, dass er alle anderen Jungs `abchecken´ würde. Außerdem hatte er Riesenangst, eine Erektion zu bekommen – und dann würden es alle gleich wissen. Nein, das brauchte er wirklich nicht.

Zu Hause angekommen, hüpfte Richard sofort unter die Dusche, wo sich seine Gedanken bald ausschließlich um Daniel drehten. Da er danach seine vollste Konzentration auf das Üben legen wollte, holte er sich bei diesen Gedanken genussvoll einen runter – hätte er das nicht gemacht, hätte er das Üben nachher glatt vergessen können. „Gutes Aufwärmtraining für meine `Griffhand´“, dachte er sich dabei meistens und kicherte selbst immer wieder über die Zweideutigkeit des Wortes `Griffhand´.

Wenige Minuten später saß er dann wieder vor dem Notenständer – vor ihm die Blätter mit Bachs Suite II, einem Solostück für das Cello, an dem Richard bereits seit einigen Wochen übte. In wenigen Tagen müsse er es im Rathaus vorspielen, anlässlich irgendeiner dämlichen Feier, die ihn absolut nicht interessierte. Dennoch versuchte er sich zu konzentrieren, auch wenn er ständig Daniels süßes Gesicht vor sich sah. Nach einer kurzen Unterbrechung – Abendessen mit der Familie, sowie Erledigung der Schularbeiten – ging es wieder bis spät in die Nacht weiter. Gegen 10 Uhr abends pflegte Richard sein übliches Ritual: Fenster öffnen, in die Dunkelheit starren – um anschließend noch etwas weiter zu üben. Vollkommen in den Noten vertieft, war es ihm plötzlich, als ob er einen Pfiff gehört hätte. „Du hast wohl schon Halluzinationen“, sagte er zu sich selbst, nachdem er sein Spiel unterbrochen hatte, aber nichts hörte. Da, da war es doch wieder. Er stellte sein Cello zur Seite, legte den Bogen weg und blickte nochmals aus dem Fenster.

„Ist da jemand?“, fragte er in die Nacht hinaus, obwohl er die dunkle Gestalt unter seinem Fenster bereits erspäht hatte.

„Ich bin’s, Daniel!“

„Wer?“, entfuhr es Richard erstaunt.

„Schon vergessen“, kam frech zur Antwort, „der Neue! Du spielst ja absolut fantastisch!“

„Pst!“, zischte Richard und deutete Richtung Erdgeschoßfenster. „Meine Eltern sind noch auf!“

Daniel zuckte fragend mit den Schultern, so als wollte er sagen: „Ja, und?“

„Was machst du hier?“, wollte Richard jetzt dennoch wissen. „Warte, ich komme kurz runter!“

Leise schlich er sich am Wohnzimmer vorbei, in dem seine Eltern noch fernsahen. Sein Vater würde sicher einen Wirbel machen, könnte er sehen, dass er sich so einfach aus dem Haus stahl.

Schließlich stand er so dicht wie möglich vor Daniel, um nicht zu laut reden zu müssen.

„Was machst du hier?“, fragte ihn Richard nochmals. „Woher weißt du, wo ich wohne?“

„Ach, ich bin noch etwas  rumgefahren, da habe ich zufällig Musik gehört und hab beschlossen, etwas zuzuhören. Von Markus weiß ich, dass du Cello spielst. Du spielst großartig, ehrlich!“

„Danke!“, meinte Richard verlegen. Alle sagten das.

„Hör mal, ich gebe am Wochenende bei mir zu Hause eine Einstandsparty und würde mich freuen, wenn du kommst. Du bist zwar um einiges ruhiger als ich – aber irgendwie hab ich das Gefühl, wir beide könnten uns ganz gut verstehen. Ich mag es, wenn Leute nicht so viel reden, haha!“

Richard wollte zu seinem üblichen Ablehnungssatz `Tut mir leid, aber…´ ansetzen, doch Daniel unterbrach ihn sofort.

„Markus hat mir erzählt, dass du nie wegdarfst. Also, was soll denn der Scheiß? Du bist doch kein kleines Kind mehr!“, meinte Daniel vorwurfsvoll und fügte gespielt streng hinzu: „Also, keine Widerrede, Samstag um 8 Uhr, Adresse sag ich dir noch!“ Er lächelte ihn auf seltsame Weise an, verabschiedete sich und verschwand genau so schnell wie er gekommen war in der Dunkelheit. Richard stand noch eine Weile wie angewurzelt da, ehe er beschloss ins Zimmer zurück zu schleichen – das Üben konnte er an diesem Abend vergessen, zu aufgewühlt war er im Inneren! „Ich werde mich wohl aus dem Haus schleichen müssen“, beschloss er, ehe er sich hinlegte um zu schlafen.

Am folgenden Morgen konnte er es gar nicht eilig genug haben, in die Schule zu kommen. Auf dem Weg dorthin traf er prompt Daniel, der ebenfalls mit dem Rad unterwegs war. Da nicht viel Verkehr war, beschloss Richard neben ihm entlang zu fahren. Nach einem kurzen `Guten Morgen´ fuhren sie eine Weile nebeneinander, ehe Richard als Erster anfing zu quatschen.

„Und wie gefällt es dir hier?“, wollte er wissen.

„Ach, es geht. Hier ist halt alles eine Spur ruhiger als in Wien. Lokale dürfte es hier ja auch nicht allzu viele geben. Hast du da einen Geheimtipp diesbezüglich?“, fragte Daniel.

„Das Dakota ist ganz ok. Da treffen sich einige Leute aus unserer Klasse auch des Öfteren, zumindest die, die hier wohnen!“, wusste Richard zu berichten, obwohl er selbst noch nie in diesem Laden war.

„Na, vielleicht werd ich da heute Abend, mal hinsehen. Vielleicht kommst du ja mit? Ach übrigens: Dürfte ich deine Telefonnummer haben?“

„Heute Abend ist ausgeschlossen – ich habe morgen einen Auftritt im Rathaus, mein Vater hätte da sicher etwas dagegen“,  antwortete Richard, ehe beide ihre Telefonnummern austauschten.

„Tja, auf alle Fälle werde ich hier meine Matura machen“, fuhr Daniel fort, „Muss ich über irgendeinen Lehrer etwas wissen?“

„Im Prinzip sind sie alle ganz ok. Der Mathelehrer ist halt blöderweise der strengste an der Schule, das heißt, er verlangt auch am meisten. Die Prinz, also unsere Französischlehrerin, kennst du ja schon – bei der ist alles eher locker, da fällt auch kaum jemand durch!“

„Die Prinz, ja, die hat zwei mächtige Titten, nicht wahr?“, meinte Daniel, doch ehe Richard noch nach einer Antwort suchen konnte, sprang Daniel auch schon vom Rad. Sie waren an der Schule angelangt. Richard trottete hinterher, diesen Satz über Frau Prinz’ Titten hatte er als eine Art Abfuhr aufgefasst. Daniel stünde also auf Frauen, so Richards Erkenntnis.

Die kurzfristig gute Laune war wie weggeblasen und trübsinnig kämpfte sich Richard durch den Vormittag, während Daniel damit beschäftigt war, andere Leute der Klasse kennenzulernen. Mit einer gewissen Eifersucht hielt sich Richard im Hintergrund, ließ sich allerdings nichts anmerken. In der großen Pause flirtete Daniel dann noch dazu mit einem der hübschesten Mädchen der Klasse – zu viel für Richard, der sich wieder mal auf die Toilette zurückzog. Missmutig und gedankenverloren stierte er von innen an die Tür – ihm war echt zum Heulen zu Mute. Irgendwie ging alles schief in seinem Leben, dachte er bei sich. Und dann flirtet Daniel auch noch mit Sabina, der ein sehr lockerer Umgang mit Jungs nachgesagt wurde – so hatte es Richard zumindest gehört.

In der darauffolgenden Stunde war Französisch angesagt – auch das noch. Daniel ließ sich so wie am Vortag wieder neben Richard nieder und hatte scheinbar bemerkt, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte.

„Was ist los mit dir? Dass du nicht viel sprichst, weiß ich ja bereits, aber warum schaust du aus wie ein VW-Käfer nach einem Frontalcrash?“, fragte Richard einerseits besorgt, andererseits aber auch für Richards Begriffe nicht ernst genug.

„Ach, lass mich. Das Konzert morgen und außerdem… ach, ich bin einfach schlecht drauf. Hat nichts mit dir zu tun….“

Ups! Der letzte Satz rutschte Richard einfach so raus und prompt kam die erwartete Antwort: „Häh? Warum sollte was etwas mit mir zu tun haben? Du bist wegen mir mies drauf? Versteh ich nicht. Hab ich dir was getan?“

Richard wusste keine Antwort, doch Gott sei Dank kam in diesem Moment die Prinz rein.

„Wir reden nachher drüber, alles klar?“, flüsterte Daniel.

Richard konnte die ganze Stunde an nichts anderes denken, als an diesen blöden Satz, der ihm da rausgerutscht war. „Klarer Fall von Freudscher Versprecher“, kam ihm in den Sinn. Sofort nach der Stunde – ehe Daniel noch irgendetwas sagen konnte – rannte Richard ins Sekretariat um sich für den Tag abzumelden. „Ich habe schon seit der Früh Magenbeschwerden“, log er. „Ach, hast du dir etwas eingefangen?“, fragte Frau Helm, die Sekretärin besorgt, „Na, dann werde ich mal bei dir zu Hause anrufen, dass du für heute entschuldigt bist.“

Gesagt, getan – und wenig später saß Richard auf seinem Fahrrad und war auf dem Weg nach Hause. „Verdammt! Auch nicht gerade die beste Entscheidung. Worin hab ich mich da bloß verrannt? Daniel braucht jetzt nur mehr eins und eins zusammen zu zählen und weiß Bescheid“, haderte Richard mit sich selbst. Noch nie hatte er die Schule geschwänzt und deswegen hatte er ein schlechtes Gewissen.

Seine Mutter wusste bereits Bescheid. Ebenso sein Vater, der in der Mittagspause immer nach Hause zum Essen kam – als sein eigener Chef konnte er sich das leisten.

„Was ist mit dem Konzert morgen? Du wirst doch morgen wieder fit sein?“, wollte er sofort von Richard wissen, als dieser ins Haus kam. Kein `Wie geht’s dir´ oder `Kann ich etwas für dich tun?´ kam ihm über die Lippen.

„Ach, wird schon nicht so schlimm sein, ich hab vielleicht irgendetwas nicht vertragen“, sagte Richard bedrückt und verzog sich auf sein Zimmer.

„Du weißt, dass morgen ein paar wichtige Leute, Kunden ins Rathaus kommen. Ich hab sie doch eingeladen. Wie steh ich denn da, wenn er mir das verbockt?“, hörte er seinen Vater zu Richards Mutter sagen.

Richard legte sich ruhig aufs Bett und schielte in die Ecke, wo sein Cello stand. Es schien ihn richtiggehend anzugrinsen. „Manchmal würd’ ich dich am liebsten verbrennen“, raunte er halblaut in Richtung Cello. Wenig später saß er dennoch vorm Notenständer – und übte für das Konzert am nächsten Tag.

Bach, Suite II für Cello. Er kannte mittlerweile jede Note auswendig.

Zwar fühlte sich Richard absolut gesund, Appetit auf Essen hatte er aber am Abend immer noch nicht – zu sehr beschäftigte ihn dieser Satz vom Vormittag und so sehr er auch überlegte, er hatte immer noch keine Idee was er Daniel sagen würde, wenn er ihn das nächste Mal träfe. „Besser du bleibst morgen noch zu Hause“, meinte sein Vater. „Nanu, woher dieser Anflug für Mitgefühl“, dachte sich Richard ehe er fortfuhr. „Damit du fit für das Konzert morgen bist. Hör mal, das ist wichtig für mich. Es kommen einige Kunden – vielleicht kannst du sie mit deinem Spiel erwärmen, mir ein paar Autos abzukaufen. Nun, da du sowieso nichts isst, kannst du ja noch etwas üben. Du rufst doch morgen in der Schule an Schatz?“, wandte er sich wieder seiner Frau zu – die Sache mit Richard war für ihn somit erledigt. Von wegen Mitgefühl.

