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Hürdenlauf

13. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

Als ich wach werde, schläft Dennis immer noch. Draußen hat es sich so richtig schön eingeregnet, stetig prasseln dicke Tropfen auf die durstige Erde.

Vorsichtig klettere ich aus dem Bett, ziehe mir meine Hose an und setze in der Küche Kaffee auf. Mit einer Zigarette im Mund und einer schönen heißen Tasse Kaffee fühle ich mich gleich viel wacher. Halb neun am Morgen ist es erst. Wann war ich an einem Sonntag das letzte Mal so früh auf?

Ich will Dennis nicht wecken, aber ich muss nach Hause. Meine Frettchen vermissen mich sicher schon, und ich brauch dringend eine Dusche und frische Unterwäsche. Und meine Medikamente!

Ob ich Dennis einfach allein lassen kann? Gestern schien ihm meine Nähe gut getan zu haben. Bestimmt kann ihm Unterstützung während der PEP nicht schaden, doch ich kann ja auch nicht die nächsten vier Wochen bei ihm verbringen. Morgen muss ich wieder auf die Arbeit und er wird für die Uni zu tun haben. Sicher hat er einen besten Freund oder eine beste Freundin, die ihn unterstützen können.

„Du bist ja immer noch da...“ Verschlafen blinzelt Dennis mich an, er schaut sich um. „Hast du die Küche aufgeräumt?“

„Ich hab ein bisschen Ordnung gemacht, ja“, antworte ich. „Und guten Morgen erstmal. Willst du auch einen Kaffee?“

Er nickt, schmeißt sich auf den freien Stuhl am Küchentisch und greift nach meinen Zigaretten. Wie selbstverständlich steckt er sich eine an; ich lasse ihn, während ich ihm Kaffee eingieße. Er ist nicht mehr so blass wie gestern, wirkt aber immer noch sehr bedrückt und in Gedanken.

„Danke, dass du geblieben bist...“ Er schaufelt sich Zucker in seine Tasse, schaut beim Rühren auf seinen Löffel.

„Bist du mir böse?“, will ich wissen. Die ganze Nacht ist mir diese Frage im Kopf herumgespukt. Immerhin hab ich ihm bewusst verschwiegen, dass ich positiv bin...

„Ich weiß nicht“, kommt ehrlich zurück, er leckt seinen Löffel ab und betrachtet sein Spiegelbild in der nach innen gewölbten Seite. „Ich sollte dir böse sein, glaub ich... Eigentlich bin ich eher froh, dass ich nicht alleine bin. Ich kenn keinen, mit dem ich drüber reden könnte. Meine Freunde haben keine Ahnung. Und meine Familie... Mein Gott, meine Mutter würde völlig zusammenbrechen! Und wahrscheinlich kann ich von Glück sprechen, dass ich an dich geraten bin. Immerhin scheinst du viel Ahnung von dem ganzen HIV-PEP-HAART Kram zu haben...“

„Wenn du was wissen willst, quetsch mich ruhig aus... die Zeit nehm ich mir gerne.“

Er nickt, völlig in Gedanken versunken starrt er Löcher in die Luft, dreht den Löffel vor seiner Nase hin und her. Gern würde ich seine Hand nehmen oder ihn umarmen, ihm zeigen, dass ich da bin, wenn er mich braucht. Aber alles an ihm strahlt gerade nach außen aus, dass er seine Ruhe will. Zeit für sich, für intime Minuten, vielleicht mit Tränen, Wutausbrüchen oder einfach nur Stille.

„Du hast meine Nummer... Ruf an, wenn was ist, ja?“, werfe ich in den Raum. Dennis schenkt mir einen kurzen Blick, seine Augen leuchten auf: Er bemerkt mich. Doch dann verblassen sie auch schon wieder und er kehrt in seine abgeschlossene Welt zurück.

