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Hürdenlauf

11. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

„Danke“, hauche ich, streiche über seine Wange und lächle ihn an.

„Danke?“ André legt die Stirn kraus. „Wofür?“

„Du bist da, immer. Egal, wie tief ich in der Scheiße stecke.“

„Dafür musst du dich doch nicht bedanken.“ Er blinzelt. Offenbar blendet ihn die Abendsonne. Ich setze mir meine Sonnenbrille wieder auf, klettere von meinem besten Freund herunter und lasse mich auf die Decke fallen.

„Ich war schwimmen heute“, beginne ich zu erzählen, ohne André anzusehen.

„Hey, ist doch schön. Warst du allein?“

„Erst ja. Dann hab ich ein paar Leute getroffen...“

Ruhig berichte ich von meinem Erlebnis mit Nils, seinen tausend Fragen und seiner aufdringlichen Neugier. Als ich fertig bin, setze ich mich auf, spiele am Klettverschluss meiner Sneakers herum. André schweigt. Was hat er bloß? Das war doch nicht das erste Mal, dass ich ihn einfach so geküsst habe. Wenn ihn das jetzt beschäftigt, muss er wohl gleich noch eine Kitzelattacke ertragen.

Ich suche meine Klamotten vom Boden auf, ziehe meine Hose, meine Socken und meine Schuhe wieder an. Das T-Shirt stecke ich mit einem Zipfel durch eine Gürtelschlaufe an meiner Jeans fest.

„Es macht dir Angst, wenn jemand so durch dich durchschaut wie es dieser Nils getan hat.“ André setzt sich auf.

„Es macht mir keine Angst, er hat mich einfach in eine Schublade gesteckt, und das kann ich nicht leiden.“

„Ich spreche auch oft Sachen an, die du nicht hören willst.“

„Du bist ja auch mein bester Freund und darfst dir aufs Fähnchen schreiben, mich zu kennen.“ Schlägt André sich gerade etwa auf Nils’ Seite? Das kann ja wohl nicht wahr sein. „Ich muss mir nicht von jedem was sagen lassen.“

„Jetzt sei nicht eingeschnappt.“ Plötzlich steht er hinter mir und umarmt mich, drückt seine Nase zwischen meine Schulterblätter. „Du brauchst jemanden, der dich durch und durch versteht. Wahrscheinlich ist es wirklich ein unglaubliches Privileg, dass ich derjenige sein darf, vor dem du dich bis auf die Seele ausziehst. Aber ich glaube, du brauchst etwas, das noch weiter geht. Einen Seelenpartner. Ich kann vielleicht lernen, was HIV ist, aber ich werde wohl nie wissen, wie es ist, es selbst in mir zu tragen. Und ich hoffe, du wirst irgendwann jemanden finden, der dir auf dem Gebiet eine bessere Hilfe sein kann als ich.“

Gleich heule ich, muss schlucken, spüre einen Kloß im Hals. Er bringt es auf den Punkt. Mal wieder. Plötzlich fühle ich mich beschissen alleine.

„Hast du mal überlegt, im Wartezimmer bei deinem Arzt jemandem anzusprechen?“

„André, beim Arzt hab ich andere Sachen im Kopf als zu flirten!“ Langsam macht er mich wütend. Was ist nur mit ihm los?

„Ich rede doch gar nicht von flirten.“ Er klingt richtig entschuldigend, streichelt meine nackten Schultern mit beiden Händen. „Es muss doch nicht immer alles um Sex gehen. So ein Kumpel, der auch HIV infiziert ist... das hast du dir doch immer gewünscht, und das ist es doch auch, was du brauchst.“