„Sei doch nicht zu grob zu ihm, Hans“, meinte Richards Mutter. „Irgendetwas ist los mit ihm. Vielleicht spukt ihm ja ein Mädchen im Kopf herum!“

Richard stand noch vor seinem Zimmer, um die Antwort seines Vaters abzuwarten. Der ließ sich nicht lange bitten und begann los zu poltern. „An Mädchen braucht er jetzt noch gar nicht denken! Der soll erstmals die Matura machen – und wenn er dann am Konservatorium ist, wird sich auch die Zeit dafür finden!“

„Wenn die wüssten“, dachte sich Richard und hätte am liebsten runtergeschrien, dass er sowieso auf Jungs stünde. Den Mut dazu hatte er dann allerdings doch nicht. Er beschloss, an diesem Tag nicht mehr zu üben. Er legte sich einfach auf sein Bett und starrte an die Decke – sein Zimmer schien ihm wie ein Gefängnis. Er dachte auch an die Party am folgenden Samstag und war sich nun nicht mehr so sicher, ob er sich wirklich hinschleichen sollte. Dann sah er plötzlich Daniels Gesicht vor ihm und eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg aus dem rechten Auge, um am Hals ihre langsame Fahrt zu beenden.

Da klingelte plötzlich sein Telefon – Richard schreckte hoch, als er am Display den Namen `Daniel´ las. Er beschloss nicht abzuheben. Doch Daniel ließ nicht locker und probierte es in der drauffolgenden Stunde noch weitere 5 Mal. Schließlich hob Richard doch ab.

„Tanner. Wer spricht?“, meldete er sich.

„Haha, du weißt doch genau, dass ich es bin. Ich probier schon die ganze Stunde dich zu erreichen. Was ist los mit dir?“, erkundigte sich Daniel.

„Ich habe gerade ein Bad genommen. Sorry, hab mein Handy nicht gehört!“

„Die Helm hat gemeint, du hattest Bauchweh. Geht’s dir bereits besser?“, hörte sich Daniel besorgt an.

„Nein, ich schätze, ich werde auch morgen noch zu Hause bleiben. Damit ich für das Konzert fit bin!“

Richard konnte hören, wie Daniel besorgt seufzte. „Ich denke wir beiden sollten mal miteinander sprechen. Ich sehe doch, dass dich irgendetwas bedrückt“, hakte Daniel nach.

„Nö, lass gut sein. Ich hab mich schon seit dem Morgen nicht sehr gut gefühlt. Wahrscheinlich hab ich gestern Abend etwas Falsches gegessen“, log Richard und konnte an der kurzen Stille erahnen, dass ihm Daniel das nicht abnahm.

„Ich meine nicht deinen Magen. Irgendetwas ist da noch. Was meintest du heute eigentlich, dass es nicht an mir läge, dass du mies drauf bist?“ Da war sie – die Frage, vor der sich Richard den ganzen Tag gefürchtet hatte und auf die er noch immer keine Antwort wusste. Also beschloss er einfach die Wahrheit zu sagen, naja, zumindest die Hälfte. Dass er sich im Stich gelassen fühlte, als er mit den anderen Leuten sprach. Dass er glaube, sie beide könnten gute Freunde werden.

Jetzt schwieg Daniel. „Das glaube ich auch“, meinte er schließlich und jetzt merkte Richard, dass etwas mit Daniel nicht stimmte. „Also, dann sehen wir uns am Donnerstag, ok? Und nicht vergessen: Party am Samstag!“, beendete er schließlich das Gespräch und wünschte Richard noch eine gute Nacht. Richard war jetzt noch mehr durcheinander, als er vorher schon gewesen war – die eigenartige Tonlage in Daniels Stimme beunruhigte ihn. Hatte er sich etwa verraten? Klangen Richards Worte etwa wie eine Liebeserklärung? Und wenn ja – hatte sie Daniel negativ oder positiv aufgenommen? Und da er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, begann er einfach sein Stück vor sich her zu summen, ehe er nach langem Hin- und Herwälzen sehr spät einschlief.

Der Saal des städtischen Rathauses war gerammelt voll, selbst der Landeshauptmann saß in der ersten Reihe um den launigen Reden der Politiker, sowie den Darbietungen verschiedener Künstler zu folgen. Richard hatte noch den ganzen Tag über geübt – seiner Meinung nach saß das Stück, auch wenn er dazwischen immer mal wieder Durchhänger hatte, zumindest was seine Gedanken betraf, die sich fast ausschließlich um Daniel drehten.

Wie immer wich sein Vater den gesamten Abend nicht von seiner Seite – jeder musste den `Star´ der kleinen Stadt kennenlernen. Er ließ es sich auch dieses Mal wieder nicht nehmen, ihn selbst auf der Bühne anzukündigen. „Und immer wieder dieselben müden Witze“, dachte sich Richard, als sein Vater wieder mal meinte, er selbst hätte von Musik so viel Ahnung wie ein Storch vom Autoverkaufen. Wie immer ließ Richard die Lobeshymnen seines Vaters über sich ergehen – wenigstens hier auf der Bühne war er stolz auf seinen Sohn. Richard stand schweigend daneben und konzentrierte sich auf seinen Auftritt. Während sein Vater so redete warf er einen kurzen Blick ins Publikum, als es ihn plötzlich wie ein Blitz durchzuckte: ganz hinten bei der Eingangstür stand – als einer der wenigen, denn der Rest saß – Daniel!

„Na los, mach schon!“, zischte sein Vater. Richard hatte nicht einmal mitbekommen, dass sein Vater die Rede längst beendet hatte – er stand immer noch da, wie vom Schlag getroffen.

Schließlich begann er zu spielen, doch er war nervös wie lange nicht. Voraussetzungen für einen guten Cellisten sind ein gutes Gehör, Gefühl in den Fingern und Konzentration. An diesem Abend ließ Richard einiges davon vermissen – er spielte nicht schlecht, doch er hatte bereits weitaus bessere Auftritte hingelegt. Für seine Verhältnisse war das gar nichts: Er schwitzte und lag mit seinen Griffen oft um Millimeter daneben – kaum hörbar für Laien, für Musikkenner allerdings doch. Da ein Hacker, dort ein kleiner Fehlgriff – Richard quälte sich die 10 Minuten durch sein Stück durch. Dieser Daniel hatte ihn dermaßen verwirrt, dass er fast noch vor dem Applaus die Bühne verlassen hätte. Die Menge applaudierte – scheinbar hatten nur wenige Richards Fehlgriffe bemerkt. Richards Vater klatschte ebenfalls – und zwar mit hochrotem Kopf, er schien bemerkt zu haben, dass sich Richard durch irgendetwas abgelenkt fühlte und warf seinem Sohn einen zornigen Blick zu.

Als Richard nach dem Auftritt sein Cello verstaute, kam sein Vater auch schon hinter den Vorhang gestürmt: „Was ziehst du da für eine Show ab? Machst dich und mich hier vor allen lächerlich! Aber das eine sage ich dir: Solange ich für dich verantwortlich bin, tust du was ich sage. Hat es dir jemals an etwas gefehlt? Hast du denn nicht alles, was du brauchst? Sieh mich an!“

Richard blickte seinem Vater ins Gesicht. Er hätte ihn am liebsten angeschrien, aufs wüsteste geschimpft.

„Versprich mir, dass du dich mehr anstrengen wirst!“, flehte sein Vater.

„Ja, Papa!“, antwortete Richard zog seine Jacke an, nahm seinen Cellokasten und ging. Die Lichter des Rathauses verschwanden langsam hinter ihm, als er plötzlich Schritte hörte. Er drehte sich um und vor ihm stand Daniel, der ihn nur ansah.

„Du warst ganz gut!“, sagte Daniel nach einer halben Ewigkeit und meinte es sogar ehrlich.

„Ach, Blödsinn. Ich war Scheiße heute – ich kann das viel besser“, gab Richard leise zur Antwort und blickte verlegen auf seinen Cello-Kasten. „Trotzdem, es war nett, dass du gekommen bist“, sagte er in Richtung Daniel.

„Ist doch klar. Schließlich sind wir doch fast schon Freunde“, meinte Daniel und knuffte Richard auf den Oberarm. Irgendwas war da los dachte sich Richard, denn Daniels Stimme klang seltsam, irgendwie belegt.

Dennoch wollte Richard weg, das Konzert und die anschließende Kritik seines Vaters  belasteten ihn schon genug  -er wollte einfach nur nach Hause. „Also, wir sehen uns morgen, ja?“, wollte sich Richard schon wegdrehen, doch Daniel hielt ihn am Arm zurück.

„Was ist noch?“, antwortete Richard müde und plötzlich klopfte sein Herz wie wild, als Daniel seine Hand in Richards Nacken legte, seinen Kopf zu sich zog und ihn küsste. Mitten auf den Mund. Dann lief er einfach weg und ließ Richard wie angewurzelt stehen. Richard hatte weiche Knie bekommen: Küsse hatte er bislang nur von Verwandten bekommen oder maximal beim Flaschendrehen in der Schule, aber dieser Kuss war anders, er spürte darin eine Bindung, wie er sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nie für jemanden empfunden hatte.

Langsam ging er weiter und genoss nun ein wenig die warme Frühlingsluft. Dennoch kamen ihm bald wieder Zweifel: War dieser Kuss ernst gemeint? Was war mit Frau Prinz’ Titten? War das womöglich nicht ernst gemeint? Das Piepsen seines Handys riss ihn schließlich aus seinen Gedanken: Er hatte eine SMS von Daniel empfangen und öffnete die Nachricht mit zittrigen Fingern. Ich glaub ich mag dich. Sehr sogar… Gute Nacht, bis Morgen! LG Daniel stand da geschrieben.

Richard lag schon im Bett, als er beschloss, zurückzuschreiben. Ich finde dich große Klasse und würde gerne dein Freund sein. Dir auch gute Nacht, sweet dreams. LG Richard schrieb er zurück. Wieder konnte er, wie so oft zuletzt, lange nicht einschlafen.

Am nächsten Morgen würdigte ihn sein Vater keines Blickes und wieder mal schlich er geknickt aus dem Haus und schwang sich aufs Fahrrad. Wie zwei Tage zuvor gabelte er unterwegs wieder Daniel auf. Schweigend fuhren sie nebeneinander her – auch Daniel machte nicht gerade einen glücklichen Eindruck auf Richard. Als Richard gerade etwas sagen wollte, war Daniel etwa schneller: „Du hör mal, das wegen gestern. Also, das tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was ich mir da gedacht habe, als ich….“ Er unterbrach sich kurz, da die beiden von einem Mitschüler überholt wurden und setzte dann fort. „Also, die Sache mit dem Kuss. Klar, ich mag dich schon, aber nicht auf diese Weise, verstehst du? Also nochmals Entschuldigung, falls ich dich verwirrt habe!“

Richard starrte ihn entgeistert an – anhand der Miene, die Daniel draufhatte, erkannte er, dass er nicht die Wahrheit sagte. „Also, ich habe meine SMS ernst gemeint“, stotterte Richard irgendwie zusammen. Daniel sagte nichts mehr  - sie waren an der Schule angelangt, stiegen vom Rad und begaben sich in den Unterricht. Französisch fand an diesem Tag leider nicht statt.

Der Tag zog sich abermals in die Länge  -Daniel war wiederum damit beschäftigt, mit den anderen Leuten der Klasse abzuhängen. Doch irgendwie schien es Richard, als wäre seine Lockerheit der ersten Tage wie weggeblasen. Daniels ganzes Gehabe wirkte irgendwie aufgesetzt, irgendwie künstlich.

Nach dem Unterricht hatte es Richard wieder besonders eilig, nach Hause zu kommen. „Schon komisch“, dacht er sich, „da bezeichne ich mein Zimmer als Gefängnis und dennoch habe ich es immer eilig, dort hinzukommen.“ So, als ob es eine Art Schutzzone für ihn wäre  -dort hatte er seine Ruhe und alle äußeren Störfaktoren blieben, nun ja, eben draußen. Plötzlich war wieder Daniel neben ihm, der still neben ihm herfuhr.

„Alles klar?“, wollte er von Richard wissen.

„Bei mir? Nie!“, antwortete dieser und versuchte dabei, ironisch zu wirken. Dann platze es auf einmal aus ihm heraus: „Hör mal, wenn du mein Freund sein möchtest, dann würde mich das sehr freuen. Aber bitte spiele nicht so Spielchen mit mir. Was ich zurzeit überhaupt nicht brauchen kann, ist ein weiterer Mensch, der mich nur verarscht!“ Bamm! Das hatte gesessen! Daniel blickte ihn nur verwundert an, doch Richard würdigte ihn keines Blickes, trat kräftig in die Pedale und fuhr ihm einfach davon.

„So, das war’s“, dachte er sich, als er wieder in seinem Zimmer war. „Wenn auch nur der geringste Funken an Freundschaft oder gar Liebe vorhanden war, dann habe ich ihn soeben ausgeblasen!“ Den Rest des Tages verbrachte er in seiner bereits festgefahrener Routine: mit Üben.