Als ich aufstehe und ihm meine Hand auf die Schulter lege, zuckt er so arg zusammen, dass ihm der Löffel aus der Hand fällt.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken...“

Wieder nickt er bloß.

„Ist es in Ordnung, wenn ich jetzt gehe? Ich brauch auch meine Medikamente und was Frisches zum Anziehen, meine Frettchen müssen gefüttert werden, ich-“

„Du hast Frettchen?“, fällt er mir ins Wort. „Cool!“

„Ja, zwei Stück“, gebe ich zurück. „Mäxchen und Moritz.“

„Wie kreativ...“ Er verdreht die Augen, dann grinst er.

„Blödmann.“ Ich strecke ihm die Zunge heraus und knuffe ihm gegen die Schulter. Plötzlich ist die Stimmung viel gelöster. „Mein erster Freund Daniel hat den Braunen ‚Mäxchen’ getauft. Und da lag es nahe, seinen Bruder ‚Moritz’ zu taufen. Die stellen auch mindestens so viel Unsinn an, glaub mir.“

„Ich hab noch nie ein Frettchen gesehen... Bloß mal im Fernsehen oder so, aber noch nie so richtig echt. Kann man die anfassen?“

„Klar. Du kannst mal vorbeikommen und sie dir ansehen, wenn du willst. Natürlich auch anfassen.“

Dennis erwidert mein Grinsen, nickt wieder. Diesmal offen, freundlich. Ich glaube, für den Moment geht es ihm ein kleines Bisschen besser.

Er bringt mich zur Tür, umarmt mich zum Abschied. Sanft streiche ich ihm durch die weichen Haare, küsse ihn auf den Mund.

„Ich bin für dich da“, flüstere ich ihm ins Ohr, Dennis kuschelt sein Gesicht an meine Schulter, behutsam streichle ich seinen Rücken.

„Danke“, höre ich ihn dumpf und leise seufzen, ich lasse ihn los und küsse ihn auf die Stirn.

„Bis bald“, verabschiede ich mich winkend. „Du weißt ja... nur anrufen, und ich bin hier.“

Lustlos schäle ich mich aus meinen nassen Klamotten. Sogar meine Socken sind durchgeweicht. Ich stopfe Zeitungspapier in meine Sneakers, werfe meine Sachen in die Badewanne und drehe die Dusche auf.

Besser fühle ich mich danach nicht wirklich. Sauberer ja, trotzdem nehme ich die Welt um mich rum gar nicht richtig wahr. Alles wirkt so unreal... Und ich kriege Dennis nicht aus dem Kopf. Wie es ihm jetzt wohl geht? Ob ich ihn einfach anrufen soll...?

Für einen Nachdenk-Spaziergang mit den Frettchen ist es leider viel zu nass draußen... das würde mir jetzt gut tun. Stattdessen sitze ich am offenen Küchenfenster, blase blauen Dunst in die verregnete Stadt und weiß nicht, ob ich zufrieden mit mir sein oder verzweifeln soll.

Plötzlich vibriert es hölzern hinter mir. Leise summend bewegt mein Handy sich über die Arbeitsfläche und blinkt dabei im Takt.

‚Dennis!’, zuckt es mir durch den Kopf; schnell schnippe ich die brennende Zigarette aus dem Fenster, greife mir das Telefon.

„Hey Süßer!“, rufe ich, spüre mein Herz im Hals schlagen, in meinem Bauch kribbelt es flau. „Was gibt’s?“

„Na, du freust dich aber“, brummt eine Stimme zurück. Nach Dennis klingt das aber gar nicht...

„Ehm... wer ist da?“, frage ich zaghaft. Vor wem hab ich mich jetzt zum Affen gemacht?

„Oliver“, antwortet die Stimme, ich verdrehe die Augen. Das hätte ich wissen müssen, dass der genau jetzt anruft...

„Was willst du?“ Ich bin vielleicht ein bisschen schroff, aber er hätte sich wirklich früher melden können!