Ich halte die Luft an, bis der Drang, loszuflennen, abschwächt. Ich bin alleine auf dieser verdammten scheiß Welt! Genug hab ich unternommen, um einen Freund zu finden, der in der gleichen Situation ist wie ich. In einer Selbsthilfegruppe war ich, zweimal. Aber das war mir einfach zu viel Aidsthematik auf einmal. Das hat mich bedrückt, um nicht zu sagen bedroht, mich eingeschüchtert; ich konnte einfach nicht damit umgehen, die ganze Zeit vorgehalten zu bekommen, dass da was in meinem Körper drin ist. Ich hab im Internet gesucht, in Chatforen, schwulen Online-Communities. Und alles, was ich gefunden habe, ist die Pleite mit Dario. Es gibt keine schwulen Kerle in meinem Alter, die HIV positiv und vernünftig im Kopf sind. Entweder, sie haben sich längst verkrochen und zeigen sich nicht, oder sie tun so, als wär nie was gewesen und poppen weiter wie bisher. Nicht zu vergessen das weitere Extrem: Leute, die behaupten, dass es HIV und Aids gar nicht gibt. Das sei nur eine Erfindung der Pharmaindustrie, um mehr Geld verdienen zu können. Jemand bekommt gesagt, er sei positiv, kriegt dann Medikamente, die machen ihn krank, und das wird ihm als Aids verkauft. Wer sich den Hirnschiss ausgedacht hat, möchte ich auch gern mal wissen. Wahrscheinlich passiert so was, wenn man die Leute nicht richtig aufklärt. Ich hab in der Schule nicht wirklich viel über Aids und HIV gelernt, alles, was ich jetzt weiß, weiß ich von meinem Arzt, der Aidshilfe, aus Fachliteratur...

Andrés glorreiche Idee, im Wartezimmer jemanden anzusprechen, habe ich auch schon lange durch. Klar unterhält man sich, wenn man da so herumsitzt und wartet. Aber eine Freundschaft ist bisher noch nie daraus entstanden.

Das einsame Loch in meiner Brust wird immer größer. Ich kann doch nicht der einzige positive 23jährige in Berlin sein, der sich nach einem ebenfalls positiven Kumpel sehnt! Ob ich eine Anzeige in der Siegessäule aufgeben soll?

„Tut mir Leid, ich wollte dir nicht wehtun.“ Andrés Stimme ist erschreckend laut. „Wenn du willst, helfe ich dir, jemanden zu finden.“ Er will mir helfen, einen Freund zu finden? Wie peinlich ist das denn, dabei Hilfe zu brauchen? Ich bin doch kein schüchterner, verschlossener Mensch, ich gehe auf Leute zu, bin kontaktfreudig und habe viele Bekannte und Freunde. Hilfe beim Freundschaften aufbauen zu brauchen wäre mehr als Ruf schädigend.

„Danke, aber ich schaff das schon“, sage ich und klinge dabei fast zickig. Dabei ist es doch gar nicht so gemeint. „Bisher hat’s ja auch so geklappt.“

André begleitet mich noch bis nach Hause, küsst mich zum Abschied auf die Stirn. Ich mag seine Nähe, ich mag, wie er sich um mich kümmert. Wäre er mein Partner, würde er mir sicher mit seiner mütterlichen Fürsorge gewaltig auf den Sack gehen, aber als bester Freund ist er einfach perfekt.

„Wann musst du wieder zum Arzt?“, fragt er.

„Freitag um fünf. Willst du etwa mit?“

„Nein, ich wüsste nur gern, wie’s momentan um deine Werte steht.“ Er lächelt, knufft mir gegen den Arm. „Rufst du mich an, wenn du die Ergebnisse hast?“

„Ja, klar, mach ich.“ Schon ein paar Mal hab ich überlegt, ob ich meine regelmäßigen Blutwerte in Excel eintragen und einen Graphen daraus erstellen soll. Wie die Kurve wohl in ein paar Jahren aussehen würde? Für André wäre das sicher sehr aufschlussreich. Der sorgt sich ja auch am meisten um meinen Zustand, mehr noch als ich selbst. Ihm geht es um Zahlen, um Fakten, um Belege, ich hingegen gebe mich damit zufrieden, dass ich mich gut fühle. Ist das nicht die Hauptsache? Dass man sich gut fühlt? Mir ging es ohne Virus im Blut auch schon beschissener. Wenn ich da an meine Drogenkarriere zurückdenke... Ein Haufen Scheiße war ich, ein kaputter Junkie, der nur für seine Chemie gelebt hat. Zum Glück ist das vorbei. Obwohl... Chemie ist es doch jetzt auch, was mich am Leben erhält.

