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Nie mehr allein

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Jason bringt mir einen Tee und eine Decke.

„Du musst trinken“, sagt er, wickelt mich in die warme Decke ein und streichelt mir über den Kopf. „Du erkältest dich noch.“

Mein Kopf rauscht und meine Gedanken fliegen durcheinander, obwohl ich mich so klar fühle. So viele Dinge sind passiert, aber ich kann sie alle nicht greifen. Ich weiß nur, dass Jason da ist. Alles andere ist gerade auch egal.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“, fragt er, setzt sich zu mir aufs Bett und legt beide Arme um mich. Ich fühle mich geborgen.

„Ich möchte hier bleiben“, flüstere ich und erschrecke mich, wie rau meine Stimme ist.

Jason nickt, legt seinen Kopf an meine Schulter und hält mich noch fester.

Ich will nicht bei ihm bleiben. Alleine sein will ich aber auch nicht. Deswegen bleibe ich hier sitzen, lasse mich halten und rede mir ein, dass mir das nicht gefällt. Ich will ihn nicht haben, dann kann ich ihn auch nicht verlieren.

Mein Bruder Leonard war immer mein großes Vorbild. Ich fand ihn so cool und erwachsen. Auch, wenn er nie so viel mit mir anfangen konnte, war er doch für mich da, passte auf mich auf. Wir verschworen uns gegen unsere Eltern und heckten Streiche aus, er pustete am Strand meine Luftmatratze auf und ließ mich mit seinem Gameboy spielen, wenn ich lange genug bettelte.

Das sollte aber nicht so bleiben.

Er lernte neue Freunde kennen, die cooler waren als ich. Mädchen waren auch dabei, die viel interessanter waren als der kleine Babybruder. Er begann zu trinken, rutschte in eine Szene ab, die ich nicht verstand. Und so sperrte er mich ins Bad ein, wenn ich ihm im Weg war und versuchte, mich so weit wie möglich von sich weg zu halten.

Ich habe mich hingelegt und versuche zu schlafen. Leider kann ich das nicht. Ich will mich hin und her wälzen, fühle mich unruhig, aber ich kann mich nicht bewegen. Jason hält mich im Arm. Ich spüre seinen Atem an meinem Hals.

„Was auch immer dich so traurig gemacht hat, ich werde mein Bestes geben, den Schmerz von dir zu nehmen“, höre ich ihn leise sagen.

In der Nacht haben wir gevögelt. In allen möglichen Stellungen, im Bett, im Bad, in der Küche. Danach haben wir drei Eimer Farbe geöffnet, unsere Hände reingetaucht und die Küchenwände bemalt. Rot, weiß, gelb. Jason hatte die Farben gekauft, um die Küche zu streichen. Jetzt hab ich ihm dabei geholfen und mich für immer auf seiner Wand verewigt.

„Lässt du mich kurz los? Ich will an meine Hose“, bitte ich Jason. Ich will an meine Hose, weil da was drin ist, was dafür sorgt, dass ich nicht mehr grüble, sondern es mir gut geht und ich mit Jason in eine neue Fickrunde gehen kann. Doch Jason schüttelt sacht den Kopf.

„Das brauchst du jetzt nicht.“ Er ist ganz zärtlich, streichelt meine Wange. „Ich bin da für dich.“

Ich weigere mich, ihm zu glauben. Wie kann er mich nach der einen Nacht überhaupt so mögen? Und woher will er wissen, dass ich traurig bin?

Mein bester Freund Matthias lernte im Juni 2006 Sascha kennen. Matthias hat immer wieder Beziehungen gehabt, die meist auch ewig dauerten. Er ist ein Beziehungsmensch, ganz anders als ich. Vor Sascha war da aber lange niemand mehr für Matthias. Er war wieder jedes Wochenende mit in den Clubs, war für mich da in den schwersten Stunden meines Lebens, kümmerte sich darum, dass ich nicht in meiner eigenen Kotze schlafen musste und brachte mich nach Hause, wenn ich vor lauter Alkohol nicht mehr wusste, wo, wer und was ich war.

Und dann kam Sascha.

Er hat Matthias angehimmelt, das habe ich sofort gesehen. Und süß war er dazu. Er hatte aber nichts bei Matthias verloren. Wenn Matthias eine Beziehung hat, geht er selten aus. Das braucht er dann nicht, sagt er immer. Und dieser Sascha sollte nicht daran schuld sein, dass ich meinen Partykönig verlor!

Ich hab mich an Sascha rangeschmissen, ganz billig, auffällig und so sexy ich konnte. Darauf ist er eingestiegen und ich bin in der Nacht mit ihm nach Hause gefahren. Matthias ließen wir allein zurück.

Zweimal haben wir es miteinander getrieben und er bekam einen Strich auf meiner ewigen Strichliste. Abgehakt.

