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Krümel

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Pommes Frites mit Ketchup. Cola, ein halbes Bier. Müsli mit Banane vom Frühstück. Milch? Oder der Joghurt von heute morgen?

Mir tut der Hals weh. Kralle mich an der Klobrille fest und sehe den Brei vor mir nur noch verschwommen. Tränen laufen meine Wangen hinunter. Mein Herz rast, sticht, der Schmerz zieht runter in meinen Magen, der sich immer wieder zusammenkrampft.

Warum?!

Im Internet hatte es angefangen. In einer schwulen Onlinecommunity. Eine blaue Scheinwelt voller notgeiler Männer. Zwischendrin die ein oder andere Perle, Jungs mit Intellekt, die nicht nur das eine wollen. Einer von ihnen Marcel.

Zuerst war der Kontakt spärlich. Ich hatte einen Freund, er nicht, es ging ihm nicht gut und ich machte mir Sorgen um ihn, ohne ihn überhaupt richtig zu kennen. Wir waren verbunden… Ich fand ihn süß. Er hatte niedliche Bilder in seinem Profil, der Text war viel versprechend und er suchte alles, nur nicht die schnelle Nummer.

Plötzlich meldete er sich gar nicht mehr. War offline. Sein Profil deaktiviert. Und ich hatte keine Möglichkeit, herauszufinden, was mit ihm war. Er hatte oft davon gesprochen, dass seine Zeit kommen würde, nicht jetzt, aber bald. Und dann plötzlich war er weg. Nach einer Weile dachte ich, er hätte sich umgebracht… Mich allein gelassen.

„Wo bist du hin, schöner Mann? Sonnenstrahl, hellster Stern zwischen all den kleinen Lichtern hier?“

Was war los? Mehr als eine Hand voll Nachrichten hatten wir nicht gewechselt, warum war er mir so wichtig?

Dann eines Tages war er wieder da. Und ich freute mich halb verrückt. Er war da! Es ging ihm gut! Richtig gut! Allein diese Nachricht hob meine Laune ungemein. Sonnenstrahl…

Meine Beziehung ging in die Brüche. Nicht wegen Marcel. Aber Marcel war da. Und ich war ihm dankbar. Zum ersten Mal war da jemand, der mich verstand!

Ein Kribbeln stellte sich ein. Ich gestand ihm, dass ich ihn mochte. Er mochte mich auch… aber er schien sich nicht sicher zu sein, ob er sich darauf einlassen sollte. Irgendwann war es jedoch nicht mehr zu verhindern: Wir waren verliebt! Mehr als das. Es war, als hätte ich nie jemand anderes geliebt. Er war der Mann meiner Träume, der Sinn meines Lebens. So viele Dinge, die ich vorher nie erkannt und nie erfahren hatte, waren selbstverständlich für ihn. Er interessierte sich für mich, er interessierte sich für meine Familie, meine Freunde, meine Vergangenheit. Er liebte mich nicht wegen meines Äußeren, sondern wegen meiner kleinen Fehler. Liebe bedeutete für ihn Vertrauen, Treue, Hingabe. Das alles hatte ich bei meinen früheren Erfahrungen mit Männern nicht erlebt. Und nie vorher hatte ich mich so geborgen gefühlt wie bei Marcel. Ich liebte ihn, und ich nannte ihn Krümel. Alles war perfekt!

Bis es knallte.

Ein Streit zerriss alles in kleine Fetzen. Ich stürzte mich aus Frust in eine große Party aus Alkohol und Drogen. Betäubungsmittel für meine geschundene Seele. Sedativa für mein zerrissenes Herz. Männer für Gesellschaft und gefühllosen Sex. Keine Nähe, kein Vertrauen, keine Geborgenheit.