„Wir müssen mal wieder was machen, was dich aufmuntert“, bestimmt André und grinst mich an. „Der alte Loki hat mir viel besser gefallen als der depressive Haufen, den ich jetzt grad vor mir habe.“

Aufmuntern? Mich? Aber es geht mir doch gar nicht schlecht. Ich habe zwei Menschen verloren, die mir was bedeuten, ich bin alleine, fremde Menschen gehen mir auf den Sack und ich fühle mich seit Tagen krank, es ist doch alles in bester Ordnung! Ich beiße mir auf die Lippe. Reiß dich gefälligst zusammen, Jonathan, dein Selbstmitleid ist ja nicht mehr zu ertragen!

„Ja, mal sehen“, nicke ich schließlich. „Ist ja bald CSD, da lassen wir die Sau raus, hm?“

„Wie überzeugend“, lacht André, ich grinse. Ehrlich, ich freu mich auf den CSD. Wird mich sicherlich auf andere Gedanken bringen. Und da Dani nicht der Partytyp ist, werde ich ihm da auch nicht über den Weg laufen.

„Na gut, ich muss los... Schlaf gut, und ruh deinen Kopf aus.“ Er streichelt mir über den nackten Oberarm, seine Hand ist ganz warm. Oder ist meine Haut so kalt? Die Luft riecht nach Sommerabend und Staub. Ich winke André noch eine ganze Weile, schaue ihm nach, als er schon gar nicht mehr hersieht. So gern ich meine Freiheit habe, aber ich vermisse es, mit ihm zusammen zu wohnen.

Mäxchen und Moritz schlafen ineinander gerollt auf meinem Bett. Müde hebt sich Moritz’ weißes Köpfchen aus dem Fellknäuel, als ich mit frisch geputzten Zähnen und komplett nackt das Schlafzimmer betrete. Ich lasse mich auf die Matratze fallen, lege meinen Kopf neben meine beiden Tiere. So fühle ich mich wohl, das ist das, was mir das Gefühl gibt, ein Zuhause zu haben; und mit den beiden pelzigen Wesen an meiner Seite bin ich auch nicht mehr so allein.

Chemikalien

„Guten Abend!“ Mit einem halbherzigen Lächeln schiebe ich der Apothekerin im weißen Kittel mein Rezept und einen Geldschein hin. Die Woche hat mich geschlaucht, ich bin froh, dass endlich Wochenende ist.

„Hallo, Herr Möller“, lächelt sie, wirft einen kurzen Blick auf den Zettel. „Immer noch wie immer, scheint gut bei Ihnen zu wirken. Sie sehen wirklich gut aus.“

„Oh, Dankeschön.“ Sie lügt. Ich sehe aus wie nach drei Tagen Dauerparty, ich bin nicht mal ordentlich rasiert. Müde streiche ich meine Haare zurück, die blonde Frau verschwindet zwischen den Schränken, sucht in Schubladen und kommt schnell mit meinen Schachteln zurück, die sie nebeneinander vor mir aufbaut.

„Gummibärchen?“, fragt sie. Ich finde sie hübsch. Ihre blonden Locken hat sie zu einem Zopf gebunden, das Gesicht ist nur dezent geschminkt. Seit ich sie kenne, sehe ich sie immer fröhlich und freundlich.

„Nein, ich glaube, diesmal nicht. Ich muss doch auf meine Linie achten.“ Ich grinse sie an, sie lacht.

„Ach kommen Sie, an Ihnen ist doch kaum was dran.“ Sie sammelt meine Medikamente in eine Plastiktüte und wirft eine große Tüte Fruchtgummis hinterher. Es tut mir Leid, dass ich ihre gute Laune heute nicht teilen kann. Bisher ist sie immer auf mich übergesprungen, heute perlt sie an mir ab wie Wasser an einer Lotusblume.

„Und den kriegen Sie auch noch, damit Sie mal richtig lächeln.“ Sie drückt mir einen Traubenzuckerlutscher in die Hand. Erdbeere. Dafür kriegt sie sogar ein ehrliches Lächeln.

Als ich die Apotheke verlasse, frage ich mich, warum ich ihr eigentlich bisher nie das Du angeboten habe. So oft, wie ich hierher komme...