Endlich Freitag. Richard war froh, dass die Woche endlich vorüber war. Er wusste noch immer nicht, ob er am folgenden Tag zu Daniels Party kommen sollte. Dieser rührte nochmals kräftig die Werbetrommel dafür – fast die gesamte Klasse hatte er eingeladen, seine Eltern würden nicht da sein und Bier, Wein und sonstiges wäre massenhaft vorhanden. Er schrieb jedem,  der es noch nicht wusste, seine Adresse auf. Auch Richard, dem er noch entgegen murmelte: „Falls du morgen Ausgang haben solltest…!“ Der Satz sollte spöttisch gemeint sein, wirkte aber eher traurig. Mehr sprachen die beiden an diesem Tag nicht miteinander – auch in der Französischstunde steckten beide ihre Nasen in ihre Bücher, nur in unbeobachteten Momenten lugte jeder von ihnen zum jeweiligen Sitznachbarn rüber. Jeden Freitagnachmittag musste Richard zum Musikunterricht, besser gesagt: Der Unterricht kam zu ihm nach Hause. Seine Cello-Lehrerin, Frau Roth, war eine Virtuosin auf ihrem Gebiet, menschlich war sie allerdings eine Katastrophe. Richards betrübte Miene nahm sie kaum zur Kenntnis, alles worüber sie jemals sprach war Musik, Musik, Musik. Ansonsten war sie unsensibel und manchmal auch unbeherrscht  - machte Richard einen Fehler, was bei seinem Übungspensum allerdings eher selten der Fall war, polterte sie herum was das Zeug hielt. „Sie würde gut zu meinem Vater passen“, dachte sich Richard dann meistens. Also, jeden Freitag nahm sie Richard zwischen vier und sechs Uhr nachmittags unter ihre Fittiche. An diesem Freitag war sie zufrieden mit ihm – vielleicht hatte sie aber auch gemerkt, dass es mit seiner Laune an diesem Tag nicht gerade zum Besten bestellt war.

An Freitagabenden hatte Richard immer höchst offiziell übungsfrei, was allerdings nicht bedeutete, dass ihn sein Vater dann ausgehen ließ. Bock hätte er an diesem Abend ohnedies nicht gehabt, also tat er das, was er meistens tat: Er sah fern, hörte etwas Musik oder holte sich zu Pornos im Internet einen runter.

Am Samstagnachmittag beschloss Richard dann schließlich doch zu Daniels Party zu gehen. Bereits am Nachmittag begann er zu überlegen, was er denn anziehen solle. Er entschied sich für schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und seine braune Lederjacke, ein Teil im 60ies Retro-Look, dass er von seinem Vater zum letzten Weihnachtsfest bekommen hatte. Er liebte diese Jacke – es war das Beste, was er jemals von seinem Vater bekommen hatte. Richard malte sich aus, wie zwischen ihm und Daniel alles wieder bestens laufen würde, die Party würde schließlich länger dauern und da käme es sicher zu genügend Möglichkeiten miteinander zu quatschen. Doch je später es wurde, desto nervöser wurde er: Mal beschloss er doch nicht hinzugehen, dann wieder das Gegenteil. 10 Minuten vor Acht entschied er sich dann definitiv dafür, hinzugehen. Da seine Eltern nichts davon wissen durften, schlich er sich so leise wie möglich aus dem Haus. In seinem Zimmer ließ er eine Kassette laufen, die er in dieser Woche aufgenommen hatte – seine Eltern sollten glauben, er würde üben.

Zwanzig Minuten später stand er dann mit wackligen Knien vor Daniels Haus. Er klingelte und Petra, ein Mädchen aus seiner Klasse öffnete die Tür.

„Hi, Richard!“, rief sie ziemlich überrascht, „Schön, dass du auch kommst.“ Die Freude war nicht gespielt, denn wie bereits erwähnt war Richard in seiner Klasse nicht unbeliebt.

„Es sind schon fast alle da, komm mit“, sagte Petra. Die erste Enttäuschung beschlich Richard dennoch: Es war nicht Daniel, der ihm die Tür geöffnet hatte. Sollte das nicht normal der Job eines Gastgebers sein? Die Party fand im riesigen Wohnzimmer von Daniels Eltern, sowie im Garten statt, den man bequemerweise übers Wohnzimmer erreichen konnte. Da es immer noch ein sehr warmer Tag war, befand sich daher ein Großteil der Gäste auch im Freien.

Richard fand Daniel schließlich in der Küche vor, wo er gerade Getränkenachschub im bereits prall gefüllten Kühlschrank verstaute.

„Hallo Daniel“, sagte Richard schüchtern.

„Hallo Richard, schön, dass du es geschafft hast. Willst ein Bier?“, kam als Antwort.

„Ja, gerne!“

Daniel nahm drei Dosen aus dem Kühlschrank, öffnete eine und gab sie Richard. „Viel Spaß heute“, meinte er kurz und ging mit den anderen beiden Dosen in den Garten.

Kein Lächeln, nichts – Daniel behandelte Richard immer noch wie eine geduldete Person, nicht aber wie einen Freund. Richard beschloss ebenfalls in den Garten zu gehen, wo Daniel inzwischen mit Sabina zusammenstand – aha, für sie war also die dritte Dose Bier. Sabina kicherte gerade hysterisch auf und Daniel fuchtelte wie wild vor ihr herum – sie schienen sich blendend zu unterhalten. Richard war zum Heulen zu Mute und überlegte, ob er sofort wieder gehen sollte. Doch dann entschied er sich zu bleiben – er beschloss sich richtig volllaufen zu lassen. Da kam Petra wieder auf ihn zu, nahm ihn an der Hand, und führte ihn zu einer kleineren Gruppe in eine andere Ecke des Gartens.

„Seht mal wer hier ist!“, rief sie den anderen zu, die Richard ebenfalls freudig begrüßten. Petra hielt ihn immer noch an der Hand, was ihm höchst unangenehm war. Als ihm jemand eine Zigarette anbot, nahm er sie dankend an. Zwar hasste er das Rauchen, allerdings hatte er nun einen Vorwand Petras Hand loszulassen. In der anderen Hand hatte er ja die Bierdose, von der er bereits ein paar kräftige Schlucke genommen hatte.

Bald wurde in der Ecke über dieses und jenes gequatscht, hauptsächlich über die Schule bzw. wer mit wem ging. Richard fühlte bereits eine Stunde später, dass er ein irres Trinktempo hingelegt hatte – bislang hatte er in seinem Leben ja kaum Alkohol getrunken.

„Hast du eigentlich eine Freundin, Richard?“, wollte Petra auf einmal wissen und lächelte in lieb an. „Oh mein Gott“, dachte Richard, „Ich glaub die steht auf mich!“

„Nein, ich habe im Moment gar keine Zeit dafür. Ich muss ständig für irgendwelche Auftritte üben!“, gab er schließlich zur Antwort.

„Aber hättest du gerne eine?“, bohrte Petra weiter und rückte `bedrohlich´ näher. Richard wurde es heiß – Petra war ein extrem nettes Mädchen, doch er hielt ihre körperliche Nähe einfach nicht aus.

„Nun ja“, stammelte er verlegen, „Wie gesagt, ich hätte nicht sehr viel Zeit für sie. Willst du noch ein Bier? Ich besorg mir eins!“, sprach er, sprang auf und lief fast in die Küche. Das Wohnzimmer war mittlerweile brechend voll, da es mittlerweile etwas abgekühlt hatte. Richard beschloss einige Zeit drinnen zu bleiben – er nahm sich noch ein Bier, lehnte sich an den Kühlschrank und beobachtete von dort aus das Treiben im Wohnzimmer. Inzwischen hatte Daniel Musik aufgelegt und einige Leute beschlossen zu tanzen. Schließlich entdeckte Richard auch Daniel, der gerade mit Sabina tanzte. Sofort machte sich rasende Eifersucht in ihm breit, vor allem als er sah, dass Sabinas Hände Daniels Hintern berührten.

„Da sollten meine Hände liegen“,  dachte er schon etwas besoffen.

„Hey, da bist du. Ich warte noch immer auf mein Bier“, hörte er plötzlich Petra und ohne irgendetwas sagen zu können, zog sie ihn auch schon in die Mitte des Zimmers, umklammerte seine Hüften und begann zu tanzen.

Die beiden tanzten, doch ständig wanderten Richards Blicke umher, suchend nach Daniel und Sabina. Da sah er sie plötzlich: Sabina hatte ihr Gesicht in dem von Daniel vergraben und knutschte ihn nach allen Regeln der Kunst ab. Richard lief sofort rot an und löste sich aus Petras Umklammerung. „Ich brauch eine kleine Verschnaufpause“, meinte er zu Petra, die ihn etwas enttäuscht anblickte. Lange hätte es Richards Meinung nämlich nicht mehr gedauert und sie hätte ebenfalls mit Knutschen begonnen.

Richard öffnete sich ein weiteres Bier und setzte sich auf die Couch, die Daniel in den Vorraum geschoben hatte. Dort trank er weiter und je besoffener er wurde, desto trübsinniger wurden seine Gedanken, die sich nur mehr um Daniel drehten.

„Du stehst auf Sabina, stimmt’s?“, sagte auf einmal Petra, die plötzlich neben ihm Platz genommen hatte. Schon wieder hatte sie ihn gefunden, dachte sich Richard leicht genervt. Sie klang enttäuscht: „Klar, alle stehen auf sie.“

Richard schüttelte stumm den Kopf.

„Aber du starrst sie die ganze Zeit an!“, blickte sie ihn fragend an.

„Warum lässt sie mich denn nicht in Ruhe?“, dachte sich Richard und nahm einen weiteren Schluck aus der Dose. Dabei zitterte er am ganzen Körper.

Wieder schüttelte er nur mit dem Kopf.

„Was ist los mit dir?“, fragte ihn Petra mit besorgtem Blick und wollte ihm den Arm um die Schulter legen. Doch als sie das versuchte, schrie Richard sie einfach an: „Lass mich doch einfach in Ruhe, ok? Ich steh nicht auf dich, verstanden?“  Er stieß sie einfach weg – und kam sich wenig später furchtbar mies deswegen vor. So etwas hatte Petra nicht verdient, dachte er sich. Er sprang auf und lief Richtung Toilette  - ihm war furchtbar schlecht und er schaffte es gerade noch zur Muschel, die er sofort vollkotzte, während Tränen sein Gesicht runterliefen.

Danach lehnte er sich an die Mauer und weinte. Wegen Petra, die er so angeschrien hatte. Wegen Daniel, der für ihn unerreichbar zu sein schien.

Da plötzlich klopfte es an die Tür. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, hörte er jemanden sagen. Alles drehte sich um ihn, doch er konnte immerhin noch erkennen, dass es sich dabei um Daniel handelte.

„Mit mir? Mit mir ist alles in bester Ordnung!“, schrie er durch die geschlossene Tür und ließ diesem Satz ungewollt einen Schluchzer folgen.

„Komm schon, mach die Tür auf“, flehte Daniel. Der Ton in seiner Stimme hörte sich besorgt an, also beschloss Richard doch die Tür zu öffnen. Als er Daniel vor sich stehen sah, schoss ihm wieder das Wasser in die Augen.

„Na, du siehst ja sauber aus“, meinte Daniel, „Am besten ich bring dich nach oben in mein Zimmer, da kannst du dich etwas hinlegen!“, schlug er vor.

Er stützte Richard, der alle Mühe dabei hatte selbst zu gehen und brachte ihn in sein Zimmer wo er ihn auf sein Bett legte.

Richard wimmerte und rollte sich zusammen wie ein kleines Baby. „Es ist wegen mir, stimmt’s?“, fragte Daniel, der sich zu ihm gesetzt hatte und Richards Kopf hielt.

„Ich kann Sabina nicht ausstehen“, flüsterte er plötzlich in Richards Ohr, „Dauernd läuft sie mir nach! Du hast mich mit ihr gesehen, stimmt’s? Und hast dich deswegen volllaufen lassen.“ Jetzt küsste er doch tatsächlich sein Ohr und sprach mit belegter Stimme weiter: „Schlaf etwas, ich muss mich um meine Gäste kümmern. Ich komme dann später rauf!“

Sprach’s und ging zur Türe raus – auch er hatte schon  einen ordentlichen Hänger.

„Aber ich muss… nach Hause….die wissen ja nicht wo ich bin…“, stammelte Richard und sackte im nächsten Moment weg.

Richard schlief mehr schlecht als recht – immer wieder wurde er durch Gelächter oder sonstigem Lärm geweckt. Als er gegen zwei Uhr wieder munter wurde, schien die Party bereits vorbei zu sein. Mit wackeligen Beinen tapste er in die Küche, wo Daniel gerade beschäftigt war, die leeren Bierdosen und den übrigen Müll in eine Mülltüte zu stopfen.