„Mich melden... immerhin hast du mich drum gebeten.“

„Weißt du, vergiss es einfach, okay? Du hast einen Freund, ich hab keinen mehr, ich hab mit dir abgeschlossen und außerdem schon genug Probleme am Hals. Hast du noch was auf dem Herzen? Ich muss die Leitung für jemand anders frei halten.“

„Jetzt sei doch nicht so angepisst“, kommt es zickig zurück. Der hat Nerven! „Das mit Marci und mir, das ist ganz plötzlich passiert. Sorry, wenn dich das so verletzt, aber-“

„Es verletzt mich nicht!“ Am anderen Ende der Leitung schweigt es. Ich hole tief Luft. „Alle Scheiße kommt halt immer auf einmal! Tu mir den Gefallen und lass mich in Ruhe, ja? Schönes Leben noch!“ Wütend drücke ich ihn weg und pfeffere das Handy weg. Es schlittert ein ganzes Stück über die Küchenzeile und das Kochfeld, bis es gegen die gekachelte Wand knallt und zu liegen kommt. Verdammte scheiß Technik!

Abends liege ich im Bett, die Medikamente im Bauch und den Kopf voller schwerer Gedanken. Dennis will mir nicht aus dem Kopf gehen. Ob er mich gerade braucht? Oder ob er schon schläft? Ich höre den Regen gegen mein Schlafzimmerfenster prasseln. Hoffentlich hört das bis zum CSD auf... ich will nicht, dass das Ereignis sprichwörtlich ins Wasser fällt. Ich baue auf diese Veranstaltung! Das ist meine Therapie: Kleine Sorgen, kleine Party, große Sorgen, große Party. Und der CSD ist gerade groß genug, um die ganze Scheiße der letzten Tage, Wochen, aufzuwiegen und zu lindern. Das darf mir nicht verregnen! Wo ende ich denn dann? Wieder auf einem Balkongeländer? Ich muss aufhören, wegzulaufen... Ich kann Dennis nicht allein lassen. Ich kann Mäxchen und Moritz nicht allein lassen. Ich kann André nicht allein lassen.

Wo stehe ich überhaupt im Leben? Ich habe einen Job, der mich ernährt, ich habe Freunde, ich lebe. Es hätte mich wirklich schlimmer treffen können.

Aber warum bin ich nicht glücklich?

Absturz

„Loki? Du musst kommen... bitte.“ Mit einer Hand falte ich meine Zeitung zusammen, stelle meine Kaffeetasse darauf.

„Was ist denn los? Ich kann nicht einfach weg, ich muss gleich wieder arbeiten.“ Ich trinke einen Schluck, verbrenne mir die Zunge. So ein Scheiß!

„Bitte, du musst herkommen, ich kann nicht mehr...“, heult es aus meinem Handy. Mir blutet das Herz.

„Süßer... meine Mittagspause geht noch 20 Minuten, ich kann nicht so einfach weg... Wie erklär ich das meinem Chef?“

„Ich hab Bauchschmerzen, mir ist kotzübel, ich kann das alles nicht mehr, bitte komm doch her!“ Wenn er so weitermacht, breche ich auch in Tränen aus. Mitten im Starbucks. Ich kann ihn so verstehen... ich kann das alles so nachfühlen! „Du hast gesagt, ein Anruf, und du bist da. Bitte, Loki... Jonathan!“

Langsam tauche ich meinen Cookie in meine Tasse, warte einen Moment, dann ziehe ich ihn heraus und beiße die mit Kaffee voll gesogene Hälfte ab.