In Gedanken versunken schlendere ich über die Kreuzung, bald strömt mir die angenehm kühle Luft der U-Bahnstation entgegen. Hier drin ist es viel angenehmer als in der prallen Sonne. Mein Arm juckt unter dem Pflaster.

Die U2 ist aufgeheizt und voller Menschen. Die Luft ist so muffig, dass ich das Gefühl habe, nicht richtig atmen zu können, und klebriger Schweiß tritt mir auf die Stirn. Die Fahrt bis zum Zoo kommt mir wie eine Ewigkeit vor, zu gerne würde ich mich setzen. Meine Hand, die den Griff der Plastiktüte umklammert, ist auch schon ganz nass. Die Hitze macht mich völlig fertig.

Am Bahnhof Zoo steige ich in die U9 um, in der ich zum Glück den heiß ersehnten Sitzplatz kriege. Erst jetzt merke ich, wie nass mein Rücken bereits ist, ich bleibe unangenehm an der mit buntem Kunststoff bezogenen Rückenlehne kleben. Aber das soll mir egal sein. Ich sehne mich nach meiner Wohnung, nach etwas Kaltem zu trinken, nach Hinlegen und nie wieder aufstehen. Mein Kopf ist schwer, und als ich am Leopoldplatz ankomme, fühle ich mich als wäre ich den ganzen Tag zu Fuß unterwegs gewesen.

„Hey, Loki!“ Mein betrunkener Kopf wandte sich der Richtung zu, aus der der Ruf kam. War das Sascha? „Willst du auch was?“

Ich legte meinem Gegenüber den Finger auf die Brust, leckte ihm über die Lippen, küsste ihn. „Du bleibst schön hier und wartest.“ Tief blickte ich ihm in die Augen, er grinste. „Ich bin sofort wieder da...“ Mein Finger glitt seinen Oberkörper herunter und kam in seinem Schritt zu liegen. „...und dann machen wir weiter.“ Er nickte, hatte immer noch dieses alkoholisierte, geile Grinsen im Gesicht, und es fiel mir schwer, jetzt von ihm abzulassen. Aber wenn Sascha rief, musste ich folgen. Das war so eine Art ungeschriebenes Gesetz. Sascha hatte sich in den Kopf gesetzt gehabt, mich abzuschleppen, doch ich hatte den Spieß umgedreht und ihn flachgelegt. Seitdem war er beeindruckt von mir und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mir die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens zu zeigen. Von ihm hatte ich meine erste Dosis Poppers bekommen, durch ihn hatte ich die berauschende Wirkung von Absinth kennen gelernt und er war es auch, der dafür gesorgt hatte, dass meine Lust auf Zigaretten nicht versiegte.

Nun stand er vor mir, mit einem Lächeln auf den Lippen, und hielt mir seine flache Hand entgegen. Auf der Handfläche lagen zwei Pillen.

„Willst du die rote oder die blaue Pille, Loki?“ Seine Augen glänzten seltsam, irgendwo hinten im Kopf arbeitete mein Verstand und ich merkte, wie ich langsam den Kopf schüttelte.

„Wer bin ich, Neo?“ Meine Stimme klang weit weg, ich hatte eindeutig zu viel getrunken. „Pack den Scheiß weg, ich brauch so was nicht.“

„Hab dich doch nicht so.“ Mit der freien Hand klopfte Sascha mir gegen die Schulter, ich wankte leicht, fing mich wieder, wischte mir übers Gesicht. „Das Leben ist eine Party! Und das Zeug ist nicht gefährlich. Das nehmen doch alle!“

Welche Pille hatte Neo doch gleich genommen? Die blaue? Oder doch die rote? Eine hatte dafür gesorgt, dass alles blieb, wie es war. Wie langweilig! Ich mochte Veränderung, und ich mochte die Veränderungen, die in meinem Leben stattfanden. Endlich konnte ich mich ausleben und so sein, wie ich war: jung, schwul, sexy. Ich konnte sie alle haben, jeden einzelnen, konnte sie benutzen wie ein Spielzeug, bis es mich langweilte und ich mir ein neues suchte. Das war nach spätestens einer Nacht der Fall. Es machte mich an, wie 26-jährige sich nach mir umdrehten, wie ich Jungs und junge Männer nur mit einem einzigen Blick dazu bringen konnte, mir völlig zu verfallen. Ich brauchte die Beats der Discomusik und die belebende Wirkung bunter Cocktails, das war mein Leben, und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als noch weiter in diese Welt einzutauchen.