„Kann ich dir helfen?“, fragte Richard obwohl er sich ziemlich beschissen fühlte und wohl keine große Hilfe gewesen wäre.

Als Daniel ihn hörte ließ er den Sack fallen. „Mann, Petra ist ja ziemlich sauer auf dich. Mir geht’s übrigens nicht anders – ich habe Sabina eine Abfuhr erteilt und sie ist beleidigt abgerauscht“, sagte er, während er langsam auf Richard zuging. „Geht’s dir schon besser? Du hast ja ziemlich was rausgeworfen“, fuhr er fort und tätschelte ihm liebevoll die Wangen.

„Zwischen dir und Sabina ist also nichts?“, fragte Richard ungläubig.

„Nö, ich hab ihr gesagt, ich stünde auf jemand anders!“

„Und auf wen?“, wollte es Richard jetzt ganz genau wissen.

„Na auf dich, du Blödmann“, meinte er keck, „Aber das hab ich ihr natürlich nicht gesagt!“

„Das sagst du weil du besoffen bist – und am Montag in der Schule kennst du mich dann wieder nicht mehr!“, antwortete Richard etwas trotzig.

Daniel ließ den Müllsack, den er inzwischen wieder aufgehoben hatte, langsam zu Boden sinken. Er wirkte sehr nachdenklich: „Weißt du, es ist nicht einfach für mich. Ich muss ja erst selbst damit klar kommen.“

„Glaubst du für mich ist es einfach? Mein Leben ist so schon scheiße genug, ich…ich meine…ich glaube ich habe mich in dich verliebt. Ich denke jeden Moment an dich. Es fühlt sich so schön an und gleichzeitig so scheiße, weil ich nie weiß, wie du gerade denkst“, stammelte Richard und hatte Mühe, diese Worte herauszubringen.

„Ich hab mich auch in dich verliebt – du musst einfach lernen, Menschen zu vertrauen. Ich brauch einfach noch ein bisschen Zeit, ok?“, flüsterte Daniel. Sein Gesicht war jetzt dicht vor dem Richards und diese Mal ergriff Richard die Initiative. Er zog Daniels Kopf zu sich und küsste ihn auf den Mund. Daniel versuchte irgendwie seine Zunge in Richards Mund zu bekommen, doch dieser blockte ab und löste sich von Daniel.

„Wenn du willst, können wir nach oben gehen“, hauchte Daniel, „du kannst gern hier pennen!“

„Glaub mir, nichts würd’ ich lieber tun, aber wenn meine Eltern herausfinden, dass ich mich rausgeschlichen habe – falls sie es nicht ohnedies schon bemerkt haben – dann würden wir in den nächsten drei Jahren nicht mehr dazukommen. Ich muss heim“, erwiderte Richard.

An der Haustüre küssten sie sich nochmals.

„Was wirst du Petra sagen?“, wollte Daniel noch wissen.

„Keine Ahnung. So was Ähnliches wie du Sabina erzählt hast, nehm’ ich mal an. Auf alle Fälle sollte ich mich bei ihr entschuldigen. Sie tut mir irgendwie Leid“, sagte Richard, küsste Daniel noch ein letztes Mal und entschwand in der Dunkelheit. Nach einigen Metern blickte er sich nochmals um – Daniel stand nach wie vor in der offenen Tür und sah ihm winkend nach.

Wie gerne wäre er geblieben – aber es ging nicht und irgendwie hatte er auch etwas Angst davor. „Erst mal schlafen und wieder nüchtern werden“, dachte er sich.

Seine Eltern hatten Gott sei Dank nichts gemerkt und unbemerkt schlich er zurück in sein Zimmer, wo er es gerade noch schaffte sich auszuziehen, ehe er in sein Bett fiel und sofort einschlief.

Mit brummendem Kopf erwachte er wenige Stunden später. Er stibitzte ein Aspirin aus der Küche und verschwand erst mal unter der Dusche, wo ihm nochmals einige Gedanken der vergangenen Nacht durch den Kopf schossen. Hatte er tatsächlich Daniel seine Liebe gestanden oder bildete er sich das bloß ein? Das Einzige, woran er sich noch ziemlich eindeutig erinnern konnte war, als er die Klomuschel vollkotzte. Dennoch – abgesehen vom Brummschädel fühlte er sich wohl wie schon lange nicht, irgendetwas musste also doch noch geschehen sein. Da ein gewisser Körperteil von ihm ähnlich dachte und er sowieso in der Dusche stand, `trainierte´ er wieder einmal seine Griffhand. Danach nahm er sein Cello zwischen die Knie um zu üben – und das erste Mal seit langem machte es ihm wieder Spaß.

Da seine Eltern am Sonntag für gewöhnlich sehr lange schliefen, setzte man sich erst gegen zwei Uhr zum Mittagstisch. Richard hatte gerade erst angefangen in seinem Teller – es gab Schweinsbraten – herumzustochern, als es plötzlich an der Tür läutete. „Oh mein Gott“, dachte sich Richard, „hoffentlich nicht irgendwelche Verwandten. Denen muss ich doch bloß wieder vorspielen!“

Richards Mutter öffnete die Tür – und kam wenig später wieder zum Tisch zurück. „Ein Freund von dir“, sagte sie zu ihm und klang dabei überrascht, „ich habe ihn eingeladen mit uns zu essen!“

Richards Vater warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, so als hätte ihn seine Frau um Erlaubnis bitten sollen. Nun ja und wenig später stand dann auf einmal Daniel in der Küche und nahm neben Richard Platz.

„Hallo Daniel“, meinte dieser verlegen und lief rot an.

Daniel entschuldigte sich höflich bei Richards Mutter, dass er so einfach reinplatzte. Dann erzählte er, dass er gerade erst hergezogen war und dass er und Richard sich auf Anhieb verstanden hätten. Frau Tanner hörte ihm aufmerksam zu – sie schien ihn zu mögen. Richards Vater allerdings betrachtete ihn argwöhnisch von oben bis unten.

„Und sie verkaufen also Autos?“, wurde er plötzlich von Daniel gefragt, dem dessen Blicke natürlich nicht entgangen waren.

„Was? Wie? Ja, mache ich“, antwortete er überrascht und verschluckte sich prompt an einem Knödelstück. Unbemerkt drehte sich Richard grinsend zu Daniel, der ihn kurz anzwinkerte.

„Echt keinen Nachtisch mehr?“, fragte Richards Mutter zum bereits dritten Mal und ließ den Eislöffel wieder sinken, als Daniel dankend ablehnte und sich über seinen vollen Bauch strich.

„Nein danke“, sagte auch Richard. „Ich denke ich werde Daniel noch etwas vorspielen – und für die nächste Schularbeit sollten wir auch lernen. Nächsten Freitag steht Deutsch an.“

Die beiden verschwanden in Richards Zimmer wo sie endlich miteinander reden konnten. „Na du bist gut – kommst einfach hier her“, rief Richard und konnte dennoch nicht verbergen, wie sehr er sich eigentlich darüber freute.

„Ich musste dich einfach sehen“, antwortete Daniel, „wie geht’s dir heute?“

„Schon viel besser, ich habe eine Tablette genommen. Na und jetzt bist ja du da, wie kann es mir da schlecht gehen?“

Richard versperrte die Türe und gab Daniel einen zärtlichen Kuss, den Daniel leidenschaftlich erwiderte. Dieses Mal ließ Richard ihn gewähren, als er sanft seine Zunge in seinen Mund führte und dort verspielt herumkreiste. In diesem Moment fühlte sich Richard, als würde er über dem Boden schweben. Es war einfach herrlich und so begann auch er seine Zunge zu bewegen. Sein Herz begann noch schneller zu pochen, als er plötzlich Daniels warme Hand unter seinem T-Shirt spürte, die sanft seinen Rücken rauf und runter strich. Wieder tat es ihm Richard gleich. Schließlich ließen sie sich aufs Bett fallen – als es plötzlich klopfte.

Sofort sprang Richard auf, drehte den Schlüssel wieder rum und sagte hastig: „Ja? Was ist?“ „Ich hör dich nicht üben“, hörte er die strenge Stimme seines Vaters.

„Mist“, dachte sich Richard und verdrehte die Augen, während er Daniel ansah.

Richards Vater steckte auch glatt noch seinen Kopf zur Türe rein, um nach dem Rechten zu sehen.

„Ich wollte grade eben anfangen“, beteuerte Richard und griff nach seinem Instrument und dem dazugehörenden Bogen. Sein Vater gab sich zufrieden und ging wieder.

„Mann, das ist ja die totale Überwachung hier“, meinte Daniel enttäuscht, „na, wenigstens hat er angeklopft.“

„Schade“, sagte Richard, der ebenfalls enttäuscht war über die zerstörte Stimmung, „aber wir kommen schon noch dazu!“ Er warf Daniel einen verliebten Blick zu und spielte Beethovens `Ode an die Freude´ mit solch einer Inbrunst, dass Daniel schlichtweg der Mund offen blieb. Danach lagen sie einfach nebeneinander, bequatschten `wichtige Dinge´ oder küssten sich. Beide wollten wirklich mehr, doch es war zu unsicher hier.

Gegen sieben brachte ihn Richard zur Haustür und fast hätte er ihn geküsst, bemerkte aber gerade noch, dass sein Vater im Wohnzimmer stand und den beiden zusah.

„Also bis morgen in der Schule“, verabschiedete er sich von Daniel.

„Bis morgen“, antwortete dieser laut und blickte an Richard vorbei zu dessen Vater. Dann sah er Richard an und hauchte leise: „Ich hab dich lieb!“

„Wie schön wäre es doch, wenn wir es jedem offen zeigen könnten“, dachte sich Richard, als er wieder in seinem Bett lag. Jetzt, wo Daniel weg war, fühlte er sich einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Eigentlich hätte er überglücklich sein müssen, doch diese tiefe Traurigkeit tief in ihm drinnen war nach wie vor da.

Kaum war er am nächsten Tag außer Haus, fühlte er sich wieder blendend – wie immer holte er Daniel auf dem Weg zur Schule ein. Es war anders als die Woche zuvor: Daniel begrüßte ihn freundlich und beide fuhren ausgelassen und fröhlich nebeneinander her.

„Mist!“, dachte sich Richard dennoch, als er sein Rad in den Schulkeller brachte. Davor stand Petra und mit ihr wollte er ja unbedingt reden.

„Hi, Richard“, kam sie ihm zuvor. „Hi, Daniel, alles klar?“, sagte sie in die Richtung seines Freundes.

„Ich komm gleich nach“, sagte Richard leise zu Daniel, der im Schulhaus verschwand.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen, ich weiß auch nicht warum ich so gemein zu dir war. Du bist ein echt nettes Mädchen, aber….“

„Es ist Daniel, nicht wahr?“, unterbrach ihn Petra erneut.

„Was meinst du?“, fragte Richard und spürte sein Blut in den Kopf strömen.

„Daniel ist derjenige, auf den du stehst, hab ich Recht?“, fragte Petra erneut und lächelte ihn sanft an, als sie erkannte, dass Richard immer unsicherer und verkrampfter wurde.

„Hey, es ist ok für mich. Ich finde es zwar schade, weil ich dich wirklich sehr mag, aber es ist ok. Du bist ein ehrlicher, netter Bursche und ich freue mich für dich. Du hast ein bisschen Liebe notwendig“, meinte sie ehrlich und küsste seine Wangen.

Richard schossen die Tränen in die Augen, konnte aber nach wie vor nichts sagen. Er blickte ängstlich um sich wie ein Kaninchen.

„Keine Sorge, von mir erfährt keiner was!“, versprach sie ihm. „Weiß Daniel schon von seinem Glück?“, wollte sie weiter wissen.

Richard lächelte sanft und nickte nur – er brachte noch immer kein Wort über die Lippen.

„Schön“, sagte Petra mehr zu sich selbst, „keine Sorge, auch er erfährt nichts von unserem Gespräch, versprochen!“ Dann verschwand sie ebenfalls im Schulhaus. Richard brauchte noch etwas Zeit um sich zu sammeln – nun wusste es also noch jemand,  mal abgesehen von Daniel. Aber ob alle so locker damit umgehen würden?