„Pass auf“, nuschle ich kauend. „Ich trink meinen Kaffee aus, dann rede ich mit meinem Chef und in spätestens einer halben Stunde bin ich bei dir, wenn der Verkehr das zulässt, okay? Hältst du das so lange aus?“

„Danke“, schnieft Dennis. „Du bist so lieb...“

„Hey, schon okay. Beruhig dich, mach dir eine Wärmflasche und leg dich einen Moment hin. Ich bin ganz schnell bei dir, versprochen.“

Mein Chef ist nicht gerade begeistert. Doch er schluckt die Story von meiner kranken Mutter.

„Das zieh ich von Ihren Überstunden ab...“, brummelt er. „Ich wünsche Ihrer Mutter eine baldige Genesung. Und streichen Sie sich die Krümel von der Krawatte.“

Nervös Bedankungsfloskeln vor mich hin murmelnd klopfe ich Cookiekrümel von meiner Krawatte, suche mein Jackett nach weiteren Resten meines Mittagessens ab.

Im Auto richte ich meine Haare, als ich an einer roten Ampel halten muss, verfluche den Berliner Stadtverkehr und den Parkplatzmangel, das schlechte Wetter und meine dumme Vergesslichkeit; mein Jackett dient als Regenschirmersatz. Dann stehe ich endlich vor Dennis’ Haustür und schelle Sturm.

Blass ist er, seine Lippen und Augen sind gerötet. Ich glaube, er hat sich übergeben. Heulend stürzt er in meine Arme und trocknet seine Tränen an meinem blütenweißen Oberhemd. Na ja, was soll’s. Wenn es ihm hilft...

„Hast du was gegessen?“, frage ich, schiebe ihn langsam in die Wohnung und schließe die Tür. Ich muss ihn richtig stützen, seine Beine scheinen ihn kaum zu tragen. Er antwortet mir nicht, schluchzt bloß heftig und zittert am ganzen Körper.

Ich bringe ihn ins Wohnzimmer, hole ihm ein Glas Wasser aus der Küche. Überall in der Wohnung liegen Sachen verstreut. Er muss ziemlich gewütet haben...

„Ich... kann... nichts... essen...“ Das Sprechen fällt ihm schwer. Ich halte seine Hand.

„Aber Süßer... Du musst doch was essen. Die Medikamente verträgst du besser, wenn du was gegessen hast. Soll ich dir ein Brot machen, oder wollen wir uns was bestellen?“

Er schüttelt den Kopf, Tränen tropfen auf seine Knie. Wenn er doch bloß aufhören würde zu weinen! Das macht mich total fertig.

„Na gut, kein Brot... Tut dir der Bauch noch weh?“

Jetzt nickt er, wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Ich nehme ihn in den Arm, streichle seinen Kopf.

„Komm, ich hab eine Idee.“ Ich helfe ihm, aufzustehen, bringe ihn ins Schlafzimmer. Dort lege ich ihn aufs Bett, ziehe mein Jackett und die Schuhe aus, lege die Krawatte ab und ziehe den Gürtel aus den Schlaufen meiner Hose. Schnell öffne ich den oberen Knopf meines Hemds, dann lege ich mich zu Dennis, nehme ihn von hinten in den Arm, schiebe meine Hand unter sein T-Shirt und bringe sie auf seinem Bauch zu liegen. Dennis seufzt, drückt sich nah an mich heran. Ich küsse seinen Hinterkopf, seine Haare riechen nach Zigarettenrauch.

„Schön, dass du da bist...“, höre ich Dennis flüstern. Er zittert immer noch, umklammert meine Hand mit seinen Händen. Er schnieft ganz schön, scheint aber mit dem Weinen aufgehört zu haben. Ganz vorsichtig fange ich an, seinen Bauch zu streicheln, reibe meine Nase behutsam in seinem Nacken, bis er langsam meine Hand loslässt und sich zu entspannen beginnt. Das Zittern lässt nach, sein Atem wird ruhiger und er schluchzt weniger.

Eine Ewigkeit halte ich ihn so. Ich traue mich nicht, zu sehen, ob er eingeschlafen ist. Ich fühle mich wohl mit ihm so nah an meinem Körper und möchte ihn ungern aufwecken.