Schon sehr bald stellte sich heraus: Marcel hatte jemand neues kennen gelernt. Felix. Keine 24 Stunden nach unserem Streit. Und wen hatte ich? Einen bedeutungslosen Aufriss aus der riesigen Frustparty, der sich als ganz nett herausstellte und mit dem ich mich ab und zu traf. Wie konnte Marcel so schnell die Gefühle für mich verlieren? Oder waren da nie welche gewesen? Eine neue helle Kerbe auf meinem Herzen…

Ich versuchte, Marcel zurück zu gewinnen. Aber ich scheiterte. Marcel schien sich entschieden zu haben, für Felix, den er kaum kannte, der in wenigen Monaten nach London gehen würde, um dort zu leben – und Marcel würde ihn womöglich noch begleiten. Also blieb ich bei Sebastian, meinem Aufriss, der sich in mich verliebt hatte. Besser der, als allein sein und an Marcel denken müssen.

Kurz darauf meldete Marcel sich wieder. Felix wollte ihn nicht mehr. In seinem Leben war momentan kein Platz für eine Beziehung, blablabla. War ich jetzt wieder aktuell?

Marcel tat alles furchtbar Leid. Sollte das eine Entschuldigung sein? Egal. Marcel wollte mich zurück! Natürlich war ich sofort drauf und dran, Sebastian in den Wind zu schießen und mich wieder auf Marcel zu stürzen. Doch der bremste mich.

Er wollte mich, aber nicht um jeden Preis. Und schon gar nicht, wenn jemand darunter zu leiden hätte. Er vermutete, es würde Sebastian das Herz brechen, und das wollte er nicht.

Marcel gehen lassen – mit Sebastian glücklich werden? Sebastian abschießen – Marcel verlieren? Verdammt!

Dann verliebte ich mich in Sebastian…

Sebastian oder Marcel? Marcel oder Sebastian? Sebastian oder Marcel? Sebastian! Marcel!

Die Entscheidung konnte mir keiner nehmen. Wir begannen sinnlose, absurde Diskussionen. Alternative Beziehungsformen. Beziehung zu dritt, warum nicht? Dazu müsste es bloß bei Sebastian und Marcel funken und die Sache wäre perfekt!

Doch der Funke sprang nicht über.

Tage krochen dahin… Ich schlief schlecht. Weinte umso mehr. Ich wurde zu einem depressiven Haufen Elend. Und wer war dieser furchtbar aussehende Typ, der mich da jeden Morgen im Bad aus dem Spiegel anblinzelte?

Je mehr Zeit verging, desto mehr litt ich. Auch Marcel litt, und seine Freunde machten sich Sorgen um ihn. Ich war für sie ein Arschloch… Aber die hatten keine Ahnung! Und Sebastian? Litt. Längst hatte er alles mitbekommen.

Was gab Sebastian mir? Das Gefühl, geliebt zu werden. Nähe. Und trotzdem hinterließen seine Berührungen ein Brennen auf meiner Haut, und seine Küsse hatten einen bitteren Nachgeschmack…

Und Marcel? An den kam auch Sebastian nicht heran. Für Marcel hätte ich meinen Vater verleugnet. Meine Freunde verraten. Meine rechte Hand gegeben. Doch er begann, mich weg zu schieben. Langsam nur, Stück für Stück, aber immer weiter weg von sich, schmiss nach und nach seine Gefühle für mich über Bord. Unnötiger Ballast, zu viel Gewicht, um sich über Wasser halten zu können. Dafür Dates, andere Männer. Eine starke Strömung, von der er sich gern mitreißen ließ. Ich blieb in meinem Hafen zurück. Am Grund verankert und am Kai festgetäut.