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug und die beiden verbrachten viel Zeit zusammen – meistens musste sich Richard allerdings aus dem Haus schleichen, denn das Sommerkonzert der Schule näherte sich in Riesenschritten und er hatte viel zu üben. Doch das machte ihm nichts aus – im Gegenteil, so leicht und locker saß sein Bogen selten zuvor in seiner Hand. Er flog nur so über die Saiten und er spürte, dass seine Musik noch besser klang, seitdem er verliebt war. Bei einem Empfang im Autohaus seines Vaters hatte er einen großartigen Auftritt – selbst Herrn Tanner entging nicht, dass sein Sohn wie ausgewechselt war. „Da siehst du, Übung macht den Meister“, raunte er Richard nach dessen Vorstellung ins Ohr. „Wenn der wüsste“, dachte sich Richard und grinste schelmisch.

Beim Sommerkonzert – das traditionellerweise immer am Tag vor Schulschluss stattfand – agierte Richard ebenso begeisternd, es schien, als hätte sich sein Leben zum Positiven gewendet. Ok, es wusste noch immer niemand außer Petra Bescheid über seine Liebe zu Daniel, aber das störte weder ihn noch seinen Freund.

Die Ferien kamen und überraschenderweise gestattete ihm sein Vater mehr Freizeit, die Richard natürlich stets mit Daniel verbrachte. Die beiden unternahmen lange Radtouren, zumeist zu einem Badesee im Wald, wo sie in den kühlen Fluten Abkühlung fanden. Leider waren sie auch dort nie ganz ungestört und bis auf ein paar verlegene Küsse war ihnen noch nicht mehr gestattet.

Eines Tages waren sie also wieder zum See unterwegs. Richard konnte nicht sagen warum, aber irgendwie spürte er beim Wegfahren von zu Hause, dass heute etwas passieren würde. Er konnte zwar nicht sagen, ob positives oder negatives – aber irgendwie fühlte er sich komisch. Als sie am Seegelände ankamen, verschwanden gerade drei komische Typen im Inneren der Gaststätte, die an den See angrenzte.

„Scheiß Glatzen! Ich dachte, die gibt’s nur in Wien“, meinte Daniel, während er sein Fahrrad ankettete. Er hatte die Typen also auch gesehen.

Wenig später hatte man die drei schon wieder vergessen und man vergnügte sich im Wasser. Die beiden schwammen ziemlich weit raus und Daniel bemerkte die nicht gerade tolle Stimmungslage Richards.

„Was ist los heute mit dir?“, wollte er wissen.

„Keine Ahnung, ich bin heute wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden“, antwortete Richard und blickte Daniel an.

„Liebst du mich?“, fragte er ihn schließlich schüchtern.

Daniel antwortete ihm damit, indem er ihn küsste. „Ich liebe dich. Es ist für mich die beste Zeit meines Lebens. Noch nie war ein anderer Mensch so wertvoll für mich!“

Er umarmte ihn und küsste ihn erneut. Dann schwammen beide zum Ufer zurück, sie beschlossen, dass heute endlich `der´ Tag sein sollte, an dem sie etwas mehr voneinander wollten. Voller Vorfreude konnte Richard nicht einmal das Schloss seines Fahrrads öffnen – seine Hände zitterten vor Aufregung.

„Na komm, ich helf dir“, sagte Daniel freundlich und ohne drauf zu achten drückte er Richard einen Kuss auf die Wange.

Er sah sofort, dass das ein Fehler war. „Komm, machen wir dass wir hier wegkommen!“ Beide hatten bemerkt, dass just zu diesem Zeitpunkt die drei von vorhin das Lokal verlassen hatten – und der Kuss schien nicht unbemerkt geblieben zu sein.

„Schaut euch mal diese Schwanzlutscher an, ist das denn zu glauben? Am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit schlecken sie sich ab! Igitt, ich könnte kotzen wenn ich so etwas sehe“, sagte einer von ihnen. Alle drei schienen in ziemlich betrunkenem Zustand zu sein. Daniel und Richard schwangen sich auf ihre Räder und fuhren so schnell wie möglich davon.

„Puh, Glück gehabt!“, meinte Daniel wenige Minuten später.

„Du musst etwas vorsichtiger sein. Schließlich haben wir die Typen ja vorher schon gesehen“, meinte Richard vorwurfsvoll. „Scheiß Nazis!“, erwiderte Daniel noch, ehe seine Stimme von einem laut brummenden Motor übertönt wurde. Sie waren genau hinter ihnen, überholten die beiden und versperrten ihnen schließlich den Weg.

Alle drei sprangen sie aus dem Auto. Die beiden Jungs versuchten an ihnen vorbeizukommen, was Daniel auch gelang – doch Richard hatten sie bereits am Arm gepackt und zu Boden geschleudert.

„Ich hol Hilfe“, schrie Daniel verzweifelt und schon hörte man ihn laut schreien. Er war in Panik und machte sich davon.

„Weißt du was sie mit einem wie dir früher gemacht haben?“, wollte einer der dreien von Richard wissen. „Sie haben euch vergast!“, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, „aber scheinbar haben sie nicht alle von euch erwischt!“

„Aber keine Sorge: Wir können das auch erledigen. Es macht uns nichts aus, eine Schwuchtel wie dich zu vernichten“, sagte einer der anderen.

Im nächsten Moment verspürte Richard einen stechenden Schmerz -  der erste Tritt ging direkt in den Bauch, der zweite in den Rücken, nachdem er sich zusammengekauert hatte wie ein Igel. Er versuchte seinen Körper zu schützen, doch von überall prasselten wütende Tritte auf seinen zarten Körper ein.

„Heulst du etwa?“, hörte er einen der etwa 20-jährigen rufen, während ihn ein anderer anpisste.

„Gott lass sie aufhören, bitte“, flehte Richard, doch sie ließen ihn nicht in Ruhe. Er spürte überall Blut: Es rann ihm vom Gesicht und verteilte sich scheinbar überall. Außerdem konnte er spüren, dass wohl einige Knochen gebrochen waren. Aus Wut – obwohl es wahrscheinlich auch nur ein Reflex war - machte Richard einen folgenschweren Fehler:  Er ballte die Faust. Die Faust seiner linken Hand, seiner Griffhand.

„Ach seht mal, die Tunte wehrt sich! Na los schlag mich!“, schrie einer von ihnen.

„DU SOLLST MICH SCHLAGEN!“, rief er noch lauter – und dann passierte es: Er holte aus und trat mit voller Wucht auf Richards geballte Faust. Einmal. Zweimal. Ein weiteres Mal. Und jeder Tritt der Stahlkappenschuhe schmerzte mehr, als der vorherige. Richard schrie wie am Spieß, ehe ihn vollends die Kräfte verließen. Das letzte, das er mitbekam war, als die Tür eines anderen Autos geöffnet wurde. Dann wurde es Nacht um ihn.

Richard versuchte die Augen zu öffnen – es ging nicht. Um ihn herum war es dunkel und er konnte nur erahnen, dass er in einem Krankenbett lag.  Sein Kopf war in einem dicken Verband eingewickelt – ein Auge war zwar freigelegt, aber es war zu geschwollen und wehrte sich dagegen, geöffnet zu werden.

Sein ganzer Körper schmerzte und außer seinen Beinen konnte Richard nichts bewegen. Er spürte, dass sein Oberkörper in irgendetwas hineingepfercht wurde. Es war ein Korsett, das sein gebrochenes Schlüsselbein, sowie drei gebrochene Rippen stabilisieren sollte. Richard war erleichtert, als er seinen rechten Arm heben konnte, doch als er auch den linken Arm bewegen wollte durchfuhr ihn ein rasender Schmerz, der den ganzen Körper erfasste: Es fühlte sich an wie tausende Nadelstiche zugleich. Sein linker Arm war vom Ellenbogen an abwärts in Gips und dicke Bandagen gehüllt und bewegte sich keinen Millimeter.

In dem Moment wusste Richard nicht, was er denken sollte und fiel wieder zurück in einen tiefen Schlaf.

Nachdem Richard ins Krankenhaus eingeliefert worden war, lautete die Diagnose: Schwere Gehirnerschütterung, zahlreiche Hämatome im Gesicht, Fraktur des Schlüsselbeins, Fraktur von drei Rippen, Einriss der Milz – sowie eine komplett zertrümmerte linke Hand, jeder einzelne Finger war mehrmals gebrochen. In einer Notoperation konnte seine Hand wie durch ein Wunder gerettet werden – Zeige-, Mittel- und Ringfinger mussten allerdings mit Draht begradigt werden und würden wohl oder übel für immer steif bleiben.

Richard hatte einen Traum. Er stand alleine auf der Bühne der New Yorker Carnegie Hall. Wie immer hatte ihn sein Vater zuvor angekündigt – da stand er nun und blickte ins Publikum. Alle waren sie da – seine Familie, seine Kollegen aus der Klasse, alle seine Lehrer. Daniel saß in der ersten Reihe und applaudierte wie verrückt. Er hatte es geschafft: Er spielte in einem der berühmtesten klassischen Konzertsäle der Welt! Er setzte sich nahm seinen Bogen und wollte zu spielen beginnen – da sah er plötzlich, dass seine linke Hand statt Fingern aus metallenen Krallen bestand. „Er hat uns alles kaputt gemacht“, hörte er plötzlich seinen Vater sagen.

Er schreckte aus dem Traum hoch – es mussten wohl ein paar Tage vergangen sein, denn Richard schaffte es nun, sein rechtes Auge zumindest ein bisschen zu öffnen. Am Fuße seines Krankenbettes standen seine Eltern, die nicht bemerkt hatten, dass er gerade aufgewacht war.

„Das wird schon wieder“, sagte seine Mutter gerade und er konnte hören, dass sie weinte.

„Sag mal Hilde, wie naiv bist du denn?“, schrie sie sein Vater an. „Hast du dem Arzt nicht zugehört? Er wird nie wieder Cello spielen können! Er wird mit dieser Hand nie wieder irgendetwas spielen können! Er hat’s einfach versaut! Er ist doch sonst zu nichts zu gebrauchen!“

„Pst!“, unterbrach ihn seine Mutter, „Was ist wenn er uns hört?“

„Soll er uns ruhig hören. Dann weiß er wenigstens, wie sehr er mich enttäuscht hat. Ich hab diesem Daniel von Anfang an nicht vertraut – hätte er ihn nicht kennengelernt, wäre gar nichts passiert. Und dann lässt er ihn auch noch einfach im Stich, dieser…“

„Nicht hier, das hast du mir doch eh schon alles gesagt. Und dass er ihn nie wiedersehen wird, dafür hast du ja bereits gesorgt.“

„Da hat er ganz schön blöd geschaut, als ich ihn mir vorgeknöpft habe. Aber eins sage ich dir: Ich werde schon noch herausfinden, warum ihn diese drei Leute so hergerichtet haben. Da muss es doch einen Grund dahinter gegeben haben – glaub mir, irgendwas ist da faul an dieser Geschichte.“

„Richard?“, unterbrach ihn Richards Mutter. „Richard, bist du wach?“

Richard hatte alles mit angehört. Er schloss sein Auge wieder und stellte sich schlafend – er hätte heulen können, heulen ohne Ende, aber es ging nicht. Seine Augen schmerzten auch so schon genug. Er würde nie wieder Cello spielen können. Nie wieder. Der Satz brannte sich in seinen Gedanken ein – es musste ihn wirklich sehr schlimm erwischt haben. Und sein Vater? Er schien sich keine Gedanken um Richard zu machen. Und wo war Daniel? Was hieß es, er dürfe ihn nie wieder sehen? War das alles ein Alptraum? Wenn ja, wann würde er endlich davon erwachen? Er machte das Beste, dass er in diesem Moment tun konnte und schlief wieder ein.

Als er das nächste Mal munter wurde, schaffte er es endlich sein rechtes Auge ganz zu öffnen – immer noch schmerzte alles, doch zumindest konnte er nun halbwegs sehen. Er lag wie vermutet in einem Krankenzimmer. Neben ihm lag ein älterer Mann der schlief. Der Radiowecker auf dem Nachtkästchen neben seinem Bett zeigte 4:30 Uhr an – es war also bereits hell. Auch wenn jede noch so kleine Kopfbewegung schmerzte, versuchte Richard an sich herabzublicken. Er schaffte es unter größter Anstrengung sein Kinn gegen sein Halsende zu pressen und ließ seinen Blick umherwandern. Zum ersten Mal sah er, dass er in einem Korsett lag. Zum ersten Mal, sah er auch dieses dicke etwas, das wohl seine linke Hand sein sollte. Zwei Schläuche führten rein: In einem befand sich wohl eine Infusion, im anderen Blut. Unter seine Decke führten zwei weitere Schläuche – einer davon führte in seinen Bauch, der andere beinhaltete eine gelbliche Flüssigkeit: Man hatte ihm wohl einen Katheter in die Harnröhre geführt, so Richards richtige Erkenntnis. Wieder versuchte er seine Hand zu bewegen, seine Finger zu spüren, doch beide Versuche endeten wieder mit stechenden Schmerzen. Richard bemerkte, wie Tränen aus seinem rechten Auge rannen – wenigstens konnte er jetzt weinen. Er wimmerte leise vor sich hin und wollte wieder einschlafen, doch es ging nicht. Er hatte bereits fast drei Tage am Stück durchgeschlafen. Nun war er wach, und angekommen in der Realität.