„Jona?“ Nein, er schläft nicht. Seine Stimme klingt fest und ruhig.

„Hmm?“, brummle ich in seine Haare.

„Ich wünschte, du könntest bei mir bleiben...“

„Wie meinst du das?“ Ich setze mich auf, streiche ihm über den Kopf. Er hat Augenringe.

„Es wär schön, wenn du immer hier wärst... Wenn du da bist, fühlt sich alles viel leichter an...“ Dennis schmiegt sein Gesicht ins Kissen.

„Ich muss arbeiten, Süßer... Ich hab auch ein Leben zu leben. Meine Tiere, meine Freunde...“ Was ist eigentlich los mit mir? Er sollte verstehen, dass meine Welt sich nicht nur um ihn dreht und das sollte ich ihm so sagen! Aber ich kann nicht. Stattdessen tut es mir Leid, dass ich nicht mehr Zeit für ihn habe. „Du wirst doch einen besten Freund haben? Oder eine beste Freundin?“

„Ich hab einen besten Freund, ja...“ Dennis wälzt sich auf den Rücken, schaut beim Reden an mir vorbei an die Decke. „Mario... Aber ich will dem nicht sagen, was los ist... Was mach ich denn, wenn er mich mit Aids nicht mehr mag?“

„Dennis, du hast kein Aids!“ Hat er nichts gelernt? „Wenn überhaupt bist du HIV positiv. Und deswegen machst du doch die PEP.“

„...die vielleicht nichts bringt außer Kotzen, Bauchschmerzen und mies fühlen...“

Ich weiß nicht, wie ich mit seinen Stimmungsschwankungen umgehen soll. Ob ich ihn zu einem Psychotherapeuten bringe?

„Die vier Wochen überstehst du. Und die Nebenwirkungen werden schwächer, vertrau mir. Es gibt tolle Hausmittelchen gegen Durchfall, wenn du wieder Bauchschmerzen hast, mach dir eine Wärmflasche und leg dich hin. Und du musst essen, Süßer... Du magerst doch total ab und schwächst dich nur noch mehr...“

Dennis verschränkt die Arme hinter dem Kopf, schließt die Augen.

„Ich bin alleine...“, sagt er leise, presst seine Lippen aufeinander, bis sie ganz weiß sind und zu zittern beginnen.

„Ich bin alleine!“, schreit er plötzlich, setzt sich ruckartig auf und donnert ein Kopfkissen gegen den Kleiderschrank. „Ich bin ganz alleine!“ Er hat schon wieder feuchte Augen. Er springt auf, tritt gegen den Kleiderschrank, kickt einen Schuh zur Seite und trommelt dann mit beiden Fäusten gegen die Schranktür. Jetzt weiß ich auch, wie er seine Wohnung in so ein Chaos gestürzt hat.

„Es ist doch sinnlos...“, heult er, sackt auf die Knie. Ich kann das nicht mit ansehen, senke den Kopf. „Es ist alles so sinnlos... Ich hab doch keinen...“

„Dennis...“ Ich hocke mich zu ihm, streichle seinen Rücken. „Du bist nicht allein. Du kannst jeder Zeit in die Praxis fahren und deine Fragen stellen. Und ich bin doch auch da... Wenn du möchtest, komm ich abends nach der Arbeit zu dir. Ich verlier meinen Job, wenn ich jetzt jeden Tag in der Mittagspause abhaue. Meine Mutter kann nicht jeden Tag krank werden... Und für die Zwischenzeit redest du mal mit deinem Mario. Du sagst ihm einfach, was passiert ist, dass du jetzt Medikamente nehmen musst, damit das Virus sich nicht ausbreitet, falls du es wirklich in dir hast. Ich weiß, du hast Angst... Aber du schaffst das. Ich lass dich nicht hängen...“

„Dan...ke...“, schluchzt er. Er hat die Stirn gegen den Schrank gelegt und stützt sich mit den Händen auf dem Boden auf.