Trotzdem: Marcel versicherte mir seine Gefühle für mich. Und ich spielte mehr und mehr mit dem Gedanken, mich für ihn und gegen Sebastian zu entscheiden. Aber Sebastian hatte natürlich ein Wörtchen mitzureden…

„Ich wünschte, du würdest mich nur einmal so ansehen wie ihn.“

„Was willst du eigentlich? Wen willst du? Warum kannst du dich nicht entscheiden?“

„Weißt du, wie weh du mir tust, wenn ich mit ansehen muss, wie du wegen ihm weinst, wie du vor Liebeskummer zerfließt?“

„Du liebst mich doch gar nicht!“

Aus. Vorbei. Auf Eis gelegt. Sebastian wollte eine Entscheidung, und ich sollte sie treffen. Solange wollte er nichts mehr mit mir zutun haben. War diese Pause, wie Sebastian es nannte, eine Chance für Marcel und mich, noch mal ganz neu zu starten? Wir wollten es versuchen. Doch dazu kam es nicht.

Stundenlang hatte ich mit mir gerungen. Hatte die Nacht wach gelegen und nachgedacht. Meine Entscheidung gefällt.

„Versteh mich nicht falsch. Ich liebe dich... Du wirst sauer sein. Vielleicht verletzt, enttäuscht. Aber ich komme nicht zur Ruhe... Ich liebe Sebastian, ich vermisse Sebastian, ich möchte mit ihm zusammen sein, seine Berührungen und Küsse fehlen mir... Euch beide kann ich nicht haben, und ich muss eine Entscheidung treffen. Deine Freunde werden mir danken, wenn ich dich in Ruhe lasse... und du mir auch...

Dennoch: Ich bin nicht aus der Welt. Nur möchte ich erstmal Abstand. Ich will das mit Sebastian festigen... Sei mir nicht böse.

Du bleibst einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Mensch in meinem Leben. Danke für alles, Krümel. Ich liebe dich.“

Wann hatte ich das letzte Mal so geheult? Meine Freunde waren für mich da, versuchten, mich abzulenken. Sogar das Wetter fuhr harte Geschütze auf, um mich aufzuheitern: Nach wochenlangem Regenwetter folgte ein superheißes Sonnenwochenende. Meine Freunde schleppten mich ans Wasser, machten den Sonntag zu einem Erlebnis für mich. Doch am Abend holte mich alles ein.

Die blaue Hölle machte sich auf meinem Monitor breit. 18 für mich interessante Namen wurden mir als online angezeigt. Und mittendrin Marcel. Sein Profil öffnen konnte ich nicht. Hatte er mich – wie ich ihn – geblockt? Ein Blick in die Liste derer, die mich gespeichert haben, verriet mir noch einiges mehr: Der Smiley, mit dem er mich markiert hatte, hatte mal wieder die Farbe gewechselt. Anfangs hatte er mich fröhlich gelb angestrahlt, hatte dann Herzaugen bekommen, war einem traurig blauen gewichen, der ersetzt wurde von einem knuddeligen Gesicht in quietschrosa, welches mich als „süß“ kennzeichnete. Doch das, was ich jetzt vorfand, war anders. Knallrot funkelte es mich an: „Ich mag dich nicht!“

Tränen schossen mir in die Augen. Die Narben auf meinem Herz rissen auf, begannen, fürchterlich zu schmerzen. Und wo hatte sich der Mistkerl versteckt, der mir in den Magen getreten hat?!

Mein Magen beruhigt sich langsam wieder. Doch die Schmerzen in der Brust wollen nicht verschwinden, und die Tränen kommen auch wie von selbst. Ich wische mir den Mund mit Klopapier ab, schnäuze mich, trockne meine Augen notdürftig. Meine Beine sind weich, das Laufen fällt mir schwer. Verheult schleppe ich mich Richtung Küche. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer klappe ich den Laptop zu. Offline.

Mit zittrigen Fingern ziehe ich ein Glas vom Regal, gieße kalten Orangensaft aus dem Kühlschrank ein, stürze das Getränk in einem Zug hinunter. Friert er meine Tränen ein? Leider nur bedingt…

Auf der Arbeitsplatte steht mein Frühstücksteller. Brötchen gab es, zum Aufbacken. Eins mit Wurst, eins mit Käse. Mit kaltem Wasser spüle ich die Krümel in den Abfluss.

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