Um 6 Uhr früh kam die erste Krankenschwester herein.

„Na, da ist ja endlich einer wach“, schien sie erfreut zu sein, als sie sah, dass Richard sie anblickte.

„Durst!“, krächzte Richard ihr entgegen. Sein Hals war ausgetrocknet und wenig später bekam er etwas Tee eingeflößt.

Die Krankenschwester war sehr nett. Während sie ihm den Tee verabreichte, hielt sie mit der anderen Hand seinen Kopf. Richard blickte sie mit leerem Blick an.

„Ich kenne dich“, flüsterte die Schwester auf einmal, „Ich war mit meinem Mann im Rathaus und habe dich spielen gesehen. Mein Gott, was haben die dir bloß angetan?“

Man sah, dass sie nach Luft rang und ihre Worte wirklich ehrlich meinte. „Aber keine Angst!“, fuhr sie fort. „Wir werden dich schon wieder auf die Beine bekommen!“

„Die hat leicht reden“, dachte sich Richard traurig, die muss ja nicht daliegen.

Etwa drei Stunden später war Visite angesagt. Vor Richards Bett standen haufenweise Ärzte und Pfleger herum. Einer der Ärzte prüfte jede einzelne Wunde, zog die Augenbrauen hoch und notierte irgendetwas in seinem Krankenblatt. Er sprach kein Wort. „Wie geht’s mir?“, wollte Richard wissen. Seine Stimme kam langsam zurück. Doch der Arzt war schon wieder beim nächsten Bett und mit ihm die gesamte Meute in seinem Schlepptau.

Zu Mittag saß eine andere Schwester an seinem Bett, die ihm breiartiges Etwas in den Mund löffelte. Richard konnte den Geschmack von Huhn und Paprika herausfiltern.

Wenige Stunden später stand dann plötzlich seine Mutter neben ihm. Sein Vater war nicht dabei – er hatte Hausverbot erhalten, weil er im Krankenzimmer herumgeschrien hatte.

„Richard, endlich bist du wach. Du tust mir so leid“, weinte seine Mutter. Richard wollte sie nicht sehen – er drehte seinen Kopf zur Seite und ignorierte sie. Den einzigen, den er sehen wollte war Daniel, doch der kam nicht.

Zwei Tage zuvor war Richards Vater bei Daniel gewesen. Er warf ihm vor, sich nicht genug um Richard gekümmert zu haben und legte ihm nahe, den Umgang mit ihm zu beenden.

Daniel ging es absolut beschissen. Er konnte doch nichts unternehmen und doch warf er sich vor, Schuld zu sein. Schuld zu sein daran, dass sein Freund fast tot geprügelt worden wäre. Und dann noch der Auftritt von Richards Vater: Fast hätte er ihn angeschrien, dass er Richard doch liebte und dass dieser immer nur Angst vor seinem Vater gehabt hatte. Er erzählte nicht, warum es die drei Nazis auf sie abgesehen hatte. Er fühlte sich schuldig dafür – er hatte ihn schließlich in aller Öffentlichkeit geküsst. Er war schuld am Zustand Richards – und das würde er sich nie verzeihen können.

Daniels Eltern versuchten alles, um ihn wieder aus seinem Zimmer zu bekommen, doch nichts half. Seit dem Vorfall hatte sich Daniel in seinem Zimmer verkrochen – er wollte niemanden sehen und mit niemandem reden.

Richards Mutter war wieder gegangen und er war wieder allein. „Lieber allein sein, als mit einem dieser Heuchler zu reden“, dachte sich Richard traurig. Der Mann der neben ihm lag, blickte ihn traurig an und es schien, als wollte er sich mit Richard unterhalten. Richard wollte nicht. Er schloss einfach die Augen und dachte sich: „Am liebsten wäre ich tot! Aber eigentlich bin ich das ja schon…“

Er schlief wieder tief und fest ein – die Medikamente die er verabreicht bekam, hauten ihn regelrecht aus den Latschen. Als er wieder munter wurde, spürte er einen leichten Druck auf seinem Oberkörper. Er öffnete die Augen und sah, dass jemand seinen Kopf darauf gelegt hatte.

„Hallo?“, fragte Richard in die Dunkelheit hinein. Die Person schreckte hoch und blickte ihn an. Es war Daniel.

„Daniel“, schluchzte Richard leise.

„Ja“, würgte dieser hervor. „Es tut mir so leid“, schluchzte er und versuchte es zu unterdrücken. Wenn sie ihn erwischen würden, würden sie ihn hinausschmeißen.

„Ich habe dir nicht helfen können, ich bin einfach davon“, sagte er vorwurfsvoll ehe sein Kopf sich wieder in Richards Oberkörper verkroch und er bitterlich weinte. „Ich liebe dich so sehr“, stammelte er dabei immer wieder.

Richard hob seine unversehrte rechte Hand und strich Richard durchs Haar.

„Ich liebe dich auch. Du kannst am wenigsten dafür – wir leben einfach in einer scheiß Welt“, flüsterte Richard mit tränenerstickter Stimme.

„Ich habe mich rausgeschlichen“, flüsterte Daniel. „Sie wollen nicht, dass ich dich wiedersehe. Ich bin nicht gut für dich…“

„Die letzten Wochen waren die besten meines Lebens, glaub mir. Ich hätte noch so gerne einiges mehr mit dir erlebt.“

„Das werden wir noch“, versuchte Daniel ihn zu überzeugen. „Die können uns nicht trennen – ich warte draußen auf dich!“

Er näherte sich Richard und küsste ihn auf die Wange. Immer und immer wieder. Beiden liefen die Tränen übers Gesicht und hatten nicht bemerkt, dass plötzlich das Licht angegangen war. Die Nachtschwester hatte beide schon eine Weile beobachtet, erst als sich Daniel der plötzlichen Helligkeit bewusst wurde, nahm sie ihn freundlich an der Hand: „Na, komm! Ich bring dich nach draußen!“

An der Tür drehte sich Daniel nochmals zu Richard um.

„Bis bald, halte durch“, flüsterte er und winkte ihm zu, fast wie damals, als Richard von seiner Party nach Hause gegangen war.

„Bis bald!“, sagte auch Richard, doch irgendwie ahnte er, dass er ihn nicht mehr wiedersehen sollte….

Am nächsten Vormittag wurde Richard in das Gipszimmer des Krankenhauses gebracht, wo ihm ein neuer Gips verpasst werden sollte. Richard schwitzte, als ein Arzt begann, an seiner Hand herumzufummeln. Schließlich konnte er spüren, wie alle Schichten entfernt waren. Eigentlich wollte er nicht hinsehen – doch dann tat er es doch.

„Nein!“, schrie er sofort, er richtete sich auf, ignorierte alle Schmerzen und schrie einfach nur immer wieder `Nein´. Sofort kam eine Schwester herein, die ihn festhielt, während ihm der Arzt gut zusprach und ein Beruhigungsmittel spritzte. Richard sackte zurück – er spürte wie sich etwas Heißes in seinem Körper verbreitete und schloss die Augen.

Was er gesehen hatte, brachte ihn fast um den Verstand: Die Finger seiner Hand leuchteten blau, gelb und grün und waren von Nähten übersäht. Sie sahen aus, als wäre ein Laster darübergefahren. Sie waren knöchrig und schief wie die Finger einer Hexe. Spätestens jetzt war ihm wirklich klar, dass er nie wieder Cello spielen könne. Und das tat ihm mehr weh, als all die Schmerzen, die seinen Körper ohnedies schon peinigten.

Als er wieder erwachte, waren seine Gedanken einfach nur leer. Er lag in seinem Bett und ließ alle Untersuchungen still und kommentarlos über sich ergehen. Ab und zu kam seine Mutter vorbei, doch Richard sprach kein Wort. Mit niemandem. Er wollte einfach in Ruhe gelassen werden. Mit Daniel würde er sprechen, doch leider hatte sich irgendwie herumgesprochen, dass ihn dieser während der Nacht besucht hatte – auch er hatte Besuchsverbot aufgebrummt bekommen.

Mit der Zeit ging es Richard besser – zumindest was das Körperliche betraf. Der Verband auf seinem Kopf wurde entfernt, er bekam eine komfortable Armschiene und konnte endlich wieder selbst aufs Klo gehen. Als er sich im Spiegel betrachtete, starrten ihn zwei leere Augen an. Sein Gesicht war mit blauen Flecken übersäht und seine Stirn zierte eine etwa 5 cm lange Narbe. Dann pisste er das erste Mal seit zwei Wochen wieder selbstständig, er wusch sich so gut es ging (wegen des Korsetts konnte er noch nicht duschen) und schleppte sich mit wackeligen Beinen zurück in sein Krankenbett.

Jetzt bemerkte er, dass noch zwei weitere Personen in seinem Zimmer lagen – der ältere Mann neben ihm hatte sich einen Beckenbruch zugezogen. Gegenüber von ihm lag ein Junge, der etwas älter als er war und der sich bei einem Sturz mit dem Moped einen komplizierten Ellenbogenbruch zugezogen hatte.

Als er wieder im Bett lag, versuchte er abermals, seine Finger zu bewegen, und siehe da: Es klappte. Leichte Hoffnung keimte in ihm auf, doch als er versuchte sie abzubiegen, schoss wieder ein Schmerz durch seinen Körper, der jegliche Hoffnung zunichtemachte.

Am Nachmittag saß wieder seine Mutter an seinem Bett.

„Ich weiß, du willst mit niemanden reden, weil es wirklich schrecklich ist, was mit dir passiert ist“, sagte sie, nachdem sie ihn mit einem Kuss auf die Stirn begrüßt hatte.

„Aber heute wirst du mit mir reden müssen“, fuhr sie fort.

Richard blickte sie fragend an – seine Mutter sah traurig und müde aus.

„Warum hast du mir nie etwas gesagt? Du bist doch mein Sohn!“, stammelte sie.

„Was meinst du?“, antwortete Richard und es waren die ersten Worte die er an seine Mutter richtete, seitdem er zwei Wochen zuvor ins Krankenhaus eingeliefert worden war.

„Sie haben die drei gefunden, die dir das angetan haben“, begann sie zu erzählen. „Und sie haben gestanden, warum sie es getan haben! Richard, hättest du es mir doch nur anvertraut, dann wäre vieles vielleicht anders gekommen.“

Richard blickte stumm zur Seite – seine Mutter hielt seine gesunde Hand und weinte.

Da durchzuckte es Richard plötzlich. „Papa?“, fragte er nur.

„Du kennst ihn. Er hat natürlich sofort herumgeschrien – er kann alles nicht verstehen.  Ich glaube, er sieht seine Fehler langsam ein, aber du weißt ja: Er würde sie nie zugeben.“

„Was…was ist mit Daniel?“, wollte Richard wissen. Er vermisste ihn furchtbar.

„Ich wollte mit ihm reden, aber seine Eltern haben mir gesagt, dass sie ihn zu seinen Großeltern nach Kärnten geschickt haben. Es geht ihm sehr schlecht, er macht sich Vorwürfe und sie hoffen, dass er sich dort wieder erholt. Du wirst ihn sicher wiedersehen, dann, wenn du dich auch erholt hast!“

„Ich werde mich nie davon erholen. Sieh mich doch an!“, wurde Richard laut. „Papa hat schon Recht. Alles, wozu ich taugte ist kaputt – sieh dir nur meine Hand an. Was bin ich denn sonst noch wert?“

„Du bist das wertvollste, das ich habe“, schluchzte seine Mutter. „So etwas darfst du  nicht mal denken. Du hast doch etwas im Kopf – du wirst andere Sachen finden, die dich interessieren und die du kannst.“

Richard schüttelte den Kopf. Nie, nie würde es besser werden.

„Ich bin ein schwuler Krüppel!“, sagte er leise. „Wer will denn sowas schon?“

Trotzdem war er dankbar für das Gespräch mit seiner Mutter – er richtete sich auf und sie nahm ihn liebevoll in die Arme. „Ich vermisse ihn so sehr“, schluchzte er. „Kannst du dir das überhaupt vorstellen?“

Seine Mutter gab keine Antwort – sie drückte ihn so fest an sich, wie es bei seiner Verletzung nur möglich war. „Ich bin immer für dich da, vergiss das nicht!“, versprach sie ihm. „Weißt du seine Nummer?“, fragte sie ihn schließlich. Na klar, dachte er sich, er könnte ihn doch anrufen.