Grübelnd betrachtete ich die Tabletten auf Saschas Hand. Blassrosa und babyblau lagen sie vor mir. Blaue Pille, rote Pille... unterschieden die sich überhaupt?

„Mach schon“, flüsterte Sascha. „Trau dich.“ Er hielt mir ein Glas Wasser hin. Wo hatte er das denn plötzlich her? Ohne weiter nachzudenken nahm ich es, trank einen Schluck. Wasser? Wodka. Der Alkohol brannte in meiner Kehle, in meinem Kopf fühlte sich alles immer weicher an.

„Gib her.“ Nacheinander warf ich erst die blaue, dann die rosa Pille ein, spülte sie mit dem Rest Wodka aus dem Glas herunter. Zufrieden grinste ich Sascha an, der klopfte mir auf die Schulter.

„Gut, Neo“, lächelte er. „Und jetzt geh und schnapp dir das weiße Kaninchen.“

Benebelt stolperte ich zurück zu meinem gut gebauten Häschen, fiel in seine Arme. In meinem Kopf drehte sich alles, aber ich fühlte mich großartig.

„Nimm mich mit in deinen Bau, Bunny“, nuschelte ich in seinen Hals, während meine Hände sich unter seinem Shirt zu schaffen machten.

Was ist das für ein Geräusch? Irgendwo läuft ein Radio. Und dabei bin ich doch ganz alleine hier auf der Wiese... Das Radio wird immer lauter, und es brummt im Takt.

‚Mein Handy!’, schießt es mir ein, und plötzlich bin ich wach. Die Wiese verschwindet, vor meinen Augen entstehen die groben Konturen meines Wohnzimmers, die sich langsam mit Farbe füllen. Summend rattert mein Handy, angetrieben vom Vibrationsalarm, über den Holzboden, schlaftrunken greife ich danach und drücke blind auf die Taste, die ich für die Anrufannahme halte.

„Ja?“, murmele ich und drehe mich auf den Rücken.

„Loki?“, fragt es am anderen Ende. Da hab ich wohl die richtige Taste erwischt.

„Ja?“, gebe ich zurück.

„Chéri, ich bin’s!“

„Oh.“ Ich verdrehe die Augen und stöhne leise auf. „Micha. Hi. Was gibt’s?“ Auf die Tucke habe ich gerade so überhaupt keine Lust.

„Bist du krank? Du klingst so heiser.“

„Ich bin auf der Couch eingeschlafen, es ist alles okay.“

„Dann ist ja gut. Weshalb ich anrufe... Heute ist Schaumparty im RAZZMATAZZ. Men only.“

Schaumparty? Men only? Für so was bin ich eindeutig nicht in Stimmung. Ich will lieber hier rumdösen und mich selbst bemitleiden. Ich armes Schwein mit meinem Berg von Pillen, einsam, allein gelassen und ungeliebt...

„Schaumparty“, wiederhole ich seufzend. „Im RAZZMATAZZ? Der Laden strengt sich an... Ja, dann wünsch ich dir mal viel Spaß.“

„Nichts da, Chéri, du kommst natürlich mit!“

„Ich komme mit? Wie kommst du auf so eine bescheuerte Idee?“

„Bien sûr! Keine Party ohne Loki. André sagt, du solltest mehr ausgehen. Du wirst ein Langweiler, ma petite Tanzmaus. Schließt dich ein in deinem Schneckenhaus und zeigst dich gar nicht mehr. Wo ist der Aufreißer geblieben, der von Flirten und Sex nicht genug kriegen kann?“

Mann, geht der mir auf die Nerven! Ich überlege, ob ich nicht einfach auflegen sollte. War ja klar, dass André da wieder seine Finger im Spiel hat. Warum sorgen sich immer alle um mich, anstatt sich um ihren eigenen Kram zu kümmern? Als würde ich vereinsamen. Ich!