„Hey, kein Problem.“ Ich streiche ihm durch die zerzausten Haare. „Du beruhigst dich jetzt ein bisschen, gehst unter die Dusche und dann lad ich dich zum Essen ein. Hast du noch Schmerzen?“

Dennis schüttelt den Kopf. „Geht... schon...“

„Siehst du. Ich mach ein wenig Ordnung, während du im Bad bist und leg dir was zum Anziehen raus. Und wenn wir vom Essen wiederkommen, rufen wir zusammen den Mario an.“

Dennis schaut mich an, wischt sich mit dem Arm die Tränen aus dem Gesicht und drückt mir einen Kuss auf den Mund.

Beim Italiener genießen wir frische Pasta, teilen uns einen gemischten Salat. Dennis isst, als hätte er drei Wochen lang nichts auf den Teller bekommen. Wenigstens etwas. Als er satt ist, sieht er schon wieder viel gesünder im Gesicht aus und geweint hat er auch nicht mehr. Immer wieder tastet er nach meiner Hand, sucht Blickkontakt, auch nach dem Essen im Auto und zurück in seiner Wohnung auf der Couch. Es fühlt sich gut an, wie er seinen Kopf an meiner Schulter anlehnt und ich halte ihn gern im Arm. Er gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden. Und ich brauche ihn auch.

Dennis traut sich nicht, Mario anzurufen. Unsicher schiebt er das Telefon auf dem Tisch hin und her, nimmt es in die Hand, legt es wieder weg.

„Was soll ich ihm sagen?“, fragt er und sieht mich mit großen, verzweifelten Augen an.

„Dass du ein beschissenes Wochenende hattest und seine Gesellschaft gebrauchen könntest“, gebe ich zurück, schiebe ihm meine Hand aufs Knie. „Ihr seid doch Freunde, oder? Der wird dich schon nicht beißen.“

„Kannst du nicht mit ihm reden?“ Er setzt den unwiderstehlichsten Hundeblick auf, den er in seinem Repertoire zu haben scheint. Wie alt war er doch gleich? Und dann so unselbstständig... Ich seufze.

„Na gut.“ Ich könnte mich ohrfeigen. Ich weiß, dass ich nur nachgebe, weil ich das Gefühl habe, ihm etwas schuldig zu sein, etwas gut machen zu müssen. Und diese Schwäche hasse ich gerade an mir.

Dennis wählt Marios Nummer, ich nehme den Hörer ans Ohr.

„Hey Dennis“, meldet sich ziemlich rasch eine männliche Stimme.

„Hier ist nicht Dennis“, erwidere ich. „Ich heiße Jonathan, ich bin grad bei Dennis zu Hause. Du bist Mario?“

„Ehm... ja?“ Es rauscht im Hintergrund. Mario scheint unterwegs zu sein.

„Hör zu, Dennis geht es nicht so gut und er würde sich freuen, wenn du vorbeikämst, um ihm Gesellschaft zu leisten.“

„Wieso? Was ist denn mit Dennis?“ Er klingt besorgt. Dennis und er scheinen wirklich besser miteinander befreundet zu sein. Sehr gut.

„Das kann er dir dann alles selbst erklären. Sein Wochenende war nicht das Beste. Er braucht jetzt Unterstützung.“

„Unterstützung?“ Jetzt höre ich etwas wie Wut heraus. Mario hebt die Stimme. „Hör zu, wer bist du? Hast du irgendwas damit zutun? Was ist los mit Dennis?“

Für einen Moment schließe ich die Augen, atme ruhig, damit ich nicht ausflippe. Ich will mich nicht mit diesem Mario anlegen.