„Wo ist mein Handy?“, fragte er aufgeregt.

„Es ist leider bei dem Übergriff kaputt gegangen“, musste ihn seine Mutter enttäuschen.

„Oh“, war alles, was Richard herausbrachte – er hatte sich Richards Nummer nicht gemerkt…

In den nächste Tagen merkte Richard, wie es mit seinem Körper merklich bergauf ging: Das Stechen beim Atmen war verschwunden und er konnte auch schon länger herumlaufen, ohne dass ihm dabei schwindlig wurde. Seine Mutter kam täglich vorbei und versorgte ihn mit Magazinen, Obst und Süßigkeiten. Obwohl es ihm seelisch immer noch beschissen ging, fühlte er sich seiner Mutter so nahe wie nie zuvor.

Nach insgesamt vier Wochen beschlossen die Ärzte schließlich, ihn zu entlassen.

Um acht Uhr morgens tapste Richard erstmals seit Wochen wieder ins Freie, während seine Mutter Papierkram erledigte. Sie wollte dabei sein, wenn Richard in die Reha-Klinik gebracht werden sollte. Richard atmete tief ein und aus – er wollte eigentlich nur allein sein. Er wollte in keine Reha-Klinik zu lauter alten Menschen samt ihren Verletzungen. Er wollte aber auch nicht nach Hause zu seinem Vater. Alles was er wollte, war Daniel, doch von dem hatte er seit jener Nacht an seinem Krankenbett nichts mehr gehört.

„So, da bin ich“, winkte seine Mutter mit den Papieren und versuchte dabei fröhlich zu wirken.

„Papa?“, fragte Richard schließlich leise, als beide im Rettungsauto saßen, dass Richard in die Klinik bringen sollte.

Seine Mutter atmete tief durch. „Er lässt dich lieb grüßen und versucht dich in den nächsten Tagen zu besuchen“, sagte sie schließlich.

Richard wusste genau, dass sie log.

Die Klinik befand sich auf einem Hügel in der Nähe von Wien. Nachdem seine Mutter neuerlich Papierkram zu erledigen hatte, wurde Richard sein Zimmer für die nächsten vier Wochen zugewiesen. „Na, zumindest mal wieder ein eigenes Zimmer für mich allein“, dachte er sich. Eigentlich sah es sehr gemütlich aus, gar nicht nach Krankenhaus. Es hatte sogar einen Balkon, von dem aus Richard in einen kleinen Wald blicken konnte.

„So, das war’s fürs erste“, unterbrach seine Mutter seine Gedanken, um sich bei ihm zu verabschieden. „Alles wird wieder gut, vertrau mir!“, sagte sie mit ruhiger Stimme und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Du bist ganz schön groß geworden“, meinte sie, als sie ihm fürsorglich durch die Haare strich. Diese liebevolle Geste überwältigte Richard, der seiner Mutter um den Hals fiel und schluchzte. „Ich hab alles versaut“, weinte er. „Nicht doch“, beruhigte sie ihren Sohn. „In vier Wochen sieht alles anders aus, du wirst schon sehen.“

Dann ging sie.

Richard war allein. Wie immer.

Nur wenig später kam ein Pfleger in sein Zimmer, der ihm den Ablauf der nächsten Wochen erklärte und ihn schließlich zum Mittagessen in den Speisesaal begleitete. Richard hatte es geahnt: Rund um ihn saßen durchwegs ältere Leute mit allen möglichen Arten an Verletzungen. Einigen konnte man ansehen, dass sie nicht ganz unschuldig daran waren hier zu sein: Übermäßiger Alkoholmissbrauch könnte zu deren Verletzungen geführt haben, mutmaßte Richard.

„Also“, sprach der Pfleger nach dem Essen weiter. „Um sieben gibt’s Frühstück, um neun geht’s zur Physio- und Elektrotherapie, danach Mittagessen. Nachmittags um zwei geht’s dann mit Unterwassertherapie weiter. Um 4 Uhr Freizeit. 6 Uhr Abendessen. Willkommen am `Weißen Hof´.“ Routiniert und fast gelangweilt spulte dieser Typ sein Programm runter und Richard war froh, als er endlich weg war.

Diese ganzen Therapien interessierten ihn ohnehin einen Scheiß: Wozu brauchte er sie, wenn er seine Finger sowieso nicht mehr bewegen könnte? Im Zimmer legte er sich sofort auf sein Bett und starrte an die Decke. Was sollte er hier bloß vier Wochen lang machen? Um zwei Uhr nachmittags wurde er schließlich abgeholt und ins Schwimmbecken des Hauses gebracht. Dort musste er einige Runden schwimmen – das Wasser fühlte sich richtig gut zwischen seinen Fingern an, nur mit der Atmung hatte er immer noch Probleme, so ganz waren die Rippenbrüche scheinbar noch nicht verheilt.

„Na, du schwimmst ja wie ein Fisch“, quatschte ihn irgendein alter Penner an, der an ihm vorbeischwamm. „So jung müsste man nochmals sein“, fuhr er fort und Richard erkannte, dass dieser Mann lediglich einen Gesprächspartner suchte. „Kein Bedarf“, dachte sich Richard und schwamm ohne eine Antwort zu geben weiter – er wollte zu niemandem Kontakt haben.

Nach Beendigung des Trainings war Freizeit angesagt. Richard beschloss, etwas im riesigen Park des Geländes spazieren zu gehen, ermüdete aber bald und beschloss sich auf eine Parkbank zu setzen. Trübsinnig blickte er in den blauen Sommerhimmel, wo der nahende Herbst schon zu erkennen war. Unbewegt saß er da und beobachtete die Gegend um sich: Es war eigentlich sehr schön hier, abgesehen von den Leuten die öfters an ihm vorbeigingen und ihn sofort wieder daran erinnerten, warum er eigentlich hier war.

Nach dem Abendessen hatte Richard endlich den ersten Tag hinter sich gebracht. Wie immer um diese Tageszeit hatte er arge Kopfschmerzen, irgendetwas mussten die Tritte da hinterlassen haben. Daher war er dankbar für die Tabletten die er dagegen einnahm: Nicht nur das sie den Schmerz wegzauberten, nein, sondern auch deswegen, weil sie ihn meistens sofort wegpennen ließen.

Am nächsten Tag waren wieder Therapien angesagt: Die Elektrotherapie fand Richard relativ angenehm, es kitzelte und er konnte spüren, wie der Strom seine Hand `bearbeitete´. Anschließend kam dann der nervigere Teil – ein Pfleger setzte sich zu ihm und er musste Übungen mit seiner kaputten Hand machen. Richard bekam eine kleine Holzkugel in die Handfläche gelegt.

„Los! Versuch sie zu bewegen“, sagte ein etwa 25-jähriger Pfleger, der freundlicher wirkte als derjenige vom Vortag.

Die Kugel rollte aus seiner Hand und fiel zu Boden.

„Na los, gleich noch einmal“, versuchte er ihn zu ermutigen, doch wieder fiel sie zu Boden. Richard war das egal – und sein Gegenüber schien das zu erkennen.

„Nun, wir werden das in den nächsten Wochen schon hinbekommen. Ich bin übrigens Peter!“, streckte ihm dieser die Hand entgegen. Etwas zögerlich willigte Richard in den Händedruck ein.

„Ich habe hier schon einige Leute erlebt, die am Anfang genauso wenig Lust hatten wie du. Aber mit allen ging’s dann schließlich gut – du musst nur Geduld haben und auch wollen!“

Richard gab keine Antwort, er blickte an Peter vorbei Richtung Fenster, wo sich ein Eichhörnchen niedergelassen hatte. Dann blickte er in Peters  Gesicht. „Das ist mir scheiß egal!“, sagte er und war selbst über seine harten Worte schockiert. Peter blickte ihn dennoch freundlich an und Richard wollte sich augenblicklich entschuldigen, unterdrückte es allerdings.

„Nun, dann ist es erstmals genug für heute“, meinte Peter. „Bis morgen!“

Richard lag in seinem Zimmer und dachte über seine Worte nach. Irgendwie schämte er sich, weil er reagiert hatte wie ein kleines Kind. Dieser Peter schien außerdem ganz nett zu sein und sich wirklich Mühe zu geben. Außerdem sah er auch gar nicht übel aus. Als er gerade so am Grübeln war klopfte es an der Tür. Es war Peter.

„Darf ich?“, fragte er höflich und stand auch schon im Zimmer.

Richard starrte weiter an die Decke, als Peter neben ihm Platz nahm.

„Weißt du, ich arbeite schon seit einigen Jahren hier und es kommt öfters vor, dass wir uns nicht nur um die körperlichen Beschwerden unserer Patienten kümmern müssen, sondern auch um die seelischen. Ich will dich zu nichts zwingen, aber wenn du über etwas reden willst, dann bin ich auch dafür da, ok?“

Richard blickte jetzt doch in seine Richtung. Peter dürfte seinen Dienst an diesem Tag beendet haben, da er jetzt im Gegensatz zum Vormittag Privatkleidung trug.

„Ich weiß nicht, was es noch zu reden geben sollte“, sagte Richard jetzt doch etwas, wenn auch mit leiser Stimme. „Meine Hand ist kaputt, ich kann nicht mehr Cello spielen. Mein Vater hasst mich und mein Freund ist weg. Aber sonst geht’s mir gut!“

„Du spielst Cello?“, fragte Peter interessiert.

„Nein, ich spielte Cello!“, gab Richard patzig zur Antwort und streckte ihm seine linke Hand entgegen.

„Das tut mir leid, ehrlich“, antwortete Peter, der wütend war, diese blöde Frage überhaupt gestellt zu haben. „Willst du mir erzählen wie es passiert ist?“, fragte er so einfühlsam wie möglich.

„Vielleicht morgen, ich habe wieder Kopfschmerzen. Es ist zum `Aus der Haut fahren´. Tja, ein Kopf ist eben kein Fußball“, sprach er und warf sich eine Tablette rein.

„Was meinst du damit?“, fragte Peter und rückte etwas näher an Richards Bett heran – dieser wurde nervös. Sollte er diesem Fremden wirklich alles erzählen? Wobei, war es nicht vielleicht sogar besser einem Fremden sein Herz auszuschütten?

Richard beschloss zu reden – er erzählte Peter vom Druck, der zu Hause auf ihm lastete, speziell von seinem Vater ausgehend. Von seiner Mutter, die nie die Stimme gegen ihren Mann erhoben hatte – erst seit dem `Vorfall´ hatte sie damit angefangen. Schließlich erzählte er ihm auch von Daniel und wie schwer sie es hatten, mit ihren Gefühlen umzugehen.

Er redete und redete, auch wenn er dazwischen immer wieder kleinere Pausen brauchte, vor allem dann, wenn ihn die Gefühle übermannten. Schließlich erzählte er ihm von jenem Tag am Badesee, als er so übel zugerichtet worden war.

„Und jetzt bin ich hier“, beendete er seinen Monolog, denn Peter hatte es unterlassen, währenddessen unangenehme Fragen zu stellen. Richard versuchte zu lachen, doch als er in Peters fassungsloses Gesicht sah, rannen schließlich Tränen über sein Gesicht. Ganz leise, ohne Wimmern.

„Mann, da hast du ja ganz schön was durchgemacht“, rang Peter nach Luft, ehe er seinen Arm um Richards Schultern legte.

„Versteh mich jetzt nicht falsch“, fuhr er fort, „aber vielleicht hat dieses schreckliche Ereignis auch was Gutes!“

Richard zuckte zurück und sah ihn verwundert an.

„Keine Frage, was diese Arschlöcher angerichtet haben ist unverzeihlich, aber denkst du nicht, dass in dir so viel mehr steckt? Oft muss man einen Blick in die Hölle wagen, um hinterher den Himmel sehen zu können. Vergiss diese Leute – vergiss deinen Vater! Das klingt hart, aber er kann dich nicht ewig kontrollieren!“

„Schon richtig“, antwortete Richard mit leiser Stimme, „aber ich spielte gerne Cello. Und das geht jetzt nicht mehr.“

„Kennst du Nick Vujicic?“, fragte Peter.