„Der Aufreißer ist im Urlaub“, brummle ich genervt in den Hörer. „Ich will einfach hier liegen und meine Ruhe haben.“

„Sind wir aber zickig heute... Ich dulde keine Widerrede, Chéri. In einer Stunde stehe ich vor deiner Tür, und du wirst mich reinlassen. Dann machen wir dich partyfertig und werden uns amüsieren. Also au revoir!“

Bevor ich etwas erwidern kann, hat er auch schon wieder aufgelegt. Genervt lasse ich das Handy auf den Boden fallen. Wozu habe ich dieses Ding überhaupt, wenn doch nur Leute anrufen, die mir auf den Sack gehen wollen?

Eine Viertelstunde bleibe ich noch liegen, dann zwinge ich mich, aufzustehen. Mein Kopf tut weh, die Hitze macht mir immer noch zu schaffen. Ich halte mein Gesicht unter fließendes, kaltes Wasser, reiße alle Fenster und Türen auf, um einen kühlen Durchzug zu schaffen. Im Radio haben sie heute Morgen Regen fürs Wochenende angekündigt, doch davon ist jetzt noch nicht viel zu sehen. Warme Luft strömt durch die Wohnung, mit einem lauten Knall fliegt die Schlafzimmertür zu. Ich stelle mich in den Zug, breite die Arme aus und genieße die wenige Erfrischung. Bei so einem Wetter kann es einem doch nur beschissen gehen.

Die einzigen kalten Getränke im Kühlschrank sind eine Tüte Milch und eine Flasche Prosecco. Wie selbstverständlich greift Micha sich die Flasche, öffnet sie und gießt zwei Gläser voll. Eins reicht er mir.

„Stößchen“, kichert er und prostet mir zu, nickend und völlig entnervt ticke ich mein Glas an seins und nehme einen Schluck. Das Zeug schmeckt mir gerade überhaupt nicht, aber wenigstens kühlt es mich von innen ein wenig ab.

„Du siehst furchtbar aus“, stellt Micha fest und zupft in meinen Haaren herum. „Chéri, du brauchst dringend eine Party.“

Ich kippe den Prosecco herunter und gebe mich geschlagen. Dann eben Schaumparty, wenn meine Herren Freunde dann endlich Ruhe geben, soll es mir recht sein. Und außerdem hat niemand gesagt, wie lange ich auf dieser Party zu bleiben habe. Wenn mich alles nervt, haue ich einfach nach einer halben Stunde wieder ab.

„Ist ja gut, ich komm ja mit, Herrgott...“ Begeistert klatscht Micha in die Hände, stellt sein halbvolles Glas auf der Arbeitsplatte ab und zieht mich am Ärmel hinter sich her.

„Großartig!“, quietscht er. „Dann wirst du jetzt von mir persönlich eingekleidet!“ Er zerrt mich ins Schlafzimmer und fummelt sein quietschpinkes MotoRAZR aus der Hosentasche, das er mit einem eleganten Schwung aus dem Handgelenk aufklappt und aufgeregt ein paar Tasten drückt.

„André?“, plappert er kurz darauf los. Er hält das Telefon mit Daumen, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand, Zeigefinger und kleinen Finger hat er abgespreizt. Die linke Hand hat er auf seiner Hüfte geparkt. Wie kann ein einzelner Mensch nur so tuntig sein? Vor mir steht die Fleisch gewordene Teekanne und telefoniert mit meinem besten Freund.

„Ich hab ihn rumgekriegt, er kommt mit heute Abend. ... Was? ... Ja, ja natürlich wird er großartig aussehen, deswegen bin ich ja hier. ... Nein, wir kommen mit dem Roller. ... Ja, ich mich auch, bis später!“ Klapp! Mit einer graziösen Geste verschwindet das Telefon wieder in der engen Jeans. Ich habe es mir mittlerweile auf meinem Bett gemütlich gemacht und starre Löcher in die Luft. Die Teekanne öffnet schwungvoll meinen Schrank. Flink schiebt er Bügel beiseite, blättert durch Stapel von T-Shirts, wühlt in meiner Unterwäsche. Wahrscheinlich wird er mir den unmöglichsten Tuntenfummel zusammensuchen, der mich zum Gespött der ganzen Szene machen wird. Was für einen Aufwand will er eigentlich für eine Schaumparty betreiben? Ich werde mich vor dem Eingang bis auf die Unterhose ausziehen, meine Klamotten im Rucksack an der Garderobe abgeben, wie sich das bei einer ordentlichen Schaumparty gehört.