„Sei einfach morgen früh bei Dennis, wenn du kannst. Und schön wäre, wenn du bis abends bleiben könntest. Mehr will ich gar nicht von dir.“

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Ich höre, wie die Stimme in der U-Bahn eine Haltestelle ansagt. Prinzenstraße.

„Gib mir Dennis“, kommt es dann von Mario, ich sehe Dennis an.

„Er will dich sprechen“, sage ich leise an ihn gewandt, Dennis lässt die Schultern und den Kopf hängen. „Bitte, rede du mit ihm... Ich glaube, er hält mich für einen Spinner oder so was.“

„Na gut...“ Er zieht die Füße auf die Couch, winkelt die Beine nah an seinen Körper. Er fährt sich immer wieder mit der linken Hand durch die Haare, mit der rechten nimmt er mir den Hörer ab.

„Mario... Ja, ich bin’s... Jona hat mir gar nichts getan, nein... Es ist bloß... ich muss diese Tabletten nehmen, und- nein, Mario, nein, ich bin- ich heul doch gar nicht... Nein, das ist bloß... Kannst du nicht herkommen? Ich will nicht alleine sein damit... Das sag ich dir, wenn du hier bist, ich will das nicht am Telefon... Achso... Morgen? ... hm... erst um 15 Uhr? Na ja, besser als gar nicht... Mach dir keine Sorgen... Tschüs.“

Ich frage mich, wo sein Körper die Flüssigkeit für all diese Tränen hernimmt. Der arme Kerl muss doch schon ganz ausgetrocknet sein. Hoffentlich beruhigt er sich bald. Wenn er in ein paar Tagen noch nicht zur Vernunft gekommen ist, muss ich ihm wohl mal kräftig in den knackigen Hintern treten. Es hätte ihn nun wirklich schlimmer treffen können. Immerhin ist die PEP eine Chance für ihn.

„Mario kommt morgen um drei...“ Dennis schnäuzt sich. „Bis dahin bin ich hier alleine... Wenn es aufhört zu regnen, geh ich vielleicht spazieren oder so...“

Behutsam nehme ich ihn in den Arm, halte ihn. Ich weiß genau, wie es in seinem Kopf aussieht...


Vorsichtig setzte ich das kleine Kätzchen auf mein Bett, wickelte es aus dem Pullover und streichelte ihm über den Kopf.

„Ich nenn dich Minka“, sagte ich, legte mich neben das Tier. Ängstlich schaute es sich um, spazierte ein paar Schritte über meine Matratze und schnüffelte dann an meiner Nase. „Ab jetzt wohnst du hier. Dir ist es egal, ob ich krank bin...“ Mir wurde es wieder flau im Magen und Tränen stiegen mir in die Augen.

Positiv, hatte er gesagt. Positiv! Was sollte daran positiv sein?! Konnte man sich dafür nicht eine andere Bezeichnung ausdenken als „positiv“? Es war so unfair! Ich hatte doch noch gar nichts erreicht in meinem Leben! Gerade war ich 21 geworden, steckte mitten in der Ausbildung. Ich hatte über 400 Kerle im Bett gehabt, aber nicht mal eine beschissene Beziehung hatte ich zu Stande gebracht! Ich fühlte mich wie ein Versager... Und jetzt war es vorbei. Positiv, verbraucht, alleine. Wie lange würde das wohl dauern, bis ich sterben musste? Ich brauchte unbedingt einen Partner... einen Freund, damit ich nicht allein sterben musste... Aber wer würde mich nehmen, mit HIV? So bescheuert war doch keiner...

Während ich meine Angst ins Kopfkissen heulte und Millionen wirre Gedanken durch meinen Schädel ratterten, kletterte die kleine Minka auf meinen Rücken und leckte mit ihrer rauen Zunge meinen Nacken.