„Wen?“

„Das ist ein Mann, der ohne Arme und Beine geboren wurde und sein Leben auf sensationelle Art und Weise meistert. Er reist durch sein Land und motiviert Leute – auch Leute wie dich, die glauben alles wäre vorbei. Schau ihn dir mal auf `youtube´ an. Und nochmals: Versteh mich nicht falsch, aber es gibt viele, sehr viele Menschen, die noch viel schlimmer als du dran sind!“

„Da hast du nicht Unrecht“, gab Richard kleinlaut zu, „nur: Es war halt einfach zu viel in den letzten Monaten. Außerdem vermisse ich Daniel furchtbar, aber das wirst du nicht verstehen…“

„Warum sollte ich das nicht verstehen?“, fragte Peter verwundert.

„Na, weil ich… schwul bin.“

Peter lächelte. „Nur weil ich nicht schwul bin, heißt das nicht, dass ich dich nicht verstehe. Ich war schon oft verliebt, oft auch unglücklich. Warum sollte das bei dir anders sein, nur weil es bei dir kein Mädchen ist? Apropos Mädchen: Meines wird schon warten. Ich muss leider, aber wir sehen uns morgen!“

Peter strich ihm nochmals über den Kopf und begab sich zur Zimmertür.

„Peter?“, rief ihm Richard nach.

„Ja?“

„Ich danke dir!“, presste er mit mühevoller Stimme heraus.

Peter zwinkerte ihm noch zu und ging. Das erste Mal seit Monaten war Richard halbwegs wieder im Einklang mit sich selbst – dieser Peter hatte ihm gezeigt, dass nicht alle Menschen schlecht waren, dass nicht alle so über ihn dachten, wie diese drei Nazis oder wie sein Vater. Er lag auf dem Bett und musste sich eingestehen, dass er sich in den letzten Tagen doch etwas in Selbstmitleid gesuhlt hatte.

Er nahm noch eine Tablette gegen sein Kopfweh und schlief kurz darauf ein – das erste Mal seit langem ohne Gedanken an Selbstmord…

In den folgenden Tagen ging es Richard immer besser – zwar lief es bei der Therapie nicht immer nach Wunsch, dafür hatte er sich mit Peter so richtig angefreundet. Auch mit anderen Patienten war er mittlerweile ins Gespräch gekommen. Das einzige (neben den Gedanken an Daniel natürlich), dass ihm Sorgen bereitete, war dieses ständige Kopfweh. Auch die Ärzte in der Klinik wussten nicht so recht Rat – eine Computertomografie brachte auch keine Aufschlüsse. Alles was die Ärzte tun konnten war, ihm Ruhe und diese Hammertabletten zu verschreiben. „Möglich wäre ein verstecktes Blutgerinnsel, das nicht mal auf den Röntgenbilder zu entdecken ist“, mutmaßte ein Arzt.

„Und, was lässt sich da dagegen tun?“, fragte Richard besorgt.

„Im Prinzip nicht viel. Wir können dir nur diese Tabletten verschreiben und hoffen, dass es sich zurückbildet.“

Das war auch nicht unbedingt das, was Richard hören wollte. Beunruhigt ging er an diesem Abend zu Bett, als gegen neun plötzlich das Telefon läutete.

„Nanu? Mutter war doch gestern erst auf Besuch?“, fragte er sich und hob ab.

„Ja? Wer spricht?“

„Hallo Richard!“, hörte er eine Stimme sagen.

„Daniel!“, rief Richard erfreut und von einer Sekunde zur anderen schlug ihm sein Herz bis zum Hals. „Woher hast du diese Nummer?“, wollte er wissen.

„Irgendeiner von deinen Pflegern hat meine Eltern angerufen und bequatscht, sie mögen mir deine Nummer geben. Das hat auch deine Mutter schon versucht, aber nachdem was dein Vater…. Aber, lassen wir das! Wie geht’s dir?“

„Ach, schon ganz gut, den Umständen entsprechend. Mann, ich freu mich so dermaßen dich zu hören. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisse!“

„Da bin ich froh, ich dachte du würdest nichts mehr von mir wissen wollen, wo doch ich dran Schuld bin…“

„Nochmals: Du bist nicht schuld.“ Richard seufzte tief: „Schade das du nicht hier bist. Aber hey: Du hast doch sicher Verwandte in Wien, schließlich kommst du ja von hier. Warum besuchst du mich nicht einfach?“ Seine Stimme bebte regelrecht.

Am anderen Ende der Leitung wurde es still.

„Hallo?“, fragte Richard ängstlich.

„Das wäre wunderbar“, meinte Daniel nach einer halben Ewigkeit. „Meine Großmutter wohnt in Wien. Mann, ich hätte schon längst auf diese Idee kommen können. Aber ich wusste ja nicht, wo du dich gerade aufhältst – und wie du reagierst wenn ich dich anrufe. Ich vermisse dich auch so sehr – ich denke die ganze Zeit an dich…“

„Na, dann komm doch einfach vorbei“, erwiderte Richard mit brüchiger Stimme. „Ich kann es kaum erwarten, dich wieder in die Arme zu nehmen. Ich liebe dich!“

Jetzt musste Richard weinen – er vermisste ihn mehr als je zuvor und war dennoch glücklich wieder von ihm zu hören.

Daniel weinte ebenfalls. „Dann ruf ich jetzt gleich meine Oma an“, heulte er ins Telefon, „bis bald! Ich liebe dich auch!“

Richard sagte nochmals, wie sehr er ihn liebte, doch Daniel hatte bereits aufgelegt. „Egal“, dachte er, „bald, bald sehe ich ihn wieder…“

Das mit dem Telefonat klappte genauso, wie es sich Daniel vorgestellt hatte. Natürlich war es für seine Oma kein Problem, im Gegenteil: Sie freute sich darauf, ihren Enkel erstmals seit dem Auszug wiederzusehen.

Daniel konnte es gar nicht abwarten: Übers Internet besorgte er sich sofort Tickets für den darauffolgenden Tag. Kurz nach sieben sollte es von Villach aus nach Wien gehen, wo der Zug um etwa halb zwölf ankommen sollte. Auch die Daten der Weiterreise suchte er sich noch zusammen: Wenn alles glatt liefe, würde er seinen Schatz so gegen ein Uhr mittags wiedersehen.

Hastig packte er seine Sachen zusammen und ging gegen 11 ins Bett, wobei, einschlafen konnte er natürlich lange nicht. Alles was er vor sich sah, war das Gesicht von Richard. Um halb sechs klingelte schließlich sein Wecker, bis nach Villach war es ungefähr eine Stunde Fahrzeit und dankenswerterweise brachte ihn sein Kärntner Großvater zum Bahnhof.

Daniel war hundemüde. „Im Zug werd ich sicher noch etwas schlafen“, dachte er sich, doch kaum saß er im Abteil, war er hellwach – alle seine Gedanken fokussierten sich nur mehr auf eines: Richard.

Es konnte ihm gar nicht schnell genug gehen und schon bald fühlte er sich wie damals als Kind, als er am Weihnachtsabend auf die Bescherung gewartet hatte und ihm drei Stunden vorkamen wie drei Tage.

„Wartet deine Freundin in Wien?“, riss ihn da die Stimme einer älteren Dame aus den Gedanken, die gegenüber von ihm saß.

„Nein, mein Freund!“, antwortete er frech und beachtete sie nicht weiter.

Er blickte verträumt aus dem Fenster in die vorbeiziehende Landschaft. Die Sonne schien und er war glücklich – was brauchte er mehr!

Der Zug kam pünktlich an und nach einer kurzen U-Bahnfahrt saß Daniel im Bus zur Reha-Klinik. Sein Herz klopfte wie wild und er malte sich aus, wie das Wiedersehen wohl aussehen würde. Sicher rechnete Richard nicht damit, dass er schon heute kommen würde. Daniel war gespannt auf Richards überraschtes Gesicht und musste leise kichern.

Mit wackeligen Knien stieg er schließlich beim `Weißen Hof´ aus und betrat den Eingangsbereich – er war nervös, so, als ob er ihn das erste Mal treffen würde. Er betrat das Sekretariat und musste etwas warten, da eine dicke Dame mit Brille gerade telefonierte. Als sie schließlich auflegte, blickte sie ihn fragend an.

„Guten Tag!“, sagte Daniel freundlich, „ich möchte gerne zu Richard. Richard Danner!“

Die Dame zuckte zusammen. „Bist du verwandt mit ihm?“, fragte sie ihn.

„Nun, ich bin sein Freund“, antworte er beunruhigt.

„Moment bitte“, sagte sie und griff wieder zum Telefonhörer. „Peter, kommst du bitte?“

Daniel wurde immer mulmiger zu Mute – irgendetwas war hier faul.

„Einen Moment bitte“, sagte die Dame erneut und Daniel konnte erkennen, dass sie genauso unruhig zu sein schien wie er es war.

„Daniel?“, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Als er sich umdrehte, stand ein Pfleger vor ihm. Es war Peter.

„Ja, du musst Peter sein, richtig?“, fragte Daniel leise und erwiderte dessen Händedruck.

Peter schwieg.

„Kann ich Richard sehen oder ist er gerade bei der Therapie?“, hörte er sich fragen, obwohl ihm immer mehr bewusst wurde, dass irgendetwas Schlimmes geschehen sein muss.

Peter schüttelte wieder nur den Kopf.

„Was ist hier los?“, schrie Daniel und spürte die Blicke einiger anderer Patienten auf sich.

„Daniel“, sprach Peter schließlich ganz leise und versuchte den Arm um ihn zu legen. Daniel wich zurück und blickte ihn fragend an.

„Richard“, sprach Peter leise und man konnte erkennen, dass er um Fassung rang. „Er ist letzte Nacht im Schlaf gestorben. Ein Blutgerinnsel….. er hat nicht gelitten…“

Daniel stand fassungslos da – wieder versuchte  Peter ihn an sich zu ziehen, doch Daniel lief ins Freie. Er schrie vor Schmerz, wie konnte das nur passieren? In einer Wiese gaben seine Beine nach, er stürzte und blieb weinend im Rasen liegen. Er wollte nichts mehr wissen von dieser Welt. Wie konnte er ihn nur verlassen? Wie konnte er ihn hier zurücklassen?

Daniel merkte nicht, wie sich Peter neben ihm ins Gras setzte. „Ich kann es auch nicht verstehen“, meinte Peter mit zittriger Stimme. „Wer kann das schon?“

Daniel richtete sich auf und fiel Peter schluchzend in die Arme, unfähig auch nur ein Wort zu sagen.

„Er hat immer nur von dir gesprochen“, meinte Peter traurig, „bis zum Schluss. Er muss dich sehr geliebt haben!“

„Ist er noch da?“, brachte schließlich Daniel aus sich heraus.

Peter schüttelte den Kopf: „Seine Mutter war bereits da und auch der Bestatter. Ruf sie an – ich glaube das könnte sie brauchen!“

Daniel richtete sich auf – ihm war speiübel.

„Kann ich dich irgendwo hinbringen?“, fragte ihn Peter.

„Danke. Ich kenne den Weg!“, sprach Daniel und ging zurück zur Bushaltestelle. Er war nach wie vor wie in Trance und konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Mit zittrigen Fingern wählte er die Nummer seiner Mutter.

„Mama? Bitte hol mich!“, wimmerte er ins Telefon. Dann klappte er zusammen.

Als er wieder erwachte, lag er in seinem Zimmer. Seine Eltern saßen am Bett und auch Richards Mutter war da.  „Du hattest einen Nervenzusammenbruch“, weinte seine Mutter. „Aber das wird schon wieder. Auch wenn du in den nächsten Tagen sehr viel Kraft brauchen wirst!“

„Entschuldigung“, hörte er plötzlich eine Männerstimme. „Es tut mir so leid!“ Es war Richards Vater, der Daniel seine Hand hinhielt. Als sie dieser ergriff, packte es auch Richards Vater, der hemmungslos losweinte.

„Hier“, meinte Richards Mutter schließlich. „Das ist eine Kassette von Richard. Er hat sie aufgenommen, um uns zu täuschen. Ich weiß, dass er auf deiner Party war“, versuchte sie zu lächeln.

„Du bist immer bei uns willkommen“, sagte sie schließlich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Richard….“, es fiel ihr schwer zu sprechen, „Richard war so glücklich mit dir. Ich hab ihn selten glücklicher gesehen“, weinte sie schließlich.

„Komm Hilde“, meinte ihr Mann, „lass uns gehen. Ich glaube Daniel braucht jetzt erstmals Ruhe.

Als auch seine Eltern gegangen waren, hievte sich Daniel aus dem Bett um die Kassette einzulegen.

Er drückte `Play´ und hörte ein leises Rauschen, ehe er Richards Stimme vernahm.

„Bach. Suite II für Cello.“

Und er begann zu spielen.


Gewidmet an Justin Aaberg(1995 – 2010), begeisterter Cellospieler, Mobbingopfer.

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