Plötzlich fliegt mir eins meiner knappsten Höschen entgegen. Es sitzt tief, sehr tief, gerade hoch genug, um den Ansatz meiner Schamhaare zu verdecken, und die Beine sind so kurz, dass man sie als „fast nicht vorhanden“ auszeichnen könnte.

„Das ist perfekt!“, triumphiert Micha. Recht schnell findet er eine modische Jeans und ein eng anliegendes T-Shirt, was er mir auch aufs Bett schmeißt. Wow, die Kombination ist ja wirklich tragbar! „Geh duschen, Chéri, dann kümmern wir uns um deine Frisur.“ Ohne mich anzusehen zeigt er mit einer Hand auf die Auswahl Klamotten, die er für mich getroffen hat und zitiert mich mit einer weiteren Handbewegung ins Bad.

Ohne Helm hocke ich einige Zeit später hinter Micha auf seinem Roller und klammere mich an ihm fest. Mittlerweile ist es Viertel vor zehn und schon dunkel draußen. Die Luft ist angenehm lau.

Vorm RAZZMATAZZ warten schon André und Alex auf uns. Einlass ist erst um zehn, und vor dem Eingang hat sich eine kleine Schlange gebildet. Ja, ich glaube, ich freue mich auf diese Party. Während wir darauf warten, endlich rein zu können, flirte ich mit einem der herumstehenden Jungs. Blicke werden getauscht, bis er verlegen rot anläuft und sich immer wieder im Nacken kratzt. André und Alex knutschen, Micha tänzelt aufgeregt neben mir her. Alles ist wie früher, und als wir dann endlich fast nackt tief im Schaum stehen, ist sogar meine gute Laune zurück und ich spüre das aufgedrehte Kribbeln im Bauch, das ich früher immer hatte, wenn ich mit meinen Freunden durch die Clubs gezogen bin. Mein Flirt und ich haben uns auch schon wieder gefunden und tanzen ziemlich nah miteinander. Er ist etwa so alt wie ich, hat einen hübschen, braun gebrannten Körper und kleine, blitzende Augen. Seine Brust glänzt feucht, und von seiner Schüchternheit ist auch nicht mehr viel zu sehen. Was wohl auch an unserem Alkoholpegel liegt. Offensiv hält er den Blickkontakt mit mir, zieht das bisschen, das ich noch trage, mit seinen Augen aus. Ich liebe den Glanz, den die Kerle in den Augen haben, wenn sie angebissen haben! Er ist jetzt schon ganz geil auf mich und kann es kaum erwarten, über mich herzufallen.

Eine gute Stunde toben wir uns noch im Schaum aus, schütten Cocktails in uns rein, bis er völlig betrunken und total angeheizt in meinen Armen liegt und mit seiner Zunge meine Speiseröhre erforscht. Wirklich nüchtern bin ich auch nicht mehr, aber meine Medikamente habe ich heute Abend eh vergessen. Wird einmal schon nicht so schlimm sein, muss es Nico ja nicht gleich auf die Nase binden. Dieser Abend gehört nur mir, und wenn ich so weiter trinke, vergesse ich bestimmt auch noch die letzten Reste meines armseligen Gefühlslebens.

Zwei mittlerweile recht vertraute Hände kneten meinen Arsch in meinem Höschen. Das macht er wirklich gut, ich kann gar nicht genug davon kriegen! Leise stöhnend lege ich meinen schweren, betrunkenen Kopf auf seine Schulter, lutsche ein bisschen an seinem Hals und greife ihm in den Schritt. Entweder, wir treiben es jetzt hier sofort oder brauchen bald ein Bett oder einen ähnlich geeigneten Ort zum Poppen, lange aushalten tu ich es jedenfalls nicht mehr. Die Musik und die bunten Lichter sind zu einem dicken Einheitsbrei verschmolzen, der mich einhüllt und den Rauschzustand in meinem Körper aufrechterhält. Meine Füße gehorchen mir nicht mehr hundertprozentig, aber es reicht, um mit meinem Süßen zur Garderobe zu wanken, unsere Klamotten abzuholen und ins erstbeste Taxi auf den Rücksitz zu fallen. Der Süße brabbelt irgendeine Adresse, ich höre ihm gar nicht richtig zu. Dafür schmeckt sein Nacken viel zu gut.