Matthias würde es nie wagen, einen meiner Aufrisse zu lieben, dann würde er sich schäbig vorkommen, als würde er meine dreckige Wäsche auftragen.

Doch Matthias meinte es ernst. Sie versuchten es trotzdem miteinander und ich musste zusehen, wie mein allerbester Freund sich immer mehr zurückzog. Ständig war Sascha in unserer WG zu Besuch und ich durfte mir nächtelang Gestöhne und Gekeuche aus dem Nebenzimmer anhören. Ja, er hatte jetzt Besseres zu tun, als mit mir auf die Piste zu gehen.

„Wann gehst du wieder zurück nach München?“

Jason hat meine Klamotten in die Waschmaschine geworfen und die kleine Metalldose aus meiner Hosentasche auf den Nachttisch gelegt.

„Ich weiß nicht“, antworte ich, starre an die Decke und seufze. „Bald.“

„Darf ich dich mal besuchen kommen?“, fragt er weiter. Ich grinse.

„Klar!“

„Und dann ficken wir?“

„Wir können auch jetzt ficken.“

Jason lacht und wirft sich neben mich ins Bett.

Als Fabian sich vor über einem Jahr von mir trennte, zerbrach für mich eine Welt. Ich wollte nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr leben. Alles hatte ich in diese Beziehung gelegt, mein ganzes Herz und meine ganze Seele. Ich hatte Freundschaften und mich selbst vernachlässigt, nur für diesen einen Mann.

Zitternd stand ich damals auf dem Dach meines Hauses, schaute in die Tiefe. Ich zitterte nicht vor Angst oder vor Kälte, sondern vor Aufregung. Wie würde es sein, zu fallen, aufzukommen? Würde der Schmerz beim Aufprall größer sein als der in meinem Herzen? War danach alles vorbei oder gab es doch dieses bescheuerte Leben nach dem Tod und nichts würde sich ändern?

Aber ich bin nicht gesprungen.

In meinem Kopf entstanden Bilder, wie ich gefunden wurde, wie sie Fabian verständigten, weil seine Nummer für den Notfall auf einem Zettel in meinem Portmonee stand. Wie er zusammenbrach und sich sein Leben lang für meinen Tod verantwortlich machte. Dabei wollte ich gar nicht, dass er sich schuldig fühlt. Ich wollte einfach nur, dass die Schmerzen aufhörten und ich auch endlich glücklich sein konnte. So wie er mit seinem neuen Freund, für den er mich verlassen hatte.

Ich habe versucht, 15 Minuten lang die Luft anzuhalten. Michael sagt, ich solle wegen 15 Minuten kein Drama machen. 15 Minuten wären nicht lang. Weil mir schon nach einer Minute schwummerig wurde, versuche ich es jetzt mit Auf-einem-Bein-stehen. Jason sitzt hinter mir auf dem Bett und beobachtet kichernd, wie ich mit der Uhr in der Hand auf einem Bein vor dem Spiegel stehe und wankend versuche, das Gleichgewicht zu halten. Nach 5 Minuten kippe ich prustend zur Seite, setze mich auf den Fußboden und kann nicht aufhören zu lachen.

Die Zeit mal drei wären 15. Doch ziemlich lang. Und diese lange Zeit soll ich jemandem schenken, den ich nicht leiden kann?

Ich hatte das Gefühl, Michael ist der erste, der mich richtig versteht. Der hat die gleiche Scheiße mitgemacht wie ich. Partys, Ficken, Drogen, Absturz, HIV. Es war was Besonderes zwischen ihm und mir. Wir hatten unsere Lieder, unsere Fantasien, unsere Rituale, unsere kleine, liebevolle Welt, unsere tiefen, ehrlichen Gefühle zueinander.

Bis sich alles änderte.

Von einem auf den anderen Tag war er plötzlich verliebt. Warum? Ich konnte und wollte das nicht verstehen. Und muss es doch hinnehmen. Verstehen, dass er 15 Minuten unserer Zeit haben will, dass er mit Michael unsere Lieder teilt, unsere Fantasien, unsere Rituale, sich in unsere kleine, liebevolle Welt mischt und unsere tiefen, ehrlichen Gefühle verdrängt. Was bleibt mir übrig, als tatenlos zuzusehen?

Jason lacht. Laut und offen. Er hat schöne Zähne und ganz weiche, dunkle Haare. Meine Metalldose liegt offen ohne Inhalt auf dem Fußboden, ich werde sie wieder auffüllen müssen. Aber das hat noch ein bisschen Zeit.

Morgen buche ich mir ein Ticket nach München. Jason werde ich nicht einladen. Ich werde mich verabschieden, bevor er mir zu viel bedeutet und es wieder wehtut.

Ich will nie wieder allein schlafen, aber ich will mich auch nie mehr fest binden. Das werde ich schaffen. Und wenn ich bis an mein Lebensende jede Nacht mit einem anderen schlafen muss.

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