Abends klopfte meine Mutter an meiner Tür, rief mich zum Abendessen. Aber ich hatte keinen Hunger. Damit mich keiner nervte, schloss ich mich mit Minka in meinem Zimmer ein. Ich stellte ihr ein Schüsselchen Evian und einen Teller Wurst hin, aus einer kleinen Plastikwanne und ein paar Schaufeln Ton-Granulat aus dem Blumenkübel richtete ich ihr ein Katzenklo her.

„Morgen kaufen wir dir ein richtiges Katzenklo.“ Ich hob Minka in die Plastikwanne und beobachtete, wie sie mit ihren kleinen Pfötchen eine Kuhle ins Granulat grub, um sich dann darüber zu setzen und eine Pfütze zu machen. Dann verscharrte sie ihr Geschäft mit den Hinterpfoten. „Und Näpfe und richtiges Futter kriegst du auch.“

Die ganze Nacht bekam ich kein Auge zu. Minka schlief neben mir auf einem Kissen. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, fand einfach keine Ruhe. Ich war wütend, auf ihn, weil er nichts gesagt hatte. Er hätte was sagen müssen! Auf mich, weil ich nichts gesagt hatte. Mein Kopf hatte gegen meinen Schwanz nicht viel zu sagen gehabt... Immer wieder kam die Angst hoch, Panik, Hilflosigkeit.

„Ich kann das nicht...“, heulte ich und fühlte mich vom vielen Weinen schon ganz ausgelaugt. „Ich will das nicht! Ich will das nicht...“

Würde das jetzt jeden Tag so weitergehen? Ich konnte mich doch nicht jede Nacht in den Schlaf heulen... Vielleicht würde es helfen, zu versuchen, es zu verdrängen... wenigstens so lange, bis ich genug Mut aufgebracht hatte, mit André zu reden und ihm alles zu sagen. Der würde früher oder später sowieso nach dem Ergebnis fragen... Immerhin hatte er mich zum Test geschickt... Aber würde er mich dann noch mögen? Würde mich überhaupt noch jemand mögen? Ich wollte einfach nur so weitermachen wie bisher...

Ich drehte mich auf die Seite, griff meinen Wecker und stellte ihn auf 7 Uhr. Ich durfte nicht zu spät zur Arbeit kommen...


Ein drittes Mal drücke ich auf die Klingel. Ist Dennis etwa noch weggegangen oder hängt er gerade auf dem Klo? Er hätte ruhig Bescheid sagen können, dann hätte ich mich gar nicht erst auf den Weg gemacht!

Plötzlich summt es und ich kann die Tür aufdrücken. Na endlich!

An der Wohnungstür empfängt mich ein mittelgroßer junger Mann mit blondierten Haaren und tiefdunklen Augen. Er hat ein bisschen mehr auf den Rippen und sein schwarzes T-Shirt spannt etwas. Zwei abgeschnittene Hosenbeine geben den Blick auf zwei unrasierte Beine in schwarzen Chucks frei. Er lächelt nicht, als er mich sieht.

„Jonathan?“, fragt er.

„Mario?“, frage ich.

„Ja“, nickt er. „Du kannst gleich wieder gehen. Dennis braucht dich nicht, du Opfer!“

Ich lege die Stirn kraus, mustere Mario skeptisch.

„Opfer?“, wiederhole ich.

„Opfer! Was du glaubst, ist mir egal, aber gib die Scheiße nicht an Dennis weiter!“

„Lass mich zu ihm, wo ist er?“ Ich schiebe mich an Mario vorbei in die Wohnung, Mario hält mich am Arm fest.

„Dennis braucht dich nicht!“

Ich höre Schluchzen aus dem Bad.

„Lass mich los“, blitze ich Mario an und pflücke seine Hand von meinem Arm. „Dennis? Alles okay?“ Die Badezimmertür ist nur angelehnt. „Dennis, was zur Hölle...?“ Fassungslos starre ich Dennis an.

„Verpiss dich!“, weint er. „Verpiss dich und komm nie wieder, du verdammter Lügner!“

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