„Sagt Bescheid, bevor einer von euch kotzt“, höre ich den Fahrer brummen, dann fährt er los. Mein Süßer nuckelt an meinem Nippel herum, seine Zunge spielt mit dem Piercing. Meine Hose hab ich gar nicht erst zugemacht, mein Shirt ist noch im Rucksack verstaut und ich bin barfuss. Warum zu viel anziehen, wenn man es gleich eh wieder auszieht?

Wir halten. Der Betthase reicht dem Taxifahrer einen Schein und zieht mich aus dem Wagen, lässt die Tür zufallen. Immer wieder knutschen wir, der Druck in meiner Hose steigt.

„Da sind wir schon.“ Er kramt ein Schlüsselbund aus der Hose, braucht eine Weile, bis er den richtigen Schlüssel gefunden und ins Loch gesteckt hat, dann stolpern wir in den Flur. „Hier hoch.“ Er zerrt mich die Treppe hinauf. Ist das Holz oder Stein? Meine nackten Füße können das schon gar nicht mehr unterscheiden. Ich fühle mich wie weichgespült.

Seine Wohnung liegt im zweiten Stock. Oder ist es der erste? Eine ganze Menge Treppen bin ich gestiegen, auf meinen Süßen gestützt, der sich am Treppengeländer festhalten musste, weil er auch viel zu viel getrunken hat. Diesmal findet er den richtigen Schlüssel schneller, fummelt ein wenig am Schloss herum, bis die Tür aufspringt und er mich in die Wohnung schiebt.

Er lässt den Schlüssel auf den Boden fallen und drückt die Tür zu, presst mich mit dem Rücken an die Wand und küsst meinen Körper herunter, um sich dann wieder meinen Lippen zu widmen. Seine Hände befummeln mich überall. Ich will mehr!

„Was hast du da?“, keucht er zwischen unsere Küsse, als er über meine Armbeuge streicht, ich rupfe das durchgeweichte Pflaster von meinem Arm.

„Impfung“, lüge ich. Was geht den meine Krankenakte an?

„Ach so“, gibt er sich zufrieden und hat es wohl auch schon wieder vergessen. Seine Hand steckt in meiner Hose und hält meinen Schwanz fest.

„Schlafzimmer ist da rechts“, sagt er plötzlich und lässt von mir ab. „Geh vor, ich komm gleich.“

Ich schmeiße meine Sachen irgendwo hin, steige schon im Korridor aus meiner Jeans, lasse mein Höschen irgendwo zurück und torkle ins große, extrem weiche Bett. Wenn sich doch bloß nicht alles drehen würde... und wo bleibt das süße, geile Teilchen? Mit Dani wär’s im Schaum bestimmt auch heiß gewesen. Sein geiler Körper und sein kleiner, fester Arsch... Mann, was denk ich da! Dani ist Geschichte, die Zukunft sieht anders aus. Ich will keine Couchpotatoe mehr sein, ich will kein langweiliger Beziehungsmensch sein, der nur noch für seinen Partner lebt und den Blick für die große Party um sich herum verliert. So bin ich nicht!

Licht geht an im Raum, gedämmt, nicht zu grell, und mein Aufriss kommt ins Zimmer. Er ist unsicher auf den Beinen, grinst mich breit an. Was hat er da? Er hält mir ein Tablett entgegen. Es fällt mir schwer, mich aufzusetzen, es rauscht in meinem Kopf. Einen Moment betrachte ich das Röhrchen und die sauber gezogene, weiße Linie auf blankem Silber. Vertraut knistert es in meinem Körper, ich spüre mein Herz schneller schlagen. Dann verliere ich die Kontrolle.

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